Völliger Fehlschlag

faulheit & arbeit
Sonnabend/Sonntag,
29./30. Oktober 2016, Nr. 253
n Drucksachen
n Schwarzer Kanal
n Reportage
n ABC-Waffen
Um die eigene Befreiung. Ein Flugblatt Rosa
Luxemburgs für Karl Liebknecht vom Okto­
ber 1916. Sozialistin
Großer Internetknüppel. Die FAZ phan­
tasiert von einem russischen Cyberkrieg,
findet aber keinen Beweis
Bilder einer Räumung: Das Ende des Flücht­
lingslagers im nordfranzösischen Calais.
Fotos von Björn Kietzmann
2004 hatte ich keine Freundin und war dazu
noch arbeitslos. Ich war ein Abbild Achills
(Teil 1). Von Stefan Wimmer
MIRA FLORES/DPA-BILDFUNK
»Ich vermittle zwischen Bürgern
und Staat, um Lösungen zu finden«
Gespräch
Mit Tarek William Saab. Über die Verteidigung der Menschenrechte,
Gewaltenteilung, Stabilität in Venezuela und Behauptungen der Opposition
REUTERS/JORGE DAN LOPEZ
S
ie sind Venezuelas »Defensor del Pueblo« (Verteidiger
des Volkes, jW), was im
Deutschen mit Ombudsmann übersetzt wird. Ein solches
Amt gibt es in dieser Form in der
Bundesrepublik nicht. Welche Rolle
spielen Sie in der Gesellschaft?
Die Defensoría, das Amt des Ombudsmanns, entstand in Venezuela im Zuge
des Prozesses der Erarbeitung und Verabschiedung einer neuen Verfassung 1999.
Es ist also eine relativ neue Einrichtung
zum Schutz der Menschenrechte, die es
früher nicht gab.
Ich war Präsident der Kommission für
Menschenrechte in der verfassunggebenden Versammlung, die den Abschnitt 3
unseres Grundgesetzes erarbeitete, der
sich mit diesem Themenkomplex beschäftigt: Bürgerrechte, soziale, wirtschaftliche, persönliche Rechte, Schutz
der Umwelt und so weiter. In diesem Rahmen wurde die neue Institution geschaf-
Tarek William Saab
… ist Politiker, Anwalt und Schrift­
steller. Im Dezember 2014 wurde
er in Venezuela zum »Defensor
del Pueblo«, dem »Verteidiger des
Volkes«, gewählt
fen, die eine strategisch bedeutsame Rolle
in der Gesellschaft spielt. In Venezuela
gibt es fünf öffentliche Gewalten: Neben
der Exekutive, Legislative und Judikative
existieren die Bürgergewalt und die Wahlgewalt. Die Defensoría ist zusammen mit
der Generalstaatsanwaltschaft und der
Contraloría, dem Rechnungshof, Teil der
Bürgergewalt.
Welche Aufgaben leiten sich daraus
ab?
Die Defensoría ist eine nationale Institution, die die Menschenrechte verteidigt, die
sie beschützt, Erziehungsarbeit zu diesem
Thema leistet und die vermittelt. Das ist
derzeit, glaube ich, die wichtigste Aufgabe, zumindest in den zwei Jahren, die
ich dieses Amt bisher ausübe: Ich bin ein
Vermittler, der mit allen Schichten spricht,
denn ich glaube fest an den Nutzen von
Verhandlungen, der Konsensfindung. Ich
vermittle also zwischen Gruppen, in diesem Fall zwischen Bürgern und dem Staat,
um Lösungen für Probleme zu finden.
Eine weitere Aufgabe fällt in den Bereich der Gesetzgebung. Wir schlagen
der Nationalversammlung Gesetze zum
Schutz sozial benachteiligter Mitglieder
der Gesellschaft vor, etwa zum Schutz der
Bauern, von Personen mit Behinderungen
und anderen. Und wir haben ein Klagerecht. Wir können vorläufige Anordnungen erwirken und juristische Schritte
einleiten. Wir können Opfer oder Antragsteller zu den Gerichten begleiten.
Die Defensoría übt also gerade in der gegenwärtigen Etappe unserer Entwicklung
eine strategisch nicht zu unterschätzende
Funktion aus, um Frieden, Demokratie und
Stabilität in unserem Land zu bewahren.
Sie ist so etwas wie die Beschwerdestelle
für Bürger, die anderswo kein Gehör gefunden haben. Seit meiner Wahl im Dezember
2014 konnten wir 300.000 Menschen helfen. Ich spreche von 110.000 Maßnahmen,
die wir als Defensoría eingeleitet haben.
Als »Defensor del
Pueblo« ist Tarek William Saab (2. von rechts)
Teil der Staatsspitze
Venezuelas, mit Präsident Nicolás Maduro
(2. von links), Gladys
Gutierrez (links), Präsidentin des Obersten
Gerichtshofs, und Vladimir Padrino López
(rechts), bei einer Pressekonferenz in Caracas
am 11. September 2015
Ein Vermittler
Gespräch mit Tarek William Saab. Der
venezolanische Politiker, Anwalt und
Schriftsteller über die Verteidigung der
Menschenrechte, Gewaltenteilung, Stabilität in seinem Land und die Rolle der
Opposition. Außerdem: Räumung des
Flüchtlingscamps in Calais. Fotoreportage
n Fortsetzung auf Seite zwei
ACHT SEITEN EXTRA
GEGRÜNDET 1947 · SA./SO., 29./30. OKTOBER 2016 · NR. 253 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT
WWW.JUNGEWELT.DE
Eingebunden
Lückenlos
Bedrängt
Komplex
3
5
9
12
»Strategische Autonomie«: Die EU
will künftige Kriege nicht nur im
Rahmen der NATO führen
EU-Binnengrenzen werden weiter
kontrolliert. Kosten: 90 Millionen
Euro. Von Ulla Jelpke
Berlin für
CETA im Anflug: Ist die Wallonie
»umgefallen«? Siehe auch
Kommentar auf Seite 8
Domenico Losurdo hat ein Buch zur
Geschichte des Klassenkampfs
geschrieben. Vorabdruck
die Bombe
Dein Abo
Zeit.
zur rechten
Siehe Seite 16
PAUL ZINKEN/DPA/MONTAGE JW
REUTERS
Ortega vor Wahlsieg
in Nicaragua
123 Staaten der UNO stimmen für Verhandlungen zum Verbot aller Atomwaffen.
Deutscher Botschafter votiert dagegen Von André Scheer
N
ordkorea ist bereit, über ein
weltweites Verbot aller Atomwaffen zu verhandeln – die
USA, Russland, Großbritannien, Frankreich (und auch Südkorea) sind es nicht.
Auch der deutsche Botschafter Michael
Biontino votierte am Donnerstag (Ortszeit) im sogenannten Ersten Komitee
der UN-Vollversammlung gegen eine
von Österreich, Brasilien, Irland, Mexiko, Nigeria und Südafrika eingebrachte
Resolution, nach der im kommenden
Jahr Verhandlungen für eine atomwaffenfreie Welt aufgenommen werden
sollen. Mit ihrem negativen Votum
stellte sich Deutschland gemeinsam mit
den meisten NATO-Staaten gegen eine
überwältigende Mehrheit der Staaten
der Welt. 123 Delegation votierten für
den Entwurf, 38 dagegen, und 16 enthielten sich, unter ihnen die Atommächte China, Indien und Pakistan.
Der Resolution zufolge soll im kommenden Jahr in New York eine UN-
Konferenz stattfinden, auf der über ein
rechtlich bindendes Instrument zum
Verbot der Atomwaffen und ihre vollständige Beseitigung verhandelt wird.
Auftakt soll demnach eine viertägige
Sitzung vom 27. bis 31. März sein, gefolgt von dreiwöchigen Beratungen im
Juni und Juli. Das Papier wird nun an
das Plenum der UN-Vollversammlung
weitergeleitet, das voraussichtlich im
Dezember darüber entscheiden wird.
Mit einer Annahme kann nach dem Votum vom Donnerstag gerechnet werden.
Auf Nachfrage von junge Welt verteidigte das Auswärtige Amt in Berlin
die Ablehnung des Antrags. Selbstverständlich unterstütze man das Ziel einer Welt ohne Atomwaffen, aber dieses
könne man nur gemeinsam mit den
Atommächten erreichen. Man setze
auf den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen, erklärte
während der Sitzung in New York Botschafter Biontino. Man spreche sich für
»eine konkrete und realistischere Alternative« zu einem Verbot von Atomwaffen aus.
Dagegen begrüßten die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) das Ergebnis der
Abstimmung als »abrüstungspolitische
Revolution«. Zum ersten Mal hätten es
die atomwaffenfreien Staaten gewagt,
die Atommächte und ihre Alliierten in
einer solchen Frage zu überstimmen.
»Es ist eine Schande für Deutschland,
dass sich die Bundesregierung der
Gruppe der Hardliner angeschlossen
hat«, kommentiert Sascha Hach vom
deutschen Zweig der Internationalen
Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) die Haltung Berlins.
»Neben Rüstungsexporten an autoritäre Regimes gehören die Stationierung
und Unterstützung von Atomwaffen zu
den Abgründen der deutschen Außenpolitik.« Damit spielte Hach auf die
Tatsache an, dass im Fliegerhorst Bü-
chel in Rheinland-Pfalz noch immer
Atomwaffen gelagert werden. Von
einem Abzug dieser Massenvernichtungsmittel ist nicht die Rede. Vielmehr
plant Washington offenbar, die Bomben zu modernisieren. Das berichtete
der Spiegel im August. Die Waffe vom
Typ »B61-12« solle ab 2020 in Büchel
stationiert werden. Für den Abwurf im
Kriegsfall seien auch »Tornado«-Jets
des in Büchel stationierten deutschen
Luftwaffengeschwaders vorgesehen.
Gegen das Atomwaffenlager wollen
Friedensaktivisten auch im kommenden Jahr demonstrieren. Geplant sind
Protestaktionen vom 26. März bis zum
9. August 2017. »Die 20 Wochen stehen
für die 20 Atombomben, die in Büchel stationiert sind. Die US-Regierung
plant, diese Atombomben aufzurüsten.
Eine neue Spirale der atomaren Aufrüstung hat begonnen«, heißt es auf der
Homepage der Kampagne »Büchel ist
überall – atomwaffenfrei jetzt«.
»Völliger Fehlschlag«
Venezuelas Regierung hält Generalstreik der Opposition für gescheitert
M
it einem »zwölfstündigen
Generalstreik« hat die Opposition in Venezuela am
Freitag ihre Proteste gegen die Regierung von Präsident Nicolás Maduro
fortgesetzt. Sprecher des Rechtsbündnisses MUD (Tisch der demokratischen Einheit) hatten ihre Anhänger
dazu aufgerufen, zwischen 6 und
18 Uhr zu Hause zu bleiben.
Über die Beteiligung an dem Ausstand gab es im Laufe des Tages
gegenteilige Einschätzungen. Während der oppositionelle Abgeordnete
Freddy Guevara von einem »Erfolg«
sprach, wertete Venezuelas Arbeitsminister Oswaldo Vera den Streikaufruf als »völligen Fehlschlag«
der »Putschisten«. Im Gespräch mit
dem Rundfunksender Radio del Sur
erklärte er, die Lage im Land sei
völlig normal. Er zeigte sich zudem
überzeugt davon, dass die venezolanische Arbeiterklasse eine Beteiligung
der Unternehmer an dem »Streik«
verhindern würde. Ernährungsminister Rodolfo Marco Torres sagte im
staatlichen Fernsehen VTV, sowohl in
den Banken als auch in der Landwirtschaft werde gearbeitet.
Präsident Maduro hatte zuvor mit
einer Verstaatlichung von Firmen
gedroht, die den Streikaufruf befolgen: »Eine Firma, die stillsteht, ist
eine Firma, die vom Volk und der
Revolution übernommen wird.« Am
Vorabend hatte er zum vierten Mal
in diesem Jahr den gesetzlichen Mindestlohn erhöht. Die Bezüge der Beschäftigten sowie die Renten steigen
demnach am 1. November um insgesamt 40 Prozent.
Unterdessen vollzogen Vertreter
der MUD am Freitag einen erneuten Kurswechsel und kündigten an,
am Sonntag nun doch an den vom
Vatikan vermittelten Gesprächen mit
der Regierung teilzunehmen. Man
fordere jedoch nach wie vor, dass
das Treffen nicht auf der Isla Margarita, sondern in Caracas stattfinde, erklärte der Exekutivsekretär der
Rechtsallianz, Jesús Torrealba. In den
vergangenen Tagen hatten führende Regierungsgegner die Vermittler
brüskiert, als sie behaupteten, von
den geplanten Verhandlungen »aus
dem Fernsehen erfahren« zu haben,
und einen Boykott ankündigten.
(jW)
Managua. Nicaraguas Präsident Daniel Ortega geht als klarer Favorit
in die Präsidentschaftswahlen am
6. November. Nach einer aktuellen
Studie des Meinungsforschungsinstituts M&R wollen 66,3 Prozent
der Befragten dem sandinistischen
Staatschef ihre Stimme geben. Für
den wichtigsten Rivalen, den für die
Konstitutionalistische Liberale Partei ins Rennen gehenden Maximino
Rodríguez, wollen demnach nur
acht Prozent stimmen. (Xinhua/jW)
Bartsch: Gabriel könnte
Kanzler sein
Berlin. Linke-Bundestagsfraktionschef Dietmar Bartsch hat die
SPD aufgerufen, Kanzlerin Angela
Merkel (CDU) gemeinsam mit
Grünen und Linkspartei vorzeitig
abzuwählen. »Herr Gabriel könnte nächste Woche Kanzler sein,
wenn er und die SPD wollten«,
sagte Bartsch der Rheinischen Post
(Freitag). Voraussetzung sei, dass
sich die drei Parteien vorher auf die
Punkte verständigten, die sie bis zur
Bundestagswahl 2017 durchsetzen
wollten. Nach dem jüngsten Treffen
von Abgeordneten der SPD, der
Linkspartei und der Grünen, bei
dem sich auch SPD-Chef Sigmar
Gabriel gezeigt hatte, sieht Bartsch
Einigungschancen selbst in bezug
auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Das gelte auch für Soziales.
»Nicht alles an der Agenda 2010 war
schlecht«, sagte Bartsch.
(dpa/jW)
Achtung, Zeitumstellung!
Liebe Leserinnen und Leser, nicht vergessen: An diesem Sonntag endet die Sommerzeit. Deshalb werden die Uhren in der
Nacht von Sonnabend zu Sonntag um
3.00 Uhr eine Stunde zurückgestellt.
wird herausgegeben von
1.892 Genossinnen und
Genossen (Stand 27.10.2016)
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