Leseprobe

Kapitel3
»Bei Zinnober?«
Sally sah Leander verwundert an, als er ihr in der ersten
Pause von seiner Strafarbeit erzählte. »Was braucht der Hilfe
bei den paar Büchern, die wir da unten haben?«
Leander wusste es nicht, denn in der Tat spielten Bücher im
Unterricht kaum eine Rolle. Das einzige Buch, aus dem sie
regelmäßig lasen, handelte von den Heldentaten der großen
Parteivorsitzenden
der
Schwarzen
Sonne
und
den
Errungenschaften Penumbras, die diesen Vorsitzenden zu
verdanken waren. Am häufigsten wurde es in Parteikunde
verwendet.
Ebenso
in
Geschichte
und
auch
im
Literaturunterricht kam es zum Einsatz. Selbst in Kunst
arbeiteten die Lehrer gern mit dem Buch, wenn es darum
ging, Bilder aus dem Leben der großen Führer zu malen. Das
war ein ähnlich beliebtes Zeichenmotiv wie der Dreistrahl,
das Emblem von Partei und Jugendorganisation, das den
rostfarbenen Buchumschlag zierte.
Leanders Exemplar war alt und abgegriffen, besaß aber noch
alle Seiten. Das lag weniger an der Sorgfalt, mit der er
Bücher normalerweise behandelte, als vielmehr daran, dass
er es kaum benutzte. Zuhause dagegen las er gern. Seine
Mutter hatte ihm einige Bücher aus ihrer Jugend hinterlassen
und auch Flora hütete manchen Schatz in ihrer Bücherkiste.
Oft saßen er und Sally zusammen in ihrem Baumhaus und
lasen einander aus Floras Abenteuerromanen vor, reisten
durch die Zeit oder lernten unbekannte Welten kennen.
Selbst
sein
Vater
hatte
im
Arbeitszimmer
eine
kleine
Bibliothek, die überwiegend aus Lexika und Fachbüchern
bestand, deren Titel Leander langweilten. Das traf allerdings
auch auf ein Buch zu, das Leander zu seinem Leidwesen fast
täglich aufschlagen musste, sein Mathematikbuch.
Weit schlimmer als Mathe war nur die Aussicht, einen Teil
seiner Ferien in dem verhassten Schülercamp verbringen zu
müssen. Doch davon erzählte er Sally noch nichts.
»Ich
wette, du darfst dir eine Stunde lang die wirren
Geschichten des alten Zausels anhören«, lachte Sally, ohne
auf das Schweigen ihres Freundes zu achten. »Dem Codi aus
der Neunten hat er mal erzählt, dass seine Vorfahren aus
Illumina stammen. Zum Schießen.«
Leander horchte auf. Illumina oder auch die Lichtwelt war das
große
unbekannte
Land
jenseits
des
Unbesteigbaren
Gebirges. Ein Land, in dem angeblich den ganzen Tag die
Sonne schien, die Natur üppig, das Gras leuchtend grün und
die Menschen fröhlich waren. Ein Land, das es offiziell nicht
gab und deren Bewohner geächtete Feinde Penumbras, dem
Land der Schatten, waren. So zumindest wurde es in der
Schule gelehrt. Manche Eltern aber erzählten ihren Kindern,
wenn sie abends hungrig oder krank im Bett lagen, dass sie
in ihren Träumen nach Illumina reisen könnten, um glücklich
zu sein. Laut würde das jedoch niemand aussprechen, ohne
in den Kerkern der Schwarzen Liga zu landen.
Auch Leander sprach nie über Illumina, selbst wenn er seinen
Vater manchmal im engsten Kreis von diesem magischen
Land reden hörte.
»Das hat er nicht gesagt«, schüttelte er ungläubig den Kopf.
»Das wäre Hochverrat.«
»Quatsch, das ist Zinnober«, lachte Sally und zwinkerte ihrem
Freund zu. »Kennst den ja. Der ist so verwirrt, der würde
behaupten, fliegen zu können, nur weil er zu alt zum Laufen
ist. Der ist harmlos.«
Da war sich Leander nicht so sicher. Viel Zeit, darüber
nachzudenken, blieb ihnen aber nicht. Die Schulglocke
schrillte zur zweiten Stunde und die Schüler tobten in ihre
Klassenzimmer zurück.
Erst in der sechsten Stunde, als die Zeugnisse verteilt
wurden, dachte Leander wieder an Zinnober und seine
Strafarbeit. Er würde zu spät zum Essen kommen und bat
Sally, die hinter ihm saß, ihrer Großmutter Bescheid zu
sagen.
»Hey Schimmelpilz«, tönte es da von der Seite. »Schau nach
vorn, sonst wird mir schlecht.«
Das kam von Terry und einzelne lachten. Einzig Ms. Barcuda,
die die Zeugnisse verteilte, tat, als ob sie nichts gehört hätte.
Leander verbiss sich eine Antwort, drehte sich auf seinen
Platz
zurück
und
schwor,
sich
irgendwann
an
diesem
Kotzbrocken und seinem Bruder zu rächen.
Doch zuvor musste er hinab in den Schulkeller, an dessen
staubigem Ende ein kleiner Verschlag den überschaubaren
Fundus an Büchern beherbergte, der hochtrabend Bibliothek
genannt wurde. Hier wartete Zinnober auf ihn.
Zinnober war ein alter, mürrischer Greis, der so gebeugt
durch die düsteren Kellerflure schlurfte, dass sein langer,
grauer
Bart
den
Boden
entlang
wischte.
Hierdurch
aufgeschrecktes Ungeziefer verfing sich in dem zerzausten
Haargeflecht, was Zinnober nicht zu stören schien. Manche
behaupteten sogar, er würde mit diesen Tierchen sprechen.
Aber so richtig wunderte auch das niemand.
Es war Leanders erster Besuch in der Bibliothek und so
musste er sich in dem Labyrinth aus düsteren Fluren,
staubigen Kammern und Heizungsräumen voller Spinnweben
erst einmal zurechtfinden. Vorbei an Kohlebrikettbergen,
ramponierten
Holzbänken
Klassenzimmern,
und
Stühlen
zerschlissenen
aus
Karten
den
des
Erdkundeunterrichts und einer Armada ausgestopfter Tiere,
die im Biologiekabinett keinen Platz mehr hatten und nun aus
toten Augen finster auf Leander herabsahen. Soweit man in
dem
flackernden
Licht
der
vereinzelt
von
der
Decke
baumelnden Glühbirnen erkennen konnte, blühte an den
feuchten Wänden Schimmel und Salpeter. Es roch modrig
und nach Mäusen, die man zu Dutzenden in den finsteren
Ecken des Kellers fiepen hörte. Andere lagen bereits tot und
verwest herum.
Leander wusste nicht, ob es ihn eher grausen oder ekeln
sollte, weshalb er froh war, als er endlich eine offene Tür am
Ende eines engen Ganges sah, aus der heraus schwaches
Licht drang. Das musste Zinnobers Reich sein oder eher
dessen Rumpelkammer, wenn es dort nur annähernd wie im
restlichen Keller aussah.
Tatsächlich aber war die Kammer bis unter die Decke mit
Büchern vollgestopft. Weit mehr, als er erwartet hatte.
Überall ragten Buchrücken aus übermannshohen Regalen,
stapelten sich Folianten in schmalen Gängen oder quollen aus
herumstehenden Kisten. Ein Geruch von altem Leder und
Staub trug durch den Raum und erinnerte Leander an den
Dachboden im Haus seines Vaters. Noch nie aber hatte er
eine solche Menge Bücher gesehen, schon gar nicht auf
einem Haufen. Es waren so viele, dass man, um die Titel der
unteren Regalreihen lesen zu können, auf allen Vieren
kriechen oder sich einer wackeligen Holzleiter bedienen
musste, um in der Höhe nach Büchern zu suchen.
Leander beabsichtigte keines von beidem zu tun und fragte
sich gerade, wo Zinnober blieb, als dieser auf einen Stock
gestützt hinter einem der Regale hervortrat. Die meisten
Schüler fürchteten sich ein wenig vor diesem knorrigen
Zwerg, von dem man die merkwürdigsten Geschichten
vernahm. Leander gehörte nicht dazu. Selbst Außenseiter,
hegte er Sympathien für jeden, der anders war, und war auf
sein
erstes
persönliches
Treffen
mit
dem
Bibliothekar
gespannt.
»Wird
ja
langsam
Zeit«,
brummte
dieser
statt
einer
Begrüßung und wies mit seinem Stock auf ein Regal hinter
Leander.
»Die
Bücher
dort
müssen
sortiert
werden,
alphabetisch. Du kennst doch das Alphabet?«
Leander musste lachen. »Natürlich, Sir. Kenn ich.«
»Lass mich mit deinem Sir in Frieden, du halbe Portion, und
mach dich an die Arbeit«, erwiderte Zinnober unwirsch und
schlurfte, ohne sich zu verabschieden, in den hinteren Teil
der Bibliothek zurück. Leander wollte ihm erst nachlaufen
und fragen, ob er danach gehen könne. Dann aber drehte er
sich um und stöhnte auf.
Das Regal hinter ihm reichte über die ganze Wand und war
mit dicken, ledergebundenen Folianten vollgestopft, von
denen jeder mindestens zwei Kilo wog. Es würde Stunden
dauern, bis er diese verstaubten Monster sortiert und
umgestellt hatte. Eine Weile überlegte Leander noch, ob er
unten oder oben beginnen sollte, dann entschied er sich für
die Regalreihe in Augenhöhe. Nur mit Mühe zog er den ersten
Lederband hervor. Der Gürtel des Orion prangte in dicken
Lettern auf dem Einband.
Na toll, dachte Leander entnervt, kommt das jetzt unter D, G
oder O? Achselzuckend legte er das Buch zur Seite und griff
nach dem nächsten. Die Magie des Daidolus. Das war auch
nicht besser. Selbst der dritte Band brachte keine Klarheit.
Leander überlegte, Zinnober um Rat zu fragen, als ihm ein
schmales Büchlein auffiel, das so gar nicht zu den ledrigen
Riesenbänden zu passen schien. Es stand direkt neben der
Magie des Daidolus und ähnelte einem Notizbuch. Dennoch
wirkte es ebenso alt und verschlissen, wie die übrigen Bücher.
Leander nahm es aus dem Regal und war erstaunt, wie weich
sich dessen dunkelbrauner Ledereinband anfühlte und wie
schwer es trotz seiner geringen Größe in der Hand wog.
ENIGMA
war in goldenen Lettern auf der Vorderseite eingeprägt. Die
Innenseiten hingegen waren leer.
Also doch nur ein Notizbuch, dachte Leander enttäuscht und
wollte es gerade unter E ablegen, als ein Brief aus einer der
hinteren Seiten zu Boden fiel. Leander bückte sich danach
und erstarrte. Der Brief war an ihn adressiert. Das aber war
es nicht, was sein Blut gefrieren ließ. Es war der Absender.
Der Brief kam von seiner Mutter.
Leanders Mutter war, wie ihm sein Vater erzählt hatte, kurz
nach
seiner
Geburt
verstorben.
Er
hatte
sie
nie
kennengelernt, träumte allerdings oft von einer Frau, die
seine Mutter hätte sein können. Eine hochgewachsene,
blonde Frau mit weicher Stimme, die ihm Trost zusprach,
wenn er ihr von seinen Schwierigkeiten in der Schule, den
ständigen Hänseleien der Tauss Zwillinge oder der oft kühlen
Art seines Vaters erzählte. Leander hatte manchmal das
Gefühl, sein Vater gab ihm die Schuld am Tod seiner Mutter,
doch die Frau in seinen Träumen versicherte ihm, dass dem
nicht so wäre. Am Schönsten war es, wenn sie ihn nochmals
in den Arm nahm, bevor er aufwachte und merkte, dass das
einzige, was er im Arm hielt, Marvin war. Das Kissen seiner
Mutter und sein bester Freund.
Zögernd entfaltete Leander den Brief und las die drei Worte,
die sein Leben unwiderruflich verändern sollten.
Folge dem Buch
stand in geschwungener Handschrift in der Mitte des Blattes.
Das war alles? Kein persönliches Wort? Keine Erklärung, kein
Gruß, nichts? Egal, wie oft Leander das Blatt drehte und
wendete, es blieben drei Worte und mehr Fragen, als sie
beantworteten. Galt das ihm? Wohin sollte er dem Buch
folgen und wieso überhaupt? Er hatte nicht vor zu verreisen
und woher kam der Brief? Wer wusste, dass er hier dieses
Buch finden würde? Irritiert steckte er den Brief zwischen die
Seiten zurück. Jemand musste sich mit ihm einen schlechten
Spaß erlaubt haben, denn seine Mutter war tot und würde
ihm keine Briefe mehr schreiben. Zumindest keine mit Folge
dem Buch.
Hatte er wirklich geglaubt, seine Mutter würde noch leben
und mit ihm Kontakt aufnehmen? Überrascht stellte Leander
fest, wie glücklich ihn diese Vorstellung machte und wie sehr
ihn nun die Erkenntnis schmerzte, dass alles nur ein
geschmackloser Scherz war.
Wütend
wollte
er
das
Buch
zurückstellen.
Dann
aber
überlegte er es sich anders und steckte Buch und Brief in
seinen Rucksack. Immerhin war der Brief an ihn adressiert
und ein Buch mehr oder weniger würde unter den Hunderten
hier kaum auffallen.
Die nächste halbe Stunde verteilte Leander die schweren
Folianten am Boden der Bibliothek und war schier am
Verzweifeln, als plötzlich Zinnober neben ihm stand und ihn
mit einem zur Seite geneigten Kopf schmunzelnd ansah.
»Na, doch nicht so einfach?«
Leander schüttelte missmutig den Kopf.
»Naja, Hauptsache, du erzählst dem da oben nichts.«
Leander schaut überrascht auf.
»Wem?«
»Na diesen steifen Lulatsch mit seinem Sonnenanstecker.«
Damit konnte nur Direktor Knock gemeint sein. Keiner sonst
in der Schule trug den Calis-Orden der Schwarzen Sonne in
Silber. Melek Tauss persönlich hatte ihn Knock anlässlich des
Wintersonnenfestes für seine Verdienste für Partei und
Vaterland verliehen. Leander erinnerte sich noch gut, wie
Knock bei seiner Dankesrede etwas von der Liebe zu seinen
Schülern gefaselt hatte, die ihn für all die täglichen Mühen
entschädigen würde. Er fürchtete damals, sich übergeben zu
müssen. Was aber sollte der Direktor nicht erfahren?
Zinnober zeigte nur auf Leanders Rucksack, dem das Herz
beim Gedanken an das dort versteckte Buch in die Hose
rutschte. Dann räusperte er sich und knarrte:
»Genug gearbeitet. Nimm dein Zeug und schau, dass du raus
kommst. Sonst sind die Ferien zu Ende, bis du hier fertig
bist.«
Leander konnte sein Glück kaum fassen. Er wollte unbedingt
Sally von diesem merkwürdigen Brief erzählen, doch noch
lagen dutzende Bücher am Boden.
»Soll ich die noch wegräumen?«, fragte er schließlich.
»Das
mach ich schon, raus jetzt«, brummte der Greis
gutmütig und bückte sich nach einem der Bücher.
Leander zögerte, nahm dann aber seinen Rucksack und
verließ die Bibliothek, bevor es sich der komische Kauz noch
anders überlegte. Zinnober dagegen lächelte zufrieden und
ließ mit einer einzigen Handbewegung sämtliche Bücher am
Boden verschwinden.