VI. Der Soldat in der Transformation 1. Soldatisches Selbstverständnis Klaus Naumann Nicht alles anders, aber manches besser machen. Innere Führung 4.0 – Neue Gedanken zum Konzept des Staatsbürgers in Uniform Das Konzept des Staatsbürgers in Uniform gilt zu Recht als Inbegriff der Inneren Führung und damit als eine der wertvollsten Errungenschaften der deutschen Wehrordnung. Diese Feststellung sollte freilich nicht zur Selbstzufriedenheit verleiten. Uniformierte Staatsbürgerlichkeit meint mehr als Rechtsgarantien, den Primat der Politik und die gesellschaftliche Integration. Die sind in der Tat grundlegend, aber zugleich dem steten Wandel ausgesetzt. Wie das Konzept gelebt wird, ist von den politischen, militärischen und gesellschaftlichen Veränderungen der Gegenwart abhängig. Feinarbeit am Regelwerk ist immer wieder notwendig, genügt aber nicht. Der stolze Vermerk, der so manches Dokument ziert, das Konzept habe sich „bewährt“, klingt gelegentlich hohl. (Reader Sicherheitspolitik, Ausgabe November 2016) Tiefgreifende Einschnitte Dabei soll den Erfolgsmeldungen gar nicht widersprochen werden. Die Sache hat jedoch einen Haken. Tiefgreifende Einschnitte wie die Aussetzung der Wehrpflicht, der Übergang zu einer Freiwilligen- und Berufsarmee, die Ausweitung des Verteidigungsauftrags zu einer global ausgelegten Sicherheitsvorsorge oder der rasante gesellschaftliche Wandel reduzieren sich in dieser Sicht allzu gern in Vorgänge und Faktoren, denen man allenfalls mit Aktionsprogrammen und Agenden nacharbeiten muss. Zweifellos ist das erforderlich – und viel ist in dieser Hinsicht geschehen, gerade in den letzten Jahren. Aber entspricht das auf den Staatsbürger in Uniform bezogene Soldatenbild der 50er, 70er oder 90er Jahre noch den heutigen Vorstellungen, Erfahrungen und Anforderungen? Was bedeutet die Staatsbürgerlichkeit des Soldaten heutzutage? Feierliches Gelöbnis Soldaten und Soldatinnen der Sanitätstruppe legen am 20.Juli 2014, dem 70. Jahrestag des Attentats auf Hitler, am Bendlerblock in Berlin ihr Gelöbnis ab. Foto: Bundeswehr/Sebastian Wilke 1 Historisches Konzept Vielen gilt der Staatsbürger in Uniform als erbauliches historisches Konzept, geboren aus der damaligen Abkehr von Nationalsozialismus und Wehrmachtsgeist. In der Gründungsperiode der Bundeswehr stand der Begriff jedoch keineswegs fest. In der Diskussion war der „Bürger in Uniform“, aber der war den Kriegsgedienten ebenso verdächtig wie den Gewerkschaften. Argwöhnten die einen eine kleinbürgerliche, milizartige „Spitzwegtruppe“, fürchteten die anderen den bürgerlichen Herrenmenschen. Erst mit dem „Staatsbürger“ hatte man dann eine Formel gefunden, die ebenso sehr auf Staatsnähe wie auf Wehrbereitschaft und auf die gesellschaftliche Bindung des Soldaten zielte. Ein Brückenbegriff war gefunden worden, der Politik, Streitkräfte und Gesellschaft zusammenzuführen versprach. Diese Klammer erhielt ein normatives, rechtlich-politisches und soziales Fundament (Soldatengesetz u.a.), das heute noch gilt. Zugleich beruhte ihre Überzeugungskraft jedoch auf zeitbedingten Voraussetzungen. Die Stimmigkeit des Reformkonzepts ergab sich letztlich erst aus der Bedrohungslage des Kalten Krieges, dem Primat der Landes- und Bündnisverteidigung sowie der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Dadurch wurden Politik, Militär und Gesellschaft zu einer „Not- und Haftungsgemeinschaft“ (Elmar Wiesendahl) zusammengeschlossen. Neue Vorrausetzung Diese Voraussetzung ist mit dem Ende der Blockkonfrontation und der deutschen Vereinigung von 1990 entfallen. Andere sicherheitspolitische Konstellationen, veränderte Kriegs- und Konfliktbilder sowie erweiterte militärische Aufgaben haben Transformationen und Neuausrichtungen der Bundeswehr mit sich gebracht. Ist das Leitprinzip des Staatsbürgers in Uniform damit überholt? Auf der normativen Ebene sicher nicht. Aber das Umfeld des Soldaten hat sich offensichtlich stark verändert. Welche Umrisse einer veränderten, zeitgemäßen Staatsbürgerlichkeit des Soldaten lassen sich in diesem unübersichtlichen Wandel erkennen? Ein Blick auf die Einsatzrealität, die Gegenwartsgesellschaft und die Anforderungen an die Streitkräfte ergibt Aufschluss, wo zu suchen ist. ISAF Einsatz Stellung beim Polizei HQ ASB (Task Force Kunduz) in Afghanistan im Jahr 2010. Foto: Bundeswehr/von Söhnen 2 Die Auslandseinsätze operieren in komplexen und dynamischen Umfeldern. Die militärischen Beiträge sind aufs engste eingebunden in politische und soziale Zielsetzungen, die beispielsweise auf Krisenprävention, Stabilisierungsmaßnahmen, Deeskalation oder Abschreckung hinauslaufen. Das Militär bewegt sich oft im Verbund mit verschiedenen zivilen wie militärischen Akteursgruppen. Gewaltkonflikte finden inmitten der Zivilbevölkerung und in aller medialer Öffentlichkeit statt. Militärisches Handeln bedarf also höchster Umsicht („360°-Wahrnehmung“), um Folgen, Auswirkungen, Wirksamkeit und damit die Legitimation des Einsatzes zu kalkulieren. Das führt dazu, dass die drei militärischen Führungsebenen – strategisch, operativ, taktisch – enger zusammenrücken. Der Nur-Soldat oder der militärische Handwerker sind hier überfordert. Publikumsmagnet Ein Soldat erklärt Jugendlichen den Kampfpanzer Leopard 2 A6 am Tag der offenen Tür der Bundesregierung in Berlin 2015. Foto: Bundeswehr/Jana Neumann Unsere Gesellschaft begegnet den militärischen und sicherheitspolitischen Aktionen mit einem Spektrum unterschiedlicher Haltungen und Meinungen. Eingebürgert hat sich die Wahrnehmung einer „postheroischen Gesellschaft“ (Herfried Münkler). Was sie bedeutet ist weniger eindeutig. Die Skepsis gegenüber dem Einsatz militärischer Gewalt ist groß, und die Ergebnisse der bisherigen Auslandseinsätze sind keinesfalls begeisternd. Es gibt aber keine Abkehr von den Streitkräften, keine Distanz zur Bundeswehr – und im Grunde auch kein „freundliches Desinteresse“. Das neue Weissbuch 2016 hat die Akzeptanz der Streitkräfte in dieser Gesellschaft und durch ihre Bürgerinnen und Bürger ganz zutreffend beschrieben. Es braucht aber Diskussionsbereitschaft, Kommunikationsfähigkeit und Überzeugungskraft. Die Bundeswehr muss auf die Gesellschaft, die Mitbürgerinnen und Mitbürger, zugehen. Niemand ist besser in der Lage, über Sinn, Nutzen und Grenzen der Einsätze anschaulich Auskunft zu geben. Streitkräfte, die um ihren Nachwuchs werben müssen, sind angehalten, öffentlich sichtbar zu sein – nicht nur an den „Tagen der Bundeswehr“. Der Soldat von heute ist ein Akteur auf offener Bühne. Um diesen Anforderungen und Nachfragen zu genügen braucht die Bundeswehr Soldatinnen und Soldaten, speziell militärische Führer, die sich nicht als „seelenlose Erfüllungsgehilfen des Politischen“ (Generalinspekteur Volker Wieker) verstehen. Das 3 aktuelle Anforderungsprofil verlangt „Analyse- und Handlungsfähigkeiten, die über rein militärische Aspekte weit hinausreichen“ (Weißbuch 2006, S. 81). Folgerungen daraus finden sich im neuen Weissbuch 2016 leider nicht. Doch die Aufgabe bleibt bestehen, den 2006 umrissenen „umfassenden Bildungsansatz“ auszubuchstabieren. Das würde ein Baustein sein für das schlüssige Soldatenbild eines zeitgemäßen Staatsbürgers in Uniform. Zusätzliche Anforderungen Dabei geht es nicht allein um Flexibilität und Agilität, Vielseitigkeit oder Rollenwechsel. Getan ist es auch nicht mit einer Vermehrung der Spezialfunktionen, Sonderlehrgänge oder Zusatzinformationen. Auch die Aufwertung von ethischer Unterweisung, Politischer Bildung oder Interkultureller Kompetenz wird nicht ausreichen – so notwendig das ist angesichts der Erfahrung, dass gerade diese Angebote meist die ersten sind, die Zeitdruck und Arbeitsüberlastung zum Opfer fallen. In Frage stehen vielmehr die Voraussetzungen, um den genannten Anforderungen überhaupt gerecht werden zu können. Diese aber haben viel mit dem Soldatenbild, der Professionalitätsauffassung und nicht zuletzt mit der Staatsbürgerlichkeit zu tun. Hier ist ein Um- und Weiterdenken verlangt. Schaumi60 60 Jahre Bundeswehr am Tag der offenen Tür der Bundesregierung in Berlin 2015. Foto: Bundeswehr/Andrea Bienert Jeder Versuch einer Neubegründung (keine Neuerfindung) des Staatsbürgers in Uniform hat mit drei Einwänden zu rechnen. 1. Die Auflösung der Klammer zwischen Wehrpflicht und Landesverteidigung (im herkömmlichen Sinne des Kalten Kriegs) zog auch das Konzept des Staatsbürgers in Uniform in Mitleidenschaft. Gesetzgeber und Exekutive wussten das ganz genau, als sie davon Abstand nahmen, Wehrpflichtige automatisch und selbstverständlich in Auslandseinsätze zu entsenden. Zusatzkonstruktionen wurden geschaffen (wie der Freiwillig Längerdienende – FWDL), deren entscheidendes Merkmal die Freiwilligkeit und ausdrückliche Zustimmung zur Auslandsverwendung war. In Fragen der Landesund Bündnisverteidigung wäre niemand auf die Idee gekommen, den Wehrpflichtigen 4 davon auszunehmen, denn der Staatsbürger in Waffen war gerade die entscheidende Ressource der Verteidigungsanstrengungen. Mit dem Übergang zur globalen Sicherheitsvorsorge veränderte sich die Legitimationsgrundlage, und die Pflichtigkeit wich dem Zustimmungsprinzip. Das Ergebnis war merkwürdig: Der wehrpflichtige Staatsbürger war nun auf einmal kein „vollwertiger Soldat“ mehr, wie es die Gründungsformel der Inneren Führung 1953 programmatisch gefordert hatte.1 Sollte es also zweierlei Staatsbürger in den Streitkräften geben? Die Antwort erübrigte sich mit Aussetzung der Wehrpflicht seit 2011. Jetzt mussten Staatsbürgerlichkeit und Freiwilligkeit zusammengedacht werden. 2. Damit tritt ein zweiter Einwand in den Vordergrund. Ist das staatsbürgerliche Wehrmotiv, das in der Vaterlandsverteidigung verwurzelt ist, mit der fallweisen Verfolgung auswärtiger Interessenpolitik mittels Waffengewalt zur Deckung zu bringen? Unter dem Vorzeichen der Freiwilligkeit steht dem nichts entgegen. Warum sollte ein Staatsbürger sich nicht verpflichten, an der globalen Sicherheitsvorsorge teilzunehmen? Er muss jedoch damit rechnen, dass die Erfolgskriterien der Auslandsmissionen anders bemessen sind als die der Landesverteidigung. Strebt letztere zur Wiederherstellung des beeinträchtigten Status quo ante (beispielsweise der territorialen Integrität), bewegen sich die Auslandseinsätze auf vieldeutiger Grundlage: Wie sicher ist die angestrebte Sicherheit, wie stabil die erwünschte Stabilisierung, wie tragfähig die mühsam errungenen zweitbesten Lösungen? Es kann sein, dass der Einsatzsoldat mit der ganzen Person für halbe Sachen geradestehen muss. Da ist es folgerichtig, dass die Meinungen über Aufgaben und Ertrag auseinandergehen, im Einsatzland, wohl möglich in den Streitkräften und auch in der Entsendegesellschaft. Also ist Urteilskraft und Überzeugungsstärke verlangt – sowohl für die Freiwilligenentscheidung wie für den Einsatz und auch vor den Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Was das heißt, hatte die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman vor knapp 50 Jahren, am Ende des Vietnamkriegs, in einem Vortrag in der amerikanischen Militärakademie West Point angesprochen. Verallgemeinernd sprach sie von „politischen Kriegen“, um diese von der herkömmlichen militärischen Landesverteidigung zu unterscheiden. Das bedeute, sagte sie, dass „der Soldat mehr für politische und ideologische Zwecke eingesetzt werden wird als in der Vergangenheit.“ Daraus aber ergäben sich zwei Herausforderungen – eine veränderte Haltung des Militärs zum Staat sowie ein verändertes Verhältnis zur Zivilgesellschaft. Die Einsätze drängten den Soldaten die simple, aber folgenreiche Frage auf: „Where is the common sense?“ Diese Frage sei die Quittung dafür, das Grundprinzip der Selbstverteidigung als exklusiven Kriegsgrund aufgegeben zu haben. Aber ihr Effekt bestehe darin, mit ihr eine zivile Perspektive des Urteilens einnehmen zu müssen. Damit aber entfalle eine wesentliche Bedingung für die Distanz des Militärs von der Zivilgesellschaft, obwohl die „politischen Kriege“ die Streitkräfte noch enger an die Politik als an die Gesellschaft binden. Wenn also „der Militär jetzt beginnen muss, sich 1 Vgl. Der Beauftragte der Bundesregierung Theodor Blank, Betr.: Regelung der „Inneren Führung“, Bonn, den 10. Januar 1953 (Bundesarchiv-Militärarchiv, Bw 9-411). 5 die gleichen Fragen zu stellen und die gleichen moralischen Entscheidungen zu riskieren wie der Zivilist, kann er seine Distanz dann noch aufrechterhalten?“ Kurzum, folgerte Tuchman, „es war immer eine Herausforderung, General (beziehungsweise Offizier; KN) zu sein; seine Rolle wird nicht einfacher, aber diejenige des Bürgers auch nicht.“ Die Verbindung, die hier zwischen Soldaten und Staatsbürger hergestellt wird, ist der Common Sense, das Urteilsvermögen in der Perspektive des Gemeinwohls, oder noch genauer: mit Blick auf das Kollektivgut der Sicherheit. Das könnte der Baustein einer erneuerten Staatsbürgerlichkeit des Einsatzsoldaten sein, ein Impulsgeber für eine zeitgemäße Klammer von Militär, Gesellschaft und Politik. 3. Gibt die gängige Praxis der Inneren Führung bereits ausreichend Antworten auf die hier aufgeworfenen Fragen? Ist das alles schon durch die „Gestaltungsfelder“ der Inneren Führung „abgedeckt“ und bedarf lediglich ein „noch mehr“ und „noch besser“? Die Geschichte der Inneren Führung und ihrer Ausgestaltung ist wechselvoll gewesen. Als ein dynamisches Prinzip war sie auf Veränderungen ausgelegt. Aus verständlichen Gründen stand immer wieder das Integrationsziel im Vordergrund der Inneren Führung. Zunächst ging es vor allem um die Einbettung der Streitkräfte in die parlamentarische Demokratie und die Rechtstaatlichkeit. Reibungspunkte waren wiederholte Auseinandersetzungen um soldatische Härte und Effizienz, Tradition und Loyalität. Dem Sinnverlust angesichts der atomaren Konfrontation entkam die Bundeswehr durch den Zusammenbruch des Warschauer Pakts und das Ende der deutschen Teilung. Armee der Einheit 1990 NVA-Soldaten treffen auf Bundeswehrrekruten (neu). Foto: Bundesarchiv/Ralf Hirschberger Mit der Auflösung und Teilintegration der NVA und der Ausweitung des NatoBündnisgebietes rückten andere Fragen in den Vordergrund. Die Kräfte wurden absorbiert durch Reformwellen und Anpassungsprozesse, Ausdünnung der Substanz und neue Einsatzanforderungen. Bis heute beschäftigen Fürsorge und Betreuung, Attraktivität und innere Vielfalt der Streitkräfte die Bundeswehr, die sich nach Aussetzung der Wehrpflicht als ein Anbieter unter anderen auf dem Arbeitsmarkt 6 bewähren muss. In Terminologie und Auftreten scheint es gelegentlich, als hätten „Konzern“-Denken und Arbeitnehmerorientierung die Oberhand gewonnen. Ist der Soldat ein Dienstleister in Uniform und sonst gar nichts? Farbanschlag Der Showroom der Bundeswehr in Berlin nach einem Farbanschlag. Foto: Bundeswehr Dienstethos und Leistungsstolz Inzwischen wird stärker als zuvor betont, Soldat zu sein sei kein Beruf wie jeder andere. Angesichts der Einsätze und ihrer Herausforderungen kann das nicht anders sein. Die Parole „Wir. Dienen. Deutschland.“ verspricht mehr Aufmerksamkeit für Dienstethos und Leistungsstolz in den Streitkräften. Bleiben jedoch die politischen Vorgaben unpräzise und die Aufträge vieldeutig, kann es geschehen, dass sich die Einsatzarmee gefangen sieht in einem scheinbar ausweglosen Konflikt zweier Welten zwischen Einsatz und Heimat, Politik und Militär, Aufwand und Ertrag. Das kann Rückgriffe auf die vermeintlich ewigen soldatischen Werte und Tugenden des Militärhandwerks fördern, zumindest in den Subkulturen der Streitkräfte. Darin steckt jedoch auch ein Gutteil an Plausibilität, denn nur ein solides Berufswissen, die automatische Beherrschung des kleinen Einmaleins der Truppenführung und die Verlässlichkeit gemeinsamer Erfahrungen sichern dem Soldaten das Überleben. Aber muss sich daraus ein Gegensatz zur Inneren Führung ergeben, wie er beispielsweise von einigen jungen Offizieren der „Armee im Aufbruch“ gesehen wird? Die Vereinbarkeit von Staatsbürgerlichkeit und Schlagkraft der Truppe war bereits eine der Ausgangsfragen der Militärreformer der ersten Stunde. Drei Elemente brachten sie in die entstehende Führungskonzeption ein: die politische und ethische Unterrichtung, die Erfahrbarkeit von Demokratie im Dienst durch die Soldatenrechte und die Ausgestaltung der Inneren Ordnung sowie die aus beidem resultierende Überzeugung, dass die „demokratische Lebensform“ – so eine Formulierung Baudissins – lebens- und also auch schützenwert ist. Heute steht ein kleiner aber entscheidender Schritt darüber hinaus an, der auch zur Kräftigung der drei Ausgangselemente beitragen dürfte. Zugespitzt formuliert, verfolgte die Innere Führung unter dem Vorzeichen der Staatsbürgerlichkeit vor allem ein Integrationsziel, so kommen in den komplexen 7 Einsätzen, unter den Bedingungen hybrider Konfliktlagen, in den zeitgenössischen „wars among the people and the public“ (in Ergänzung der These des britischen Generals Rupert Smith) andere Seiten der Staatsbürgerlichkeit des Soldaten zum Tragen. Barbara Tuchman hatte sie unter dem Oberbegriff des Common Sense zusammengefasst. Damit ist nicht allein der gesunde Menschenverstand gemeint, sondern die Fähigkeit, die Dinge in Zusammenhängen wahrzunehmen und auf die gemeinsam formulierten Zwecke und Ziele zu beziehen. Der Common Sense trennt nicht zwischen Bürgern und Soldaten, sondern bezeichnet eine gemeinsame Haltung zur Welt und ihren Problemen. Cyberraum Foto: Bundeswehr/Tom Twardy Demnach geht es einer Inneren Führung 4.0 nicht um Spartenwissen oder Spezialisierung, sondern um einen professionellen Denkstil und Urteilskraft, eine Haltung oder ein Mindset, die den Soldaten in die Lage versetzt, die Vielfalt der Anforderungen und Ansprüche geistig und beruflich zu integrieren. Der Soziologe Hans-Georg Soeffner hat kürzlich die Merkmale eines zeitgenössischen Staatsbürgers folgendermaßen umrissen: Er ist „erstens imstande, Differenzen zu erkennen, zu artikulieren und auszuhalten; dies betrifft sowohl Differenzen zwischen einem Individuum und anderen Individuen als auch zwischen Gruppen, Überzeugungen, Lebensstilen und Weltanschauungen. Zweitens muss er dazu fähig sein, Differenzen übergreifende Strukturen und Kooperationszusammenhänge wahrzunehmen und zu nutzen. Dazu gehört drittens, dass er die Repertoires der Sprach- und Rollenspiele seiner sozialen Welt kennt, beherrscht und variieren kann.“2 Das muss nicht das letzte Wort einer Definition von Staatsbürgerlichkeit sein, hier geht es um ein anderes Argument. In den genannten Soll-Werten lassen sich unschwer die speziellen Anforderungen an die militärische Professionalität wiedererkennen, ohne dass man genötigt wäre, einen Graben zur Denkhaltung des zivilen Staatsbürgers auszuheben. 2 Hans-Georg Soeffner, Vergesst eure Leitkultur!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.1.2016. 8 Schlüsselkonzepte Zwei Schlüsselkonzepte zwingen heute dazu, auf diesem Weg eine neue Klammer zu schließen zwischen Bürgern und Soldaten, Politik und Militär. Die Erfordernisse des Kollektivguts Sicherheit, an denen sich ein Gutteil der Staats- und Gesellschaftspolitik ausrichtet, sind so vielfältig und voraussetzungsreich, dass es nicht allein der Kooperation Comprehensive Approach, sondern auch des Zusammendenkens der gemeinsamen Zwecke und Mittel bedarf. Und die von Barbara Tuchman so genannten „politischen Kriege“, in denen es um Sicherheit, Stabilität, Ordnung und nicht zuletzt um Frieden geht, zwingen den Soldaten von heute dazu, über den Tellerrand seiner Spezialaufgaben und –fähigkeiten hinauszublicken. Die Staatsbürgerlichkeit des Soldaten hat in diesem Sinne eine durch und durch integrative Funktion – sie besitzt operative Bedeutung auf dem Gefechtsfeld, kooperative Relevanz für das Zusammenhandeln der militärischen und zivilen Kräfte, kommunikative Wirksamkeit gegenüber den eigenen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Der Soldat als Staatsbürger ist Partner und kritisches Gegenüber seines Dienstherrn. Denn letzten Endes sind beide Treuhänder eines gemeinsamen, auf das Gemeinwohl gerichteten Zwecks, dem der Befehlshaber ebenso unterliegt wie der Soldat. Seenotrettung Essenausgabe auf dem Tender Werra. Die Besatzung des Tenders rettete 627 Menschen von einem Holzboot im Mittelmeer 55 Km nordwestlich von Tripolis. Foto: Bundeswehr/Kleemann Die Folgerungen aus dieser Perspektive lassen sich nicht kurzerhand einzelnen Maßnahmen zurechnen. Das Selbst- und Berufsverständnis des Soldaten von heute ist gefordert. Und die Stimmigkeit, Relevanz und Wirksamkeit der vielen Einzelmaßnahmen, mit denen die Innere Führung den Soldaten als Waffenträger oder Arbeitnehmer, als Rechtssubjekt oder ethische Person, als Familienmensch oder Leistungsträger anspricht, richtet sich nicht zuletzt nach der Bereitschaft, den Soldaten als Staatsbürger in Uniform ernst zu nehmen. 9 Autor Dr. Klaus Naumann, Jahrgang 1949, ist Militärhistoriker am Hamburger Institut für Sozialforschung und Mitglied des 14. Beirats für Fragen der Inneren Führung beim Bundesminister der Verteidigung. Literatur Klaus Naumann, Zur Aktualität des „wehrhaften“ Staatsbürgers. Das Problem militärischer Obligation in der Zivilgesellschaft, in: Elmar Wiesendahl (Hrsg.), Innere Führung für das 21. Jahrhundert. Die Bundeswehr und das Erbe Baudissins. Paderborn 2007, S. 117-128. Hans-Joachim Reeb, 60 Jahre Innere Führung, in: IF. Zeitschrift für Innere Führung, 4/2015, S. 23-30. Hans-Georg Soeffner, Vergesst eure Leitkultur!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.1.2016. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/hans-georg-soeffner-vergesst-eureleitkultur-14007001.html Barbara Tuchman, Generalship, in: Parameters, 4/2010, S. 13-22. http://strategicstudiesinstitute.army.mil/pubs/parameters/Articles/2010winter/Tuchman.pdf Generalinspekteur General Volker Wieker, Keynote beim 6. Workshop des WeissbuchProzesses, 3. September 2015. https://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/!ut/p/c4/NYs7DoMwEAVvtGtTJFI6EBRp0xDS2WblW PEH2WtocvjgImkaUYPX3gS1e6sYpei8vjExbibPkCH3cJBrhRdzRvUhyt5TwXn9lkJTIrEzUyR3WmbFacMW8rs W6k5nwXciouQ4yCk-E9---4yTbO8duN9eOAWQv8DIbfHug!!/ Elmar Wiesendahl, Was bleibt und was sich ändern muss an einer Inneren Führung für das 21. Jahrhundert, in: Ders. (Hrsg.), Innere Führung für das 21. Jahrhundert. Die Bundeswehr und das Erbe Baudissins. Paderborn 2007, S. 155-166. Links Zentrum Innere Führung http://www.innerefuehrung.bundeswehr.de Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) http://www.mgfa-potsdam.de/ Hamburger Institut für Sozialforschung 10 http://www.his-online.de 11
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