Aktuelle Predigt: Reformationstag

Predigt Reformationstag von Pfarrerin Rowena Jugl
Der HERR segne an uns sein Wort.
Zittern. Ich zittere, wenn mir kalt ist. Wenn ich etwas
Er zittert. Es ist kalt auf der Wartburg. Dass er hier ist, weiß
Schauriges sehe. Wenn ich mich an etwas erinnere, was mir
eigentlich niemand – außer seine engsten Vertrauten. Er muss
schon immer Angst gemacht hat. Ich zittere. Vor einer
sich verstecken. Es geht nicht anders. Es gibt gewisse Leute,
schweren Prüfung. Vor dem Gespräch mit meinem Chef. Vor
die sind hinter ihm her. Er ist vogelfrei und über ihn ist die
der Begegnung mit diesem Menschen, den ich doch nie wieder
Reichsacht verhängt worden. Er zittert. Es ist nicht nur kalt
sehen wollte. Zittern.
hier, er ist auch einsam. Aber immerhin hat er viel zu tun. Er
arbeitet viel. Tag und Nacht ist er daran, das Neue Testament so
Wir hören den Bibeltext für diesen Gedenktag der
zu übersetzen, dass es alle Menschen in den Städten und
Reformation. Der Apostel Paulus sagt zu den Menschen in der
Dörfern lesen können. Griechisch – das ist doch nichts für
Gemeinde in Philippi:
Bauern oder Arbeiter. Es muss Deutsch sein. Und zwar so, dass
es jedermann versteht. Er zittert. Was passiert, wenn es die
12 Also, meine Lieben, - wie ihr allezeit gehorsam gewesen
Leute lesen. Können sie es dann verstehen? Diese Sätze aus der
seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel
Bibel, die für ihn so wichtig geworden sind:
mehr in meiner Abwesenheit - schaffet, dass ihr selig werdet,
„Allein aus Glauben..“ werden wir frei. Das ist etwas, das die
mit Furcht und Zittern. 13 Denn Gott ist's, der in euch wirkt
Menschen so nicht gewohnt sind. Nur Vertrauen? Nur an Jesus
beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem
Christus glauben und dann ist man gerettet. Die Menschen sind
Wohlgefallen.
es gewohnt, etwas für ihr Seelenheil zu tun. Er weiß nicht wie
die Menschen auf seine Übersetzung des Neuen Testaments
reagieren. Er zittert.
vielmehr „Ehr-Furcht“ davor, was Gott noch mit ihm vorhat.
Was er dazu tun kann, tut er. Er vertraut Gott. Er glaubt fest
Zittern. Wenn ich zittere, dann möchte ich gewärmt werden.
daran, dass Gott höchstpersönlich ihn befreit hat. Er spürt, wie
Dann sehnen sich die kleinen Häarchen auf dem Unterarm
nahe ihm Jesus Christus ist, gerade in den Momenten des
danach, sich wieder ruhig hinzulegen. Wenn ich zittere, dann
Zitterns.
tut mir Zuspruch von außen gut. Dann gebe ich mir zwar
Mühe, mich aus eigenen Kräften wieder zu beruhigen, doch ich
Liebe Gemeinde, die Grunderkenntnis der Reformation, den
brauche die Umarmung und den Trost meines Nächsten.
Tag, den wir heute feiern, ist einfach und doch fällt es schwer
diese anzunehmen. Gott befreit uns von sich aus. Weil er selbst
Er zittert. Es ist immer noch kalt auf der Wartburg. Soll er sich
in Jesus Christus zu uns Menschen kommt. Wir können diese
wirklich so fürchten. Vielmehr liest er beim Übersetzen immer
Befreiung nicht mit unserem Tun und Handeln erwirken.
wieder „Fürchte dich nicht!“ und bei ihm schafft sich eine
Sondern was wir tun können, ist auf diese Befreiungstat Gottes
wärmende Ehrfurcht Raum. „Ehr-Furcht“. Trotz des Zitterns.
zu vertrauen. Darauf vertrauen, dass ein anderer unsere Last
Eine Furcht zur Ehre Gottes. Denn er weiß ganz genau, was
trägt. Darauf vertrauen, dass ein anderer unsere Schuld auf sich
ihm blüht, wird er hier oben auf der Burg entdeckt. Wenn die
geladen hat. Darauf vertrauen, dass ein anderer uns mit Gott
Leute merken, dass er nicht der Junker Jörg ist. Sondern wenn
versöhnt. Da kann einen schon einmal Furcht befallen. Gerade
die Leute wissen, wer in Wirklichkeit hier oben lebt.
eben weil wir einmal einem anderen, als uns selbst, vertrauen
Manchmal sagt er seinen eigenen Namen leise vor sich hin, um
müssen. Und da soll uns vielleicht auch einmal Furcht und
ihn nicht zu vergessen: „Luther. Ich bin Luther. Martin. Dr.
Zittern befallen, wie Paulus es den Christen in Philippi sagt.
Martin Luther.“ Er zittert. Aber er fürchtet sich nicht. Er hat
Aber eben jene Furcht, die uns für Gott erst offen macht. Und
diese Furcht, liebe Gemeinde, ist eine Ehrfurcht. Eine Art
Weltbild umgedreht. Nicht der Mensch muss sich mühen. Nicht
„heiliger Schauer“. Es muss erst unser eigener Stolz über unser
er, Martin, muss tun und handeln und noch mehr und noch
Tun in den Hintergrund treten, damit wir ehrfürchtig vor Gott
mehr und immer weiter und besser sein. Nein. Gott tut es. Gott
treten können. Der Mensch muss von seinem Stolz immer erst
tut etwas für ihn. Gott sieht sein Zittern und hält ihn darin
einmal leer werden, um dann Gott ehrfürchtig zu dienen. Er
sogar fest.
muss durch die bebende Ehrfurcht, die ihn zittern lässt, erst
„durchgerüttelt“ werden, dass er ein neuer Mensch wird.
Liebe Gemeinde, Gott wendet sich uns zu in unserem Zweifeln
und in unserem Zittern. Wir müssen es nicht allein schaffen.
Er zittert. Immer noch. Es hört ja nicht einfach auf. Das
Auch wenn wir das, was wir können, natürlich für ihn und
durchgerüttelt-werden wirkt nach. Gott hat ihn ordentlich
unsere Kirche einsetzen können und sollen. Aber wir dürfen
durchgerüttelt. Damals als Mönch wusste er, dass ihm
uns genau in dieser Anforderung darauf verlassen, dass Gott
irgendetwas fehlte. Er versuchte es mit allem. Mit Buße. Mit
selbst es ist, der in uns „das Wollen und das Vollbringen“ wirkt.
Auferlegen von sämtlichen Aufgaben. Mit Gebet. Mit Geld.
Das entlastet. Das beruhigt. Da spüren wir Gottes warme
Mit Mitgefühl. Mit Hingabe. Mit allem. Doch es reichte nicht.
Umarmung mitten in der Kälte, die uns manchmal umgibt.
Sein Tun reichte nicht.
Auch wenn es einer bewussten Entscheidung zum Handeln
Einen Gott, der Gnade zeigt, das wünschte er sich in seinem
immer bedarf, können wir sicher sein: unsere jetzige
Zittern. Und dann spürte er Gottes Hand auf seinem zitternden
Entscheidung ist nicht das letzte Wort. Sondern Gottes Gnade
Arm. Das Zittern, es blieb. Aber nicht, weil es ein Zittern aus
für uns ist das letzte Wort. Allein aus dem Vertrauen auf diese
Angst vor Gott ist. Sondern es ist nun ein Zittern, als Folge,
Zusage, können wir wirklich gut handeln. Erst von da ab haben
weil Gott ihn ordentlich durchgerüttelt hat. Gott hat sein
wir eine Basis. Eine feste Burg unseres Tuns. Offen für Gott
sein. Ihn wirken lassen. Unseren Stolz hinten anstellen.
Heute erinnern wir uns an die Anfänge der Geschichte rund um
Durchgerüttelt werden, damit wir zittern. Nicht weil wir uns
den hartnäckigen Mönch Martin Luther, der mit wehender
fürchten, aber weil wir Ehrfurcht haben vor Gottes
Kutte seine 95 Thesen an die Wittenberger Schlosskirche
Veränderung in unserem Leben.
nagelte und damit ganz Europa in Aufruhr versetzt. Manche
Eine Veränderung, die sich immer wieder vollzieht. Im Leben
Menschen haben es auch heute gut im Gespür, wann es Zeit für
des Einzelnen. Aber auch draußen in der Welt. Eine
Veränderungen ist. Für neue Reformationen innerhalb der
fortwährende Reformation. In jeder Zeit hat diese Reformation
Kirchen, innerhalb der Städte, innerhalb der Politik, aber auch
ihre eigenen Aufgaben. Und oft frage ich mich, was ist für
wann es Zeit ist für neue Reformationen innerhalb der Herzen
unsere Kirche heute Reformation? Oder denken wir überhaupt
ist. Und wenn die Zeit für Veränderungen da ist, dann geht es
noch an eine Reformation? Jeder wünscht sich, dass sich etwas
auch nicht ohne Furcht und Zittern. Denn Freiheit ist
verändert, aber was soll das sein? Jeder weiß es besser und am
ansteckend: Da könnten Nachbarvölker befürchten, dass ihre
Ende verlässt sich jeder auf sich selbst.
auf Unrecht und Gewalt fußende Macht ins Wanken gerät. Da
könnten Reiche zittern, weil die Armen ihr Recht einfordern.
Ich zittere. Nicht weil ich friere und nicht weil ich mich
Da könnten wir alle zittern, weil auch wir merken, wie unser
fürchte. Aber ich habe Ehrfurcht vor Gott und er rüttelt mein
Umgang mit der Welt andere ausschließt.
Weltbild immer ordentlich durch. Manchmal wünsche ich mir,
andere mit diesem Zittern anzustecken. Dass auch sie
Auch er zittert. Will andere damit anstecken. Sie, die bald das
ordentlich durchgerüttelt werden von Gott. Genauso wie die
erste Mal in ihrem Leben die Möglichkeit haben, wirklich
Menschen vor 500 Jahren.
etwas von der Liebe Gottes zu lesen. Er zittert. So bleibt er
irgendwie in Bewegung und das ist gut so.
Kanzelsegen: Und der Friede Gottes, welcher höher ist als
alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in
Christus Jesus. Amen.