Foucault Revisited - Institut für Politikwissenschaft

STANDORTE
Aula
Hörsaal 1 + Hörsaal 2
Universität Wien
Altes AKH
Campus (Hof 1)
Aula
Spitalgasse 2
1090 Wien
Universität Wien
Institut für Politikwissenschaft
Neues Institutsgebäude (NIG)
Hs 1 + Hs 2, 2. OG
Universitätsstraße 7
1010 Wien
Um Anmeldung wird bis zum 01. November 2016 gebeten:
[email protected]
Foucault Revisited
Wien, am 4./5. November 2016
1
Wien, Freitag 4. November 2016
Zeit
09.15 –
9.30
09.30 –
11.00
11.00 –
11.30
11.30 –
13.00
13.00 –
14.30
14.30 –
16.00
Foucault Revisited
Aula (Campus/Altes AKH)
PoWi Hs1 (NIG)
PoWi Hs 2 (NIG)
Problematisierung 1
Moderation:
Karsten SCHUBERT
Problematisierung 2
Moderation:
Matthias FLATSCHER
Vorlesungen 1
Moderation:
Sara GEBH
Rainer MÜHLHOFF:
Affekte regieren. Subjekt
und Aufklärung im postindustriellen Kapitalismus
Mareike GEBHARDT:
Ökonomien der
Un/Sichtbarkeit. »Pest«
und »Lepra« als
Strukturprinzipien
europäischer Asylpolitik
Stefan APOSTOLOUHÖLSCHER:
Die Wahrheit hat sich
gewaschen. Genealogie
und Reenactment
Marita RAINSBOROUGH:
Ökonomie und Affekt.
Affektökonomie und
deren Grenzen im
philosophischen Konzept
von Michel Foucault
Walter SEITTER:
Der Einbezug der
Raumdimension in den
Begriff des Politischen
am Beispiel
der »Einwanderungsgesellschaft«
Theresa KAUDER:
Ethopoetik als Kritik?
Theorie 1
Moderation:
Johannes SIEGMUND
Vergleich 1
Moderation:
Margaret HADERER
Vergleich 2
Moderation:
Rahel SÜSS
Anna WIEDER:
Grenzphänomene des
Politischen im Spätwerk
Foucaults. Kritik als
Widerstand
Kerstin ANDERMANN:
Foucaults
Machtkonzeption als
immanente Theorie der
Individuation
Kathrin BRAUN /
Jürgen PORTSCHY:
Jenseits von Authentizität
und Apokalyptik: Zeit,
Zeitlichkeit und Macht
aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive
Katharina HOPPE:
Wahrsprechen und Zeugenschaft. Politiken der
Wahrheit bei Michel
Foucault und Donna
Haraway
Simon FAETS:
Figurationen der Aporie.
Überlegungen zum
Verhältnis von Christoph
Menkes »Kritik der
Rechte« und Michel
Foucaults Begriff des
Assujettissement
Begrüßung:
Oliver MARCHART &
Renate MARTINSEN
KEYNOTE
Philipp SARASIN:
Foucaults Wende,
Moderation:
Renate MARTINSEN
Kaffeepause
Mittagspause
Wien, am 4./5. November 2016
Amadeus ULRICH:
Die Geltung noumenaler
und diskursiver Macht.
Michel Foucault und
Rainer Forst im Vergleich
2
16.00 –
16.30
16.30 –
18.00
Kaffeepause
Theorie 2
Moderation:
Andreas GELHARD
Frieder VOGELMANN:
Kritik als präfigurative
Emanzipation. Eine
methodologische
Foucault-Lektüre
Karsten SCHUBERT:
Freiheit als Kritik. Zur Debatte um Freiheit bei
Michel Foucault
18.00 –
18.30
18.30 –
20.00
Foucault Revisited
Problematisierung 3
Moderation:
Gerhard UNTERTHURNER
Vergleich 3
Moderation:
Sergej SEITZ
Andreas FOLKERS:
Vom Wahrsprechen zum
Neoliberalismus.
Foucaults Genealogie
der Kritik
Hagen SCHÖLZEL:
Foucaults genealogische
Kritik der Wissensordnungen und die
»ontologische Politik« der
Akteur-Netzwerk-Theorie
Clemens REICHHOLD:
Foucault, die Linke und
die Genese des
Neoliberalismus
Lorina BUHR:
Überall und nirgendwo.
Über ontologische
Ambivalenzen im
Machtbegriff Foucaults
Pause
KEYNOTE
Thomas LEMKE:
»Eine andere
Vorgehensweise«:
Erfahrung und Kritik
bei Foucault,
Moderation:
Oliver MARCHART
Wien, am 4./5. November 2016
3
Wien, Samstag 5. November 2016
Zeit
09.15 –
10.45
10.45 –
11.15
11.15 –
12.45
12.45 –
14.15
14.15 –
15.45
Aula (Campus/Altes AKH)
Powi Hs 1 (NIG)
Powi Hs 2 (NIG)
Vergleich 4
Moderation:
Matthias FLATSCHER
Problematisierung 4
Moderation:
Karsten SCHUBERT
Vorlesungen 2
Moderation:
Sara GEBH
Sergej SEITZ /
Gerald POSSELT:
Sprachen des
Widerstands. Zur
Normativität politischer
Artikulation bei Foucault
und Rancière
Micha KNUTH:
Michel Foucaults Traum
einer Überwindung der
Souveränitätsmacht und
des herkömmlichen
Rechts
Louis BERGER:
Michel Foucault als
Denker der Reformation?
Pastoralmacht,
Gegenverhalten und
frühbürgerliche Subjektivität am Beispiel
Thomas Müntzers
Johannes HAAF:
»System sinnlicher
Evidenzen«. Foucaults
erweiterter Begriff der
Polizei und dessen
Rezeption im Werk von
Jacques Rancière
Jan SUNTRUP:
Die »Dramatik des
wahren Diskurses«. Zum
politiktheoretischen
Gehalt von Foucaults
Parrhesia-Vorlesungen
Mariana SCHÜTT:
Foucaultsche Bedeutungsverschiebungen.
Zum Verhältnis von
neuen Vorlesungen und
Buchprojekten
Theorie 3
Moderation:
Gerald POSSELT
Vorlesungen 3
Moderation:
Sergej SEITZ
Vergleich 5
Moderation:
Anna WIEDER
Matthias BOHLENDER:
Wahrheitsordnung und
Gesellschaftskritik. Zur
Genealogie des
»Kommunistischen
Manifest«
Peter ZEILLINGER:
Zwischen »Pastorat« und
»Pastoralmacht«.
Foucaults Hinweise zur
Grundlegung einer
Gemeinschaft-ohneSouveränität
Alexander STRUWE:
Foucaults nicht-dialektische Erneuerung der
Gesellschaftstheorie
KEYNOTE
Susanne KRASMANN:
Imagining Foucault
Today. Über das
digitale Subjekt und
»visual citizenship«,
Moderation:
Renate MARTINSEN
Kaffeepause
Mittagspause
Ulf BOHMANN:
Unbekannte Bekannte.
Foucaults Genealogie als
Anrufung des Politischen
Foucault Revisited
Wien, am 4./5. November 2016
Christoph HAKER:
Für eine politische
(Selbst)Kritik der
Soziologie
4
15.45 –
16.15
16.15 –
17.45
17.45 –
18.15
18.15 –
19.45
Foucault Revisited
Kaffeepause
Problematisierung 5
Moderation:
Helene GERHARDS
Vergleich 6
Moderation:
Thorsten SCHLEE
Christian HADDAD:
Biopolitik der Innovation.
(Re-)Artikulationen von
Gesundheit, Wert und
Subjektivität in der
Bioökonomie
regenerativer Medizin
Daniel WITTE:
Der Staat und die
gelehrigen Körper. Zur
politischen
Transformation von
Subjektivierungsweisen
bei Michel Foucault,
Pierre Bourdieu und
Norbert Elias
Alexander HIRSCHFELD:
Arbeit und psychische
Gesundheit. Regierung
jenseits der Trennung
von Subjekt und Objekt
Rainer ALISCH:
»Apparative
Vergesellschaftung«:
Martin Heidegger, Michel
Foucault und Karen
Barad
Pause
Podiumsdiskussion:
»Foucault und die
Politische Theorie«
Susanne KRASMANN,
Philipp SARASIN,
Renate MARTINSEN,
Oliver MARCHART,
Moderation:
Matthias FLATSCHER
Wien, am 4./5. November 2016
5
RainerAlisch(FUBerlin)
„ApparativeVergesellschaftung“.
MartinHeidegger,MichelFoucault,KarenBarad
(1) Mit seiner Rede von einem „neuen Empirismus“, respektive „neuen Realismus“, intervenierte Bruno Latour 1997 in die seit den 90er Jahren in der „Technoscience“ virulente Diskussion zum Status von Materialität. Die damalige Diskussion überschneidet sich in zahlreichen Aspekten mit Themen des sog. New
Materialism, bzw. Speculative Realism, sie ist von diesen jedoch ebenso zu unterscheiden, wie von dem etwa zeitgleich 2011 kreierten „Neuen Realismus“.
Der Begriff der „apparativen Vergesellschaftung” bezieht sich aber nicht auf die
konvergenten Elemente der neuen Materialismen/Realismen, sondern auf Vergesellschaftungsfragen wie sie sich im Kontext einer Fusion von Wissenschaft,
Technik und Industrie zu soziotechnischen Großsystemen von der „Technoscience“ her stellen.
Karen Barad wird zwar dem New Materialism zugerechnet, eine mit ihrem
Hauptwerk Meeting the Universe Halfway (2007) nahezu titelgleiche Publikation (1996), sowie nachfolgenden Arbeiten, erschienen jedoch in Publikationskontexten einer (feministischen) „philosophy of science“. D.h. Barad entfaltet
ihre Foucault-Rezeption und -Kritik primär im Horizont erkenntnistheoretischer
Fragen der „Technoscience“ – was auch ihre Zurückweisung von Foucault als
„outdatet“ (2007, 32) bestimmt. Die von ihr transformierten foucaultschen Termini, ihre Bezüge zu Judith Butler und Louis Althusser verweisen aber dennoch
auf einen vergesellschaftenden Horizont ihres Denkens, den sie im hier verfolgten Sinne jedoch nicht expliziert.
(2) Was bedeutet dies für die Frage nach der „apparative Vergesellschaftung“?
Die Diskussion ‚des‘ Apparats bildet einen der Schwerpunkte des von Barad
2012 unter dem Titel Agentieller Realismus auf deutsch publizierten Kapitels
aus Meeting the Universe Halfway. Hier stellt sie zunächst die Spezifik des Apparate-Modells von Niels Bohr vor, hebt auf dessen erkennnistheoretische Leistungsfähigkeit und Modernität ab, um letztlich – obwohl sie ihm im gesamten
Text argumentativ verhaftet bleibt – damit zu brechen. Nachdem sie das Modell
von seinen „weniger appetitlichen anthropozentrischen Elementen“ (2012, 30)
gereinigt hat, bildet es jedoch die Referenz ihrer Kritik an den foucaultschen
Diskurspraktiken, sowie für deren Umbau.
Detailliert soll im Vortrag v.a. auf die Frage der „Körpergrenzen“ und die
damit verbundene Problematik eingegangen werden. Barad nimmt die Thematik
der Körpergrenzen wiederum mit Bezug auf das bohrsche Modell auf, wobei
deren Bedeutung aus dem Kontext der „Technoscience“ resultiert: wie müssen
Foucault Revisited
Körper gedacht werden, um sie ‚apparativ‘ – also mit technischen Artefakten –
zu vergesellschaften. Die Spezifik des baradschen Ansatzes wird am heideggerschen Theorem des „break down“ (2007, 158; 2012, 52 „Panne“) diskutiert. Für
Heidegger – und Barad folgt ihm darin – enthält dieses Theorem die Anzeige
auf eine objekthabende, reflektierende Haltung, die sich als „mediation“ (2007,
152; 2012, 42 „Vermittlung“) nur parasitär, als Derivat, gegenüber einer primären Kopplung an die Welt erweist. In Meeting the Universe Halfway geht Barad über Heidegger insofern hinaus, als sie die der „Vermittlung“ inhärente semantische Dimension über eine„posthumanist“ (2007, 146) Transformation
der foucaultschen Diskurspraktiken„technoscientific“ (135) aktualisiert und
damit radikalisiert. Kurz gesagt, geht es ihr darum, die foucaultschen Diskurspraktiken für das 21. Jh. fit zu machen. Sie stehen jetzt für ein Doppeltes: für
die Vergesellschaftung mit Apparaten und für eine apparatförmige Vergesellschaftung.
Zu diskutieren wird somit sein, was der Modus des daraus resultierenden
„being of theworld“ (Hubert L. Dreyfus) verheisst, was also apparative Vergesellschaftung von ihren politischen Implikationen her bedeutet: Das heidggersche „break down“ – so legt es der us-amerikanische Heidegger- und FoucaultInterpret Dreyfus nahe – ist der Moment, in dem wir aus der Verfasstheit eines
„simply be[ing] absorbed in the world“ heraustreten, wir uns unserer Fähigkeit
zur Reflexion bewusst werden. Sind wir apparativ vergesellschaftet, also „meshed with the world“, sodass „[we] never do anything deliberately or entertain
explicit plans and goals“?
KerstinAndermann(Lüneburg)
FoucaultsMachtkonzeption
alsimmanenteTheoriederIndividuation.
Zum Ende seiner Auseinandersetzung mit Kants Beantwortung der Frage „Was
ist Aufklärung?“ von 1984 macht Foucault eine hellsichtige Bemerkung, in der
er er zwei Formen kritischer Philosophie unterscheidet. Die eine gibt sich als eine „analytische Philosophie der Wahrheit im Allgemeinen“ und die andere steht
für ein kritisches Denken, das „die Form einer Ontologie unserer selbst, einer
Ontologie der Aktualität“ annimmt. Foucault ordnet sein Denken klar der zweiten Form kritischer Philosophie zu und gleichwohl ist diese programmatische
Äußerung seltsam uneingelöst geblieben. Sie wurde vermutlich durch den Reflex negiert, den der Begriff der Ontologie in konstruktivistischen Kontexten
lange ausgelöst hat und vielleicht war es auch Foucault selbst nicht geheuer,
Wien, am 4./5. November 2016
6
seine genealogischen Analysen dezidiert in einen metaphysischen Kontext zu
stellen. Besonders Deleuze hat gezeigt, dass Foucaults Untersuchungen einen
tiefgehenden Blick auf die elementaren Strukturen der Welt frei legen, der es
tatsächlich erlaubt, hier von Ontologie zu sprechen.
Ich möchte in meinem Beitrag zeigen, dass eine Ontologie im Sinne Foucaults eine Analyse von Individuationsprozessen zu sein hat. Sie muss vorintentionale und anonyme Prozesse sichtbar machen, die nicht vorschnell individualistisch und handlungstheoretisch verengt werden dürfen, sondern vielmehr wie
überindividuelle Wirkungen und Wirkungsverhältnisse zu verstehen sind, in denen sich Individuation ereignet. Foucault macht deutlich, dass diese überindividuellen Wirkungen als Machtbeziehungen zu verstehen sind, die Wissens- und
Wahrheitsdiskurse erzeugen und die den Körper des Individuums, wie den der
Gesellschaft, vielfältig durchqueren. Unterhalb der Untersuchung der „Ökonomie der Wahrheitsdiskurse“ (Foucault) und ihrer Umsetzung in die Wirkungen
des Wissens, des Rechts, des Lebens usw., liegt die philosophische Frage nach
dem Charakter der Macht und ihrer ontologischen Struktur. Vor allem Deleuze
hat Foucaults Konzeption von Macht und Machtverhältnissen in eine ontologisch anklingende Analyse von Kräfteverhältnissen übersetzt und damit nicht
nur an Nietzsche, sondern auch an Spinoza erinnert. Foucault selbst macht deutlich, dass Macht als etwas analysiert werden muss, das zirkuliert und wie eine
Verkettung in einem Netz kapillarisch wirkt. Sie ereignet sich nicht erst zwischen denen, die sie haben und denen, die sie nicht haben, sondern sie geht
durch die Individuen hindurch und verhält sich wie eine immanente Kraft, durch
die Individuen in Wirkungszusammenhängen konstituiert werden. Wenn Machtverhältnisse für Foucault also in diesem Sinne Kräfteverhältnisse und
Wirkungsverhältnisse sind, muss die Macht selbst wie ein metaphysisches
Prinzip und als ein ontologischer Begriff verstanden werden. Sie erschöpft sich
nicht in juridischen Modellen der Ausschließung, der Repression, der Unterteilung, Reglementierung und Unterwerfung, sondern bringt viel grundlegender
die einzelnen Individuen in der Welt erst in ihrer Einzelnheit und ihrer gleichzeitigen Verbundenheit hervor und erhält sie in Wirkungszusammenhängen. Mit
seinen genealogischen Untersuchungen zur Macht hat Foucault einen der zentralen Grundbegriffe der klassischen Politischen Theorie völlig neu bestimmt
und implizit in eine philosophische Tradition gestellt, die von Spinoza über
Nietzsche eine immanente Dynamik der Individuation sichtbar macht. Die ontologische Wendung dieses Machtbegriffs (im Sinne der potentia) gibt den Blick
frei auf Machtverhältnisse als relationale Kräfteverhältnisse im immanenten Gesamtzusammenhang des Seins. Dabei bleibt in einer strengen Auffassung von
Immanenz kein Rest, der von dieser Dynamik der Macht nicht berührt würde
und ihr vorhergehen würde. Die ontologische Begründung der Gegenwart ist
Foucault Revisited
daher kein Rückgang auf eine vorgeordnete Substanz im Sinne eines Essentialismus, sondern eine Möglichkeit, ihre Genealogie wie in einem Modell zu verstehen. Foucault wieder aufzusuchen bedeutet heute auch, sich dieser metaphysischen Seite seines Denkens anzunähern und zu zeigen, inwiefern er damit die
Aporien klassischer Politischer Theorie und Philosophie überwinden kann.
StefanApostolou-Hölscher(München)
DieWahrheithatsichgewaschen.GenealogieundReenactment
Mir wird es in meinem Vortrag um das Licht gehen, das Foucaults allererste
Vorlesungsreihe am Collège de France auf eine Problematik wirft, die er Ende
der 1970er Jahre dann ‚Regierung durch die Wahrheit‘ nennen wird. In seinen
Vorlesungen Über den Willen zum Wissen von 1970/71 führt er das Problem der
Wahrheit genealogisch auf von Persien ins antike Griechenland importierte Reinigungspraktiken zurück und spricht von der daraus resultierenden Systematik
aller Diskurspraktiken, „die weder logischer noch linguistischer Natur” und erstens „durch die Abgrenzung eines Objektbereichs”, zweitens „durch die Definition einer für das Erkenntnissubjekt legitimen Perspektive” sowie drittens
„durch die Festlegung von Normen für die Entwicklung von Konzepten und
Theorien” gekennzeichnet ist.
Weil sie an auf Reinheit abzielenden Wahrheitsregimen teilhaben, sind Diskurspraktiken Foucault zufolge immer auch Ausschließungs- und „Zwangssysteme”. Im ungeraden Verlauf der ausufernden Ausführungen zu seiner eigensinnigen Lesart des Ödipus von Sophokles, der zufolge es in der antiken Tragödie weniger um eine Wahrheit des Begehrens denn vielmehr um das Problem
der Wahrheit selbst geht, stellt er an entscheidender Stelle einen nicht nur von
demjenigen dekonstruktiv geprägter Kollegen stark abweichenden Ereignisbegriff zur Diskussion und den innerhalb von Diskurspraktiken geschaffenen ‚Tatsachen‘ kontrastierend gegenüber: „Das Ereignis der Form der festgestellten
Tatsache zu unterwerfen, das ist der erste Aspekt der ödipalen Wahrheit.” Vor
diesem Hintergrund weist er darauf hin, dass die Historie auf Formationen von
Macht und Wissen beruht, die Netze auswerfen, in welche die Ereignisse eingespannt werden. In einem Vokabular, das wichtige Figuren seines späteren Aufsatzes Das Leben der infamen Menschen vorwegnimmt, beschreibt er, inwiefern
so eine „Machtverteilung im Wissen” etabliert wird, zu dem „nur Weisheit und
Reinheit” Zugang gewähren.
Im Kontext einer solchen Genealogie der Wahrheit wird es mir um das widerständige Potential künstlerischer Reenactments gehen, das darin besteht, die
Geschichte aufzubrechen und etwas am vergangenen Ereignis zur Erscheinung
Wien, am 4./5. November 2016
7
zu bringen, das durch die Maschen der Aufschreibe- und Einordnungstechniken
gefallen ist, obwohl es gleichzeitig von ihnen mitkonstituiert wurde. Künstlerisches Reenactment könnte demnach die Verunreinigung der Tatsachen bedeuten, die den Boden unserer Gegenwart bilden.
LouisBerger(FUBerlin)
MichelFoucaultalsDenkerderReformation?
Pastoralmacht,GegenverhaltenundfrühbürgerlicheSubjektivität
amBeispielThomasMüntzers
Im ersten Teil seiner Gouvernementalitätsvorlesungen Sécurité, Territoire et
Population (1977–1978) weist Michel Foucault der protestantischen Reformation eine entscheidende Rolle im Übergang von der Pastoral der Seelen zur politischen Regierung der Menschen zu: Sie gilt ihm als„radikalste Form und zu
gleich erneutes In-die-Hand-Nehmen“ einer Vielzahl von antipastoralen Revolten des 15. und 16. Jahrhunderts, die nicht nur als „Intensivierung des religiösen
Pastorats“ sondern auch als „Kampf für eine neue Subjektivität“ bewertet werden können. Allerdings entfaltet Foucault diese These nur in Ansätzen, ohne
ausgedehnte Betrachtung historischer Quellen und hinterlässt folglich eher ein
Forschungsprogramm als ein abgeschlossenes Projekt Der vorgeschlagene Beitrag führt dieses Vorhaben fort und stellt am Beispiel des Theologen und Reformators Thomas Müntzer (1489–1525) den gegen die Pastoralmacht gerichteten, Subjektivität transformierenden Widerstand der protestantischen Reformation dar. Diese Untersuchung soll in drei Schritten erfolgen: Einführend werde
ich Foucaults Konzeption der Macht als organisierend-wandelnde Vielfalt von
Kräfteverhältnissen und ihre durch eine spezifische Beziehung zu Heil, Gesetz
und Wahrheit gekennzeichnete christliche Ausprägung, die Pastoralmacht, sowie gegen diese revoltierende Praktiken, das Gegen-Verhalten, erläutern. Im
zweiten Teil soll das zuvor entwickelte Interpretationsschema auf zwei Schriften Müntzers (Auslegung des anderen Unterschieds Danielis (1524) und Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens (1524)) angewandt und in ihnen aufscheinende Praktiken des Gegen-Verhaltens identifiziert werden.
Abschließend werde ich darlegen, welche neue Subjektivität das müntzersche
Gegen- Verhalten hervorbringt und diese Erörterung mit der maßgeblich durch
in der Tradition des Historischen Materialismus stehende Geschichtswissenschaftler entwickelten Deutung der Reformation als ,frühbürgerliche Revolution‘ verknüpfen. Dementsprechend verfolgt der Beitrag ein zweifaches Ziel: Einerseits soll die von Foucault vorgeschlagene Deutung der Reformation an his-
Foucault Revisited
torischen Quellen auf ihre Tauglichkeit überprüft und dadurch ein weiterer Beitrag zur reformationsgeschichtlichen Aneignung Foucaults geleistet, andererseits ein neuartiger Ansatz zur Bestimmung des Zusammenhangs von Theologie
und Revolte bei Müntzer zur Diskussion gestellt und so eine Reaktualisierung
der These einer ,frühbürgerlichen Revolution‘ ermöglicht werden.
MatthiasBohlender(Osnabrück)
WahrheitsordnungundGesellschaftskritik.
ZurGenealogiedes„KommunistischenManifest“
Als im Februar 1848 eine 23-seitige Broschüre mit dem Titel „Manifest der
kommunistischen Partei“ im Londoner Arbeiterbildungsverein deutscher sozialistischer und kommunistischer Exilanten in Druck ging, schien es äußerst unwahrscheinlich, dass hier ein Stück „Weltliteratur“ in die Öffentlichkeit gelangen würde. Selbst die unmittelbar folgenden Revolutionen in Europa führten
nicht dazu, dass der Text, der diese Revolutionen wortgewaltig angekündigt und
beschworen hatte, reißenden Absatz fand. Heute, knapp 170 Jahre nach seinem
Erscheinen, hat der Text den Status eines „Klassikers“ – nicht nur der politischen Theorie, sondern der Literatur schlechthin, er ist Weltkulturerbe geworden. Die einen loben seine Stilistik und prophetischen Gaben, andere bewundern die analytische Schärfe und die politische Wucht des Textes. Mir allerdings geht es um etwas anderes. Mit Foucaults geschärfter genealogischer Perspektive will ich eine Problematik freilegen, die den Text durchzieht und die
grundlegende Frage von Wahrheit und Gesellschaftskritik berührt.
Nun könnte man meinen, die Dinge liegen auf der Hand, sind manifest. Geht
es nicht um die Wahrheit des Kapitalismus und seine notwendig revolutionäre
Umwälzung durch ein Proletariat, das im Klassenkampf mit der Bourgeoisie am
Ende siegen und den kommunistischen Verein freier Menschen etablieren wird?
Aber hier sind wir schon mitten in den Unklarheiten und Problemen, in den
Kämpfen und Konflikten um die Fragen, die ab Mitte der 1840er Jahre in einer
im weitesten Sinne plebejische-proletarischen Öffentlichkeit diskutiert werden:
Was und wer ist das Proletariat? Was heißt Revolution? Was muss man sich unter Kommunismus vorstellen? Im Frühjahr 1846 treten Marx und Engels in diese plebejisch-proletarische Öffentlichkeit ein; sie verlassen den junghegelianischen Raum philosophischer Kritik und knüpfen politische Verbindungen mit
dem „Bund der Gerechten“, der in Paris, London, der Schweiz und Deutschland
weitgehend von Handwerker-Arbeitern organisiert ist und ein gut funktionierendes politisches Netzwerk auch über Europa hinaus betreibt. Man hat dieses
Wien, am 4./5. November 2016
8
erste Zusammentreffen von Marx und Engels mit der organisierten Arbeiterbewegung entweder ignoriert oder man hat es heroisiert. Von Engels angefangen
über die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung bis in die linke und liberale Historiographie der Gegenwart hinein sprach und spricht man von einer
„Verschmelzung“. Die Wahrheit der Theorie amalgamierte sich nun endlich mit
der wahren Praxis der Bewegung; zusammen gebaren sie einen „kritischen
Kommunismus“ der nicht klarer als im Manifest ausgedrückt werden konnte.
Gegen diese Heldengeschichte werde ich versuchen eine andere Geschichte
zu erzählen, eine Genealogie des „kritischen Kommunismus“ (Marx). Eine Genealogie, so hat es Foucault beschrieben, ist eine Art der Geschichtsschreibung,
die die Zufälligkeit, die Gewalttätigkeit und die Ereignishaftigkeit der beschriebenen Wahrheiten in den Mittelpunkt rückt; die die Herkunft spezifischer Sinnpraktiken aus Kämpfen, Auseinandersetzungen, Gehässigkeiten, Ausschließungen und Verwerfungen rekonstruiert. Dieser Linie Foucaults werde ich folgen
und ein bestimmtes aber auch ganz zufälliges Ereignis in den Mittelpunkt rücken: Das Zusammentreffen von Marx mit Wilhelm Weitling, dem kommunistischen Schneidergesellen und Gründer des „Bundes der Gerechten“. Am Ende
dieses Zusammentreffens wird tatsächlich das Kommunistische Manifest stehen, die Offenlegung einer neuen Wahrheitsordnung (oder eines Wahrheitsregimes) und die Umwandlung des Bundes der Gerechten in den Bund der Kommunisten. Am Ende dieses Zusammentreffens wird aber auch ein Preis zu zahlen sein: Weitling und seine Anhänger werden künftig keine Rolle mehr spielen;
nicht einmal der Name „Weitling“ wird im Manifest Erwähnung finden; Weitling und seine „Kommunisten“ (wie im Übrigen auch die Anhänger von Proudhon und Karl Grün) werden zu „Feinden“ er- klärt und aus einer Organisation
ausgeschlossen, die sie wesentlich mitgegründet hatten.
Was ich demnach mit der genealogischen Perspektive Foucaults zeigen
möchte, ist im Grunde zweierlei: Zum einen geht es mir um die Prozeduren der
Durchsetzung einer neuen Wahrheitsordnung im durchaus noch unklaren und
offenen Feld des kommunistisch Sagbaren. Es geht um die Einschreibung eines
neuen gesellschaftskritischen Dispositivs in die da- malige Arbeiterbewegung
mit samt den Verwerfungen, Ausschlüssen und Feinderklärungen. Zum anderen
geht es mir um eine folgenschwere Verwandlung: Das Zusammentreffen einer
bis dahin weitgehend philosophisch-kritischen Aktivität mit einer organisierten
politisch- plebejischen Bewegung verwandelt diese Kritik in eine radikale und
revolutionäre Gesellschaftskritik, die fortan nicht mehr ohne eine grundlegende
politisch-soziale Programmatik, ohne parteistrategische Ausrichtung, ohne politisch-pädagogische Lehr- und Erziehungsmaß- nahmen und vor allem nicht
mehr ohne klare Scheidelinien des Kommunistischen vom Nicht- Kommunistischen auskommt. Das Kommunistische Manifest ist daher genau das: die sicht-
Foucault Revisited
bare und hoch problematische „Verschmelzung“ von Wahrheitsordnung und radikaler Gesellschaftskritik.
UlfBohmann(Jena)
UnbekannteBekannte.
FoucaultsGenealogiealsAnrufungdesPolitischen
Für die zeitgenössische politik- und sozialwissenschaftliche Aneignung hat
Foucaults unter dem Namen ‚Genealogie‘ firmierende programmatische Methodologie im Vergleich zu manch anderen Instrumenten, Verfahren und Theoremen ein eigentümliches Schattendasein geführt. Dies scheint seit geraumer Zeit
im Wandel begriffen, schießen doch vor allem aktuell neue Anwendungen wie
Pilze aus dem Boden. Gleichzeitig wird ebendiese Genealogie zunehmend als
eine politisch- ideengeschichtliche Methode eigentümlicher Couleur – oder als
das Andere einer ebensolchen Methode – adressiert.
Schlichtweg bemerkenswert ist demgegenüber, wie weit über das handelsübliche Ausmaß hinaus die Genealogie selbst bei denjenigen politiktheoretischen
Anwenderinnen, die sich keiner bloß flüchtig- oberflächlichen Bezugnahme oder rein modischer Etikettierung schuldig machen, im Unklaren verbleibt. So
bekannt sie ob ihres beliebten Einsatzes zu sein scheint, so unbekannt ist das
Wesen der Foucaultschen Genealogie geblieben. Dies kommt jedoch nicht von
ungefähr.
Foucaults Überwachen und Strafen (1975) wird weithin – und zurecht – als
Paradebeispiel seiner Genealogie aufgerufen, doch ausgerechnet hier findet sich
der Begriff in einem gehaltvolleren Sinne ganze zwei Mal. Zugleich bleibt der
Autor, wie in dieser Textsorte bei ihm üblich, praktisch jeglichen Einblick in
methodologische Hintergedanken oder verfahrensbezogene Regieanweisungen
schuldig. Dies gilt auch für die anderen historischen Arbeiten jenseits der gerne
(und fälschlich) ausgerufenen mittleren ‚Machtphase‘ Foucaults (wie Wahnsinn
und Gesellschaft, 1969), die ebenfalls deutlich genealogische Züge tragen.
Die vermeintlich maßgebliche programmatische Hauptquelle, oder zumindest
der dafür am häufigsten genannte Text, ist demgegenüber Nietzsche, die Genealogie, die Historie (1971). Ausgerechnet dieser geriert sich jedoch als Foucaultsche Maskerade, als ein Spiel der Impersonierung Nietzsches, in dessen Volten
weder erkennbar wird, wer spricht, noch, welche methodologischen Aspekte
sich zur Anwendung eignen, und gegebenenfalls mit welcher Konsequenz. Etwa
die dortige Auseinandersetzung der potentiellen genealogischen Grundbegriffe
Herkunft, Ursprung, Entstehung, Geburt oder Abkunft bleiben in der Interpreta-
Wien, am 4./5. November 2016
9
tion heikel, und offenbar ohne jegliche Relevanz für heutige politiktheoretische
Praktiker.
Eine Wiederbegutachtung von Foucaults Genealogie und ihrer politiktheoretischen Bedeutung bedarf mithin einer zwar immanent gewonnenen, aber
gleichsam von außen heranzutragenden modellhaften Heuristik, mit der faktisch
verwendete, theoretisch mögliche und methodisch sinnvolle Bauelemente einer
Genealogie identifiziert werden können. Dies soll der hier vorgeschlagene Vortrag leisten. Für einen solchen kleinen Architekturführer stütze ich mich auf
meine Dissertation ‚Schwarze‘ und ‚weiße‘ Genealogie. Die kritische Funktion
von Historisierungen nach Michel Foucault und Charles Taylor (2014).
Jenseits von exegetischen Landgewinnen bleibt die politiktheoretische Relevanz sowohl der Analyse wie des Einsatzes der Foucaultschen Genealogie
gleichwohl enorm: Wie kaum ein zweites Verfahren betreibt sie Entselbstverständlichung, oder auch drastischer: Subversion. Insofern ist das Verhältnis zu
klassisch normativen Ansätzen der Politischen Theorie kein herzliches. Gleichwohl gehört die Genealogie aufgrund ihrer normativen (nämlich delegitimierenden) Effekte in den gut sortierten politiktheoretischen Waffenschrank. Zugespitzt verfolgt sie stets ein Hauptziel: Sie ruft das Politische auf den Plan.
KathrinBraun/JürgenPortschy(Wien)
JenseitsvonAuthentizitätundApokalyptik.Zeit,Zeitlichkeitund
MachtausgouvernementalitätstheoretischerPerspektive
The paper suggests a Foucault-inspired political science perspective on issues of
time, temporality and governmentality, discussing current debates on the relationship of time and power in social and political science more broadly. Currently, much of the philosophical and social science literature that theorizes profound ongoing changes in time and temporality is preoccupied with the
rise and decline of “clock time”, seen as a characteristic of modernity. Various
approaches building on different philosophical traditions suggest that the dominance of “clock time” is giving way to a sort of late-modern “event time”, a
point often aligned with the generalizing claim that history is coming to a close.
The paper addresses this literature, focusing specifically on its theoriza- tion of
time, temporality and power, but will also go beyond it. We contend that current
debates on the transformation of time, temporality and power are characterized
by two tendencies: authenticism and apocalypticism. While the former assumes
some substantial temporal force or dynamic that gets blocked up by the dominant mechanisms of organizing time and hence must be recovered or restored,
Foucault Revisited
the latter totalizes the heterogeneity of temporal forms from the standpoint of its
own present, which is conceived as a fundamental break in time and tends to
miss the contingent and contested nature of the various conflicting temporalities. While both tendencies see themselves as being critical, we will point out
some problems when it comes to formulate a critical perspective on issues of
time, temporality and power. We will contrast these tendencies to a foucauldian
approach, which 1) also accounts for the specificities of the present situation,
while 2) introducing a reformulated concept of history built on contingency and
conflict, and 3) shifting the analytical focus on genealogies of governmental
techniques, rationalities and mechanisms of temporalisation, which effectuate
different forms of time and temporality. We will argue that Foucault offers a
critical account of power and time on two levels: a) a critique of hegemonic, totalizing notions of history and b) genealogical analyses of different forms of
power based on and operating through specific mechanism and regimes of time.
Here, we will sketch out the temporal mechanisms built into the respective
forms of power: Sovereignty: representation of a unified history, mythical time
of origins, timeless logic of eternity; Discipline: capture of individual lifetime,
time as an instrument of control and coordination of bodily activities, efficient
time use, adaptation of the body to temporal imperatives, habitualization of
time-norms of industrial societies, prevention of the re-occurence of an event by
shaping embodied activities in the present.
Security apparatuses: regulation of statistically measurable “bio-social” properties of a population by means of the probability calculus, concerned with governing an open series of possible events, minimizing risks, focus on the aleatoryNeoliberal Government: entrepreneurial self, investment in human capital,
constant concern about the future, individualization of risk, governing by contingency.We argue that Foucault offers a way to examine the historically specific interrelations between time and power in modern and late-modern society
without falling back on romantic notions of an undistorted time on the one hand
or apocalyptic accounts of the end of time on the other that deny the possibility
of further struggles. Rather, we argue, Foucault helps us to see that local struggles over power and time are still going on.
Wien, am 4./5. November 2016
10
LorinaBuhr(Erfurt)
Überallundnirgendwo.
ÜberontologischeAmbivalenzenimMachtbegriffFoucaults
„Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht
überall“, erklärt Foucault in Der Wille zum Wissen, wohingegen Macht in der
Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft (beide 1976) als etwas charakterisiert wird, das „niemals hier und dort anzutreffen“ sei. Die Diskussion um den
ontologischen Status der Macht hat Foucault durch diese (scheinbar) widersprüchlichen Aussagen selbst vorbereitet. Foucault selbst wehrte sich vehement
gegen den Vorwurf, so etwas wie eine „Metaphysik“ oder „Ontologie“ der
Macht oder einen ontologischen Machtbegriff anzuwenden. Die Frage nach dem
ontologischen Status der Macht ist immer wieder in der Foucault-Rezeption
thematisiert worden, wobei die Beurteilungen sehr uneinheitlich ausfallen. In
der deutschsprachigen Foucault-Rezeption wird die Frage zumeist mit einer philosophiegeschichtlichen Erörterung verbunden, die diskutiert, ob und inwiefern
Foucault in einer spinozistischen Tradition des Machtbegriffs einzuordnen ist.
Ulrich Johannes Schneider vertritt den Standpunkt, dass Foucault einen ontologischen Machtbegriff formuliert, der jedoch nicht direkt auf Spinozas Begriff
der potentia zurückzuführen sei, allerdings vertrete Foucault einen „politischen
Spinozismus“, der sich durch Ablehnung einer zentralen Ordnungsrationalität
auszeichnet. Ähnlich argumentiert Balke. Saar ist zurückhaltender, Foucault einen ontologischen Machtbegriff zu attestieren; ein derart allgemein-metaphysisch konzipierter Machtbegriff sei unverträglich mit Foucaults strategisch
akzentuiertem Machtbegriff. Soweit scheint die Lage unentschieden.
Die Frage um den ontologischen Status von Macht hat nun eine ganz anders
situierte Belebung erfahren, wenn auch in einer weniger expliziten Ausformulierung. So hat Andrew Sayer, ein Vertreter des Critical Realism, kürzlich den
Versuch unternommen, Foucaults „ubiquitäre Machtkonzeption“ mit dem Konzept der „causal powers“ in Einklang zu bringen. Er vertritt die (ontologisch)
provokante These, dass Foucaults Machtkonzeption „kompatibel ist mit Begriffen von Verursachung oder Macht, die auf Fähigkeiten von Objekten referieren,
denn verstreute Macht setzt Kausalität und causal powers voraus.“ In meinem
Vortrag möchte ich eine Argumentation entwickeln, die einerseits eine solcher
Art gelagerte ontologische Kompatibilitätsthese These als äußerst problematisch
aufzeigt, und die andererseits eine Präzisierung einer möglichen Ontologie in
Foucaults Machtbegriff erlaubt.
Der Kern meines Gegen-Arguments lautet kurz zusammengefasst, dass die
dem Konzept der causal powers zugrundeliegende Objekt-zentrierte Ontologie
Foucault Revisited
(„Alle Objekte – ob sozial oder nicht – haben spezifische powers oder Potenziale“) unverträglich mit dem Relationalitätscharakter des foucaultschen Machtbegriff ist. Für Foucault ist Macht in dem Sinne relational, dass sie nicht in den
Relata bzw. in den Objekten/Subjekten situiert ist, sondern in der Relation
selbst, „in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt“. Ausgehend von dieser
Analyse, möchte ich das „ontologische Modell“ in Foucaults Machbegriff präzisieren, um eine Position in der Diskussion um den ontologischen Status der
Macht beziehen zu können. Ich argumentiere dafür, dass der Machtbegriff
Foucaults auf einer „pluralen relationalen“ Ontologie aufbaut, darunter fasse ich
eine Ontologie, die Relationen als (primär) Gegebenes ansetzt, nicht aber Objekte oder Individuen. Eine derartige plurale relationale Ontologie ist nicht zu
verwechseln mit einer substanzmonistischen relationalen Ontologie, die Spinoza
vertreten hat. Foucault scheint genau diese Art von Metaphysik vor Augen gehabt zu haben, als er bestreitet, eine Ontologie der Macht zu vertreten. Es ließe
sich noch ergänzen: Eine relationale Ontologie taucht schließlich nicht nur in
Foucaults Machtbegriff, sondern auch in dem Projekt einer „Historischen Ontologie“ bzw. „Ontologie der Gegenwart“ auf: In seinem Aufsatz Von anderen
Räumen diagnostiziert Foucault eine gegenwärtig dominante Vorstellung von
der Welt als „Netz, dessen Stränge sich kreuzen und Punkte verbinden“, die mit
einer spezifischen relationalen Bedeutsamkeit des Raumes korreliert: „Wir leben (...) innerhalb einer Menge von Relationen, die Orte definieren, welche sich
nicht aufeinander reduzieren und einander absolut nicht überlagern lassen.“
Mein Beitrag versucht das Verhältnis von Ontologie und Macht aus metaontologischer Perspektive zu befragen. Eine solche meta-ontologische Analyse
fehlt bisher nicht nur in der Foucault-Rezeption, soweit ich das überschauen
kann, sondern insgesamt in der Diskussion des politiktheoretischen Grundbegriffs der Macht.
SimonFaets(München)
FigurationenderAporie.
ÜberlegungenzumVerhältnisvonChristophMenkes„Kritikder
Rechte“undMichelFoucaultsBegriffdesassujettissement Ausgangspunkt des Vortrags bildet Foucaults Begriff der Subjektivierung, dessen Struktur Foucault in der Figur des assujettissement als grundsätzlich aporetisch beschreibt. Diese Strukturbestimmung nimmt für Foucault deshalb eine
Schlüsselfunktion ein, weil die Aporie den Begriff der Subjektivierung konstituiert: Die im Konzept des assujettissement enthaltene Aporie besteht dabei darin,
Wien, am 4./5. November 2016
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dass „assujettissement sowohl das Werden des Subjekts wie den Prozess der
Unterwerfung bezeichnet – die Figur der Autonomie bewohnt man nur, indem
man einer Macht unterworfen wird, eine Subjektivation, die eine radikale Abhängigkeit impliziert.“ (Butler, 2001, 81)
In seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität führt Foucault
den Begriff der Biopolitik ein, um die spezifische Machtform des modernen
Bevölkerungsstaates zu kennzeichnen. Auch hier ist die Figur der Aporie im
Hinblick auf Foucaults Machtkritik von entscheidender systematischer Bedeutung: Indem sich die biopolitische Macht auf das biologische Leben des Einzelnen und der Gattung bezieht und die Regulierung des lebendigen Körpers und
der Volksgesundheit zum Einsatz ihrer politischen Strategien macht, führt dieselbe biopolitische „Regierung der Menschen“ auf der anderen Seite zu einer
Animalisierung bzw. Prekarisierung des Menschen (Agamben), sodass der
Schutz des Lebens mit der paradoxen Freigabe der Tötung anderer einhergeht.
Auf diese Paradoxie haben sich besonders Giorgio Agamben und Achille
Mbembe konzentriert.
Der Frankfurter Philosoph Christoph Menke hat demgegenüber in seiner
2015 erschienenen „Kritik der Rechte“ ausgehend von der Foucaultschen Diagnose der biopolitischen Verfassung moderner, liberaler Gesellschaften eine kritische Analyse der Form subjektiver Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft
entwickelt. Menke spitzt dabei Foucaults Diagnose anhand einer rechtsphilosophischen Akzentuierung zu, indem er nach dem spezifischen Herrschaftsmechanismus fragt, der „das moderne ökonomische, biopolitische Regime, das Regime der ››bürgerlichen Gesellschaft‹‹ hervorbringt“ (Menke, 2015, 202). Nach
Menke „setzt [d]as bürgerliche Subjekt, das Foucault beschreibt, einen radikalen
Umbau in der normativen Ordnung der Gesellschaft voraus (...).“ (Menke, 2015,
202) Diesen normativen Umbau verortet Menke in der Etablierung der Form
subjektiver Rechte: Indem subjektive Rechte das bürgerliche Subjekt gegenüber
der Politik ermächtigen, entmächtigen sie zugleich die Politik, die unter dem
Regime subjektiver Rechte dazu tendiert, den privaten Eigenwillen der Einzelnen bloß zu schützen und von außen zu regulieren, anstatt ihn politisch von innen zu normieren. Die biopolitisch-gouvernementale Regierung ist daher nach
Menke der Herrschaftseffekt subjektiver Rechte: „Durch ihre innere Struktur
veräußerlicht sich die politische Macht oder bringt sie ein ihr entzogenes Äußeres hervor.“ (Menke, 2015, 318)
Vor diesem Hintergrund möchte ich die Frage nach dem Verhältnis zwischen
Menkes Rechtskritik und Foucaults Begriff des assujettissement aufwerfen. Die
These lautet: Menke entwickelt seine Rechtskritik dadurch, dass er den rechtlichen Herrschaftsmechanismus begrifflich auf der Folie von Foucaults Verständnis von Subjektivierung liest. Das Motiv der inneren Spannung, das
Foucault Revisited
Foucault seinem Konzept des assujettissement zugrunde legt, erlaubt es Menke,
die Herrschaft subjektiver Rechte in ihrer aporetischen Struktur zu begreifen:
In- dem es durch subjektive Rechte gegenüber der Politik ermächtigt wird, wird
das bürgerliche Subjekt zugleich der biopolitischen Macht unterworfen. Die
moderne Rechtsordnung konstituiert das autonome Subjekt der bürgerlichen
Gesellschaft, indem sie es an die Formvorschriften subjektiver Rechte bindet.
Von der politischen Normierung freigegeben, ist das moderne Subjekt umso
unmittelbarer den sozialen Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft ausgesetzt.
Auf diese gouvernementale Weise wird es der biopolitischen Eigenlogik des
gegenüber politischer Regulierung autonomen Gesellschaftszusammenhangs
unterworfen. Auf dieser Basis möchte ich Menkes zentrale rechtskritische Argumente im Hinblick auf den Mechanismus der Aporie herausarbeiten und dabei speziell auf die strukturellen Analogien und Abhängigkeiten im Verhältnis
zu Foucaults Begriff des assujettissement fokussieren.
AndreasFolkers(Frankfurt)
VomWahrsprechenzumNeoliberalismus.
FoucaultsGenealogiederKritik
Dass Foucaults genealogische Methode einen Modus der Kritik darstellt ist
mittlerweile common sense. In diesem Vortrag will ich daher nicht ein weiteres
Mal Foucaults „Genealogie als Kritik“ (Saar 2007) darstellen, sondern vielmehr
die Aufmerksamkeit auf Foucaults Genealogie der Kritik lenken. In seinen Vorlesungen ab Ende der 1970er Jahre hat Foucault (2006, 1996, 1992, 2010, 2009)
die Ursprünge und Trajektorien kritischer Praktiken von der Antike bis in die
Moderne verfolgt. Ich werde zeigen, dass die Auseinandersetzung mit der Genealogie der Kritik dabei zu einer Modifikation von Foucaults theoretischen
Grundannahmen geführt hat. Seine Kritik hat nun eine deutlich affirmativere
Tendenz und besteht nicht mehr nur darin, Vorstellungen und Praktiken der Gegenwart mit ihren unrühmlichen Ursprüngen zu konfrontieren. Vielmehr beleuchtet er eine komplexe Politik der Wahrheit als agnostisches Wechselspiel
von politischem Machtwissen und der Kritik des politischen Gebrauchs der
Wahrheit und distanziert sich damit von einem denunziatorischen Modus der
Kritik. Damit lässt sich Foucault in jüngere Debatten zur Problematisierung
bzw. Kritik der Kritik einschreiben, wie sie von so unterschiedlichen Denker_innen wie etwa Rancière, Boltanski, Chiapello, Thevenot und Latour geführt wird.
Wien, am 4./5. November 2016
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Der Vortrag wird die Genealogie der Kritik im Anschluss an Foucault darstellen und mit Rekurs auf andere Ansätze etwa aus der Begriffsgeschichte (Koselleck 1973) sowie jüngeren Debatten zum Liberalismus und Neoliberalismus
(Tellmann 2009, Gane 2014, Rothschild 2001) ergänzen.
Die historische Matrix der Kritik sieht Foucault in der antiken Praxis des
Wahrsprechens, der parrhesia. Kritik besteht hier darin, die Mächtigen mit einer
unbequemen Wahrheit zu konfrontieren (Foucault 1996, 2009). Mit Beginn der
modernen Gouvernementalität zunächst in der kirchlichen Macht des Pastorals
und dann der politischen Macht der Staatsräson wird die Wahrheit zu einer
Technologie der Macht. Der Wille zum Wissen hat sich mit dem Willen zur
Macht verbündet. Deshalb ist die moderne Kritik immer auch eine kritische
Überprüfung von Wahrheitsansprüchen und deren Machtwirkungen. Das zeigt
sich besonders an der deutschen Aufklärung, die Foucault (2005) anhand von
Kant diskutiert, sowie der schottischen Aufklärung, die Foucault (2006) in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität anhand von Smith und Hume analysiert. So wie es Grenzen der Vernunft gibt, die etwa von der Philosophie nicht
überschritten werden dürfen, gibt es Grenzen für das Wissen der Regierenden
über Marktvorgänge. Wenn diese Grenzen überschritten werden liegt in den
Augen der Kritiker eine Pathologie der Vernunft bzw. der Regierungsrationalität vor. Der Liberalismus ist daher nicht nur als Regierungsrationalität zu betrachten, sondern ebenso als Kritik der Regierung, als Kritik der Pathologien der
politischen Vernunft. Das gilt auch für etliche Vertreter des neoliberalen Denkkollektivs. Gerade die Vertreter der österreichischen Schule wie Hayek und von
Mises waren nicht nur in neukantianischer Erkenntniskritik geschult (Gane
2014), sondern zudem eifrige Kritiker der vielfältigen „Anmaßungen des Wissens“ (Hayek 1989).
Zum Abschluss wird der Vortrag diskutieren, welche Konsequenzen aus diesem Befund für die Kritische Theorie folgen, die sich 1.) in den letzten Jahrzehnten zentral mit der Kritik des Neoliberalismus befasst hat und die 2.) nicht
selten ihrerseits als Kritik an den Wahrheitsansprüchen der Macht aufgetreten
ist. Ist Foucaults Kritik an den Verschränkungen von Wissen und Macht am Ende neoliberal? Oder gibt es einen prinzipiellen Unterschied zwischen „linker“
und „rechter“ Kritik der politischen Vernunft?
Foucault Revisited
MareikeGebhardt(Erlangen-Nürnberg)
ÖkonomienderUn/Sichtbarkeit.
„Pest“und„Lepra“alsStrukturprinzipieneuropäischerAsylpolitik
In Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses beschreibt Foucault
anhand von Berichten aus dem 17. Jahrhundert, wie Gemeinden mit den Krankheiten Pest und Lepra umgingen: wie Erkrankte, Ärzt_innen, Helfer_innen, Totengräber_innen, Geistliche und schließlich die gesamte Bevölkerung bürokratisch erfasst und räumlich geordnet wurden, um die Seuche einzudämmen und
zu überwinden. Die Bekämpfung der Lepra folgt einem binären Code aus Einund Ausschluss: Die Erkrankten werden vor die Mauern der Stadt gebracht und
ihrem Schicksal überlassen. Innerhalb der räumlichen Einhegungen der Stadt
droht so keine Ansteckung – die Normalbevölkerung befindet sich in Sicherheit.
Dagegen folgt die Strategie zur Bekämpfung der Pest einem akkuraten Kontrollsystem, das über komplexe Ein- und Ausschlussmechanismen Erkrankte
und Gesunde erfasst und präzise parzelliert. Der Kampf gegen die Pest folgt daher einem Disziplinar- und Machtapparat, der verschiedene Logiken des Einund Ausschlusses miteinander verzahnt und die erkrankte Stadt unter das Regime genauester Protokollierung und Identifikation stellt.
Anhand dieses medizinischen Berichts entwickelt Foucault zwei Strukturprinzipien, die in je spezifischer Art und Weise die ‚Erkrankung‘ eines soziopolitischen Raums strukturieren und an je einem spezifischen Ideal ausgerichtet
sind: Die Strategien der Bekämpfung der Lepra folgen für Foucault einem
Traum der Reinheit; diejenigen der Pest einem Traum von Disziplinierung. Beide Phantasmen greifen jedoch auch in liberalen Demokratien des 21. Jahrhunderts: Aus einer demokratietheoretischen Perspektive formuliert der Vortrag im
Anschluss an Foucaults Erörterungen zu Pest und zur Lepra die These, dass diese beiden Strukturprinzipien in den juridico-politischen Strukturen europäischer
Asylpolitiken zu finden sind.
Untersucht man die Funktionslogiken von Erstaufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünften, Aufnahme- und Rückführungszentren wird die
„Raumordnung einer Macht“ erkennbar, die zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit changiert. Hinter den Zäunen und Bewachungsmaßnahmen dieser
Lager werden die Insass_innen für den Alltag der ‚Normalbevölkerung‘ unsichtbar. Jedoch wird jede_r Insasse_in räumlich, zeitlich und persönlich identifiziert, um jeder- zeit und an jedem Ort erfasst werden zu können. Dazu werden
die Insass_innen datentechnisch erfasst, medizinisch geprüft, ihr rechtlicher Status ermittelt und schließlich werden sie als Kategorie oder Nummer ins System
eingespeist. Diese administrative Totalsichtbarkeit steht einer lebensweltlichen
Wien, am 4./5. November 2016
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Unsichtbarkeit gegenüber. Zwischen diesen Polen und den vielen Schatten- reichen zwischen ihnen bewegen sich Geflüchtete und Asylsuchende. Auf sie reagiert die staatliche Machtapparatur in manchen Momenten mit dem Strukturprinzip der Lepra, so zum Beispiel nach dem Beschluss der EU die Außengrenzen stärker zu befestigen, um so ‚Dämme‘ gegen die ‚Ströme‘ geflüchteter
Menschen zu errichten. Damit ‚verschwinden‘ diese Menschen scheinbar. Ihre
Unsichtbarkeit tilgt die Bedrohung der Reinheit, die durch die Alterität der
Asylsuchenden und Geflüchteten in das Gemeinwesen eingedrungen war. Hier
greift also das Prinzip der Lepra. Diejenigen jedoch, die sich bereits auf dem
Territorium der EU befinden, es mit ihrer Fremdheit bereits ‚infiziert‘ haben,
müssen genauestens erfasst und protokolliert werden – um z.B. die DublinAbkommen endlich einhalten oder um die Regelungen zu den sicheren Drittstaaten bzw. Herkunftsländern durchsetzen zu können. Hier muss jedes Individuum genau geprüft werden – sein Gesundheitszustand, sein Geschlecht, seine
Herkunft, seine Religion, seine Motive der Flucht. Hier reicht es nicht, auszuschließen – hier muss das Individuum in einem komplexen Netz aus Ein- und
Ausschlüssen in den zuständigen Einrichtungen und Lagern gefangen gehalten
werden. Es darf weder entkommen noch unsichtbar werden.
Mit Hilfe von Foucaults Strukturprinzipien der Pest und der Lepra, in denen
eine spezifische „Mikrophysik der Macht“ der juridico-politischen Regime der
Un/Sichtbarkeit zum Tragen kommt, wird der Vortrag in einem ersten Schritt
auf die analytische Entwicklung der Strukturprinzipien eingehen. Im Anschluss
werden in einem zweiten Schritt verschiedene rechtliche Regelungen des europäischen wie auch des deutschen Asylrechts (z.B. Dublin-Abkommen, Residenzpflicht) exemplarisch und in Hinsicht auf die beiden Strukturprinzipien untersucht. Dabei wird zum einen deutlich, dass Foucaults Untersuchungen demokratietheoretische Relevanz besitzen – ein Umstand, der insbesondere von den
Vertreter_innen normativer Politiktheorie zumindest bezweifelt wird. Zum anderen wird betont, dass theoretische Reflexion innerhalb der Sozial-, Kulturund Politikwissenschaften dazu beiträgt, vielschichtige politische, soziale und
rechtliche Vorgänge analysieren zu können und damit zu einem umfassenderen
Verständnis lebensweltlicher Schieflagen und Misstöne beizutragen.
Foucault Revisited
JohannesHaaf(Dresden)
„SystemsinnlicherEvidenzen“.FoucaultserweiterterBegriffder
PolizeiunddessenRezeptionimWerkvonJacquesRancière
Der Beitrag rekonstruiert und interpretiert die komplexe und oftmals intransparente Verwendung des Begriffs der Polizei in den Arbeiten von Michel Foucault
und Jacques Rancière. Weit entfernt von unserem alltäglichen Verständnis polizeilicher Machtausübung erweist sich dieser als Reflexion des Problems politischer Ordnung überhaupt unter Bedingungen der notwendigen Kontingenz sozialer Tatbestände. Ein solchermaßen erweiterter Polizeibegriff dient sowohl
Foucault als auch Rancière – wobei sich Letzterer bei der Wahl des Begriffs explizit auf Ersteren bezieht – zur Analyse des kreisförmigen Zusammenhangs,
durch welchen Gesellschaft fortlaufend als Grund und spezifischer Raum des
Sozialen eingerichtet wird, dessen instituierte Verhältnisse Formationen des
Möglichen beschreiben, die bestimmte Formen sozialer Praxis als zulässig oder
authentisch auszeichnen.
Zuerst ruft der Tagungsbeitrag jedoch die bemerkenswerten, da grundsätzlichen Unterschiede der Begriffsbestimmungen in Erinnerung. Zwar bezeichnet
die Polizei bei beiden Autoren diejenige Weise der Ordnung, die ihre eigene Politizität verdeckt und damit im Widerspruch steht zur Unbestimmtheit des Sozialen. Im Fall von Foucault handelt es sich zunächst aber um einen historischen
Begriff zur Beschreibung einer distinkten Regierungspraxis, die bereits biopolitische Charakteristika aufweist, und den „Staub der Ereignisse“ dennoch mit
Mitteln der alten Souveränität adressiert. Hingegen benennt die Polizei in der
Philosophie von Rancière die politische Ordnung des Sozialen als solche. Als
das Gegenteil von jeder Politik fixiert die Polizei eine ihrerseits irreduzible
Vielfalt von Kräfteverhältnissen in einem System geteilter Wahrnehmungen,
das den beteiligten Subjekten immer schon feststeht. Dieser quasi-ontologische
Polizeibegriff lenkt nun den Fokus auf eine Weise der lückenlosen Reproduktion sozialer Objektivität, die alternative Topographien der Gegebenheiten in der
Erfahrung von Gesellschaft selbst verleugnet und somit zum Verschwinden der
Subjekte des Politischen führt.
Der zweite Teil des Vortrags kehrt, mit Blick auf die prinzipielle Offenheit
des Sozialen, die obige Perspektive zugunsten einer dialogischen Auseinandersetzung zwischen Foucault und Rancière um. Dieses Gespräch ist um drei methodische Fragen gruppiert: Wie verhält sich die symbolische Gewalt, die der
Politik eigen ist bzw. die Idee einer polizeilichen Aufteilung des Sinnlichen, mit
welcher Rancière meint die genealogische Analyse „zugleich fortgeführt und
verraten“ zu haben, zu den jeweiligen subjekt- und machttheoretischen Prämis-
Wien, am 4./5. November 2016
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sen von Foucault? Inwiefern lässt sich mit Foucault von einer Persistenz polizeilicher Ordnung im Inneren der modernen Gouvernementalität sprechen, und inwieweit radikalisiert der Begriff von Rancière solche Überlegungen zu einer ‚liberalen Polizei‘? Schließlich: welche konzeptuellen Konsequenzen hat vor diesem Hintergrund der Foucaultsche Verdacht, dass im Rahmen liberaler Regierungsformen Unbestimmtheit selbst keinen ontologischen Status mehr beanspruchen kann, für deformierende Praktiken des Widerstands, die auf eine andere Gestaltung des sozialen Möglichkeitsraums zielen? Was wäre also in jenem
Fall noch Ort und Modus einer Kritik, deren Wesen darin besteht, eben diese
Bodenlosigkeit allseits evidenter Geltungen effektiv in Szene zu setzen?
ChristianHaddad(Wien)
BiopolitikderInnovation.(Re-)ArtikulationenvonGesundheit,
WertundSubjektivitätinderBioökonomieregenerativerMedizin
Ausgehend von Foucaults Überlegungen zu Biopolitik und Biomacht, sowie deren Weiterentwicklung in jüngeren Arbeiten, entwerfe ich in meinem Vortrag
eine biopolitische Perspektive auf Innovation und Innovationsprozesse.
Mein Vortrag untersucht das entstehende Feld der Stammzelltherapie als ein
Feld biopolitischer Auseinandersetzungen um „gute“ Innovationspraktiken in
der gegenwärtigen Biomedizin, in denen kollektive Vorstellungen von Gesundheit, Wert(en) und Subjektivität (re-)problematisiert, (re-)artikuliert und neu
verhandelt werden.
Stammzelltherapien bilden den Kern einer neuen „regenerativen“ Medizin,
die einen imaginären Horizont für zahlreiche biomedizinische, politisch-ökonomische und gesellschaftliche Erwartungen und Bestrebungen bildet. Zum einen
verspricht regenerative Medizin nicht nur, durch innovative Forschung und Entwicklung neue Produkte von hohem klinischen und kommerziellen Wert zu
schaffen; darüber hinaus entwirft sie auch Zukunftsvisionen einer Gesellschaft,
in der Krankheit neu gedacht und medizinische Behandlung neu organisiert werde.
Zugleich ist regenerative Medizin Austragungsort zahlreicher soziotechnischer und politischer Kontroversen, die von der Debatte über moralischen Grenzen wissenschaftlicher Forschung (Stichwort: Embryonenforschung) bis zu Fragen legitimer medizinischer Menschenversuche („klinische Studien“) und des
Eigentums an menschlichen Körperteilen reichen („Biopatente“).
Zum einen ermöglicht der Begriff der Biopolitik der Innovation also, Auseinandersetzungen und Konflikte zu analysieren, die im dynamischen Beziehungsgeflecht von Gesundheit, Wert(en) und Subjektivität vor dem diskursiven
Foucault Revisited
Hintergrund einer wachsenden und sich globalisierenden Bioökonomie und ihrer politischen Regulierung ausgetragen werden.
Jedoch verweist der Begriff der Biopolitik der Innovation auch auf eine andere, unmittelbar politische Ebene: Forschung und Innovationsprozesse sind demnach nicht nur dahingehend politisch, dass sie die Möglichkeit polarisierter politisch-gesellschaftlicher Kontroversen bereithalten – dieser Aspekt ist ja unübersehbar und wird oft diskutiert. Vielmehr bringt eine biopolitische Perspektive
eine latente, jedoch grundlegende Dimension des Politischen zutrage, nämlich
dass Praktiken (biomedizinischer) Forschung und Innovation immer auch biopolitische Laboratorien der Gesellschaft darstellen, in denen individuelle und
kollektive Vorstellungen von (legitimer) Machtausübung, ökonomischen und
ethischen Werten, und Formen der Subjektivität konzipiert, problematisiert und
verhandelt werden. Die Perspektive der Biopolitik der Innovation ermöglicht
hierbei in methodologischer Hinsicht, die wissenschaftlichen, medizinischen
und kommerziellen, ethischen und regulatorischen Kontroversen nicht als getrennte Sphären, sondern in ihren spezifischen Artikulationen zu untersuchen.
Mein Vortrag basiert auf Forschungen zu meiner Dissertation (derzeit in Begutachtung), die teilweise im Rahmen eines Europäischen Forschungsprojektes
(REMEDiE) durchgeführt wurden, welches die sozio-ökonomischen, politischen und bioethischen Implikationen regenerativer Medizin in Europa und im
globalen Kontext untersuchte.
Empirisch fokussiere ich mich auf Biotechnologiefirmen in den USA und ihre Versuche, Stammzelltherapien „in der Klinik“ zu bringen, und sich dabei als
„global leader“ zu (re- )positionieren. Dabei zeigen sich eklatante Unterschiede
in der Art und Weise, wie unterschiedliche Akteure Stammzelltherapien konzipieren, und welche Innovationsstrategien sie entwerfen und verfolgen.
Im analytischen Vergleich und in der Gegenüberstellung unterschiedlicher
Fälle zeigen sich nicht nur empirische Divergenzen in klinischen und kommerziellen Innovationsstrategien, sondern auch, dass sich beide Firmen selektiv und
strategisch auf unterschiedliche Elemente biomedizinischen Innovations- und
Regulierungskulturen in den USA beziehen, diese mobilisieren und im Zuge
dessen neu artikulieren.
Die Analyse zeigt, dass es sich bei diesen divergenten Innovationsstrategien
nicht lediglich um zwei Varianten innerhalb einer geteilten Vorstellung von Innovation handelt, sondern dass verschiedene Akteure jeweils unterschiedliche
normative Konzepte von Innovation artikulieren, die sich deutlich von einander
unterscheiden – mit weitreichenden Auswirkungen auf politische, ökonomische,
und ethische Diskurse, Praktiken und Imaginationen. Auf dem Spiel steht demnach nicht nur die instrumentelle politische Frage, wie man Innovation nach
landläufigen Kriterien der Effektivität und Verantwortlichkeit gestalten, fördern
Wien, am 4./5. November 2016
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und herbeiführen kann, sondern vielmehr auch was effektiv und verantwortlich
in gegenwärtigen Innovationsgesellschaften bedeutet, und auf welchen ökonomischen, ethischen und politischen Wertvorstellungen Innovationspolitik gründet bzw. gründen soll.
Der Begriff der Biopolitik der Innovation möchte darauf hinweisen, dass gegenwärtige Innovationsdiskurse und -praktiken biopolitisch in dem Sinn sind,
dass dabei immer auch Fragen nach dem guten Lebens und der guten Gesellschaft – und somit auch die diese stabilisierenden Regime verschiedener Werte
(ökonomisch, klinisch, moralisch, etc.) – auf dem Spiel stehen.
ChristophHaker(Oldenburg)
Füreinepolitische(Selbst)KritikderSoziologie
In meinem Vortrag werde ich aufzeigen, wie ich Foucaults kritische Haltung als
Impulsgeber für eine politische „(Selbst)Kritik der Soziologie“ (Bröckling
2013) nutze. Hierfür bringe ich den Begriff der soziologischen Differenz ein.
Allgemein gilt: Grenzziehungen und Differenzen innerhalb gesellschaftlicher
Wirklichkeiten wurden durch poststrukturalistische, konstruktivistische und
postfundamentalistische Theorien politisiert. Diese Theorien teilen die Annahme, dass interne Grenzen der Gesellschaft gezogen und hergestellt werden und
daher keine festes Fundament bilden, das es zu identifizieren gilt. Für soziologische Beobachtungen folgt daraus, dass ihr Focus sich auf die Entstehungen von
Grenzregimen in ihrer Prozesshaftigkeit richtet. Solche soziologischen Grenzreflexionen haben das Potenzial die Kontingenz moderner Grenzziehungen zu
öffnen und verweisen so auf die Macht (in) jeder Grenze. Dieser Zusammenhang verdeutlicht das politische Moment jeder Differenzierung.
Im Besonderen gilt: Die soziologische Differenz ist thematisch eine besonders relevante Grenzziehung soziologischer Reflexion. Sie bezeichnet die Unterscheidung der Soziologie von ihrem Anderen. Jeder Versuch diese Distanzierung selbst dem soziologischen Blick auszuliefern, bezeichne ich als Soziologie
soziologischer Denksysteme. Die soziologische Differenz entpuppt sich dann
nicht nur als Thema der Soziologie, vielmehr macht die Reflexion deutlich, dass
es sich bei der soziologischen Differenz (und ihrer Thematisierung) um eine soziale Differenzierungspraxis handelt. Durch die Praxis der soziologischen Differenz bestimmt die Soziologie ihren Ort innerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge und grenzt sich von ihrem Gegenstand ab. Da hier das ‚Sollen‘ der Soziologie positiv markiert wird, werden die Grenzen der Soziologie durch eine normative Praxis der reflexiven Selbstdistanzierung gezogen. Im Detail lassen sich
vielfältige soziologischen Differenzen in Reflexionsprogrammen soziologischer
Foucault Revisited
Theorien rekonstruieren. Diese Programme bilden einen großen Materialkorpus
mit dessen Hilfe Identifizierungs- und Subjektivierungsweisen der soziologischen Beobachterposition als mehr oder minder manifeste Grenzziehung untersucht werden können. Als besonders produktiv erscheint es, dieses Material anhand der Problematisierungsweisen Reflexivität und Reflexion zu durchschreiten.
Um Reflexivität und Reflexion und ihre Funktionsweise für die soziologische
Differenz zu untersuchen, bedarf es hochgradig reflexiver Theorien, die auch in
der Lage sind eine Reflexion der Reflexivität vorzunehmen. Klassisch würde
diese Aufgabe der Wissenschaftssoziologie der Soziologie (Sutter 2012) zufallen, die sich durch Metareflexionen mit den Grenzen soziologischer Denk- und
Handlungsweisen befasst, um aus dieser Perspektive die Theoriebildung voranzutreiben. Immer wieder knüpfen Forschungen mit dieser Intention an das Denken Niklas Luhmanns, Pierre Bourdieu und Michel Foucaults an. In vielen Fällen sollen diese Perspektiven gemeinsam gebraucht werden. Der hohe Reflexionsgrad ihrer Theorien soll, in Verbindung mit ihrer komplementären Verwendung, geeignet sein, den eigenen Standpunkt zu reflektieren und so die Umweltanpassung, die selbstkritische Theorieentwicklung oder gar die Einheit des Faches mittels eines reflexiven Forschungsprogramms zu erreichen. Unklar bleibt
jedoch, wie diese Theorien gleichzeitig genutzt werden können.
Die Auswahl der unterschiedlichen Perspektiven von Luhmann, Bourdieu
und Foucault leuchtet durchaus ein. Für sie spricht die gemeinsame wissenssoziologische Schwerpunktsetzung bei gleichzeitig hohem Kontrast der jeweiligen
Zugänge zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, die die differenzierungs-, ungleichheits- und kulturtheoretische Perspektive auf die Gesellschaft bedienen.
Nur eine solche Gemengelage lässt eine komplementäre Verwendung der Zugänge überhaupt plausibel erscheinen. Dennoch sind es gerade die Reflexionen
von Luhmann und Bourdieu, die eine so geartete Wissenschaftssoziologie der
Soziologie an ihre Grenzen stoßen lassen.
Ich frage mich daher, wie genau die drei Perspektiven aneinander gekoppelt
werden können. Entgegen aller theorievergleichenden Anstrengungen, erscheint
eine gemeinsame Nutzung der drei Großtheorien kaum möglich. Bereits hier
bietet sich der Focus auf die soziologischen Differenzen von Luhmann und
Bourdieu an. Die ‚trockenen‘ Theorievergleiche vernachlässigen, dass Bourdieu
und Luhmann einer supertheoretischen Praxis folgen, die eine komplementäre
Ergänzung unwahrscheinlich macht. Meine Analyse verabschiedet sich daher
vom Weg der Wissenschaftssoziologie der Soziologie und des Theorievergleichs. Diese folgen der theoretischen Annahmen der funktionalen Differenzierung und der Theorie als System. Im Anschluss an Luhmann und Bourdieu laufen sie Gefahr, Rückschlusse auf richtige Wissenschaft , richtige Soziologie und
richtige Theorie zu ziehen und neigt schließlich dazu, sich gegen Kritik zu im-
Wien, am 4./5. November 2016
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munisieren und ihre Gesellschaftstheorie im Vollzug der Theorie, kontraintuitiv
zu universalisieren. Um die Selbstbestätigungen soziologischer Supertheorien
zu vermeiden, erscheint mir Foucault, der Außenseiter dieses Trios (Luhmann,
Bourdieu, Foucault), als hilfreich.
Gerade weil Foucault keine soziologische Theorie entwickelt hat, kann er als
Korrektiv dienen. Foucault fällt aus dem Rahmen. Es sollte in diesem Zusammenhang nicht verkannt werden, dass Foucault weder Soziologe ist, noch eine
sozialwissenschaftliche Methode oder Theorie vorgelegt hat (Bröckling/Krasmann 2010). Vielmehr wurde er einer sozialwissenschaftlichen Disziplinierung
unterworfen (Kocyba 2006), die es ermöglicht ihn in einer Reihe mit Luhmann
und Bourdieu zu nennen. Seine kritische Haltung korrigiert in meinem Konzept,
die Reflexionsprgramme Luhmanns und Bourdieus durch eine allgemeine Kritik
am Programm. Den supertheoretischen Praxen Luhmanns und Bourdieus kann
wirksam entgegen gewirkt werden und die Phantasie einer Einheit des Faches
kann aufgelöst werden. Bei aller sozialwissenschaftlichen Disziplinierung Foucaults, bezieht seine kritisch- philosophische Haltung einen fragilen Standpunkt,
der das eigene Scheitern ermöglicht und nicht abzuwenden versucht. Genau das
macht ihn fruchtbar für eine kritische Analyse der soziologischen Differenz.
AlexanderHirschfeld(Kiel)
ArbeitundpsychischeGesundheit.
RegierungjenseitsderTrennungvonSubjektundObjekt
Macht Arbeit psychisch krank? Diese Frage wird seit einigen Jahren immer häufiger gestellt. Der kontinuierliche Anstieg psychisch bedingter Arbeitsausfälle
seit den 1970ern und die Intensivierung dieses Trends in den letzten Jahren bilden dabei den Aufhänger vieler öffentlicher Debatten. Das Problem arbeitsbedingter psychischer Erschöpfung wird keinesfalls einheitlich thematisiert, sondern ist Teil eines umkämpften Feldes. Die Politik- und Sozialwissenschaften
positionieren sich vor allem mit den Diagnosen der ‚Subjektivierung‘ und ‚Entgrenzung von Arbeit‘ (Voß 1998; Kleemann et al. 1999). Das Problem besteht
demnach, vereinfacht gesagt, im zunehmenden Eindringen der Arbeit in die übrige Lebenswelt: Steigender Konkurrenzdruck, die Verschiebung von körperlicher zu geistiger Belastung, die ständige Erreichbarkeit sowie eine Verdichtung
der Tätigkeiten in Zeiten von Internet und Smartphone sind nur einige der genannten Tendenzen. Auch wenn diese Diagnose immer wieder auftaucht, handelt es sich insgesamt um eine marginale Position innerhalb des Diskurses über
arbeitsbedingte psychische Probleme.
Foucault Revisited
Typisch für diese soziale Problematisierung – im Sinne Foucaults (1986) –
sind hingegen an- dere Argumentations- und Denkweisen. Diese verweisen auf
neuartige Formen des Regierens, die im Rahmen des Vortrags anhand exemplarischer Ausschnitte einer historischen und diskursanalytischen Untersuchung
ausgehend vom Phänomen Burnout dargestellt werden: Als zentral für die Problematisierung von Arbeit und Psyche lässt sich der Begriff Stress identifizieren,
der im Diskurs jedoch nicht als isolierbarer und quantifizierbarer Faktor erscheint. Stress ergibt sich stattdessen gerade aus der spezifischen Konstellation
unterschiedlicher Aspekte; denn Arbeitsbedingungen, die in einem Fall als negativ und belastend erscheinen, werden in einem anderen Kontext als positiv
und der Gesundheit förderlich beschrieben. Diese scheinbare Widersprüchlichkeit resultiert aus einer Wissensordnung, in der die Vorstellung psychischer Gesundheit, aufs engste an lokale Konstellationen gebunden ist: Individuelle Faktoren, persönliche Beziehungen und Arbeitszusammenhänge werden als unterschiedliche Momente eines eigendynamischen Systems verstanden. Innerhalb
dieses Systems kann es zu Problemen der Verarbeitung von Aufgaben kommen,
die durch den Stressbegriff erfasst werden. Auf die- se Weise wird diskursiv ein
Verhältnis zwischen äußeren Reizen und individueller Reaktionen konstituiert:
In diesem Zusammenhang ermöglicht Stress einerseits die kontinuierliche Bewältigung der Arbeit; andererseits kann er aber auch Belastungen hervorrufen
und die Produktivität des Systems damit einschränken. Dieser Diskurs ist mit
Machttechniken verknüpft, die auf der Ebene sozialer Organisation angesiedelt
sind. Es handelt sich um eine Form der Regierung zwischen Subjekt und Bevölkerung, die sich nicht auf die individuelle ‚Sorge um sich‘ oder die Politik globaler Indikatoren reduzieren lässt.
Mit der Regierung von Arbeit und Psyche auf Basis des Stressbegriffs etabliert sich ein Gesundheitsverständnis jenseits externer Klassifikation und individueller Selbstoptimierung. Wichtige Grundlage dieser Machttechnik ist die Auflösung der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt, dem Menschen auf der einen
und der Arbeit auf der anderen Seite: Stress dient hier als Blaupause zur Erfassung unterschiedlicher externer Faktoren und gleichzeitig zur Beschreibung
psychischer und körperliche Zustände – Arbeit und Psyche bilden somit einem
gemeinsamen Komplex, anstatt gegensätzliche Bereiche abzugrenzen. In diesem
Zusammenhang werden das Konzept Burnout ebenso wie psychiatrische Krankheitsbilder, wie etwa die Depression, im Diskurs weitgehend marginalisiert:
Weder ein individueller ‚Defekt‘ (Ehrenberg 2004) noch ein Konflikt zwischen
Arbeit und Leben stecken das Problemfeld ab. Es handelt sich stattdessen um
eine Aufgabe systemischer Regulierung, die eine genaue Kenntnis des Zusammenspiels unterschiedlicher Faktoren voraussetzt. Anstatt direkter Intervention
bedarf es des indirekten Lenkens oder Steuerns (Foucault 2004); dabei gilt es,
Wien, am 4./5. November 2016
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stetig Rückmeldungen einzuholen und den Kurs kontinuierlich zu korrigieren.
Das betroffene Subjekt bildet ein aktives Moment in diesem Szenario: Die Vorstellung individueller Freiheit bzw. Autonomie wird durch das psychologische
Konzept der Kognition, verstanden als flexible Verarbeitung von Information,
in diese Gleichung eingeschrieben. Daraus ergeben sich neue Spielräume der
subjektiven Interpretation bis hin zur Manipulation der Gefühle (Neckel 2005).
Die Selbstführung beschränkt sich da- mit nicht auf die Imperative der Eigenverantwortung und Gestaltung im Sinne eines ‚unternehmerischen Selbst‘
(Bröckling 2007; Rose 1992). Das Subjekt muss stattdessen zum Experten seiner Selbst und seiner Umwelt werden: Es gilt, die eigenen Potentiale vor dem
Hintergrund eines lokalen psycho- sozialen Systems zu verorten und richtig einzusetzen. Dies lässt sich als Bestandteil eines neuen Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft interpretieren – einer ‚Neuerfindung des Sozialen‘
(Lessenich 2009) innerhalb des ‚flexiblen Kapitalismus‘ (Sennett 1998). Die
Psychologie bildet somit eine der zentralen Quellen von Deutungsmacht, die die
wissenschaftliche Produktion von Experten- wissen mit gesellschaftlichen Wissensordnungen verbindet.
KatharinaHoppe(Frankfurt)
WahrsprechenundZeugenschaft.
PolitikenderWahrheitbeiMichelFoucaultundDonnaHaraway
In den Vorlesungen, die die freimütige Rede, die parrhesia als Teil einer Genealogie der kritischen Haltung behandeln, hat Michel Foucault einen Scharnierbegriff ins Zentrum seiner Überlegungen gestellt. Der Begriff der parrhesia befindet sich an „der Kreuzung der Pflicht zum Wahrsprechen, der Verfahren und
Techniken der Gouvernementalität und der Herstellung eines Selbstverhältnisses“ (Foucault 2009: 68). Dies unterstreicht, dass Foucault in den späten Arbeiten die Achsen ‚Wissen‘ und ‚Macht‘ nicht zugunsten der Achse ‚Subjekt‘ ausgeblendet hat und weist aufgrund des Fokus der historischen Analysen auf die
Praktiken des Wahrsprechens auch auf eine bedeutsame Verschiebung in
Foucaults Nachdenken hin: Wichtig wird eine affirmative Bezugnahme auf
Wahrheit. Nicht so sehr die Mechanismen des Ausschlusses, die Disziplinierung
und Ordnung der Diskurse sowie eine Dekonstruktion gültiger Wahrheiten stehen im Mittelpunkt; vielmehr wird das politische Potential der immer janusköpfigen Wahrheitsspiele anerkannt. Wahrheit ist machtvoll und steht im Dienst
der Regierung, sie lässt sich aber auch kritisch gegen Macht wen- den: „Es gibt
keine Einsetzung der Wahrheit ohne eine wesentliche Setzung der Andersheit;
Foucault Revisited
die Wahrheit ist nie dasselbe; Wahrheit kann es nur in Form der anderen Welt
und des anderen Lebens geben“ (Foucault 2010: 438). Jede Wahrheit führt ihr
jeweils Anderes mit sich und weist damit immer schon über sich hinaus, auf andere Lebensweisen, auf andere Welten. Diese Potentiale des Anders-Werdens
gilt es durch parrhesiastische Praxis sichtbar zu machen.
Foucaults Charakterisierung der parrhesia steht vor diesem Hintergrund erstens für den Versuch ein affirmatives Kritikmodell, im Gegensatz zu Spielarten
negativ-destruktiver Kritik, zu begründen. Wahrsprechen als kritische Praxis ist
hierbei zweitens eine ereignishafte Praktik, die unvorhergesehene Risiken eröffnet, insbesondere für diejenigen, die sie vollziehen (vgl. Foucault 2009: 83f.).
Eine an die parrhesiastische Praxis anschließende Politik der Wahrheit hat daher
etwas „Spinnen- artiges“ (ebd.: 68), etwas Aufspannendes, im Kontrast zu etwas
Abschließendem. Die Parrhesiast_in und ihr Seinsmodus stehen in diesen aufspannenden Praktiken immer mit auf dem Spiel: Es wird eine enge Beziehung
zwischen Wahrheit und Ethik installiert.
Diese Elemente parrhesiastischer Praxis finden sich auch in den feministischwissenschaftskritischen Arbeiten Donna Haraways (1997), in denen sie die ‚Informatik der Herrschaft’ in der technowissenschaftlich durchdrungenen kapitalistischen Weltordnung am Ende des 20. Jahrhunderts analysiert. Im Zentrum
steht bei ihr die Figuration des ‚bescheidenen Zeugen‘ (modest witness) als
Wahrheitstechnologie. Bezeugen, so zeigt Haraway zunächst, ist eine Fähigkeit,
die in der modernen Wissenschaft nur einer bestimmten Gruppe zugestanden
wird: der ‚unmarkierten Kategorie‘, also denjenigen Personen, denen es gelingt,
eine unsichtbare Subjektposition einzunehmen, sich und ihre Interessen in aller
Bescheidenheit zurückzunehmen und auch ihre Körperlichkeit zu verleugnen.
Die Hervorbringung wissenschaftlichen Wissens ist in diesem Modell an SelbstUnsichtbarkeit gekoppelt und von Subjektivität und Körperlichkeit ‚gereinigt‘.
Haraways Absicht ist es nun, eine mutierte Fassung der bescheidenen Zeug_in
zu imaginieren. Diese feministische Umschrift – so wird mein Beitrag zeigen –
vollzieht einerseits eine parrhesia, also eine freimütige, riskante Rede, die sich
an niemand geringeren als die moderne Wissenschaft richtet; zugleich steht
auch der erarbeitete Gegenentwurf in Kontinuität mit Foucaults Charakterisierung parrhesiastischer Praxis. Haraway macht in der Figur der bescheidenen
Zeug_in etwas wie eine postmoderne Parrhesiast_in aus, die die Praxis des
Wahrsprechens in die Wissenschaftskritik trägt. Denn auch Haraways bescheidener Zeug_in liegt es fern, wissenschaftliches Wissen bloß als konstruiert zu
entlarven oder von außen zu kritisieren, sondern sie bezieht sich affirmativ auf
die wissenschaftliche (insbesondere auch experimentelle) Praxis, die zu kritisieren sie sich zu- gleich anschickt. Und auch sie geht ein Risiko ein, indem sie
sich in die wissenschaftliche Wissensproduktion einbringt und gleichsam in ih-
Wien, am 4./5. November 2016
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rer ganzen Körperlichkeit und Subjektivität hinein- drängt. Die Zeugenschaft,
die Haraway stark macht, lässt Bescheidenheit zu einer materiell- semiotischen
Praxis des Einmischens werden, anstatt zu einer Praxis des Unsichtbarmachens
und nimmt damit ebenfalls eine grundlegende Verknüpfung von Wissen und
Ethik vor.
Der Beitrag wird auf Grundlage der Diskussion der beiden parrhesiastischen
Ansätze die Politiken der Wahrheit bei Foucault und Haraway konturieren:
Wahrsprechen und Zeugenschaft kristallisieren sich als politisch-ethische Praktiken, die einen Unterschied in der Welt machen. Hierbei bleiben die Politiken
der Wahrheit ihrerseits politisierbar und Teil des Experimentierens mit den
Möglichkeiten des Anders-Werdens.
TheresaKauder(München)
EthopoetikalsKritik?
Kritisiert Foucault disziplinierende Abrichtung, biopolitische Normalisierung,
sexuelle Identitätszwänge und kontrollgesellschaftliche Sichtbarkeitsregime im
Rahmen einer genealogisch-archäologischen Untergrabung dessen, was um
1800 als Mensch an der epistemologischen Oberfläche erscheint, lässt sich mit
Foucault für eine akademische Beratung dessen, was eine gute Regierung ausmache, als auch für eine Antwort auf die Frage, wofür Regierte kämpfen sollten,
in der Tat wenig anfangen. „Mit ihm ist kein Staat zu machen. Kriterien für
good gouvernance sind aus seinem Werk so wenig zu destillieren wie Prinzipien
deliberativer Demokratie oder Programme zur Strafrechts- oder Psychiatrieform“. Foucault könne nicht angeben, ob er lieber in der chinesischen SongDynastie, als Untertan Hammurabis im antiken Babylon oder als US-Amerikaner im 20. Jahrhundert leben wolle, so Charles Taylor.
Trotz und aufgrund jener normativen Leerstelle schärft Foucault in seinen
letzten Büchern, Vorlesungen, Aufsätzen und Gesprächen einen Nietzscheanisch-Kantisch fundierten Kritikbegriff. Eingebettet in einer Genealogie der
Parrhesia und im erweiterten Umfeld einer Genealogie der Selbsttechniken oder
Ethiken nähert sich Foucault überdies einem kynischen, einer im eigenen Leben
und Schreiben bezeugten, philosophischen und kritischen Praxis an. Bereits in
den titelgebenden Frageformen von Foucaults Qu'est-ce que la critique? (1978;
Was ist Kritik?) und What is Enlightment? (1984; Was ist Aufklärung?) verdeutlicht sich „eine gewisse Art des Fragens, die sich als zentral für den Vollzug der
Kritik selbst erweisen wird“. Doch nicht nur die Frage nach historisch variablen
Bedingungen der Möglichkeit kritischer Praxis selbst ist Gegenstand des
Foucaultschen Kritikverständnisses, sondern weiter gespannt eine grundsätzli-
Foucault Revisited
che Haltung, die vermag, sich „Rechtsregeln, [...] Führungstechniken und auch
die Moral zu geben, das ethos, die Sorge um sich, die es gestatten, innerhalb der
Machtspiele mit dem Minimum an Herrschaft zu spielen“. Dieses hier entwickelte Kritikverständnis, so möchte ich aufzeigen, steht im engen Zusammenhang mit einem in der Einleitung von L'usage des plaisirs (1984; Der Gebrauch
der Lüste) entwickelten Ethik- und Subjektivitätsverständnis, insofern auch hier
versucht wird „das Problem der Freiheit und in der Tat die Ethik im Allgemeinen jenseits des Urteils zu denken“.
Diesem Problem möchte ich mich anhand eines Close Readings von
Foucaults Was ist Kritik?, Was ist Aufklärung? und seiner den Vorlesungen Le
gouvernement de soi et des autres I (1982/83; Regierung des Selbst und der anderen I) und Le courage de la vérité. Le gouvernement de soi et des autres II
(1983/84; Mut zur Wahrheit: Regierung des Selbst und der anderen II) am Collège de France vorangestellten Kant-Reflexion zuwenden. Dabei werde ich in
fünf ineinander übergehenden Schritten vorgehen. Zunächst wird Foucaults Kritikverständnis als Haltung, Praxis und Arbeit an den Grenzen im Verhältnis zur
Aufklärung beschrieben, um diese im zweiten Schritt als genealogischarchäologische Kritik zu bestimmen. Drittens wird die damit in Zusammenhang
stehende notwendige nicht normative Grammatik des Foucaultschen Kritikbegriffs herausgestellt, indem jene Kritik kein universell geltendes, abstraktes Urteil ist, sondern eine Geschichte hat und sich vielmehr dem in der Einleitung
von Der Gebrauch der Lüste entwickelten Ethikverständnis annähert – Butler
spricht von Foucaults Tugend. Auf den Zusammenhang jener Genealogie der
Parrhesia – im erweiterten Umfeld einer Genealogie ethischer Subjektivierung
und einer Genealogie des Begehrensmenschen, die in spezifischer Weise nach
dem Verhältnis von Subjekt und Wahrheit fragt – mit Foucaults Interpretation
von Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? wird zurückgekommen und gefragt, inwiefern Foucault damit seine eigene Arbeit in einer Genealogie von Kritik und Mut zur Wahrheit verordnet, wenn es etwa in der Einleitung von Der Gebrauch der Lüste heißt, dass „Philosophie heute“ am ehesten
„kritische Arbeit des Denkens an sich selber“ sei. Viertens wird Foucaults kritische Praxis im Verhältnis zur Parrhesia untersucht. Die Frage, inwiefern
Foucaults ‚Werk’ und insbesondere ‚Spätwerk’ jenes performativ vollzieht, was
er unter Kritik versteht, wird anhand einer zusammenfassenden Untersuchung
seines philosophischen Stils auf der Grundlage Foucaults beantwortet, die mit
einer Betrachtung des scheinbaren Paradoxons in Foucaults Umgang mit seinem
eigenen Diskurs ‚Michel Foucault’ abschließen wird.
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MichaKnuth(HUBerlin)
MichelFoucaultsTraumeinerÜberwindung
derSouveränitätsmachtunddesherkömmlichenRechts
In seinen Analysen der Macht ist es Michel Foucault darum zu tun, Beschreibungsmodelle der Gesellschaft jenseits der juristisch-monarchischen Souveränitätsmacht zu finden. Dabei schwankt er auf erstaunliche Art und Weise zwischen der historischen Analyse verschiedener Machtpraktiken, einer allgemeinen Begriffssprache und zeitdiagnostischen Formulierungen. Diesen changierenden Arten des Umgangs mit dem Begriff der Souveränität und des Rechts
möchte der hier umrissene Beitrag im Werk Foucaults nachgehen. Ziel ist es
dabei zum einen die historische Treffsicherheit der Beschreibungskategorie kritisch zu hinterfragen und in ihr eine gezielte Taktik der Beschreibung freizulegen, die die mit ihr korrelierte Diagnose der modernen Gesellschaft legitimiert.
Bereits 1975 berichtet Foucault in Surveiller et punir von der zunehmenden
Ausbreitung einer neuen Machtform im 17. und 18. Jahrhundert: die Disziplinarmacht, deren Modell das Panoptikum darstellt. Diese Disziplinarmacht löse
andere Machtpraktiken keinen Falls ab, sie erlange aber in dem genannten Zeitraum eine zentrale Stellung. Um die so konstituierten Machtmechanismen zu erfassen, reicht die deskriptive Kategorie der Souveränität und des Rechtes nicht
aus. Die Kategorie der Souveränität ist also geschichtlich gesehen an bestimmte
Zeiten gebunden, das Zeitalter der Sexualität unter diesem Modell zu betrachten, käme einer Art retroversion gleich. Wir haben es also mit einer historischen
Technik der Macht zu tun, deren Modell keine allgemeine Erklärungskraft besitzt.
Erstaunlicherweise führt Foucault nun die Technik der Souveränität keinesfalls auf das 16. Jahrhundert und Jean Bodin oder auf die Bezeichnung des Königs als souvrains in den Coutumes de Beauvais im 13. Jahrhundert zurück,
sondern lässt die Geschichte der Souveränität mit der patria potestas, dem Recht
des Vaters über Leben und Tod seiner Kinder beginnen. Es kann sich also hier
nicht um eine begriffsgeschichtliche Herleitung handeln. Vielmehr scheint die
Kategorie der Souveränität eine künstliche Kategorie Foucaults zu sein, die es
ihm erlaubt, den Übergang vom klassischen Zeitalter zur Gegenwart als Abbau
oder Zersetzung der Souveränität zu beschreiben. Eine solche überzeitliche
Nutzung der Kategorie der Souveränität scheint begründungsbedürftig – dies
wird von Foucault aber soweit ich sehe nicht geleistet.
Zu der These einer überzeitlichen Nutzung der Kategorie Souveränität passt
Foucaults Aussage, dass er keine Sukzessionsgeschichte von Souveränität, Disziplin und Regierung schreiben möchte. Vielmehr handle es sich um eine Art
Foucault Revisited
Dreieck, aufgespannt zwischen den Polen Souveränität, Disziplin und Sicherheit. In der modernen Gesellschaft, so Foucaults Behauptung, gehen die Machttechniken der Disziplin und der Souveränität jedoch eine Symbiose ein. Beide
sind deux pièces absolument constitutives des mécanismes généraux de pouvoir
dans notre société. Erweitert um die Normalisierung und in ihrer Eigenlogik
maximal gesteigert sowie gebündelt, stehen diese drei Ecken des Dreiecks auch
für die Programme der Nationalsozialisten in Deutschland und der Kommunisten in der Sowjetunion.
Wolle man der Disziplin nun heute etwas entgegensetzen, so bedürfte es dazu
nach Foucault nicht des historischen Souveränitätsrechts, sondern eines nouveau
droit, qui serait anti-disciplinaire. Diese Suche nach einem neuen Recht und ihr
Scheitern scheint mir der Kern der Gegenwartsdiagnose Foucaults zu sein.
Schließlich setzt Foucault wenig später Recht und Souveränität gleich und
scheint so eine Antwort auf die Probleme der modernen Gesellschaft im Medium dieser Regierungstechnik als unmöglich anzusehen: Ce dont nous avons besoin, c'est d'une philosophie politique qui ne soit pas construite autour du
problème de la souveraineté, donc de la loi, donc de l'interdiction; il faut couper
la tête du roi et on ne l'a pas encore fait dans la théorie politique.
Exemplarisch lässt sich dies an seiner Kritik der fehlenden sozialistischen
Gouvernementalität festmachen. Diese fehlende Integration des Regierungshandelns in eine konsistente Theorie zeichnet nach Foucault den Sozialismus in
seiner Geschichte aus. Ist die Moderne gekennzeichnet durch eine unentwirrbare
Vermischung von Geboten und Verboten, dann kann der Ausweg, wenn
Foucault sein Dreiecks-Modell von Souveränität, Disziplin und Sicherheit als
erschöpfend ansieht, nur in der Zuflucht in das System der Sicherheit bestehen.
Hier liegt meiner Meinung nach der Kernpunkt der Debatte um Foucault als
Neoliberalen. Kann es in Foucaults Denken ein Recht jenseits von Souveränität,
Disziplin und Sicherheit geben, oder ist die Regierungstechnik der Sicherheit
das geringste aller möglichen Übel für die westlichen Gesellschaften? An der
Beantwortung dieser Frage hängt, folgt man Foucaults Prämissen, die Möglichkeit einer sozialistischen Gouvernementalität und damit einer Alternative zur
aktuell vorherrschenden Regierungskunst, die nicht mit einem Rückgang auf
Regierungstechniken der Vergangenheit operiert.
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SusanneKrasmann(Hamburg)
RainerMühlhoff(FUBerlin)
ImaginingFoucaultToday.
ÜberdasdigitaleSubjektund»visualcitizenship«
Affekteregieren.
SubjektundAufklärungimpostindustrielenKapitalismus
Foucaults Analyse von Sichtbarkeitsregimen ermöglicht einen spezifischen Zugang zu unserer Gegenwart. Indem sie nach den Bedingungen des Sehens und
Wissens fragt, überschreitet sie die Grenzen unserer Perspektive bereits. Auch
dies ist eine Art und Weise, die Frage des Poltischen aufzuwerfen. Ausgehend
von Überwachen und Strafen inspiziert der Beitrag das digitale Subjekt als eine
charakteristische Figur unserer Zeit. Das Konzept der visuellen Bürgerschaft erlaubt dabei, eine Form der Kritik der Macht zu denken, die über die doppelte
Bindung von Subjektwerdung und Unterwerfung im Begriff der Subjektivierung
hinausgeht.
Aufklärung, so formuliert es Foucault 1982 in seiner Interpretation des berühmten Texts von Kant, ist durch das Auftauchen einer bestimmten Art des philosophischen Fragens gekennzeichnet: Was geschieht heute? Was ist diese Gegenwart, der ich angehöre? Die Philosophie wendet sich auf die Frage nach der
"Zugehörigkeit zu einem bestimmten 'wir'" und wird von diesem "wir" zugleich
selbst betrieben. Im Kant'schen Model ist das Subjekt dieses Diskurses das allgemeine "Publikum", eine Öffentlichkeit, die durch das "Räsonieren" und den
freien Gebrauch der Vernunft gekennzeichnet ist. Diese Sphäre steht dem "privaten Gebrauch" der Vernunft entgegen, in der die Individuen als Subjekte von
Disziplin und Gehorsam auftreten, insofern sie als Berufstätige, als Staatsbürger_innen, usw. zugleich Teil einer gesellschaftlichen Maschine sind, die funktionieren muss.
Nun ist gerade diese Unterscheidung zwischen Gehorsam im Privaten einerseits und freiem Vernunftgebrauch im Diskurs einer allgemeinen Öffentlichkeit
andererseits auf gegenwärtige westliche Gesellschaften kaum mehr anwendbar.
Mit Blick auf soziale Netzwerke und digitale Medien wird von "Filterblasen"
und parallelen Realitäten gesprochen, die gerade das Universelle einer allgemeinen Öffentlichkeit unterlaufen. In der "postdemokratischen" Krise politischer Institutionen und im aufkeimenden Populismus manifestieren sich eine
wachsende Form kraft affektiver Prozesse, die den öffentlichen Diskurs strukturieren und in disjunkte Sphären trennen. Auch für die "privaten" Bereiche – darunter Konsum und Produktion – gilt diese Diagnose: Das Marketing in feedback-basierten digitalen Räumen auf Grundlage von BigData, oder die Techniken des "nudging" wenden sich weder an das Subjekt einer Disziplin, noch an
das eines universellen Vernunftgebrauchs. Das Human Ressource Management
im modernen "Netzwerk-Korporatismus" baut nicht auf Disziplin, sondern auf
die produktive Kraft von Affekten und sozialen Relationen: Im Team, im 360°Feedback, in den spezifisch gestalteten "corporatecultures", wie sie exemplarisch in der New Economy beobachtbar sind, zeigen sich postdisziplinäre und
postdeliberative Formen der Einbindung von Subjekten in ein Wir-Gefüge.
In all diesen Bereichen – in der öffentlichen Kommunikation, in der Produktion, im Konsum – werden Subjekte gegenwärtig weniger als Agenten einer
universellen Vernunft oder eines disziplinarischen Gehorsams angesprochen.
Sie gelten vielmehr als Träger_innen affektiver Potentiale und inhärenter Motivationskräfte, die statistischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen und sich zugleich
ThomasLemke(Frankfurt)
„EineandereVorgehensweise“.ErfahrungundKritikbeiFoucault
Es ist bekannt, dass Foucault sich ab Ende der 1970er Jahre auf den Begriff der
„Erfahrung“ bezog, um seinen intellektuellen Werdegang zu explizieren und die
Neuausrichtung des Buchprojekts der „Geschichte der Sexualität“ anzuzeigen.
Begleitet wurde dieser Rekurs auf den Begriff der Erfahrung von einer Untersuchung der „Haltung der Kritik“ (Foucault1992,8), die Foucault ungefähr zur
gleichen Zeit genauer analysierte. Der Vortrag zeigt die enge Verknüpfung zwischen der Analyse der historischen Grundlagen und der aktuellen Möglichkeiten
von Kritik und dem Interesse an „Erfahrung“ in Foucaults späten Arbeiten. Der
erste Teil des Vortrags rekonstruiert kurz die Entwicklung des Begriffs der Erfahrung in Foucaults Werk von den 1960ern bis in die 1980er Jahre. Der Hauptteil erkundet die drei Dimensionen von Kritik in Foucaults späten Arbeiten: die
Aktivität der Problematisierung, die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft und
der Mut, den eigenen Status als Subjekt zu exponieren.
Foucault Revisited
Wien, am 4./5. November 2016
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in geeigneten Umgebungen strategisch anregen und modulieren lassen. Es ist
meine These, das in den Mikrodispositiven des postindustrielen Kapitalismus
ein neuer Modus der Gouvernementalität zutage tritt, der auf eine Regierung der
Subjekte durch Affektdynamiken setzt. Subjekte werden dabei als Knotenpunkte sozialer Relationen erfasst und hervorgebracht, in denen ihr Denken, Handeln
und Fühlen überein Registerrelation aller Affizierungen quasi zwanglos strukturiert werden kann.
Es ist das Ziel dieses Vortrags, diese Diagnose im Kontext eines Foucault'schen Begriffs rahmens zu formulieren. Dazu werde ich zunächst klären, wie
die Begriffe Subjekt und Subjektivierung für die Dispositive des postindustrielen Kapitalismus neu artikuliert werden können. Unter Rückgriff auf den Affekt-Begriff bei Spinoza ist es möglich, Subjektgenese im Kontext einer spätmodernen, postdisziplinären Spielart von Macht zu beschreiben, in der sich die
Linie von der souveränen Macht über Disziplinarmacht und Biomacht hinzu affektiven Regierungstechniken fortsetzt. Damit werde ich den Foucault'schen
Analyserahmen von Macht und Subjektivierung auch gegen jene Beiträge der
Affect Studies in Stellung bringen, die in Affekt eine Domäne "außerhalb" von
Machtwirksamkeit oder gar die konzeptuelle Überwindung des Subjektbegriffs
sehen.
Die so gewonnene Theorie affektiver Subjektivierung führt dann auf das
Problem der Aufklärung zurück. Ich werde argumentieren, dass die Frage nach
der Zugehörigkeit zu einer Gegenwart – zu einem Wir – im postindustriellen
Dispositiv notwendigerweise auf die Frage nach affektiven Bedingungsgefügen
von Subjektivität führt. Damit tut sich eine wichtige Verschiebung auf: Die
klassische Vision von einer Öffentlichkeit, die durch universellen Vernunftgebrauch gekennzeichnet ist, konstituiert Affektivität nämlich als etwas in den
"privaten" Bereich Abgeschobenes, das von jedem Subjekt im Modus von Disziplin und Gehorsam beherscht werden muss. Die gegenwärtigen Machtformationen dagegen haben Affekte als produktive und vernutzbare Kräfte entdeckt
und bringen sie als solche hervor. Affekt wird zum Prinzip einer Gouvernementalität, die im Medium affektiver Relationen und Dynamiken wirkt.
In diesem Kontext ist es wichtiger denn je, die Frage nach Aufklärung und
Mündigkeit neu zustellen. Wenn auch der Kant'sche Begriff der Aufklärung
nicht unmittelbar auf die gegenwärtige Situation anwendbar ist, so liefern doch
gerade Foucaults Vorlesungen (1982/83) und kleinen Schriften entscheidende
Anhaltspunkte zu seiner Aktualisierung (Kant mit Foucault und über Foucault
hinaus): Aufklärung bedeutet für jedes einzelne Subjekt, sich der Frage nach der
Konstitution seiner selbst im Zusammenhang eines Wir zu stellen – und in der
Praxis dieses Fragens eine bestimmte Haltung zu diesem Wir zu gewinnen. Das
Subjekt tritt in dieser Praxis als kritischer Agent und aktiver (politischer) Träger
Foucault Revisited
dieses Diskurses in Erscheinung. Und wenn nun Macht auf neue Weise im Feld
affektiver Relationen wirkt, dann muss sich Aufklärung darauf richten, die Art
und Weise, wie man affizierbar ist und andere affizieren kann, kraft eines geteilten Bewusstseins gestalten zu können.
GeraldPosselt/SergejSeitz(Wien)
SprachendesWiderstands.ZurNormativität
politischerArtikulationbeiFoucaultundRancière
In den Bereichen der Sozialphilosophie und der Politischen Philosophie wurde
in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Konzepten entwickelt, die das Problem der Subjektkonstitution in Hinblick auf Fragen sprachlicher und politischer
Handlungsfähigkeit ins Zentrum rücken. Diese Analysen fokussieren auf die unterschiedlichen diskursiven Praktiken, Sprechakte und symbolischen Körperpraktiken, durch die Individuen oder Gruppen als sprechende Subjekte konstituiert werden und Anspruch auf sprachliche sowie politische Repräsentation erheben. So porträtiert Michel Foucault in seinen späten Vorlesungen Parrhesia als
eine Form des Wahrsprechens, in der das Individuum, das die Mächtigen kritisiert, nicht nur sein Leben aufs Spiel setzt, sondern sich auch als sprechendes
Subjekt konstituiert, indem es sich performativ an die von ihm gesagte Wahrheit
bindet; und Jacques Rancière beschreibt das Unvernehmen als eine Form des
Konflikts, in es nicht nur um bestimmte Inhalte und Geltungsansprüche geht,
sondern um die Rationalität der Sprechsituation selbst, d.h. darum, was es heißt
zu sprechen, wer dazu befugt ist und wer überhaupt als ein sprechendes Subjekt
qualifiziert ist. Zu denken wäre hier darüber hinaus an Ernesto Laclaus und
Chantal Mouffes Hegemonietheorie, Judith Butlers Konzept der Resignifikation
sowie Gayatri Spivaks strategischen Essentialismus im Kontext kolonialer Befreiungsbewegungen.
Mit dem Fokus auf subjektkonstitutive Fragestellungen positionieren sich
diese Ansätze in kritischer Distanz zu diskursethischen, universalpragmatischen
und anerkennungstheoretischen Überlegungen. Dabei sehen sie sich oftmals mit
dem Vorwurf konfrontiert, dass sie keine normativen Kriterien liefern, um solche subjektivierenden politischen Sprechakte zu bewerten und zu kritisieren.
Diese Frage ist von umso größerer Relevanz und Dringlichkeit, insofern viele
der ursprünglich linken, progressiven und emanzipatorischen politischen Strategien, die mit den genannten Ansätzen verbunden sind – wie das Bilden von
Äquivalenzketten (bei Laclau und Mouffe), die Resignifikation traditioneller liberaler Begriffe (bei Butler und Spivak) sowie die Infragestellung und Delegi-
Wien, am 4./5. November 2016
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timierung repressiver Macht- und Diskursregime durch die Verschiebung der
Grenzen des Sagbaren und des Unsagbaren (bei Foucault und Rancière) – heute
in wirkungsvoller Weise von neuen rechten Bewegungen und Parteien (von der
FPÖ über AFD und Pegida bis hin zur Identitären Bewegung) angeeignet und
wirkungsvoll eingesetzt werden. Charakteristisch für diese politischen Akteure
sind gerade Strategien der Aneignung und Reinterpretation grundlegender liberaler demokratischer Werte wie Toleranz, Freiheit, Pluralismus, Versammlungsund Redefreiheit, das Brechen von Tabus, das Verschieben und Erweitern der
Grenzen des Sagbaren, die Subversion legitimer Diskurs- und Subjektpositionen, die Infragestellung etablierter Diskursregimes, sowie die Behauptung, von
einer ausgeschlossenen bzw. verworfenen Position aus zu sprechen.
MaritaRainsborough(Hamburg)
gesellschaftlich/politischen Dimension. Rationale Erklärungen können ihre
Überzeugungskraft verlieren und die Besänftigung der Affekte kann misslingen.
Rationalität bedeutet nach Foucault auch Beschwichtigung, so dass Irrationalität
Transgressionen und Transformationen möglich macht. Irrationalität und Affekte sind in Foucaults Theorie von entscheidender Bedeutung für die Formung
von Selbst und Gesellschaft sowie deren Umgestaltung. Hier haben Literatur
und Kunst als Gegendiskurs und Mittel der Selbstformung im Rahmen seiner
Ästhetik bzw. Ethik des Selbst für Foucault eine entscheidende Bedeutung.
Auch Philosophie in einer veränderten Form kann und soll Einfluss auf die Gestaltung des Lebens im Sinne der philosophischen Lebensform des Ethos nehmen. Welche Rolle spielen der Zusammenhang von Affekt und Ökonomie im
Allgemeinen und die Affektökonomie im engeren Sinne und welche Grenzen
der Affektökonomie werden in Foucaults Philosophie aufgezeigt? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus in politischer Hinsicht?
ÖkonomieundAffekt.AffektökonomieundderenGrenzenim
philosophischenKonzeptvonMichelFoucault
ClemensReichhold(Hamburg)
Der Neoliberalismus stellt eine aktuelle Form der Gouvernementalität − der
Kunst des Regierens, die sowohl das Regieren Anderer als auch die Beherrschung des Selbst vorsieht − dar, in der die Subjektposition des ‚homo oeconomicus’ eine Ausweitung erfährt und alle Lebensbereiche okkupiert. Er impliziert ein ‚Normalisierungsprojekt’ und eine Domestizierung der Leidenschaften.
„Neoliberalism, according to Foucault, extends the process of making economic
activity a general matrix of social and political relations, but it takes as its focus
not exchange but competition (Foucault, 2008: 12). What the two forms of liberalism, the „classical“ and „neo“ share, according to Foucault, is a general idea
of „homo economicus“, that is, the way in which they place a particular „anthropology“ of man as an economic subject at the basis of politics.” (Binkley/
Capetillo 2009: 4) Dazu gehört gleichermaßen die Kontrolle der eigenen Affekte. Affektivität ist bei Michel Foucault als grundsätzlich konstituiert gedacht
aufzufassen, ohne dass die Einflussnahme des Individuums dabei gering geschätzt wird. Hinsichtlich einzelner Affekte bzw. Emotionen geht Foucault insbesondere auf Wut, Zorn, Empfindsamkeit und Unduldsamkeit genauer ein, die
in besonderer Weise der Kontrolle durch Rationalität unterliegen. Deutlich wird,
dass Foucault von der Möglichkeit der diskursiven und dispositiven Formung
dieser Affekte ausgeht und gleichzeitig in ihnen – ähnlich wie beim Begehren –
ein Potential für Widerständigkeit sieht. Er akzentuiert die Freiheit zur Selbstgestaltung, um gesellschaftliche Veränderungen denkbar zu machen und verortet
damit Fragen der Körperlichkeit, der Emotionalität und des Begehrens in einer
Foucault Revisited
Foucault,dieLinkeunddieGenesedesNeoliberalismus
Mit seinen genealogischen Analysen des Neoliberalismus in den Vorlesungen
zur ‚Geschichte der Gouvernementalität‘ galt Foucault bislang als kritischer
Kommentator des neuen Geist des Kapitalismus unmittelbar vor dessen globalem Siegeszug. Seit Kurzem erlebt die Foucault- Forschung durch die Beiträge
ehemaliger Wegbegleiter (vgl. Dean 2016), durch Monographien (Pasteñas
2011; Audier 2016), Sammelbände (Behrent & Zamora 2016) und Konferenzen
(vgl. Provenzano 2016) eine Konjunktur, die diese Werkphase unter neuen
Blickwinkeln betrachtet. Eine kontroverse These zeichnet Foucault dabei als
Kritiker einer sozialstaatsorientierten fordistischen Linken und geht von einer
Verführung bzw. „attraction“ durch den Neoliberalismus aus (Behrent 2016,
26), die sich in einer „Apologie“ neoliberaler Positionen niederschlage (Becker
et al. 2012, 6).
Im Konferenzbeitrag soll zunächst gezeigt werden, dass die Vertreter der
neuen Forschungskonjunktur einem durchaus fruchtbaren Ansatz folgen, der
wichtige Fragen nach Foucaults Rolle in den ideologisch-politischen Auseinandersetzungen während des Umbruchs zwischen Fordismus und Neoliberalismus
aufwirft (1). Dass dabei die Frage nach Foucaults Haltung zur sozialstaatsaffinen Linken zu kurz greift, soll anschließend auch anhand von bislang unveröffentlichtem Quellenmaterial (Foucault 1977; vgl. Felsch 2015, 137ff.) dargestellt werden (2). Denn dieses Material verweist auf die Bedeutung von
Foucaults Auseinandersetzung mit der „Staatsphobie“ einer sich radikalisieren-
Wien, am 4./5. November 2016
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den anti-imperialistischen Linken. Eine Re-Lektüre von Foucaults Analysen des
Neoliberalismus offenbart vor diesem Hintergrund eine Kritik am gouvernementalen Zusammenhang zwischen der komplexen Rationalität neoliberaler
Staatlichkeit und neoliberalen Subjektivierungsformen, die einer „Verführung“
durch den Neoliberalismus widerstrebt (3).
(1) Die skizzierte Konjunktur der Foucault-Rezeption ist vor allem deshalb
fruchtbar, weil sie Foucaults theoretische Arbeiten als Intervention in einen
konkreten historischen Kontext begreift: „Foucaults “neoliberal moment” must
be situated in the broad shift of allegiances that transformed French intellectual
politics in the 1970s“ (Behrent 2016, 26). Die Autoren unterstreichen damit den
politischen Charakter von Theorie als performativen Teil von krisengetriebenen
Auseinandersetzungen um die Gestaltung gesellschaftlicher Ordnung und beugen so einer methodischen Akademisierung vor.
(2) Anhand von zwei Beispielen (Foucault 2003, 364ff.; 2005, 440ff.) soll anschließend gezeigt werden, dass die bisherige Quellenauswahl und –Interpretation derjenigen, die von einer neoliberalen „Verführung“ Foucaults ausgehen,
äußerst selektiv bleibt (vgl. Provenzano 2015, Paulsen Hansen 2015). Größeren
Aufschluss über die Anlässe von Foucaults Beschäftigung mit dem Neoliberalismus gibt dagegen eine Rekonstruktion seiner Auseinandersetzungen mit einer
radikalen – auch terroristischen – anti-imperialistischen Linken, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu seinen Gouvernementalitätsvorlesungen stehen (vgl.
Foucault 2003, 495ff.). Dazu werden erstmals Audio-Aufnahmen ausgewertet,
die Foucaults Verleger vom Merve-Verlag bei einem Treffen im Herbst 1977
machten und Zeugnis von seiner Kritik eines linken Feindbildes geben, das
noch im Bann eines hobbeschen Polizeistaates steht.
(3) Eine ähnliche „Staatsphobie“ wie auf Seiten der kritisierten Linken kennzeichnet nach Foucault auch die der neoliberale Gouvernementalität (Foucault
2004, 260ff.), deren Genese aus Ordoliberalismus und der Chicagoer Schule er
in den Vorlesungen zur Gouvernementalität untersucht. Eine Pointe seiner Analyse der neoliberalen Gouvernementalität ist dabei, dass trotz oberflächlicher
Phobie vor dem kalten Ungeheuer Staat, der neoliberale Staat aktiv-intervenierend bleibt (Foucault 2004, 188) und sich mit einer Subjektivierung als Unternehmer seiner Selbst zu einer neuen Konstellation der Macht verbindet. Die
Kritik von Staatsphobie und neoliberaler Gouvernementalität steht damit quer
zu seiner Einordnung als Neoliberaler und bleibt auch über ihren historischen
Anlass hinaus relevant.
Foucault Revisited
PhilippSarasin(Zürich)
FoucaultsWende
Gibt es im Werk Michel Foucaults eine "Wende"? Die Frage scheint etwas unangemessen, weil Foucaults Denken zwar von vielen kleineren und größeren
Richtungsänderungen und Verschiebungen geprägt ist, aber ebenso sehr von
Kontinuitäten und einem insistenten Kreisen um zentrale Fragen und Probleme.
Trotzdem kann in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre im Denken Foucaults eine Wende ausgemacht werden, die das gesamte Spätwerk präformierte: Die
Kultur der Kritik, eine neue Konzeption des Subjektes und die Betonung des
Mutes, sich den Herrschenden entgegenzustellen, gehörten zu jenen wichtigen
Elementen, die Foucaults Denken damals eine neue Richtung gegeben haben.
HagenSchölzel(Erfurt)
FoucaultsgenealogischeKritikderWissensordnungenunddie
»ontologischePolitik«derAkteur-Netzwerk-Theorie
Der vorgeschlagene Beitrag widmet sich Foucaults Methode der genealogischen
Kritik (bspw. Foucault 2002; vgl. Saar 2007), die sich gegen die unhinterfragte
Geltung bestimmter „historischer Apriori“ und die Regelsysteme der Herausbildung dieser Wissensordnungen richtet (Foucault 1973, 183-190 u. 2012). Diese
soll in einem Theorievergleich in Hinblick auf ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede mit der sog. „ontologischen Politik“ der Akteur- Netzwerk-Theorie
(ANT) diskutiert werden (Law 2010, 158). Aus dem Bereich der ANT wird insbesondere Bezug genommen auf Latours jüngere Philosophie der Existenzweisen (Latour 2014). Die vergleichende Diskussion dieser zielt darauf, das Verhältnis zwischen der entscheidend durch Foucault angestoßenen Analyse von
Wissensordnungen und den durch die ANT bzw. Latour prominent vorangetriebenen Analysen von Formationen der „Dinge“ genauer in den Blick zu bekommen. Sie kann damit zu der aktuellen Diskussion um ein „Government of
Things“ der an Foucault angelehnten Gouvernementalitätsstudien beitragen
(Lemke 2015). Andersherum kann dieser Vergleich auch den Blick auf ein genaueres Verständnis der interventionistischen Theoriebildung und den spezifischen Konstruktivismus der (latourschen) ANT eröffnen (vgl. dazu auch Gertenbach 2015), womit die ANT deutlicher in einer foucaultschen Tradition verortet wird, als dies in weiten Teilen der deutschsprachigen Rezeption der Fall
ist.
Wien, am 4./5. November 2016
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Foucaults Arbeiten lassen sich u.a. als spezifische Varianten einer Ideengeschichtsschreibung der von ihm behandelten Wissensgebiete lesen (Foucault
1973, 193-200). Insbesondere in den sog. genealogischen Studien unternimmt
Foucault den Versuch, sein (anti-)wissenschaftliches Schreiben als taktische Interventionen in diese Formationsregeln der jeweils untersuchten Wissensordnungen betreiben (vgl. Foucault 2001, 22-26). Diese Arbeiten führen, mit anderen Worten, einen „Kampf im Wissen“ (Saar 2007, 203). Im Anschluss an
Foucault wurden in den vergangenen rund 20 Jahren verschiedene Forschungsprogramme entwickelt und vorangetrieben. Aus politikwissenschaftlicher Sicht
kommen hier insbesondere die wissenssoziologische und die kritische Diskursanalyse sowie die Gouvernementalitätsstudien in den Blick. Diese Forschungen
zeichnen sich dadurch aus, dass sie Wissen, Aussagesysteme oder Programmatiken, d.h. sprachlich verfasste Quellen als Gegenstand der Analyse in den Blick
nehmen. In jüngerer Zeit wecken darüber hinaus aber auch verstärkt materielle
Entitäten das Interesse der an Foucault orientierten Sozialforschung. Wie mit
diesen umzugehen ist und wie ihr Verhältnis zu den sprachlich verfassten Wissensordnungen zu verstehen ist, bleibt dabei eine kontroverse Frage, für deren
Diskussion ein Blick auf die ANT-Forschungen produktiv sein kann.
Die aus der Wissenschaftssoziologie hervorgegangene Akteur-NetzwerkTheorie scheint demgegenüber ein ganz anderes Programm zu verfolgen. In methodischer Hinsicht u.a. auf einer ethnographischen Tradition aufbauend, interessierten sich an der ANT orientierte Forschungen zunächst für heterogene
Praktiken der Wissensproduktion, nicht für die diskursiven Ordnungen der einmal etablierten Wissensbestände. ANT-Forschungen fokussierten dabei alle
möglichen als relevant erachteten Entitäten verschiedenster Provenienz sowie
deren Zusammenspiel. Dieser Ansatz wurde inzwischen zu einer allgemeinen
Sozialtheorie und -methodologie ausgebaut (Latour 2005). In der (deutschsprachigen) sozialwissenschaftlichen Rezeption wird die ANT insbesondere als
Theorie gelesen, die ein Verständnis der Relevanz materieller Entitäten für den
Aufbau der sozialen Welt ermöglicht. Tendenziell übersehen wird dabei jedoch,
dass Latours Projekt als „empirische Philosophie“ beschrieben werden kann
(Schmidgen 2011, 13) und vor allem auch „Textstrategie, Schrift, Inszenierung,
Semiotik“ sein will (Latour 2008, 12). Die empirischen Forschungen dienen mit
anderen Worten der Infragestellung bestimmter etablierter (philosophischer)
Wissen(sordnungen). Diese Interventionen werden allerdings weniger unter
dem Signum eines Kampfes im Wissen, als unter dem einer Taktik der „Diplomatie“ geführt (Latour 2014, 647).
Foucault Revisited
KarstenSchubert(Duisburg-Essen)
FreiheitalsKritik.ZurDebatteumFreiheitbeiFoucault.
Eine Debatte über Freiheit in Foucaults Werken wurde ausgelöst, als politische
Theoretiker_innen wie Habermas, Fraser und Taylor Foucault als einen der ihren, als politischen Theoretiker, interpretierten und ihn dafür kritisierten, innerhalb seiner nietzscheanischen Theorie der Macht weder Freiheit noch Widerstand erklären zu können. Andere Interpret_innen, die das vorgebrachte politiktheoretische Freiheitsproblem ernst nehmen und Foucaults Arbeiten grundsätzlich als einen wertvollen politiktheoretischen Beitrag verstehen, verteidigten
Foucault und entwickelten Interpretationen seines Werkes die darauf zielen, eine kohärente Theorie der Freiheit innerhalb des Foucault’schen Theorierahmens
von Macht und Subjektivierung zu erstellen. In diesem Paper rekonstruiere ich
die besten Versionen der drei Hauptansätze dafür, Foucault zu einem kohärenten politischen Theoretiker zu machen und kritisiere sie dafür, das Freiheitsproblem nicht zu lösen, um dabei einen neuen Ansatz zu entwickeln.
1. „Foucault korrigiert sich“ (Thomas Lemke). Foucault hatte in seinen genealogischen Arbeiten eine defiziente Konzeption von Freiheit, aber er korrigiert
seine Fehler und entwickelt ein kohärentes Freiheitsdenken in seinem Spätwerk,
insbesondere den Bänden 2 und 3 der Geschichte der Sexualität und im zentralen Aufsatz Subjekt und Macht. Ich kritisiere, dass diese Interpretation zwei
Freiheitskonzepte, die in Foucault gefunden werden können, nicht differenziert:
Freiheit als die Fähigkeit, in einer gegebenen Situation anders zu handeln (über
die Foucault ausführlich in Subjekt und Macht spricht) und das anspruchsvollere
und voraussetzungsreichere Konzept von Freiheit als Kritik. Dadurch wird die
sozialtheoretische Erklärung von Freiheit als Anders-handeln-Können schon als
eine Erklärung des gesuchten Freiheitsbegriffs der Kritik ausgegeben.
2. „Foucault kritisiert kohärent“ (Martin Saar). Foucaults Methode der genealogischen Kritik arbeitet mit rhetorischen Dramatisierungen und seine Aussagen
über die Machtdetermination von Subjekten sind solche Dramatisierungen und
keine sozialtheoretische Aussagen. Deshalb sind sie kein sozialtheoretisches
Problem. Ich kritisiere, dass dadurch nicht das Problem gelöst wird, dass die
Einsicht in die Konstitution (nicht Determination) von Subjekten durch Macht
den Freiheitsbegriff destabilisiert und entgrenzt. Ich entwickle die These, dass
Genealogie in einer Spannung zum Ziel der politischen Theorie, klare Konzepte
zu entwickeln, steht, weil ihr Ziel die Destabilisierung von gängigen Konzepten
ist. Deshalb kann das Freiheitsproblem durch die Genealogie allein nicht gelöst
werden.
Wien, am 4./5. November 2016
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3. „Foucault ist nicht genug“ (Amy Allen). Um Freiheit innerhalb einer Theorie
der Subjektivierung zu verstehen, ist es nötig, die Fähigkeit zur Unterscheidung
von repressiven und freiheitlichen Formen der Subjektivierung zurück zu erlangen, was durch eine Kombination aus Foucaults Machttheorie mit Habermas
Konzept der Autonomie gelingt. Ich kritisiere, dass auch diesem Ansatz die gewünschte Differenzierung nicht gelingt, weil er freiheitliche Subjektivierung nur
in sozialem Protest, nicht aber in politischen Institutionen verortet.
Durch die interne Kritik dieser Interpretationen entwickle ich einen neuen
Ansatz, Freiheit in einer Theorie der Subjektivierung zu bestimmen: Freiheit als
die Fähigkeit, seine eigene Subjektivierung kritisch zu reflektieren, ist das Resultat von freiheitlicher Subjektivierung, deren gesellschaftlicher Ort politischen
Institutionen sind.
MarianaSchütt(Jena)
FoucaultscheBedeutungsverschiebungen.ZumVerhältnisvon
neuenVorlesungenundBuchprojekten
In meinem Vortrag fokussiere ich mich auf die drei Vorlesungen Die Strafgesellschaft, Die Macht der Psychiatrie und Die Anormalen, die Foucault am Collège de France in den Jahren von 1972-75 gehalten hat. In diesen drei Vorlesungen entwickelt Foucault maßgeblich jene Gedanken, die er später in seinen wohl
bekanntesten Werken Überwachen und Strafen und der Der Wille zum Wissen.
Sexualität und Wahrheit I zur vollen Entfaltung bringt. Dies umfasst eine Ablehnung der Repressionshypothese, die Idee einer produktiven Macht und die
Konzepte von Normalisierung und Disziplinarmacht. Allerdings gehen auch
zentrale Ideen, die Foucault in seinen Vorlesungen entwickelt, nicht mehr in
seine Buchprojekte ein. Hier geht es vor allem um seine Überlegungen zur Psychiatrie, zur Familie, zum Trieb, zum Kind, zur Anomalie und zur Hysterie. Zudem unternimmt Foucault in seinen Vorlesungen bei zentralen sozialwissenschaftlich relevanten Begriffen – wie etwa dem Begriff der Institution – eine
Bedeutungsverschiebung. Somit können die Vorlesungen nicht nur auf ihre
Funktion als ‚Stichwortgeber‘ reduziert werden. Vielmehr bieten sie einen eigenen Korpus – an noch zum größten Teil – wenig rezipierten Gedanken an. Das
vorangestellt, werde ich nachzeichnen wie Foucault in diesen Vorlesungen von
72-75 um eine Gegenposition zur Psychoanalyse (Freud, Lacan, Klein), zum
Strukturalismus (Levi-Strauss), und vor allem auch dem Freudo-Marxismus
(Reich, Marcuse) ringt. Dieses Ringen, welches eng zusammenhängt mit dem
Entfalten einer ‚genealogischen Methode‘, markiert einen Bruch mit dem Den-
Foucault Revisited
ken Foucaults wie er es noch prominent in Die Ordnung der Dinge vertreten
hat. Dort positionierte Foucault die Ethnologie und die Psychoanalyse bekanntermaßen als ‚Gegenwissenschaften‘ zu den Humanwissenschaften. Seine ‚genealogische Methode‘ der frühen siebziger Jahre richtet sich nun nicht mehr nur
wie seine Archäologie gegen die Anthropologie, Dialektik und Humanwissenschaften, sondern gegen alle Theorien, die dem Universalen verhaftet bleiben.
In meinem Vortrag werde ich anhand dieser drei Vorlesungen zeigen, welche
gesellschaftstheoretischen Fragen Foucault mit seiner Vorgehensweise in den
Blick bekommt, allerdings auch welche Blindstellen sich dadurch ergeben. Ich
werde mich besonders mit seinen Überlegungen zu den Fragen von Internalisierung, Individualisierung, Blickstruktur und Psyche auseinandersetzen und daran
anschließend diskutieren, welches Modell der Vergesellschaftung Foucault hier
ex- und implizit vorschlägt.
WalterSeitter(Wien)
DerEinbezugderRaumdimensionindenBegriffdesPolitischen
amBeispielzur„Einwanderungsgesellschaft“
Im Jahre 1975 führte die Zeitschrift Hérodote - stratégies géographies idéologies (1976/1) ein Gespräch mit Michel Foucault, in dem dieser gefragt wird, ob
in seinen Schriften die Dimension des Raumes eine bedeutsame Rolle spiele.
Zunächst weist er darauf hin, daß die Dimension der Zeit, der Geschichte, für
ihn offensichtlich wichtiger sei; doch im Laufe des Gesprächs muß er einräumen, daß seine Machtanalysen ohne eine subkutane Neigung zumindest zu
räumlichen Metaphern kaum möglich gewesen seien und daß er dieser Dimension nun wohl stärker nachgehen wolle.
Dabei hatte er der Räumlichkeit ungefähr zehn Jahre davor bereits einen Text
gewidmet, der sie direkt und nicht nur metaphorisch thematisierte: unter dem
Titel "Heterotopien", dann "Andere Räume". Foucault hat die Heterotopien,
auch wenn sie physisch ins Makrogeographische gehen können, jeweils bestimmten Typen von "Gesellschaft" zugeordnet.
Jahrzehnte davor hat ein Autor, der mit Foucault nichts zu tun hat,, nämlich
Helmuth Plessner in Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924) die "Gesellschaft" begrifflich dadurch bestimmt, daß sie im Unterschied zur "Gemeinschaft" aus "Fremden" bestehe. Und er hält den Sozialtyp
"Gesellschaft" für notwendig, ohne den Sozialtyp "Gemeinschaft" für irrelevant
zu erklären. Die Koexistenz der beiden Sozialtypen schafft für Plessner ein
Problem, das Problem des Politischen.
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Der "Fremde" ist jemand, der, wenn er auch zumeist so genannt wird, wenn
er "da" ist, aus einem räumlichen Anderswo stammt, das gewöhnlich jenseits
von Grenzen lokalisiert wird, welche Länder, Staaten, Kulturen, Kontinente
voneinander unterscheiden und auseinanderhalten. Zwar verwendet Plessner in
dem genannten Zusammenhang das Wort "Fremder" in einem tendenziell abgeschwächten Sinn - doch er löst es nicht von seiner Herkunft, die auf der Ebene
der Politik die Unterscheidung von Innenpolitik und Außenpolitik impliziert.
Für den Begriff des Politischen bedeutet das, daß dieser ohne den Aspekt der
Außenpolitik nicht gedacht werden kann (eine Analogie zu Carl Schmitts "Begriff des Politischen" vor dessen Artikulierung), worauf ich in den Menschenfassungen (1985, 2012) hingewiesen habe. Maßgebliche Verhaltensweisen in
der Gesellschaft seien daher der Diplomatie zu entnehmen.
Und von diesem Gesellschaftsbegriff mache ich einen Sprung zu einem vielleicht kontingenten Gesellschaftstyp. Während etwa die Vereinigten Staaten von
Amerika seit ihrer Gründung, nein schon seit ihren Vorgründungszeiten, als
multiple und konfliktuelle "Einwanderungsgesellschaft" gelten, weil sie offensichtlich nur als solche zustandegekommen sind, werden etwa Deutschland oder
Österreich erst jetzt, durch die bekannten Tatsachen, Konflikte und Ängste, auf
die Frage gestoßen, ob sie sowas sind.
Übrigens hat Michel Foucault die Problematisierung von Einwanderungsund Invasionsgeschichten im England des 17. Jahrhunderts und im Frankreich
des 18. Jahrhunderts seinerseits dazu aufgeboten, um seinen am Krieg orientierten Machtbegriff zu illustrieren. Der Krieg ist bekanntlich ein der Außenpolitik
zuzurechnendes Verhaltensereignis.
AlexanderStruwe(Frankfurt)
Foucaultsnicht-dialektischeErneuerungderGesellschaftstheorie
Michel Foucaults Macht- und Diskursanalytik bildet in gewisser Weise den
Kristallisationspunkt eines fundamentalen Umbruchs der Gesellschaftstheorie.
Auch wenn sein Wirken erst „von den Linksintellektuellen in Frankreich mit
großem Schweigen aufgenommen [wurde]“, haben „etwa 1968 [...] all diese
Fra- gen [...] ihre politische Bedeutung erlangt, und das mit einer Schärfe, die
[er] nicht vermutet hatte“. Im Windschatten des Mai 1968 wendet sich die radikale Linke von ihren alten Lehrmeistern des Marxismus ab, der „durch die Wissenschaft die Beherrschten aus ihrer Lage befreien [möchte]. Aber er kann sie
nur als Unwissende denken.“ Die linke Intelligenz richtet den Blick auf die
Machtförmigkeit des Wissens selbst und damit jene Autoritäten, die darüber
verfügen. Die Studierendenrevolte überwindet gewissermaßen den Marxismus
Foucault Revisited
im Namen seines eigenen Emanzipationsversprechens, der Freiheit, die das
marxistische Beharren auf dem „Gesichtspunkt der Totalität“ immer wieder untergräbt. Kein anderes Konzept steht deutlicher für die korrespondierende theoretische Transformation als Michel Foucaults Diskurs und dessen Umwertung
des gesellschaftlichen Totalitätsbegriffs inklusive aller daraus folgender Implikationen für den Prozess der Subjektivierung und Möglichkeiten des Widerstands. Foucault wird vor dem Hintergrund der Abkehr vom marxistischen Erkenntnisstandpunkt „ein wichtiges Vorbild“, da sich mit seinem Denken die
konsequente „Entstratifizierung der Diskurse“ und gleichzeitige Betonung des
subjektiven widerständigen Potenzials vollziehen ließ.
In dieser Konstellation hat Foucault ein ganz konkretes und trotzdem beinahe
unsichtbares Gegen- über: Louis Althusser. Dessen Großbemühung, der wissenschaftlichen und philosophischen Praxis seiner Zeit eine, wie er es betont,
THEORIE zu geben, brachte ihm bald den Ruf eines bloßen Theoretizismus oder Reduktionismus von Seiten seiner eigenen Schüler ein. Althusser Versuch
einer letzten Rettung der dialektischen Theorie einer Totalität der Gesellschaft
besteht im Beharren auf dem Primat der Determination, welches die Bedingung
der Erkenntnis für ihn darstellt. Mit seinem Scheitern scheitert auch das dialektische Vorhaben der marxistischen Gesellschaftstheorie insgesamt. Das entstehende Vakuum vermag Foucault auszufüllen, dessen allererste Theorieprämisse
ist, nicht deterministisch zu sein. Sein Diskurskonzept entwirft gewissermaßen
eine Theorie des gesellschaftlichen Zusammenhangs vor dem Hintergrund einer
ontologischen Kontingenz und ist damit der direkte Gegenentwurf zu Althussers
Theorie der gesellschaftlichen Determination. Foucaults radikale Historisierung
des Gesellschaftlichen ist damit die Auflösung jenes Widerspruchs zwischen der
Totalität der Verhältnisse und deren Historizität, die eine dialektische Theorie in
den Blick zu nehmen versucht hatte. Foucault bezeugt in dieser Geste der Universalisierung der Kontingenz nichts weniger als die Neugründung der Gesellschaftstheorie auf nicht- dialektischem Boden.
Auch wenn schon viel Auseinandersetzung mit Foucaults Verhältnis zum
Marxismus stattgefunden hat, lässt sich doch erst in der direkten Gegenüberstellung zum Althusserschen Theoriegebäude nachvoll- ziehen, inwiefern Foucault
realer Anti-Marxist ist. Foucaults gesamtes Theoriewerk fußt auf dem Primat
der Kontingenz, einer quasi-ontologischen Figur, die jene Funktion der Athusserschen Determination in letzter Instanz ersetzt und damit das bemerkenswert
ähnliche Theoriegebäude fundamental umdeutet.
An diesem grundlegenden Unterschied muss eine Diskussion des Foucaultschen Werkes ansetzen. Der Beitrag möchte in der dezidierten Gegenüberstellung der Theoriegebäude und ihrer entscheidenden Mo- mente deren fundamentale Differenz herausarbeiten, deren Verständnis auch für die nachfolgenden
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Jahr- zehnte der Theorieentwicklung dringend nötig ist und viel zu selten Berücksichtigung erfährt.
JanSuntrup(Bonn)
Die„DramatikdeswahrenDiskurses“.Zumpolitiktheoretischen
GehaltvonFoucaultsParrhesia-Vorlesungen
Im Rahmen der tendenziell überbordenden Foucault-Forschung haben die späten Vorlesungen am Collège de France zum Parrhesia-Begriff (drei Vorlesungen
von 1981bis 1984) gerade aus politikwissenschaftlicher Sicht bislang relativ
wenig Aufmerksamkeit erfahren. Diese Tatsache kann dabei nicht allein auf das
späte Datum der Veröffentlichung zurückgeführt werden, zumal Grundideen der
Vorlesung bereits vorher (als unautorisierte Veröffentlichung einer Vorlesungsreihe Foucaults an der Universität Berkeley 1983) zugänglich waren; vielmehr
erschwert Foucault selbst einen politiktheoretischen Zugang zu diesem Spätwerk: So deutet er in Die Regierung des Selbst und der anderen (1982/83) zunächst an, eine Genealogie des politischen Diskurses skizzieren zu wollen (S.
98), löst dieses Versprechen aber nicht ein, weil sich das Interesse zunehmend
auf philosophiehistorische Aspekte, nämlich eine historische Betrachtung der
„Neuverteilung der parrhesia“ verlagert (S. 439).
Der Vortrag möchte zunächst kurz die konstitutiven Elemente der Parrhesia,
als riskantem und kritischem Akt des Wahr-Sagens, in dem sich der Sprecher an
sein Wort bindet, verdeutlichen und in das Foucault’sche Programm einordnen,
Komplexe von Veridiktion, Gouvernementalität und Subjektformation aufzuzeigen. Hier wird unter anderem deutlich, dass sich in dieser existenzielldramatischen Art zu sprechen genuin freiheitliche Modi der Subjektivierung offenbaren, die in seinen früheren Untersuchungen zur Disziplinarmacht oder
auch in den Studien zur neoliberalen Gouvernementalität, in denen „Freiheit“
wesentlich als effizienzfördernde und ordnungspolitische Strategie auftaucht,
keinen systematischen Ort hatten.
Darüber hinaus soll aber vor allem der politische Gehalt des Wahrsprechens
stärker herausgestellt werden, als es Foucault getan hat. Foucault beschreibt einen Dreischritt der Parrhesia, von der politischen Veridiktion in der antiken
Vollversammlung oder vor Gericht über die platonisch-philosophische Parrhesia, die als Beratung des Herrschenden erscheint, bis hin zu einer ethischen
Parrhesia bei Sokrates und den Kynikern, die fest mit einer entsprechenden Lebensführung verbunden ist, mit einer ethisch-ästhetischen „Sorge um sich“, die
aber gleichwohl eine kritisch-normative Funktion für die Gemeinschaft hat.
Foucault Revisited
Foucaults Verfolgung der Debatten um die politische Parrhesia erscheinen wenig originell, zeigen sie doch nur die Ambivalenzen der öffentlichen Rede in der
Demokratie auf sowie die Einsicht, dass die öffentliche Rede demokratiegefährdend sein kann, wenn sie nicht dem richtigen Ethos, der geeigneten politischen
Kultur entspricht, also Schmeichelei und Demagogie vorherrschen. Erkenntnisreicher scheint es zu sein, nach Relikten der politischen Parrhesia in der Gegenwart zu suchen. Die platonische Art der „Politikberatung“ findet in der expertokratisch geprägten Gegenwartspolitik dabei keine Verlängerung, da zum
einen heutige Beratung kaum mit einem nennenswerten persönlichen Risiko
verbunden ist und da es, zum zweiten, Platon, wie Foucault zeigt, nicht um den
philosophischen Eingriff in Detailfragen und Programme des politischen Alltags
ging, sondern um die psychagogische Einwirkung auf die „Seele“ des Herrschenden. Gibt es aber andere heutige Figuren, die – bei allen berechtigten
Warnungen vor anachronistischen Typisierungen – der politischen Parrhesia zuzuordnen wären? Zu denken wäre hier zunächst an Intellektuelle, wobei hier
schon die Grenzen offensichtlich werden, die Parrhesia pauschal an soziale Typen zu binden: Während Émile Zola in der Dreyfus-Affäre mit seinem
„J’accuse“ nicht nur seinen sozialen Status aufs Spiel setzte, sondern auch strafrechtliche Konsequenzen in Kauf nahm, sprechen viele seiner Nachfolger zumindest in rechtsstaatlichen Demokratien von einem etablierten und privilegierten Standort aus, der keinerlei Mut zur Wahrheit mehr erfordert und mit eigenen
Orthodoxien einhergeht – selbst wenn das Selbstverständnis und auch die mediale (Selbst-) Inszenierung darüber hinwegtäuschen sollen. Dissidenten oder
auch whistleblower sind eher in der Zola’schen Tradition zu sehen. Aber auch
die Kehrseiten des politischen Wahrsprechens werden schnell deutlich. So identifiziert Foucault selbst in der Mut zur Wahrheit (1983/84, S. 233ff.) den Revolutionär als einen politischen Nachfolger der Kyniker (der ethischen Parrhesiasten), der seinen Lebensstil fest an die Wahrheit/Ideologie knüpft, bis hin zum
terroristischen Akt, die „Wahrheit“ zu manifestieren. Zudem gibt es auf Seiten
der Vordenker der „Neuen Rechten“ Ansätze, die Praxis der eigenen Bewegung
mit explizitem Bezug auf Foucault als gewissenhaften und aufopferungsvollen
Kampf gegen „den offenkundigen Selbstbetrug“ und das „Geflecht aus Vorteilsund Funktionslügen“ zu inszenieren (so Frank Lisson in der Zeitschrift Sezession), was (unter massiver intellektueller Abrüstung) auch Motive der PEGIDABewegung sind. Das parrhesiastische Sprechen geht immer mit einer Dramatik
und Inszenierung einher, unabhängig von der Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit
des Sprechers.
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AmadeusUlrich(Frankfurt)
DieGeltungnoumenalerunddiskursiverMacht.
MichelFoucaultundRainerForstimVergleich
Am Ende von Das Recht auf Rechtfertigung weist Rainer Forst in einer Fußnote
darauf hin, er „spiele hier (sehr allgemein) auf Foucaults Konzeption der Macht
an“ (Forst 2007:365). Welche Ähnlichkeiten und Unterschiede seine Theorie
„noumenaler Macht“ mit der Machtanalytik des französischen Philosophen hat,
führt er zwar in einer späteren Arbeit näher aus (Forst 2015:58–81); allerdings
nur in wenigen Worten. In meinem Vortrag möchte ich diesen Vergleich weiter
ausarbeiten und auf die Möglichkeit einer Kritik von Machtverhältnissen mithilfe der beiden konstruktivistischen Ansätze eingehen, und folglich einen Beitrag
zu Sektion 2 leisten.
Die Gemeinsamkeiten der Theorien sind in nuce, dass ihnen zufolge Macht in
sozialen und politischen Kontexten ein allgegenwärtiges Phänomen ist; sich
nicht durch bestimmte Mittel, Institutionen oder Akteure definieren lässt; intentional im diskursiven Raum auf „freie“ Individuen ausgeübt wird; und normative und epistemische Gründe produziert, die das menschliche Denken und Handeln Menschen beeinflussen. Doch lässt sich diese spezifische Wirkweise der
Macht normativ erfassen, bspw. im Hinblick auf Prinzipien der Legitimität?
Die Ansätze von Forst und Foucault differieren, so meine erste Hypothese,
grundlegend, wenn es um die Frage geht, ob und wie eine normative Reflexion
von Machtbeziehungen möglich ist. So weisen sie auf einen zentralen Streitpunkt in der zeitgenössischen Machtdebatte hin: nämlich, ob Prinzipien der
Vernunft zu Formen der Beherrschung führen oder der Schlüssel sind, um illegitime Machtverhältnisse zu überwinden (Allen et al. 2014:7). Während Forst
mit seinem „Recht auf Rechtfertigung“ eine normative Theorie der Gerechtigkeit zu entwickeln bestrebt ist, weigert sich Foucault bewusst, zwischen mehr
oder weniger gerechtfertigten Formen der Macht zu differenzieren oder uns
Prinzipien an die Hand zu geben. Foucault möchte nicht zwischen Herrschaftsformen differenzieren, die gegenüber Subjekten vernünftig gerechtfertigt sein
könnten oder nicht. Vielmehr geht es ihm darum, wie Machtverhältnisse mit
Normen und Wissen rationalisiert werden.
Dies vorausgeschickt, ist im zweiten Teil meines Vortrags bedeutsam, dass
Forst kritisiert, dass Foucaults Auffassung diskursiver Macht im Kern negativ
konnotiert sei. Der französische Philosoph habe positive Formen der „GegenMacht“ von Individuen, die für Freiheit und Selbstbestimmung kämpfen, nicht
ausreichend theoretisch bestimmt. Auch Jürgen Habermas hat beanstandet, dass
mit Foucaults genealogischen Methode, die zeigen möchte, wie Macht wirkt,
Foucault Revisited
unklar bleibe, welche ihrer Formen gerechtfertigter sein könnte als andere (Habermas 1986:331ff.). Dass Foucault nicht auf die Frage eingehe, was eine „gute“ von einer „schlechten“ Herrschaftsordnung unterscheidet, münde in eine
Aporie. Wenn Macht normativ unbestimmbar ist: Warum sollten wir sie kritisieren, ihr Widerstand leisten oder gehorchen? Laut Nancy Fraser (1994:31ff.) hat
Foucault zwar die historischen Ursprünge moderner Macht dargestellt und gezeigt, wie sie im alltäglichen Leben wirkt, Diskurse und Subjekte produziert,
sich in Institutionen, Apparaten und Strukturen manifestiert. Doch sei fraglich,
ob sein Machtbegriff wirklich normativ neutral ist. Allerdings hat Foucault oft
widersprochen, dass Machtwirkungen per se „schlecht“ oder „böse“ seien. Wie
kommt es zu dieser Diskrepanz?
Ich meine anhand von Interviewaussagen und einer werkimmanenten Interpretation zeigen zu können, warum es voreilig ist, seinen Machtbegriff als „negativ“ zu titulieren, und warum Foucault dies nicht akzeptiert hätte. Denn so
verkennt man meines Erachtens die Radikalität seines Denkens, weil man ihn
auf ein Normativitäts- und Wahrheitsspiel zu verpflichten versucht, an dem er
sich nicht beteiligen wollte. Dies hätte für ihn eine weitere Form der Machtausübung eines kontextsituierten Theoretikers bedeutet, der versucht, Macht zu rationalisieren. Dies führt zur zweiten Hypothese: Forst und Foucault meinen mit
den Adjektiven „positiv“ und „negativ“ etwas Unterschiedliches. Forst bezieht
sich auf die normative Qualität von Rechtfertigungen; Foucault meint mit der
„Positivität“ von Macht unterdessen eher deren wahrheits- und diskursproduzierenden Charakter. Und darüberhinaus finden sich durchaus Anhaltspunkte zu
der Annahme, dass das, was die Macht in ihrem komplexen Wirken laut
Foucault produziert und erschafft, positiv konnotiert sein könnte, und er eine
„Praxis der Freiheit“ für möglich gehalten hat.
FriederVogelmann(Bremen)
KritikalspräfigurativeEmanzipation.
EinemethodologischeFoucault-Lektüre
Ich möchte in diesem Vortrag eine Relektüre von Foucaults Kritikbegriff vorschlagen, die Foucaults Kritik als eine diagnostische Praxis präfigurativer
Emanzipation interpretiert: Foucault betreibt Kritik, so werde ich argumentieren, als Analyse von Praktiken und den in ihnen erzeugten Wirklichkeiten wie
»Kriminalität« oder »Sexualität« entlang der drei Achsen Wissen, Macht und
Selbstverhältnisse. Seine Grundbegriffe auf diesen Analyseachsen sind so gewählt, dass sie die methodologischen Imperative des Nihilismus, des Nomina-
Wien, am 4./5. November 2016
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lismus und des Historizismus umsetzen. Kritik als eine solche »philosophischhistorische« Praxis erzeugt in erster Linie Erkenntnisse – jedoch sehr spezielle,
denn diese Erkenntnisse sind Gegen- Wahrheiten, die darauf abzielen, uns von
den Wirklichkeiten, die in den analysierten Praktiken produzierten werden, zu
emanzipieren – uns präfigurativ, für einen kurzen Moment von ihren Wahrheiten freizulassen und damit auch ihre Machtstrategien und Subjektivierungsformen kurzzeitig außer Kraft zu setzen.
Was steht mit dieser Deutung, die Foucaults Kritik von ihrer Wissensproduktion her versteht, auf dem Spiel? Von den weithin bekannten Interpretationen
von Foucaults Kritikbegriffs weicht mein Vorschlag in dreifacher Weise ab:
Erstens bricht er mit der verbreiteten Überzeugung, Foucaults Kritik können
nicht als emanzipativ begriffen werden. Ein Grund für diese Überzeugung ist
die unglückselige Debatte zu Foucaults – wirklichem oder scheinbarem – Mangel an normativen Maßstäben. Gemaßregelt von Kritiker_innen, die ihre eigenen Maßstäbe mitbrachten, haben Verteidiger_innen von Foucaults Kritik in der
Folge Fragen zur Normativität häufig heruntergespielt, weshalb es attraktiv
wurde, aufgeladene Begriffe wie »Emanzipation« zu vermeiden. Ein zweiter
Grund liegt darin, dass »Emanzipation« oft so verstanden wird, als sei der Begriff zwangsläufig auf eine Form des Humanismus bezogen. Beide Gründe hängen allerdings davon ab, wie wir »Emanzipation« verstehen und wie wir
Foucaults Vorgehensweise deuten. Ich werde Foucaults methodologische Perspektive als negativistisches Vorgehen gemäß den drei Imperativen eines methodologischen Nihilismus, Nominalismus und Historizismus erläutern und zeigen, welche Bedeutung das für seinen Kritikbegriff hat. Außerdem werde ich
vorschlagen, Emanzipation im Rückgriff auf die Begriffsgeschichte negativistisch zu verstehen.
Mein Vorschlag weicht zweitens darin ab, dass ich die archäologische Dimension in Foucaults gesamtem Werk betonen werde. Darunter verstehe ich die
Entscheidung, Wissen nicht auf der Ebene zu untersuchen, auf der wir Wahrheitswerte zuschreiben, sondern auf der Ebene der Existenzbedingungen dieser
Zuschreibungen. Obgleich Interpreten wie Arnold I. Davidson und Ian Hacking
die Bedeutung der archäologischen Dimension stets hervorgehoben haben, ist
dies in den Diskussionen um Foucaults Kritikbegriff (an denen sich beide nicht
beteiligt haben) selten gewürdigt worden. Auch hierfür sehe ich zwei Gründe:
Erstens wurde die Rezeption stark von frühen Deutungen beeinflusst, die die
Archäologie als letztlich gescheitertes Programm darstellten. Zweitens gibt es
speziell im deutschsprachigen Raum eine sozialwissenschaftliche Interpretation
von Foucault als Machtanalytiker und Subjektivierungstheoretiker, die zusammen mit der archäologischen Dimension auch seine scharfe Kritik der Sozialwissenschaften als Komplizinnen der Disziplinarmacht (z.B. in Überwachen
Foucault Revisited
und Strafen) bequem ausblenden konnte. Problematisch daran ist, so werde ich
argumentieren, dass Foucault Wissen explizit als Medium seiner Kritik privilegiert und diese signifikant an Kraft verliert, sobald man die archäologische Dimension unterschlägt.
Drittens schließlich legt meine Diskussion von Foucaults Kritikbegriff insofern einen anderen Fokus, als sie nicht vorwiegend Angriffe auf dieses Kritikverständnis sowie auf Foucaults Grundbegriffe und Vorgehensweise insgesamt
abwehren soll. Denn diese Gegnerschaft hat dazu geführt, interpretative und
systematische Fragen tendenziell zu vernachlässigen. So wurden etwa die verschiedenen Interpretationen von Foucaults Kritikbegriff kaum je zueinander ins
Verhältnis gesetzt. Dieser Mangel an exegetischem Rigorismus zeigt sich beispielsweise in der unseligen, periodisch wiederkehrenden Debatte um Foucault
angebliche Sympathien für den Neoliberalismus (derzeit vor allem von Daniel
Zamora und Michael C. Behrent befeuert). Dagegen soll meine methodologische Interpretation von Foucaults Kritikbegriff als diagnostische Praxis präfigurativer Emanzipation demonstrieren, wie schnell wir Foucaults Kritik als bloße
Denaturalisierung missverstehen, wenn wir seine methodologische Perspektive
und insbesondere die archäologische Dimension nicht hinreichend berücksichtigen.
AnnaWieder(Wien)
GrenzphänomenedesPolitischenimSpätwerkFoucaults.
KritikalsWiderstand
Foucaults Denken des Politischen ist von zahlreichen Verschiebungen gekennzeichnet: Während er in seinem Studium der „Mikromächte“ politische Beziehungen als agonale Machtverhältnisse begreift und am Modell des Krieges analysiert, orientiert sich Foucault ab Ende der 1970er Jahre zunehmend an den
Begriffen der Regierung und der Gouvernementalität als Analyseraster für jene
Verfahren politischer Machtausübung, mit denen Menschen regiert werden und
sich selbst regieren. In seinem Spätwerk, das im Zeichen der Suche nach einer
anderen Form von Subjektivität steht, kündigt sich abermals eine Neubestimmung des politischen Feldes an, die Politik in erster Linie von einem Moment
der Kritik her zu denken versucht. So schließt Foucault seine Analyse der Gouvernementalität mit dem Verweis auf verschiedene Widerstandsformen gegen
die Macht bzw. Formen des Gegen-Handelns, denen in seinen späteren Schriften eine Schlüsselrolle für sein Verständnis von Politik zukommt. Dabei wendet
sich Foucault gegen Auffassungen, die das Feld des Politischen als die „gesamte
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Interventionssphäre des Staates“ oder als die „Allgegenwart eines Kampfes zwischen zwei Feinden“ beschreiben, und benennt die Kritik des Regierens als den
Anfang aller Politik: „Nichts ist politisch, alles ist politisierbar, alles kann politisch werden. Die Politik ist nicht mehr und nicht weniger als das, was mit dem
Widerstand gegen die Gouvernementalität entsteht, die erste Erhebung, die erste
Konfrontation.“
Betrachtet man diese Bestimmung im Kontext der Thematik der „Sorge um
sich“ und den „Techniken des Selbst“, die Foucault in seinen Vorlesungsreihen
der 1980er Jahre umkreist, aber auch zeitnaher kritischer Stellungnahmen – etwa zur homosexuellen Identitätspolitik oder zur politischen Rolle von Intellektuellen –, wird, wie ich im Rahmen des Vortrags zeige, deutlich, dass Foucaults
Spätwerk auf eine Auslotung der Grenzen des Politischen abstellt, insofern er
Widerstand gerade nicht im Sinne antagonistischer Theorien als eine identitätspolitische, strategische Besetzung von Machtpositionen denkt, sondern Ansätze
einer politischen Praxis aufzeigt, der es darum geht, neue Handlungsformen und
Lebensweisen auszuloten, die selbst kein „universales ethisches Richtmaß“ einführen, sondern in Differenzierungs-, Schöpfungs- und Innovationsbeziehungen
gestiftet werden und dem kritischen Impetus folgen, „nicht dermaßen regiert zu
werden“. Dabei wird insbesondere die Rolle der Philosophie in ihrem Verhältnis
zur Politik virulent. So zeichnet sich die Philosophie, genauer gesagt, das philosophische ethos der Kritik durch eine spezifische Reflexivität aus, die sie zum
Politischen in eine Beziehung eines „widerstrebenden Außenstehens“ setzt. Der
Beitrag versucht, sowohl die von Foucault skizzierten Grenzphänomene des Politischen nachzuzeichnen als auch anhand der thematisierten ethischen Selbstpraktiken ein Verständnis von Kritik als Widerstand zu gewinnen, dem es darum geht, diese Grenzen zu erproben und „experimentell“ zu überschreiten.
DanielWitte(Bonn)
DerStaatunddiegelehrigenKörper.
ZurpolitischenTransformationvonSubjektivierungsweisenbei
MichelFoucault,PierreBourdieuundNorbertElias
Eine – vielleicht: die – Schlüsselfrage im Werk Foucaults bildet die Formierung
und Formatierung von Subjekten und Individuen im Kontext von spezifisch historischen Macht/Wissen-Konstellationen und Dispositiven. Besonders anschaulich wird diese „Bildung des Individuums ausgehend von einer bestimmten
Machttechnologie“ in den berühmten und viel zitierten Passagen über die „gelehrigen Körper“ illustriert, die in Überwachen und Strafen den Übergang von
Foucault Revisited
der Souveränität zur Disziplinarmacht markieren. Dabei stehen die ‚Körper‘ hier
nicht zufällig im Fokus: Der Körper der Subjekte – und mit ihm die Körpertechnologien – bilden hier den entscheidenden Link zwischen einem neuen Machttypus und den darin verstrickten Subjekten, wobei die untersuchten Beispiele –
etwa militärischer Drill oder die Disziplinierung von Arbeitern – natürlich eng
an die Bedürfnisse einer neuen politischen Ökonomie der entstehenden Disziplinargesellschaft geknüpft sind (d. h. hier stehende Heere, Industrialisierung und
Massenproduktion, usf.).
Überlegungen zu diesem Zusammenhang von großen gesellschaftlichen Umbrüchen und Veränderungen politischer Herrschaftsformen und -techniken einerseits sowie damit einhergehenden Transformationen vergesellschafteter Individuen und ihres Dispositions-haushaltes andererseits finden sich indes auch
bei anderen Klassikern der Soziologie: Norbert Elias hat – lange vor Foucault –
nicht lediglich die umfassenden Veränderungen des ‚Affekthaushaltes‘ der
Menschen unter dem Stichwort ihrer ‚Zivilisierung‘ untersucht, sondern die
Pointe seiner klassischen Studie besteht gerade in der engen Verknüpfung dieser
‚psychogenetischen‘ These mit einer ‚soziogenetischen‘ Theorie der Staatsbildung und grundlegenden Veränderung der Herrschaftsweisen. In den staatssoziologischen Vorlesungen Pierre Bourdieus schließlich steht ebenfalls der Zusammenhang von Staatsbildungsprozessen und der Ausbildung spezifischer Habitūs im Vordergrund: Bourdieu geht es hier darum zu zeigen, wie einerseits die
Entstehung eines spezifisch juridischen Denken zur Autonomisierung ganzer
gesellschaftlicher Teilbereiche, zur Absicherung eines neuen Arrangements von
Machtbalancen und einer neuen ‚Arbeitsteilung‘ von Herrschaft führen konnte.
Andererseits prägt aber der so konstituierte moderne Staat in so fundamentaler
Weise die kognitiven Strukturen (Schemata der Wahrnehmung und des Denkens) der ihm unterworfenen Akteure, dass schon der Versuch, ‚den Staat zu
denken‘, als ein geradezu paradoxes Unterfangen behauptet wird.
Auch wenn dabei wohl keiner dieser drei Ansätze auf einen der folgenden
Aspekte reduziert werden kann, lässt sich doch gleichwohl eine Schwerpunktsetzung behaupten, die die genannten Theorien als komplementäre auszeichnen
könnte: Während bei Foucault in dieser Werkphase dem über Körpertechniken
vermittelten Eingriff in die leibliche Hexis, die ‚Formung‘ und ‚Dressur‘ des
Körpers eine besondere Bedeutung zukommt, rückt für Elias viel stärker der unter ‚Kontroll‘-Gesichtspunkten beleuchtete ‚Affekthaushalt‘, d. h. die emotive
Dimension der Subjektivierung in den Vordergrund. Bourdieus Staatssoziologie
schließlich betont, auch wenn der Habitus-Begriff im Übrigen als umfassendes
Konzept angelegt ist, in auffälliger Weise die kognitive Seite seiner Strukturierung. In allen drei Varianten kommt dabei jedoch dem Staat – dem historischen
Prozess der Etablierung des modernen Nationalstaats sowie dem Zusammen-
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hang von politischen Transformationsprozessen und Subjektivierungsweisen –
eine zentrale Bedeutung zu, was in der vorliegenden Literatur zu Formen der
Subjektivierung (Subjektformierung und -formation, Selbst-Bildung, usw.) in
der Regel randständig bleibt.
Der Beitrag sucht diesen Zusammenhang genauer auszuleuchten und vergleicht zu diesem Zweck zunächst die drei genannten Autoren hinsichtlich möglicher Gemeinsamkeiten und Komplementaritäten, aber auch mit Blick auf Differenzen und Unvereinbarkeiten. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die
Frage gelegt, inwieweit die im Staat gerinnende Macht zur Erschaffung und
Formung von Subjekten in theoretischer sowie praktischer Hinsicht unterlaufen
oder aufgebrochen werden kann. Lässt sich zu diesem Zweck eine Parallele ziehen zwischen der von Elias postulierten Umstellung der Affektkontrolle ‚von
Fremd- zwang auf Selbstzwang‘ und Foucaults Geschichte der Macht- und Regierungstechniken, die in der gouvernementalen ‚Regierung des Selbst‘ ihren
Abschluss findet, dann werkgeschichtlich aber doch wieder zur Frage der
Selbst-Sorge als einer subversiven Freiheitspraxis (zurück-)führt? Und wie verhält sich eine solche Parallele zu den von Bourdieu in den Mittelpunkt gerückten epistemologischen Widersprüchen, die jedem subversiven Denken vermeintlich eigen sein müssten – angesichts des Staates als eines „Standpunkt[es],
oberhalb dessen es keinen Standpunkt mehr gibt“5?
Mit der damit angestoßenen Frage nach den kritischen Potenzialen der genannten Theorien rückt schließlich die für alle drei Autoren wichtige Figur des
‚Bruchs‘ und sein ganz unterschiedlich austariertes Spannungsverhältnis zu den
jeweils dominanten Vorstellungen historischer Kontinuität in den Blick: Im Fall
Foucaults als bachelardscher ‚Bruch‘ und über die Betonung historisch-epistemischer Diskontinuitäten, ebenso wie in den Überlegungen zu Heterotopien und
-chronien (die gerade den ‚Bruch‘ mit der gesellschaftlichen Raum-Zeit erfordern), aber auch in seiner später Hinwendung zu den Technologien des Selbst,
etwa der Konversion (áskēsis). Bei Bourdieu findet sich ein ähnliches Motiv der
Subversion in Gestalt des immer wieder prominent eingeforderten ‚Bruchs mit
der Doxa‘ (und hier: dem ‚Staats- denken‘), während bei Elias schließlich der
Debatte über das Verhältnis von linearen Prozessen und Zivilisationsbrüchen
sowie gegenläufigen Entwicklungen eine zentrale Rolle zu- kommt. Diese wird
aber gerade mit Blick auf ‚Ereignisse‘ geführt, die sich zugleich als politische,
moralische und habituelle Zäsuren deuten lassen – und insofern im zweifachen
Wortsinne ‚kritische‘ Momente der Parallelentwicklung von staatlichen Formationen und Subjektivierungsformen darstellen.
Foucault Revisited
PeterZeillinger(Wien)
Zwischen»Pastorat«und»Pastoralmacht«.
FoucaultsHinweisezurGrundlegungeinerGemeinschaft-ohneSouveränität
Zunächst zum Hintergrund der im Vortrag zur Sprache kommenden Lektüren: Michel Foucault hat in seinen letzten Vorlesungen in Paris, in einigen Vorträgen in den USA, sowie während seiner Gastvorlesungen 1981 in Louvain ein
Projekt verfolgt, das sich von seinen publizierten Büchern stark unterscheidet.
Die Beobachtung von Veränderungen in den Praktiken und Legitimationen des
Politischen seit dem 16. Jh., insbesondere der ins Zentrum rückende Begriff der
»Regierung« (der von der »Herrschaft« strikt getrennt wird) und das Interesse
am Individuum, das zur Sorge sowohl um das »Glück« der Einzelnen wie auch
um das Wohl der Gemeinschaft führt (z. B. in der aufkommenden Policeywissenschaft), lassen ihn fragen, wo die Wurzeln für dieses Interesse liegen. In
seiner ersten Gouvernementalitäts-Vorlesung und im Rückgang zu den Selbstund Gemeinschaftspraktiken der Spätantike findet er diese Wurzeln im sog.
Hirt-Herde-Schema, dem Pastorat, von dem er zeigt, dass es weniger aus der
griechischen Tradition stammt, sondern aus einer orientalischen Gemeinschaftsstruktur, die durch das Christentum vermittelt wurde. In mehreren Anläufen
analysiert Foucault in den Vorlesungen der 1980er-Jahre wesentliche Grundzüge dieser Pastoratsstruktur, in der ebenfalls der Einzelne im Zentrum steht,
und erkennt darin zugleich auch den Ausgangspunkt für die Genealogie des
abendländischen Subjekts.
Auf die spezifischen Selbst- und Gemeinschaftspraktiken, die mit dem Pastorat verbunden sind, z. B. die unterschiedlichen Bekenntnispraktiken im frühen
Christentum (exhomologese im 2./3. Jh.) und im lateinischen Mönchtum des
5./6. Jh. (exagoreusis bei Cassian) kommt Foucault in seinen Vorlesungen
mehrfach zurück. Er zeigt wie diese Bekenntnispraktiken ab dem 12./13. Jh. einen enormen Einfluss auf die juridische und politische Praxis des Abendlandes
gehabt haben. Das Verständnis von juridischer Wahrheit und der daraus resultierende Offenlegungs- und Geständniszwang im juridischen Prozess haben hier
ihre Wurzeln. Daher stammt auch das breite Interesse des späten Foucault am
Phänomen der parrhesia, dem öffentlichen »Alles-Sagen« und seinen politischen Konsequenzen. Pastorat, Bekenntnis/Eid, Geständnis und parrhesia sind
hier beim späten Foucault verknüpft und eröffnen einen neuen Blick auf die tradierten Verständnisse von Subjekt(ivität), Gemeinschaft und das Feld des Politischen. Foucault beschreibt allerdings auch die Gefahren und Auswüchse, die
mit den genannten Praktiken und dem Modell des Pastorats verbunden sind und
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aus dem zunächst positiv beschriebenen Hirt-Herde-Schema im Bereich des Politischen alsbald die »Pastoralmacht« bis hin zur modernen Biopolitik haben erwachsen lassen.
Der Vortrag möchte das Interesse des späten Foucault an diesen Themen anhand seiner Vorlesungen und Vorträge zunächst möglichst textnah nachzeichnen.
In einem zweiten Schritt soll danach gefragt werden, inwiefern sich in diesem
Gegenmodell zu einem souveränen Herrschaftsverständnis auch Elemente für
eine Grundlegung einer »Gemeinschaft-ohne-Souveränität« finden. Ein Ansatz
dafür wird Foucaults eigene Analyse verschiedener Kritiken an der Pastoralmacht liefern, die nämlich nicht von »außen« an die Pastorats- und Gouvernementalitätsstrukturen herangetragen wurden, sondern aus ihnen selbst stammen:
„Ich möchte wissen, ob der historischen Singularität des Pastorats nicht die Spezifität von Verweigerungen, Revolten, Widerständen des Verhaltens entsprochen hat.“ – Das Interesse des geplanten Vortrags zielt also darauf, einige Hinweise aus dem Spätwerk Foucaults zu erschließen und zur Diskussion zu stellen, welcherart ein Politik- und Gemeinschaftsverständnis strukturiert sein
müsste, um sowohl einem souveränen Herrschaftsdenken als auch den Auswüchsen der Pastoralmacht die Stirn zu bieten.
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