Die Wächterin - Swiss Biotech Association

GESELLSCHAFT
54 WOCHENENDE
Untergebene, Kollegen, Sekretärinnen,
Buchhalter – irgendwer wusste Bescheid,
hat etwas gehört oder zumindest geahnt.
In den Worten des Uefa-Mannes Peaker:
«Die Informationen sind da draussen,
wir müssen nur an sie rankommen.»
Bei der Uefa hat man 2009 beschlossen, härter gegen Betrug vorzugehen.
Damals standen in Bochum mehrere
Männer vor Gericht, denen die Staatsanwaltschaft vorwarf, 270 Fussballspiele
in ganz Europa verschoben zu haben.
Spieler, Trainer und Schiedsrichter waren bestochen worden, und zwar in
Deutschland, Österreich, der Schweiz,
in China, in der Türkei, in Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Slowenien, Ungarn
und Belgien. Darunter Ligaspiele, aber
auch Partien der Uefa Europa League
und der Champions League. «Danach
war für uns klar: Jetzt reicht’s, wir müssen mehr unternehmen als bis anhin»,
sagt Graham Peaker.
2010 wurde das Whistleblower-System von Integrity Line für Spieler,
Schiedsrichter und Trainer installiert.
«Bei 150 gemeldeten
Fällen war ein Fall von
Denunziation dabei.»
Zora Ledergerber
Firmengründerin Integrity Line
Freitag, 28. Oktober 2016
die Aussicht auf ein Leben als Rechtsanwältin. Sie hat sich dann doch durchgebissen und nach ihrem Abschluss zunächst in Bosnien-Herzegowina bei
einer zivilen Einheit der Schweizer
Armee gearbeitet. Sie war damals die
Kontaktperson für die Mitarbeiter der
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Danach
war sie drei Jahre lang Geschäftsführerin von Transparency International in
der Schweiz, ehe sie beim Basel Institute
on Governance Regierungen weltweit
im Kampf gegen Korruption beriet. Ihre
Doktorarbeit hatte das Thema «Whistleblowing unter dem Aspekt der Korruptionsbekämpfung».
Zora Ledergerber wollte immer
etwas Eigenes machen. Und da schien
ihr die Zeit reif für eine HinweisgeberVermittlung. Im Oktober 2009 fing sie
an. Geld hatte sie damals kaum, ihre
Doktorarbeit hatte sie noch im Café
Plüsch im Zürcher Kreis 3 geschrieben,
ihr erstes Büro richtete sie sich im
Restaurant Bohemia ein. Sechs Monate
lang brauchte der Entwickler, um ein
System nach ihren Ansprüchen zu programmieren. «Das hatte mit dem, was
wir heute haben, wenig zu tun.» Und
auch von den Schwierigkeiten, mit
denen sie beim Aufbau konfrontiert sein
würde, wusste sie da noch nicht viel.
Je mehr Kunden kamen, desto mehr
Anforderungen wurden an das System
gestellt. Da war die Bitte, einen Hinweis
auch telefonisch abzugeben, da in einigen Ländern die Internetverbindungen
nicht so gut seien. Ledergerber beauftragte ein Callcenter, war aber mit den
Ergebnissen nicht zufrieden. Jetzt kann
man seine Botschaft auf einer Mailbox
hinterlassen. Auch Kontakte zu Rechtsanwälten werden hergestellt, falls jemand persönlich aussagen möchte.
Bürokollegen verpfeifen
Wollte immer etwas Eigenes machen: Zora Ledergerber.
ANNE MORGENSTERN
Die Wächterin
Vertraulicher Rückkanal
Whistleblower können einem Unternehmen eine Menge
Geld und viel Ärger ersparen. Vorausgesetzt, sie werden
ihre Botschaft los. Dabei hilft ihnen Zora Ledergerber, Zürcher
Unternehmerin mit berühmtem Vater. VON INGO MALCHER
Graham Peaker bekommt in jüngster
Zeit viele E-Mails, die ihn zu brisanten
Informationen führen. Die FussballEuropameisterschaft ist gerade vorbei.
Auf die 51 Spiele des Wettbewerbs wurden Wetten in Höhe von rund 70 Milliarden Euro abgeschlossen, wird in der
Buchmacher-Branche geschätzt. Die
Mails führen Peaker zu Berichten über
Spielmanipulation, Bestechung und
Wettbetrug. Jede Botschaft wertet er
aus, er prüft, ob sie zu laufenden Ermittlungen passt. Peaker ist Chefermittler
der Uefa. Sein Job: Spielmanipulation
und Wettbetrug aufdecken. Ein Informant, sagt er, stelle sich drei Fragen, bevor er sein Wissen teile: Wem sage ich
es? Wem kann ich trauen? Wer sorgt dafür, dass mir nichts passiert?
Zora Ledergerber kann in allen drei
Fällen helfen. Sie ist Gründerin von
Integrity Line, einem Unternehmen in
Zürich, und hat ein System entwickelt,
das zu den wichtigsten Informationsquellen von Peaker zählt. Über eine Online-Plattform nimmt es die Botschaften
von Whistleblowern entgegen, ver-
schlüsselt sie und sorgt dafür, dass die
Information dort landet, wo sie hingehört – und dass der Tippgeber
anonym bleibt. «Wir bringen Whistleblower und Unternehmen zusammen»,
sagt Ledergerber. «Und zwar so, dass
der Informant das angstfrei tun kann.»
Integrity Line wurde 2009 gegründet.
Neben der Uefa haben auch die Schweizerische Post oder die schweizerische
Bundeskriminalpolizei das System installiert. 10 Mitarbeiter kümmern sich
inzwischen um 30 Kunden, darunter
namhafte Konzerne.
Imageschaden abwenden
Der grosse Zuspruch ist kein Zufall. Die
Öffentlichkeit ist für Vergehen der Wirtschaft sensibler geworden. Und seit einigen Jahren machen die USA Druck auf
andere Länder, härter gegen Korruption
vorzugehen. Da die Gesetze dazu in den
USA strenger sind als in vielen anderen
Ländern, haben US-Konzerne oft Wettbewerbsnachteile, das passt der Regierung in Washington nicht. Auch in
Inzwischen kann sich jeder dort hinwenden. Wer eine Meldung erstattet,
wird zuerst gefragt: «Um was handelt es
sich? Spielmanipulation? Bestechung?
Sportwetten?» Auf der nächsten Seite
soll man den Vorfall beschreiben. Danach kommen die wichtigsten Fragen,
deren Antworten sich rasch überprüfen
lassen: «Liegen Beweise vor, die Ihre Informationen bestätigen?» Und: «Wenn
ja, geben Sie an, welche.» Schickt der
Hinweisgeber seine Meldung ab, erhält
er eine Fallnummer. Mit der kann er sich
erneut auf dem Server einloggen und
Nachrichten für Rückfragen empfangen
– er bleibt anonym, seine IP-Adresse
wird nicht gespeichert.
Europa bewegt sich einiges. Finanzinstitute in der Europäischen Union müssen
seit 2014 interne Hinweisgebersysteme
installieren. In der Schweiz gibt es aufsichtsrechtlich keine Bestimmungen.
Aber es kann sich lohnen. Denn
immer mehr Unternehmen werden bei
Straftaten ertappt. Die UBS wurde in
London dazu gezwungen, rund 36 Millionen Euro Strafe zu zahlen, weil einer
ihrer Händler mit unerlaubten Geschäften Milliarden verspielte. Volkswagen
drohen wegen des Abgasskandals Milliardenstrafen. Und Siemens wurde wegen der bisher grössten Korruptionsaffäre der deutschen Wirtschaft 2008 zur
Zahlung einer Busse von mehr als einer
Milliarde Euro verdonnert.
Die Geldstrafen sind aber nur das
eine. Der Schaden für die Reputation ist
das andere. Niemand wird gern mit einer
Straftat in Verbindung gebracht. Mit so
einem macht keiner gern Geschäfte. Die
Skandale haften den Firmen in der
Regel noch jahrelang an.
Was alle Fälle gemeinsam haben?
Immer gab es Mitwisser. Vorgesetzte,
Dafür bürgt Integrity Line. Das Geschäftsmodell des Unternehmens ist Vertraulichkeit. Die Meldung landet auf
einem verschlüsselten Server des Unternehmens, der an einem sicheren Ort in
der Schweiz steht. Und Graham Peaker
erhält sofort eine E-Mail, dass ein neuer
Bericht für ihn eingegangen sei. Er sagt:
«Meistens sind es Puzzleteile, die wir in
laufende Ermittlungen einbauen können.» Hilfreich sei der vertrauliche Rückkanal. «Mit den Tippgebern zu kommunizieren, kann sehr aufschlussreich sein,
oft haben sie noch mehr Informationen.»
Um das System bekannt zu machen,
reist er durch Europa, spricht mit Spielern, Schiedsrichtern, Trainern und ermuntert sie, Bestechungsversuche zu
melden. Die Uefa hat über Integrity
Line auch eine Telefonnummer für
Whistleblower geschaltet und eine kostenlose App bereitgestellt, über die man
seine Meldung ebenfalls absetzen kann.
Ähnlich funktionieren die Systeme
bei anderen Kunden. Doch internationale Konzerne wollen meist die eigenen
Mitarbeiter ansprechen. Den Unternehmen geht es darum, früh Bescheid zu
wissen, wenn etwas falsch läuft. «Je eher
man eingreift, desto geringer ist meist
der Schaden», sagt Ledergerber. «Und
desto geringer das Risiko, dass etwas
nach aussen dringt.»
Zora Ledergerber, Tochter des ehemaligen Zürcher SP-Stadtpräsidenten
Elmar Ledergerber, hat Jura in Zürich
und Paris studiert und kurz vor ihrem
Abschluss fast hingeschmissen. Die trockenen Paragrafen auswendig zu lernen,
bereitete ihr ebenso wenig Freude wie
Und dann sind da noch die Datenschutzbestimmungen. Auf das System von
Integrity Line kann aus 150 Ländern
und in 30 Sprachen zugegriffen werden.
Die Kunden des Unternehmens haben
zusammen rund fünf Millionen Mitarbeiter, Kunden oder Lieferanten –
alles potenzielle Hinweisgeber. Das bedeutet aber auch, dass 150 verschiedene
Datenschutzbestimmungen einzuhalten
sind. Ledergerber musste in jedem Land
eine Rechtsanwaltskanzlei finden, die
Fragen zum Umgang mit Daten klärt.
Dabei lernte sie einiges über die
Welt. In Frankreich muss ein solches
System bei der Datenschutzbehörde angemeldet sein. In Peru gilt, dass man
einen Kollegen nicht anonym beschuldigen darf, jeder hat ein Recht darauf, zu
wissen, wer ihm etwas vorwirft. Aber
das sind Kleinigkeiten, verglichen mit
China. Dort gilt, dass man kein Staatsgeheimnis elektronisch ins Ausland
übermitteln darf. Wobei zuerst geklärt
werden muss, was überhaupt ein Staatsgeheimnis ist. Was wiederum bedeutet,
dass Ledergerber eine Frage an den
Whistleblower einbauen muss: «Werden
Sie in Ihrem Bericht ein Staatsgeheimnis
verraten?» Er kann dann Ja oder Nein
ankreuzen. Bei Ja erscheint die Botschaft: «Es tut uns leid, wir dürfen Ihre
Information nicht entgegennehmen.»
Zu den einzelnen Fällen liegen ihr nur
Statistiken vor. Sie kann nicht in das System schauen. Sie weiss, dass rund 50 Prozent der firmeninternen Meldungen die
Arbeitsbedingungen betreffen – das
Büro sei zu klein, die Stimmung schlecht,
Mitarbeiter hätten Angst. Die restlichen
50 Prozent sind Hinweise auf potenziell
strafrechtliche Vergehen, die untersucht
werden müssen. Ob das auch geschieht,
weiss sie nicht. Klar ist, ein System wie
Integrity Line allein genügt nicht. «Das
Unternehmen muss es auch wirklich
wollen und die Fälle ernsthaft abarbeiten, sonst nützt es nichts», sagt Ledergerber. Kritiker werfen der Uefa etwa vor,
dass sie nur halbherzig gegen Wettbetrug
vorgehe. Und auch Volkswagen hat ein
Ombudsmann-System – geholfen hat das
beim Abgasskandal allerdings nicht.
Aber was ist im umgekehrten Fall?
Kann ein solches System missbraucht
werden? Man könnte versuchen, einen
unbeliebten Kollegen einer Straftat zu
beschuldigen. Ledergerber sagt, dass
das schon einmal vorkomme. «Ein
Kunde hat das kürzlich einmal ausgewertet. Bei 150 gemeldeten Fällen war
ein Fall von Denunziation dabei.» Die
Gefahr hält sich also in Grenzen.
Lare
Stückzah
M