Aus dem Schatten ins Licht? Der Kampf der

Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Dossier
Aus dem Schatten ins Licht?
Der Kampf der politischen Rechten um die Russlanddeutschen
Autor: Katharina Heinrich
Redaktion und Regie: Birgit Morgenrath
Produktion: DLF 2016
Erstsendung: Freitag, 04.11.2016, 19.15 Uhr
Autorin: Claudia Mischke
Sprecher 1: Florian Seigerschmidt
Sprecher 2: Joachim Aich
Urheberrechtlicher Hinweis
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt
und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein
privaten Zwecken genutzt werden.
Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige
Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz
geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
©
1
Musik Nordseewellen und O-Ton Tagesschau 1988:
„Im Juni wurden die höchsten Aussiedlerzahlen seit 30 Jahren registriert …“
Autorin:
Die Tagesschau vor 28 Jahren.
O-Ton Tagesschau:
„… Im Lager lassen sich familiengerecht 800 Menschen unterbringen, zur Not auch
1.200. Zurzeit aber sind es 1.600.“
Autorin:
Überfüllte Turnhallen. Improvisierte Zeltlager. Die Bilder wirken bekannt. Aber es
geht nicht um Kriegsflüchtlinge.
O-Ton Tagesschau:
„Mindestens 10.000 mussten in diesem Jahr sogar ganz abgewiesen werden.“
Autorin:
Allein in jenem Jahr,1988, kommen 150.000 russlanddeutsche Spätaussiedler aus
der Sowjetunion nach Deutschland.
O-Ton Tagesschau:
„Mit Notquartieren, vor allem in Turnhallen, will man erreichen, dass sich die Zahl der
aufzunehmenden Aussiedler auf über 500 pro Tag steigern lässt. Solche Zeltlager,
wie sie in den letzten Tagen auf Eigeninitiative entstanden sind, will man aber auf
keinen Fall.“
Autorin:
Meine Familie, die 1979 aus der Sowjetunion nach Deutschland gekommen ist, freut
sich darauf, unsere Verwandten aus Kasachstan wiederzusehen.
Die Sowjetunion ist 1988 im Begriff sich aufzulösen. Der Ratsvorsitzende der
evangelischen Kirche in Deutschland beschwört eine Willkommenskultur.
„Gemeinsam schaffen wir die Integration von Übersiedlern“, sagt er.
2
Ein paar Jahre später sind die Russlanddeutschen kein großes Thema mehr. Bis im
Sommer 2015 die sogenannte Flüchtlingswelle nach Europa schwappt.
Sprecher 1:
Aus dem Schatten ins Licht? Der Kampf der politischen Rechten um die
Russlanddeutschen
Dossier von Katharina Heinrich.
Atmo:
Demonstration in Berlin „Wie lange noch sollen Eltern morgens ihre Kinder mit Angst
aus dem Haus schicken ohne zu wissen, ob sie abends wieder gesund nach Hause
kommen…“
Autorin:
Januar 2016: Russischsprachige Migranten demonstrieren wochenlang in vielen
deutschen Städten. Gegen Flüchtlinge. Immer wieder skandieren die Demonstranten:
„Lügenpresse!“ und „Merkel muss weg!“ Die deutsche Öffentlichkeit wundert sich.
Meine deutschen Freunde und Bekannten fragen mich: Wie kann es sein, dass eine
Migrantengruppe gegen eine andere zu Felde zieht? Warum sind die
Russlanddeutschen so nationalistisch? Zum gefühlt einhunderttausendsten Mal in
den letzten 30 Jahren muss ich mir anhören, die Aussiedler seien keine „richtigen“
Deutschen. Sie seien nur hier, weil sie deutsche Vorfahren haben, und das sei kein
einleuchtender Grund.
Ich wurde in einem Staat geboren, der so nicht mehr existiert. Ein Staat in dem 150
Bevölkerungsgruppen lebten. Wir alle waren sowjetische Bürger - aber Bürger
russischer, griechischer, türkischer, koreanischer oder eben deutscher Abstammung.
So stand auch in meiner Geburtsurkunde: deutsch. Der sowjetische Staat hat diese
ethnischen Unterschiede aufrechterhalten. Mit Kulturförderung oder mit
Repressionen, um unter anderem zu betonen, dass sich viele Völker der
kommunistischen Idee zugehörig fühlen.
3
In unserer wolgadeutschen Familie kam zu Weihnachten der „Pelznickel“. Im
heutigen Franken kennt man ihn noch heute. Er trägt einen Fellmantel und ist eine
Mischung aus Nikolaus und Knecht Ruprecht. Unsere Ostereier brachte uns nicht der
Osterhase, sondern ein Vogel. Damit er in die Wohnung flattern und die Eier dort
verstecken konnte, musste in der Osternacht immer ein Fenster offen stehen. Ich
dachte, das wäre typisch Deutsch, denn meine russischen Freunde mussten nicht
die Wohnung nach Ostereiern absuchen. In der Muttersprache meiner Eltern und
Großeltern konnte ich zwar nur ein einziges Lied singen: „Oh Tannenbaum“.
Trotzdem fühlte ich mich deutsch. Und für meine Umgebung war ich allemal „die
Deutsche“. Nach der Übersiedlung meiner Familie nach Deutschland habe ich mich
deshalb nicht als Migrantin gefühlt. So wie die allermeisten Russlanddeutschen.
Musik: In der Heimat
Autorin:
Als ich noch ein Kind war und in der Sowjetunion lebte, besaß mein Großvater ein
Tonbandgerät. Sonntags baute er es auf und hörte Lieder.
Manche in seiner wolgadeutschen Mundart, die bei gemeinsamen Abenden mit
anderen Deutschen aufgenommen und vervielfältigt wurden. Manche waren
Volkslieder, die ich später in Deutschland hörte und wiedererkannte. Auf jeden Fall
konnte ich als Kind die Texte nicht verstehen.
Musik: Nordseewellen
Autorin:
Als Jugendliche, ab 1979 in Deutschland, habe ich nie gewagt zuzugeben, dass mir
ausgerechnet bei diesem Lied, das ich von meinen Großeltern kenne, jedes Mal das
Herz aufging.
Welche Ironie. Die Nordseewellen - nichts schien damals weiter entfernt.
Meine Eltern und Großeltern waren Opfer nationalsozialistischer Expansionspolitik:
die Sowjets deportierten sie zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nach Sibirien. Dort
4
mussten alle Russlanddeutschen ab dem 15. Lebensjahr in Arbeitslagern schuften.
Nur meine Großmutter mütterlicherseits konnte zu Hause bleiben, weil das jüngste
ihrer sechs Kinder erst wenige Monate alt war. Meine Mutter erzählte uns später
immer wieder, wie Oma Katharina es geschafft hatte, ohne Mann mit ihren Kindern
zu überleben.
O-Ton Maria Heinrich:
„Es gab auch manche Tage, wo wir nichts zu essen hatten. Oder die Nachbarn, die
Russen haben was geschlachtet oder so und haben dann Blut gebracht. Oder hat die
Mutter auch mal den Kadaver ausbuddeln müssen, weil der Weitverwandte ihr
gesagt hat: ‚Ein Lämmchen ist eingegangen und da und da liegt das, ich habe es nur
bedeckt, zugedeckt oder begraben, ganz wenig Erde drauf. Kannst dir holen und
hast dann für die Kinder ein bisschen was Fleisch.“
Sprecher 1:
Als die Deutschen den Westen der Sowjetunion überfallen hatten, deportierten sie
auch die dortigen Russlanddeutschen - nach Polen. Dort wurden sie als so genannte
„Volksdeutsche“ mit Misstrauen betrachtet. Nazi-Ärzte führten rassische Selektionen
durch. Erst nach einer Umerziehung sollten sie „eingedeutscht“ werden können.
Nach Kriegsende aber holte die siegreiche Rote Armee die Russlanddeutschen aus
Polen und verfrachtete sie auf direktem Wege nach Sibirien. Aber als ihre
Verbannung in den 1960er-Jahren offiziell beendet war, blieb ihnen die Rückkehr in
ihre früheren Wohngebiete verwehrt. Selbst im europäischen Teil der Sowjetunion
durften sie sich nicht ansiedeln.
Autorin:
Deshalb bin ich zum Beispiel im mittelasiatischen Kirgistan geboren, wohin meine
Eltern von Sibirien aus gezogen waren.
Musik: Wo die Nordseewellen
Autorin:
Die Russlanddeutschen fühlen sich bis heute als Bürger, die von verschiedenen
Machthabern im Zweiten Weltkrieg vertrieben und deportiert wurden, eben weil sie
5
Deutsche waren. Und gleichzeitig misstrauisch beäugt, als könne man ihrem
Deutschsein nicht trauen. Das hat diese Volksgruppe geprägt.
Sprecher 1:
Immerhin nahm die Bundesrepublik sie ab 1960 auf, als eine Art Wiedergutmachung
für das erlittene Unrecht. Doch die Sowjetunion ließ sie nicht gehen. Bis zu ihrem
Zusammenbruch kamen nur einige 100 Aussiedler jährlich in die Bundesrepublik
Dann schnellte ihre Zahl in die Höhe. Inzwischen leben 2,5 Millionen
Russlanddeutsche in Deutschland.
Autorin:
Für ihr historisch begründetes Selbstverständnis aber hat die aufnehmende
Gesellschaft wenig Verständnis, sogar kein Interesse, sagt Viktor Krieger vom
Osteuropa-Institut an der Universität Heidelberg. Wenn zum Beispiel deutsche
Mitbürger ihnen vorhalten
O-Ton Krieger:
„Ja gut, vergessen Sie das Ganze, Sie sind nur hier jetzt und dann zählt nur das.
Was Sie da früher dort gehabt haben, überhaupt interessiert niemanden. Oder
Erlebnisse im Stalinismus. Wenn wir sehen, dass in der Schule mit kein einziges
Wort, ihr Leben überhaupt erwähnt wird, obwohl vielerorts in den Schulen ist die Zahl
der russlanddeutschen Kinder im zweistelligen Bereich. Kaum jemand spricht
darüber, über ihre Geschichte, die Geschichte ihrer Großeltern. Das heißt die Leute
haben das Gefühl, dass sie einfach ignoriert werden.“
Sprecher 1:
2008 wollte man dies in Nordrhein-Westfalen ändern. Der Schöningh Verlag nahm in
das Geschichtsbuch für die achte Klasse der Realschulen die Geschichte der
Russlanddeutschen auf. Aber wie? Der Text erweckte den Eindruck, die
Russlanddeutschen hätten im Zweiten Weltkrieg mit der SS paktiert und von der
Besetzung durch die Wehrmacht profitiert. Erst nach einem Gutachten des
Historikers Alfred Eisfeld zogen Schulministerium und Schulbuchverlag dieses
Geschichtsbuch wieder aus dem Verkehr. Bereits diesen Fall nutzten rechtsextreme
6
russlanddeutsche Aktivisten für sich aus. Sie organisierten Proteste und versuchten
ihre Landsleute in Stellung zu bringen
Musik: Nordseewellen
Autorin:
Albert Funk ist einer meiner Cousins. Er hat es geschafft: Aufnahmelager Sozialwohnung - Eigentumswohnung - Reihenhaus. Alles gebaut oder renoviert mit
Hilfe der Großfamilie und seiner russlanddeutschen Freunde. Die Nachbarn zur
Rechten sind polnische Aussiedler, zur Linken einheimische Deutsche. In Alberts
Wohnzimmer sitzen wir auf einer ausladenden weißen Ledercouch. Seine Familie
hatte 1988 als letzte unserer Sippe die damalige Sowjetunion verlassen. Dabei
hatten seine Eltern 30 Jahre zuvor als erste von uns einen Ausreiseantrag nach
Deutschland gestellt, schon vor Alberts Geburt. Bei seiner Ankunft war er 27 Jahre
alt und bereits zweifacher Vater. Das Einleben fiel ihm nicht schwer, trotz der Steine,
die ihm die Gesellschaft in den Weg legte.
O-Ton Funk:
„Ich wurde selber als Elektriker nicht anerkannt, ich habe nach zwei Wochen
genauso gearbeitet wie die. Allgemein hat man versucht, auszubeuten in dem Sinne,
dass man sagt: Okay, du hast […] viel höhere Ausbildung, aber man hat weniger
gegeben. Ja klar, kann man auch verbittert sein, aber das ist nicht mein Thema.“
Autorin:
Alberts Vater war Ukraine-Deutscher. Als die Wehrmacht die Ukraine besetzte,
wurden er und sein Bruder von den Deutschen eingezogen. Der Bruder fiel bei
Berlin, Alberts Vater kam in russische Gefangenschaft, wo er zehn Jahre im
Arbeitslager verbringen musste. Nach seiner Entlassung stellte er seinen ersten
Ausreiseantrag. Erst in Sibirien, dann in Tadschikistan, dann in Kasachstan. Jedes
Jahr einen. 30 Jahre lang. Albert erzählt, er habe sein ganzes Leben lang auf
gepackten Koffern gesessen. Das habe ihn flexibel gemacht und seinen sozialen
Aufstieg begünstigt, meint er.
7
O-Ton Funk:
„Wenn man unter Druck ist, dann soll man Kopf einschalten. Und wenn du gut bist,
dann kriegt man dich nicht unter.“
Autorin:
Also hat mein Vetter seinen Kopf eingeschaltet, Deutsch gelernt, ein zweites Mal
eine Lehre als Elektriker gemacht und sich durchgebissen.
Die ersten 15 Jahre hat Alberts Familie sehr bescheiden gelebt. Aber beide Töchter
haben Ausbildungen absolviert und studiert. Beide haben Kinder mit Ehemännern,
deren Familien aus Deutschland stammen. Albert schaut nur deutsches Fernsehen
und geht regelmäßig zur Wahl:
O-Ton Funk:
„Meine Bekannten und Freunde meistens gehen schon wählen, aber ist auch schon
dabei die Politikverdrossenen. Kann ich sehr, sehr gut verstehen. Ich sage immer:
Wenn du meckerst, dann geh‘ mindestens Kreuzchen machen. Ansonsten, wenn du
nur meckerst und zu faul, Kreuzchen zu machen, dann brauchst du nicht zu
meckern, dann nimm das, was du kriegst.“
Autorin:
Albert ist abgesehen von meiner Mutter der einzige meiner Verwandten, der mir ein
Interview geben wollte, aber nur unter falschem Namen. Die anderen Verwandten
wollten entweder nicht auffallen oder sie hatten kein Vertrauen zur Presse. Albert hat
auch dafür Verständnis:
O-Ton Funk:
„Zur jetzigen Zeit Berichte über AfD, über Russland, über alles, was ein bisschen
nationalistisch, ein bisschen stolz, deutsch zu sein oder in die Richtung. Alles wird
[…] ziemlich brutal direkt in die rechte Ecke gestellt und […] dabei ist die Methode,
nur einen Satz rauszuholen: Der und der hat das und das gesagt, fertig. Wird nicht
kompletter Satz oder wird nicht komplette Rede, sondern nur ein Satz raus
geschnitten: Aha, passt, wunderbar, guck mal, alle rechts, alle links oder was weiß
ich da, und dann drauf gehauen und so weiter.“
8
Autorin:
Wissenschaftliche Untersuchungen über die politischen Vorlieben der
Russlanddeutschen gibt es nicht. Nach meinen Recherchen zeigt sich folgendes Bild:
Die Älteren sind konservativ und wählen entsprechend. Deutsch-russische Familien,
die noch enge familiäre Bindungen nach Russland pflegen, wählen seit der UkraineKrise eher die Linken. Die Jüngeren, in Deutschland Sozialisierten wählen häufig die
Grünen, die SPD und die FDP. Meine Eltern machen ihr Kreuzchen seit 1980 bei der
SPD.
Mein in der Sowjetunion aufgewachsener Cousin Albert gab immer der CDU die
Stimme. Bis 2016. Da wählte er bei den Landtagswahlen in Rheinland Pfalz die AfD.
Ursache dafür, so Albert, seien Angela Merkels offene Flüchtlingspolitik und die
Ereignisse in der Silvesternacht in Köln gewesen.
Atmo: Restauranträume im Hotel
Autorin:
Einen russlanddeutschen Aktivisten der AfD treffe ich in einem Hotel bei Köln. Eugen
Schmidt ist Informatiker.
O-Ton Schmidt:
„Wie viele andere Russlanddeutsche war ich nie politisch aktiv. Es ist nur, die
Situation mit Merkel-Regierung hat uns bewegt, hat uns politisch aktiv gemacht und
wir haben dann praktisch umgeschaut und gesehen, dass die anderen Parteien alle
nach links gerutscht sind und wir sind irgendwo in der Mitte geblieben und haben
dann natürlich auf eine Alternative, auf neue Partei gesucht.“
Autorin:
Eugen Schmidt lebt seit 16 Jahren in Deutschland. Zunächst wählte er die AfD, weil
er mit der Eurorettung in Griechenland nicht einverstanden war. Inzwischen gehört er
zum Arbeitskreis „Russlanddeutsche in der AfD“ und postet für die Partei in
deutschen und russischen sozialen Netzwerken. Auch er macht sich seit der Kölner
Silvesternacht Sorgen um die Sicherheit seiner drei Kinder. Auch wenn er zugeben
muss, dass er bis jetzt in Hürth, einer Kleinstadt bei Köln, persönlich keine Übergriffe
9
von Flüchtlingen erlebt hat. Auch seine Freunde nicht. Dennoch machten Gerüchte
über Übergriffe der Migranten immer wieder die Runde, erzählt Eugen Schmidt.
Möglicherweise sind Russlanddeutsche von Ängsten aus der Zeit der Perestroika
geplagt, als das ganze geordnete System Sowjetunion plötzlich verschwand.
12. O-Ton Schmidt:
„Ich habe den ganzen Chaos erlebt, was mit dem UdSSR-Zusammenbruch bei uns in
meiner Heimatstadt passiert hat, dass plötzlich von einem Tag auf anderen gar kein
Staat mehr existierte, die politischen Funktionäre sind ganz plötzlich Oligarchen
geworden. Es gab keinen Rechtsstaat mehr, die Banditen haben überall was zu
sagen, und wenn du irgendwo Probleme hattest, solltest du einfach mal mit Banditen
kommunizieren.“
Musik: Nordseewellen
Autorin:
Auf der Suche nach weiteren Erklärungsversuchen für die flüchtlingsfeindliche
Einstellung vieler meiner Landsleute rufe ich Jannis Panagiotidis an, Professor für
russlanddeutsche Migration und Integration an der Universität Osnabrück. Auch er
erinnert an den Zusammenbruch der UdSSR und die negativen Erfahrungen der
Aussiedler mit den Verteilungskämpfen zwischen unterschiedlichen Ethnien in
Kasachstan und anderen mittelasiatischen Republiken:
O-Ton Panagiotidis:
„Ich meine, man muss es natürlich zum einen im Hinterkopf haben, dass die
Sowjetunion ja kein multikulturelles Paradies in diesem Sinne war, sondern dass
insbesondere in der Spätphase der Sowjetunion und nach der Unabhängigkeit der
mittelasiatischen Staaten es dort ganz massive Ressourcenkämpfe im Endeffekt gab,
die unter ethnischen Vorzeichen ausgetragen wurden, und das sind natürlich
Erfahrungen, die zumindest einen Teil dieser Gruppe auch prägen, für die sich im
Grunde gezeigt hat, […] dass nationale Zugehörigkeit Lebenschancen ganz massiv
prägen kann.“
10
Autorin:
Bei manchen Russlanddeutschen wecken die Flüchtlinge aus Syrien und anderen
muslimisch geprägten Ländern alte Verdrängungsängste. Viele erinnern sich zudem
an ihre Diskriminierung in Deutschland in den 1990er-Jahren. Alfred Eisfeld,
Russlanddeutscher und Historiker am Nordost-Institut in Hamburg spricht aus, was
viele Aussiedler nur untereinander zu sagen wagen. Die Bundesregierung habe, so
Eisfeld…
O-Ton Eisfeld:
„… einerseits ein Gesetz über die Kriegsfolgenbereinigung in Kraft gesetzt […] man
wollte ja einen Strich ziehen unter diese Opfergeschichte, andererseits war der Staat
aber nicht willens, nicht bereit, dafür die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung zu
stellen [...] Aussiedler haben ja in den ‘90er-Jahren selbst erlebt, wie man sie nach
Kassenlage behandelt hat, das klingt hart, aber so war es.“
Autorin:
Damals versuchte die Bundesregierung den Strom der Aussiedler zu regulieren und
führte - ohne große gesellschaftliche Diskussion - Obergrenzen für die Zahl der
Einreisenden ein, wies ihnen den Wohnort zu und erschwerte den Familiennachzug.
Viele Aussiedler siedelte man in den neuen Bundesländern an, wo die Ostdeutschen
gerade Richtung Westen abgewandert waren.
Sprecher 1:
Die Bundesregierung führte einen Sprachtest ein, obwohl allgemein bekannt war,
dass die Russlanddeutschen gerade durch die Verfolgung im und nach dem Krieg
ihre Muttersprache verloren hatten. Andererseits wurde vielen Einreisewilligen, die
Hochdeutsch sprachen, die Anerkennung als Aussiedler verwehrt. Man unterstellte
ihnen, die Sprache nicht im familiären Umfeld gelernt zu haben. Akademische
Abschlüsse der Russlanddeutschen wurden nicht ohne Weiteres anerkannt.
Aussiedler, die älter als 50 Jahre waren, und deren nicht-deutsche
Familienangehörige bekamen weder Sprachförderung noch Arbeitsmarktförderung,
erzählt Alfred Eisfeld:
11
O-Ton Eisfeld:
„Diese Einschränkungen haben Aussiedler ja selber erlebt und ihnen war klar, dass
Kosten, die für die Integration von Flüchtlingen aufzubringen sein werden, an anderer
Stelle fehlen werden. Das sind Erklärungsversuche, die ich selber auch aus vielen,
vielen Gesprächen so aufgenommen habe.
Autorin:
Viele ältere Aussiedler haben heute so geringe Renten, dass sie auf staatliche
Sozialhilfe angewiesen sind. So können sie den Eindruck bekommen, ans Ende der
Schlange geschoben zu werden. Mehr noch, nicht gewollt gewesen zu sein. So wie
dieser Russlanddeutsche aus dem Berliner Stadtteil Marzahn-Hellersdorf in einem
Tagesschaubericht:
O-Ton Tagesschau:
„Wir sind gekommen, wir waren nicht willkommen. Wirklich, überall, überall, wo ich
bei Beamten rein, musste ich mich erst durchkämpfen.“
„Und Sie glauben, dass die Flüchtlinge, die jetzt kommen, dass die nicht so viel
kämpfen müssen, wie Sie damals?“
„Ich glaube, die wollen auch nicht kämpfen.“
Autorin:
Möglicherweise treiben auch solche Ungerechtigkeiten die Menschen in die Arme
der Rechten. Zumal sie aus der eigenen Mitte kommen. So wie Heinrich Groth,
Vorsitzender des „Internationalen Konvents der Russlanddeutschen“, der die erste
Berliner Anti-Flüchtlings-Demonstration Ende Januar 2016 angemeldet hatte. Ein
Protest gegen die angebliche Vergewaltigung eines Mädchens, die sich später als
unwahr herausstellte. Aber die Geschichte fiel auf fruchtbaren Boden. Sie passte zu
gut ins Opfer-Schema: Flüchtlinge, die angeblich ein russlanddeutsches Mädchen
missbrauchten, deutsche Behörden, die das angeblich vertuschten, Medien, die es
angeblich herunterspielten.
O-Ton Berliner Demo:
„Uns alle hat hier zusammengebracht der brutale Fall mit der Berliner Schülerin Lisa,
13jähriges Kind, die hier vergewaltigt war vor kurzer Zeit. Aber nicht nur dieser
Einzelfall. Sonst die ganze Lage, die ganze Lage, die wir die letzte Zeit hier in
12
Deutschland beobachten müssen. Besonders, besonders seit der Silvesternacht in
Köln [...].“
Autorin:
Heinrich Groth aus Berlin. In Nordrhein-Westfalen machen - zwei weitere
rechtsextreme russlanddeutschen Aktivisten, Johann Thießen und Andrej Triller, viel
Aufhebens. Sie haben ihre Bedeutung mit Vereinen aufgepumpt und ganze sechs
rechte Organisationen gegründet. Neben Groths „Internationalem Konvent der
Russlanddeutschen“ die „Schutzgemeinschaft Deutscher Heimat der Deutschen aus
Russland“, „Die National-Konservative Bewegung der Deutschen aus Russland“, „Die
Russlanddeutschen Konservativen“, den „Freundeskreis der Russlanddeutschen
Konservativen“ und die Partei „Arminius Bund des Deutschen Volkes“.
Sprecher 1:
Heinrich Groths Konvent hat gerade mal 30 Mitglieder, allesamt ältere Männer. Aber
sein Versuch, 2006 mit den Stimmen der Spätaussiedler in die Berliner
Bezirksvertretung in Marzahn-Hellersdorf einzuziehen, scheiterte. Von den dort
lebenden 30.000 Spätaussiedlern erhielt Groth gerade mal magere 500 Stimmen.
Auch Thießen und Triller in Nordrhein-Westfalen haben nur wenig Erfolg. Bei den
Kommunalwahlen im Mai 2014 im Kreis Düren und im Oberbergischen Kreis
erhielten sie lediglich 0,2 und 0,1 Prozent der Aussiedler-Stimmen. Auf der
Internetseite der Partei „Arminius Bund des Deutschen Volkes“ zieht Johann Thießen
ernüchtert Bilanz:
Sprecher 2:
„Die Wähler, auf die wir die größte Hoffnung gesetzt hatten, haben uns zu dem Erfolg
nicht verholfen. Die Russlanddeutschen in breiter Masse haben wieder ihre Passivität
gezeigt, sind zum großen Teil einfach nicht zur Wahl gegangen. Später habe ich von
einigen Leuten, die über uns, unsere Partei und deren Ziele wussten, erfahren, dass
sie nicht die Zeit ‚gefunden‘ haben, zu den Wahllokalen zu gehen. Es tut Not,
darüber sich Gedanken zu machen, wie man diese Bevölkerungsschicht aktivieren
kann.“
13
Autorin:
Unbestritten stehen Aktivisten wie Thießen dem deutschen rechtsextremen Spektrum
und der NPD nahe, genauer: einzelnen Akteuren der rechten Szene. Denn in der
NPD sind die Russlanddeutschen nicht voll akzeptiert. Als zum Beispiel der
NPD-Kreisvorsitzende in Düren seinerzeit Thießen als parteilosen Kandidaten in die
Reserveliste aufnahm, musste er sich bei seinen Parteimitgliedern in einem
Schreiben dafür rechtfertigen:
Sprecher 2:
„Viele Bürgerinnen und Bürger waren im ersten Augenblick nicht imstande unsere
Intention, russlanddeutsche Aussiedler bei der Eingliederung in die Gemeinschaft
des Deutschen Volkes zu unterstützen, richtig zu deuten. Ihr erster Gedanke ging
gleich in Richtung ‚Russen-Mafia’. Durch viele Gespräche mit interessierten und
besorgten Bürgern gelang es uns allerdings deutlich zu machen, dass die kriminelle
sogenannte ‚Russen-Mafia’ nichts mit unseren russlanddeutschen Kameraden
gemein hat und wir ein verbrecherisches Klientel nicht in Deutschland dulden wollen.“
Autorin:
Die Gesamt-NPD hält weiter Abstand. Auf Nachfrage bestätigt der Parteivorstand,
derzeit gebe es keinen Arbeitskreis von Russlanddeutschen in der Partei.
Der Historiker Alfred Eisfeld vom Nordost-Institut der Hamburger Universität erklärt:
O-Ton Eisfeld:
„Bei der NPD war es so, dass die selber eine deutliche Distanz gegenüber den
Russlanddeutschen aufgebaut hat. Also, das waren keine richtigen Deutschen. Die
waren ja ‚verrusst’, das waren Ivans, die haben ja nicht richtig deutsch gesprochen.“
Autorin:
Die heutige NPD scheint zu glauben, dass die während des Nationalsozialismus
begonnene ‚Umerziehung’ und sogenannte ‚Eindeutschung’ der Russlanddeutschen
nicht gefruchtet hat. Geschichtsbewusste Russlanddeutsche wie meine 76jährige
Mutter stellen denn auch die NPD in einen ganz anderen geschichtlichen
Zusammenhang.:
14
O-Ton Maria Heinrich:
„Ich meine, die Leute sind einfach verrückt, dass sie so was wählen. Weil wenn man
zurückblickt in den Zweiten Weltkrieg, was sie angestellt haben, dann würde ich nie
im Leben die wählen.“
Autorin:
Deutsch, halbdeutsch, russlanddeutsch … anders als bei der NPD spielen solche
Zuschreibungen bei der AfD keine große Rolle. Die Partei schickte bei den
Landtagswahlen 2016 in Baden-Württemberg gleich zwei Kandidaten aus der
russischsprachigen Community ins Rennen. Die AfD wirbt mit russischen Flyern und
hat in Berlin-Brandenburg das Parteiprogramm ins Russische übersetzt. Für Teile der
Aussiedler ist sie wegen ihres russlandfreundlichen Kurses attraktiv. Besonders bei
denen, deren Verwandte in Russland leben. Wer möchte schon einen Konflikt
zwischen seinem Land und dem Aufenthaltsland seiner Familie haben. Aber auch die
AfD ist weit davon entfernt, die Russlanddeutschen als Mitwirkende in ihrer Partei zu
akzeptieren, sagt Alfred Eisfeld vom Nord-Ost Institut in Hamburg:
O-Ton Eisfeld:
„Wählerstimmen ja, das mag jede Partei. Aber eine Einbeziehung der
Russlanddeutschen in ihre Führungsgremien, in ihre Kandidatenlisten, sehe ich
nicht. Das ist eine marginale Erscheinung, wenn mal bei Wahlen auf kommunaler
Ebene jemand auf Platz 25 oder 33 gesetzt wird ohne jegliche Aussicht, jemals ein
Mandat zu kriegen.“
Autorin:
Wo etablierte Parteien versagen, punkten die anderen. So wie Dmitri Rempel, früher
Mitglied der nordrhein-westfälischen SPD. Er hat in Köln eine Migrantenpartei
gegründet. Sie heißt „Die Einheit,“ zu Russisch Edinstwo. So nennt sich auch ein
Netzwerk russischsprachiger Migranten und deren Wählerliste, mit deren Hilfe
Rempel in den Integrationsrat der Stadt Köln gewählt wurde. Inzwischen ist ein
anderes Mitglied seiner Partei im Integrationsrat aktiv.
Atmo: Straße Atlant
15
Autorin:
Rempel empfängt mich in Köln-Niehl in den Räumen des Aussiedlervereins „Atlant
e.V.“, der als Jugendhilfeverein anerkannt ist und nach eigenen Angaben die
Wählerliste Edinstwo koordiniert hat.
Ob der gemeinnützige Verein auch die Partei „Die Einheit“ koordiniert, bleibt im
Gespräch offen. Ob man „die Einheit“ rechtsgerichtet nennen kann, auch. Geschickt
weicht der Politiker eindeutigen Fragen aus und bleibt mit seinen Antworten im
Vagen. Berührungsängste gegenüber Rechtspopulisten kennt Rempel jedenfalls
nicht.
O-Ton Rempel:
„Aber was heißt rechtspopulistisch? Wer entscheidet das?“
Autorin:
Auf seiner Seite im russischen Internet postet der Politiker Texte aus der Jungen
Freiheit, einer Wochenzeitschrift der Neuen Rechten. Oder Texte des Kopp-Verlags,
der für rechte Esoterik und Verschwörungstheorien bekannt ist. Seine Leser sollen
selbst entscheiden, ob die Inhalte auf seiner Seite rechts oder links sind, findet
Rempel.
O-Ton Rempel:
„Wenn wir da einen Link weitergeben so was, dass die dann selbst auf die Seite
schauen können und dann für sich selbst entscheiden können, ob das links oder
rechts ist. Das heißt nicht so was , dass wir das irgendwie verheimlichen, woher wir
das alles haben so was. Da steht immer ein Link so was, wo die dann auf den klicken
können und dann schon Mal die Internetseite anschauen können zu wem das alls
mal gehört. Deswegen so was, da sehe ich mal absolut kein Problem.“
Sprecher 1:
Das Parteiprogramm der Partei „Die Einheit“ enthält Forderungen nach MindestQuoten für Migranten in allen staatlichen Strukturen, Zwangsbehandlung von
alkohol- und drogenabhängigen Sozialhilfeempfängern und das Absenken der
Strafmündigkeit für Kinder auf 12 Jahre. Letzteres taucht mittlerweile auch im
16
Programmentwurf der AfD auf. Obwohl „Die Einheit“ für ein Verbot von extremen
rechten und linken Parteien eintritt, fischt sie regelmäßig am rechten Rand. Im
Frühjahr trat Dmitri Rempel auf zahlreichen Demonstrationen der russischsprachigen
Migranten gegen Flüchtlinge auf.
Atmo: Demo/ Rempel
Autorin:
Zum Beispiel im hessischen Offenbach. Auch bekannte Vertreter von Pegida und
NPD nahmen an solchen Demonstrationen teil.
Mit ihrem Namen erinnert „Die Einheit“ an die Putin-Partei „Einiges Russland“.
Finanzielle Verbindungen nach Russland streitet Dmitri Rempel ab. Auch wenn der
ehemalige Beauftragte für Spätaussiedlerfragen, Christoph Bergner im
Deutschlandfunk sagte:
O-Ton Bergner:
„In diesem konkreten Fall rechne ich mit einem relativ starken Einfluss. Alle Hinweise
und Indizien, die wir dafür haben, sprechen dafür, dass es hier eine unmittelbare
Unterstützung gibt.“
Autorin:
Die Verbindung zwischen den Parteien scheint sogar sehr eng zu sein. Im
Baden-Württembergischen Ludwigsburg ist „Die Einheit“ unter der gleichen Adresse
zu erreichen wie die „Russlanddeutschen Wölfe“ und der Kampfsportverein „Systema
Akademie“. Die „Russlanddeutschen Wölfe“ stehen den russischen „Nachtwölfen“
nahe, einer von Präsident Putin anerkannten Rockergruppe, die sich offen zu ihrem
kriegerischen Engagement in der Ukraine bekennt. Bei den Kampfsportlern der
„Systema Akademie“ soll laut Vermutungen des BND einer der russischen
Militärdienste neue Informationsquellen rekrutieren. In den 2000er-Jahren soll ein
Dmitri Zaiser in der sogenannten „Sonderoffiziersgruppe, Berlin, Deutschland“ tätig
gewesen sein. Zaiser ist auch Mitglied in Rempels Partei. Den Vorsitzenden aber
stören die Aktivitäten seines Partners nicht.
17
O-Ton Rempel:
„Ich kenne ihn als Person und kenne ich auch mal ganz gut und ich finde auch [...]
ganz toll, was er macht, was er dann auch mal mit Russlanddeutsche Wölfe macht,
dass die jetzt auch mal Kinderprojekte organisieren, dass die Jugendprojekte
organisieren, dass die auch mal die Jugendlichen trainieren lassen.Und das sind mal
nicht mal nur die Russlanddeutschen.“
Autorin:
Auch Dmitri Rempel will in Jugendarbeit investieren. Mit Sport sollen die
Jugendlichen in seine Partei gelockt werden:
O-Ton Rempel:
„Klar selbstverständlich haben wir auch mal die Jugendlichen und wir gewinnen die
auch mal nicht direkt an die Politik, sondern zuerst mal mit irgendwelchen Aktionen,
Kultur, Sport, irgendwelche Reisen. Wenn wir direkt mal über die Politik sprechen, es
gibt mal sehr wenige, die sich mit 16, mit 18, mit 20 an die Politik mal Interesse denn
haben, aber wenn wir dann darüber sprechen: Ja, willst du mal Sport treiben?“
Autorin:
Dann hat Rempel die jungen Leute erst mal „am Haken“. Allerdings treibt ihn zurzeit
neben fehlendem Sportinventar und Fördergeldern für seine Idee ein großes
Problem um:
O-Ton Rempel:
„Aber wenn wir heutzutage auch mal darüber sprechen so was, dass viele
Sportorganisationen nicht mehr existieren, weil die Sporthallen von Flüchtlingen
besetzt sind, dann dürfen die dann auch mal nicht mehr rein [...] Es gibt mal viele
Probleme [...] und es ist alles mit der Politik verbunden so was.“
Autorin:
„Die Einheit“ hat nach seinen Angaben 400 Mitglieder. Dem größten Verein der
Russlanddeutschen hingegen, der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland,
gehören 30.000 Aussiedler an. Führende Mitglieder kamen aus der politischen Mitte,
vor allem aus der CDU und der SPD.
18
Musik: Nordseestrand
Autorin:
Es deutet sich ein Wandel bei den Russlanddeutschen an. Nachdem sich die erste
Generation beruflich und wirtschaftlich etabliert hat, strebt die nächste Generation die
gesellschaftliche Integration an. Meine Landsleute sind auf der Suche nach
politischem Engagement und Alternativen zum politischen Mainstream: Und diese
Alternativen müssen nicht AfD heißen. Jannis Panagiotidis, Professor für
Russlanddeutsche Migration und Integration in Osnabrück:
O-Ton Panagiotidis:
„Zum Beispiel die Kommunalwahl in Niedersachsen jetzt, die verkompliziert das Bild
nach meiner Ansicht deutlich. Hier wurden in den nordwestlichen Landkreisen, also
Osnabrück, Oldenburg, Cloppenburg, Vechta, wo es viele Russlanddeutsche gibt,
weniger AfD gewählt als im Rest des Landes, stattdessen gab es hier
Überraschungserfolge beispielsweise der Linken in Quakenbrück, wo der
Russlanddeutsche Andreas Maurer kandidierte, oder der Zentrumspartei in
Molbergen, wo Nadja Kurz gewählt wurde, das legt für mich die Vermutung nahe,
dass Russlanddeutsche wie viele andere Deutsche politische Alternativen suchen,
aber diese sind nicht zwangsläufig die AfD.“
Autorin:
Andreas Maurer von der Linken hat bei den Kommunalwahlen am 11. September
dieses Jahres 21 Prozent der Wählerstimmen bekommen. Auf seiner Facebookseite.
postet Maurer Bilder aus seinem Gemüsegarten, besucht Betriebe in der Region,
verschenkt am Weltfrauentag Blumen an Mitarbeiterinnen eines ansässigen
Baumarktes. Der fünffache Vater war früher in der CDU aktiv. Er ist in der
russlanddeutschen Community stark verwurzelt. Viele suchen Rat bei ihm. Dann hilft
er beim Ausfüllen von Formularen, beantwortet Fragen zur Rente, gibt Ratschläge für
die Schulwahl. Bei diesen Kommunalwahlen allerdings, so glaubt Andreas Maurer in
einem Telefonat, erhielt er so starke Zustimmung aus einem weiteren Grund:
19
O-Ton Maurer:
„…ich war auf der Krim und das Thema Russland, Freundschaft zu Russland,
Beziehungen zu Russland zu vertiefen, das ist kein kommunales Thema, aber das ist
das Thema, wo die Menschen bewegt und ich glaube, das hat auch noch dazu
beigetragen, dass Ergebnis besser wurde wie letztes Mal.“
Autorin:
Bei seinen Besuchen in Russland und auf der Krim traf sich Andreas Maurer mit
russischen Politikern und trat in der Talkshow von Wladimir Solowjew auf, Russlands
bekanntestem TV-Moderator und Anhänger von Putins Politik.
Atmo: TV-Auftritt Maurers auf Russisch
Autorin:
Dort behauptete Maurer „mehr deutsche als russische Firmen“ hätten durch die
Wirtschaftssanktionen gelitten. Und das deutsche Volk sei gegen die
Wirtschaftssanktionen der Kanzlerin. Im Gespräch verneint Andreas Maurer, dass er
mit solchen Auftritten russischer Propaganda dienen könne. Er findet, der russische
Staatssender berichte objektiv über die politische Weltlage.
Sprecher 1:
Russlanddeutsche sind also oft gespalten in ihren politischen Ansichten: pro oder
contra rechts, pro oder contra Flüchtlinge, und pro oder contra Putin. Das ist die dritte
Dimension ihrer politischen Selbsteinordnung.
Autorin:
Inzwischen sprechen Politologen offen von einem hybriden Krieg, den die russische
Regierung über das Fernsehen und das Internet führe. Der Politologe Felix Riefer,
Doktorand an der Kölner Universität, zitiert dafür vor allem die halbstaatliche Stiftung
„Russkij Mir“, zu deutsch „Russische Welt“. Sie stehe dafür,
20
O-Ton Riefer:
„dass, ein Teil der russischen Außenpolitik darauf basiert, russischstämmige oder
russischsprechende Menschen für ihr sogenanntes ‚Russkij Mir‘, die russische Welt,
zu gewinnen.“
Sprecher 1:
„Russkij Mir" wurde 2007 durch einen Erlass Präsident Putins gegründet. Im
Kuratorium der Stiftung sitzen unter anderem Außenminister Sergej Lawrow und
Kulturminister Wladimir Medinskij. Zu ihren Zielen zählt die Stiftung „Russkij Mir“
neben der einer russlandfreundlichen öffentlichen Meinungsbildung die Verbreitung
vermeintlich „richtiger“ Information über Russland.
Autorin:
Im Gegensatz zu den deutschen Goethe-Instituten in allerWelt will „Russkij Mir“ nicht
nur russische Kultur im Ausland präsentieren und Sprachkurse durchführen, sondern
Indoktrination betreiben, sagt Historiker Alfred Eisfeld:
O-Ton Eisfeld:
„Dadurch auch einen Keil in die westliche Wertegemeinschaft zu treiben, indem man
einen Gegensatz zwischen Russland und den USA aufbaut und vergrößert, und
immer wieder wird ja betont, dass Russland und Deutschland gemeinsame
Interessen hätten, die sich deutlich von der imperialistischen Politik der USA
unterscheiden würden. Also, man versucht, den Anschein zu erwecken, dass
Russland quasi die Funktion einer Schutzmacht für den armen Europäer wahrnimmt.“
Autorin
Der „hybride Krieg“ sät Streit unter den russischsprachigen Migranten. Auch in
meiner Großfamilie. Nach einigen Streitigkeiten über die Ukraine, Putin und die
Wirtschaftssanktionen versuchen wir nun bei Familientreffen politische Themen
auszublenden.
21
Atmo: Rede Putins auf einem Kongress
Autorin:
Weltkongress von Sootechestvenniki, zu deutsch „Landsleute, in Moskau vor einem
Jahr. Einer persönlichen Stiftung des Präsidenten, die sich auf das ganze
internationale Netz der russischen diplomatischen Vertretungen stützen kann.
Wladimir Putin begrüßt russischsprechende Migranten aus der ganzen Welt. In
seiner Rede verspricht er russische Landsleute überall auf der Welt zu beschützen.
Als Russlanddeutsche gehöre ich wohl dazu. Aber das Letzte, was ich möchte, ist es
von einem anderen Staat als Deutschland beschützt zu werden.
Die Jugendlichen rollen nochmals die Ereignisse um das angeblich von Flüchtlingen
vergewaltigte Aussiedler-Mädchen in Berlin auf. Vitali erzählt, dass in seinem
Freundeskreis in Essen heftig darüber diskutiert worden ist. Über Whatsapp wurde
die Stimmung angeheizt und zu einer Demo in Essen aufgerufen. Die Freunde waren
erschüttert. Aber sie diskutierten. Erst nach langem Hin und Her entschieden sich die
meisten gegen die Teilnahme an den Protesten und dafür, erst weitere Nachrichten
abzuwarten. Am Ende, sagt Vitali, waren alle froh, dass sie nicht auf die Provokation
hereingefallen sind.
Die Jugendlichen hier verbindet ihre russlanddeutsche Herkunft. Aber sonst ist die
Gruppe bunt zusammengewürfelt. Hier diskutieren Studenten mit Lehrlingen und
Schülern, die sonst jeweils unter sich bleiben.
Für die nächste Tagung werden heute verschiedene Themen abgesteckt. Die
Jugendlichen melden an, worüber sie beim nächsten Mal diskutieren wollen:
O-Ton:
„Also ich muss sagen, dass zum Beispiel die Problematik, die gestern angesprochen
wurde, Fremdenfeindlichkeit. Und genauso, die Vorurteile, dass… Ich finde, das ist
ein total aktuelles Thema, was ich total beunruhigend finde. Beziehungsweise [...] ich
nicht verstehe. Weil, man kann es aber nicht verstehen.“
„Jessika?“
22
„Es gab ja auch viele Anschläge auf Asylantenheime auch, es wurden ja teilweise
welche abgebrannt, einfach nachts oder so. Und ja, dass man das vielleicht nochmal
anspricht.“
„Erik?“
„Ja, weil du das angesprochen hattest mit den Hintergründen und den Medien,
vielleicht auch mal als Thema Medienkompetenz, also mit welchen Medien man sich
hauptsächlich auch im Alltag zum Beispiel auseinandersetzt. Wie informiere ich mich
richtig über bestimmte Themen und, ja, was kann ich haltaussortieren [...], was muss
ich wissen.“
Autorin:
So unterschiedlich die jungen Leute hier sind, sie gehen freundlich und unbefangen
miteinander um. Sie sind nicht fanatisch, hängen keiner Doktrin an. Sie hören
einander zu. Ich werde ganz neidisch. Ich hätte mir in ihrem Alter genau solche Leute
um mich herum gewünscht. Als mir dann noch ein 18-jähriger sagt, man soll nicht mit
dem Strom schwimmen und alles nachplappern, was ein anderer erzählt, da geht mir
da Herz auf, so wie bei dem Lieblingslied von meinem Großvater.
Musik: Nordseestrand
Absage:
Aus dem Schatten ins Licht? Der Kampf der politischen Rechten um die
Russlanddeutschen. Dossier von Katharina Heinrich. Es sprachen: Claudia Mischke,
Florian Seigerschmidt und Joachim Aich. Ton und Technik: Christoph Rieseberg und
Jens Müller. Regie und Redaktion: Birgit Morgenrath. Eine Produktion des
Deutschlandfunks 2016.