Kriminalitäts- und Gewaltprävention zum Schutz älterer, pflegebedürftiger Menschen im häuslichen Bereich 10 Thesen Prof. Dr. Thomas Görgen Deutsche Hochschule der Polizei Münster (1) Das „insgesamt sichere höhere Alter“ Der Lebensabschnitt nach dem 60. Lebensjahr zeichnet sich nach behördlichen Statistiken wie nach den Ergebnissen großer Dunkelfeldbefragungen durch ein geringeres Risiko des Betroffenseins durch Kriminalität und Gewalt aus als alle anderen Phasen des Erwachsenenalters. Polizeiliche Kriminalstatistik (Deutschland): Vollendete Gewaltdelikte Weibliche Opfer je 100.000 nach Alter, 1994–2015 600 500 Heranwachsende 400 Jugendliche 300 200 100 Kinder 60 J. + 0 weibl. bis 13 Jahre weibl. 14-17 Jahre weibl. 18-20 Jahre weibl. 21-59 Jahre weibl. 60 Jahre und älter PKS-Summenschlüssel Gewaltkriminalität Dunkelfeldstudie LKA Niedersachsen 2013: Opferraten 2012 nach Alter in % 60% 50% 48,9% 44,4% schriftlich-postalische Befragung 40% 36,7% 18.940 Befragte 30,4% Diebstahlsdelikte, Raub, Betrug, Cybercrime, Sexualdelikte, KV, Bedrohung, Sachbeschädigung 30% 20% 17,3% 12,9% 10% 0% Jugendliche/ Heranwachsende (16 - 20 J.) junge Erwachsene (21 - 26 J.) 27 - 39 Jahre 40 - 59 Jahre Senioren (60 - 79 Jahre) Hochaltrige (80+) ungewichtet, n=18.726 (2) Die geringe Sichtbarkeit des sehr hohen Alters Opferwerdungsrisiken im hohen Alter („viertes Lebensalter“) und bei Pflegebedürftigkeit haben eine reduzierte Chance, in Kriminalstatistiken und Dunkelfeldbefragungen erkennbar zu werden und somit ein erhöhtes Risiko der „Unsichtbarkeit“. (3) Viktimologische Spezifik von Hochaltrigkeit und Pflegebedürftigkeit Das „vierte Lebensalter“ ist: eine Phase hoher grundsätzlicher Vulnerabilität (erwachsend vor allem aus gesundheitlichen / funktionalen Einschränkungen und aus Abhängigkeiten von / Angewiesensein auf Dritte) bei gleichzeitiger reduzierter Exposition gegenüber Risiken im öffentlichen Raum und veränderten Sozialbeziehungen mit spezifischen Belastungen, Konfliktpotenzialen und Tatgelegenheitsstrukturen. (4) Hochaltrige Menschen: „suitable targets“ in der Eigentums- und Vermögenskriminalität Insbesondere im Bereich der Eigentums- und Vermögenskriminalität wählen Straftäter gezielt alte Menschen als Opfer aus, weil sie hier günstige Tatgelegenheiten erwarten. Andere nutzen Tatgelegenheiten, die sich aus besonderen Vertrauenspositionen (z.B. als Angehöriger, mit Pflegeaufgaben befasste Person, Bevollmächtigter, Betreuer) ergeben. (5) Pflegebeziehungen als spezifischer Viktimisierungskontext Auch in privaten und professionellen Pflegebeziehungen werden hochaltrige Menschen Opfer von Misshandlung und Vernachlässigung. Pflegebeziehungen sind in mehrfacher Hinsicht ein spezifischer Viktimisierungskontext: grundsätzlich prosoziale Ausrichtung von Pflege vielfältige Belastungen und Konfliktpotenziale Machtunterschiede körperliche Nähe günstige Tatgelegenheiten für „motivierte Täter“ Bedeutung von (Vor-) Beziehung + Rahmenbedingungen (6) „Gewalt in der Pflege“ als spezifische Viktimisierungsform durch Handeln + Nicht-Handeln (Misshandeln / Vernachlässigen) vielfach ohne Intention der Schädigung des Gegenübers (Täter/ Täterin weiß / kann nicht besser) häufig aus eskalierenden situativen Konstellationen erwachsend im Einzelfall auch gezieltes Ausnutzen der Vulnerabilität Pflegedürftiger erkennbar im Bereich der Vermögensdelikte größte Nähe zu „klassischer Kriminalität“ Befragungen: hohe 12-Monats-Prävalenz von "Problemverhalten" in der häuslichen Pflege (40% der ambulanten Pflegekräfte; 53% der pflegenden Angehörigen) Befragung pflegender Angehöriger: 12-Monatsprävalenz problematischen Verhaltens gegenüber Pflegebedürftigen (% Befragte) 60 Misshandlung 53,2 Freiheitseinschränkung 47,6 50 Vernachlässigung 40 30 19,4 20 13,5 4,4 10 6,3 1,2 0 phys. Misshandlung verb. Aggress. / psych. Missh. problem. mechan. FE probl. medik. FE pfleg. Vernachlässigung psychosoz. Vernachl. gesamt Schriftliche Befragung; 254 pflegende Angehörige; gefördert durch BMFSFJ (7) Spezifik von Prävention folgt der Spezifik von Viktimisierungskontexten und -formen Kriminal- und Gewaltprävention in Bezug auf Hochaltrige und Pflegebedürftige steht vor der Herausforderung, die Spezifika von Viktimisierungskontexten und Viktimisierungsformen aufzugreifen. Sie ist insgesamt damit konfrontiert, dass sie die letztendlichen Adressaten der Präventionsbemühungen nur in begrenztem Maße unmittelbar erreichen kann. (8) Prävention finanzieller Ausbeutung Hochaltriger / Pflegebedürftiger Die Prävention von Angriffen auf das Vermögen hochaltriger und pflegebedürftiger Menschen kann im Wesentlichen über Aufklärung / Information (auch von Angehörigen), Reduktion von Tatgelegenheiten und Stärkung / Befähigung / Aktivierung potenzieller „Wächter“ („guardians“) erfolgen. Ansetzen an Konflikten oder Beziehungen kann hier nicht die primäre Strategie sein. (9) Prävention von Misshandlung / Vernachlässigung in der häuslichen Pflege kann nicht ohne Maßnahmen / Angebote zur Unterstützung / Entlastung / Kompetenzsteigerung Pflegender gedacht werden, sich aber auch nicht darin erschöpfen Bedeutung des frühzeitigen Erkennens von Misshandlungs- / Vernachlässigungsindikatoren Stärkung / Befähigung potenzieller „guardians“ mit Kontakt zum familialen Pflegearrangement Prüfung der Übertragbarkeit familienrechtlicher Interventionen auf „Altenwohlgefährdung“ „vernetzte Prävention“ – in anderen Feldern zT bereits etabliert (10) Forschungsbedarf Weitgehendes Fehlen der Evaluation gewaltpräventiver Ansätze im Handlungsfeld Pflege Erschwert die Auswahl und den Einsatz wirksamer und nachhaltiger Präventionsmaßnahmen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Prof. Dr. Thomas Görgen Deutsche Hochschule der Polizei (Münster) Fachgebiet Kriminologie und interdisziplinäre Kriminalprävention [email protected]
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