25.10.2016, Überfüllte Notaufnahmen in Kliniken - Gefährliche

Manuskript
Beitrag: Überfüllte Notaufnahmen in Kliniken –
Gefährliche Wartezeit
Sendung vom 25. Oktober 2016
von Sha Hua
Anmoderation:
Das haben sicher viele von Ihnen schon erlebt. Sie wachen auf
mit hohem Fieber. Sie haben plötzlich fürchterliche
Bauchschmerzen oder Sie verletzen sich beim Sport. Und: Sie
wissen, Ihr Arzt hat keine Sprechstunde. Wenn Sie ein
Krankenhaus in der Nähe haben, dann suchen Sie jetzt Hilfe in
der Notaufnahme. 20 Millionen Patienten strömen pro Jahr in die
Ambulanzen, Tendenz steigend. Und das übrigens zu jeder Zeit,
nicht nur am Wochenende oder nachts. Die Warteräume sind
überfüllt, das Personal ist überfordert - und Deutschlands
Notaufnahmen sind inzwischen selbst ein Notfall. Unsere Autorin
Sha Hua über Fehler im System, die Menschenleben kosten
können.
Text:
Aymeric war 25 Jahre alt. Für eine Praktikumsstelle zieht er nach
Berlin. Seit seinem Umzug hat er Rückenschmerzen, geht in eine
Notaufnahme. Es ist halb zehn abends. Sein Fall wird als
dringlich eingestuft. 30 Minuten soll er warten. Doch die
Notaufnahme ist überfüllt, seine Eltern sind in Hamburg.
O-Ton Mathias Pahl, Vater:
Er hat meine Frau um 22.13 Uhr angerufen und sagte am
Telefon zu ihr: Mama, ich weine vor Schmerzen. Aber es
kümmert sich keiner um mich. Und meine Frau hat ihm dann
damals gesagt: Du musst mit einer Schwester reden, geh‘ zu
einer Schwester. Um 22.39 Uhr rief er dann wieder meine
Frau an und sagte ihr am Telefon: Ich habe eine Schwester
gesprochen, aber ich muss weiter warten. Ich weine, aber sie
laufen alle an mir vorbei. Und um 23.35 Uhr, da waren schon
zwei Stunden vergangen, rief er noch mal wieder an: Ich
warte immer noch, ich habe immer noch starke Schmerzen,
aber keiner kommt.
Kurz vor Mitternacht verlässt Aymeric die Notaufnahme - ohne
ärztliche Untersuchung. Am nächsten Morgen geht er zur Arbeit,
nachmittags zu einem Orthopäden. Der findet nichts. Die
Schmerzen bleiben. Also sucht Aymeric eine andere
Notaufnahme auf, wird von einem Neurologen untersucht. Auch
der findet nichts. Am Abend ist Aymeric tot – eine
Herzmuskelentzündung.
O-Ton Mathias Pahl, Vater:
Dieses Gefühl, jetzt hiermit leben zu müssen, dass man
etwas hätte tun können, wenn man es denn einfach nur
gewollt hätte. Damit ist natürlich nicht 100 Prozent garantiert,
dass er überlebt hätte. Aber er hätte seine Chance
bekommen, er hätte eine echte Chance bekommen.
Eltern und Arzt streiten vor Gericht. Es geht um menschliches
Versagen, aber auch um Fehler im System.
Freitagnachmittag. Die Rettungsstelle des Schwarzwald-BaarKlinikums. Dr. Bernhard Kumle ist hier Chefarzt. Sein Personal
versorgt im Schnitt täglich 120 Patienten. Geplant war die
Notaufnahme für 80.
O-Ton Dr. Bernhard Kumle, Notaufnahme-Chefarzt,
Schwarzwald-Baar-Klinikum:
Jetzt kommt der nächste Patient, dann haben wir keine
Tagen mehr. Wir haben aber noch welche vorne im
Warteraum sitzen, die auch noch kommen müssen. Und es
heißt, wir haben wieder einen Zustand eines sogenannten
Overcrowdings. Wir wissen im Moment nicht mehr, wo wir
die Patienten hintun sollen. Und wenn jetzt noch welche da
wären, die wegen Husten, Schnupfen, Heiserkeit kommen,
dann wird’s einfach zum Problem.
In nur einer Stunde hat Dr. Kumle einem Nierenstein-Patienten
geholfen, einen Herzinfarkt behandelt, Entlassungen geschrieben
und sich um Raumverteilungen gekümmert. Der Warteraum
nebenan füllt sich trotzdem – auch mit vielen Bagatellfällen. So ist
es überall in Deutschland.
Circa 20 Millionen Patienten gehen jährlich ins Krankenhaus, in
die Notaufnahme. Sieben Millionen könnten genauso gut in einer
Arztpraxis versorgt werden.
O-Ton Dr. Bernhard Kumle, Notaufnahme-Chefarzt,
Schwarzwald-Baar-Klinikum:
Wenn dann 40, 50 Patienten gleichzeitig kommen, müssen
Sie aussortieren, welcher ist der dringlichste, den muss ich
zuerst behandeln und die weniger dringlichen, die müssen
hintenanstehen. Und diese Sortierung ist halt nicht sehr
einfach. Und wenn dann nachher jemand zwei Stunden
später gesehen wird, der einen Herzinfarkt hat, dann ist das
für uns sehr wohl ein Problem, weil der dann zu spät zur
Behandlung kommt. Und je mehr Patienten dann in der
Notaufnahme sind, desto schwieriger ist es, diesem Notfall
eigentlich gerecht zu werden.
Der Ausweg für das Klinikum: eine extra Notfallpraxis. So soll das
Krankenhaus entlasten und Patienten schneller geholfen werden.
Sie werden entweder dem Krankenhaus zugewiesen oder der
Notfallpraxis. Heute hat hier Dr. Probst Bereitschaft.
Normalerweise arbeitet er in seiner eigenen Hausarzt-Praxis.
O-Ton Dr. Johannes Probst, Hausarzt:
Die Assistenzärzte wie auch die Oberärzte der Klinik, die
kamen in den ersten Tagen, wie wir die Notfallpraxis hier
eingerichtet hatten, auf mich zu und sagten: Was sind wir
froh, dass wir diese Notfallpraxis haben. Jetzt werden die
Patienten endlich in diesen Bereichen vernünftig versorgt,
denn unsere Leute, und das geben die ja auch unumwunden
zu und das ist ja auch in Ordnung, haben in diesem Sektor ja
überhaupt keine Erfahrung.
Er ist überzeugt: Ersteinschätzungen durch einen
Allgemeinmediziner seien besser als von hochspezialisierten
Fachärzten der Notaufnahme.
O-Ton Dr. Johannes Probst, Hausarzt:
Wir haben einen Erfahrungshintergrund, der spiegelt alle
wahrscheinlichen Krankheitsursachen einer Beschwerde
wider. Der Chirurg, der hier in der Ambulanz seinen Dienst
macht, kennt seine chirurgische Seite, aber er war vielleicht
noch nie in der Gynäkologie, der Urologe, für den trifft das
gleiche zu.
Bisher hat die Notfallpraxis freitags, am Wochenende und an
Feiertagen auf, dann wenn am meisten los ist. Nun soll sie rund
um die Uhr geöffnet haben und zu einer sogenannten Portalpraxis
werden. Doch um solche Portalpraxen gibt es in ganz
Deutschland Streit, denn sie kosten viel Geld. Bezahlen müssten
die Kassenärztlichen Vereinigungen. Die KV Baden-Württemberg
setzt auf einen anderen Weg:
O-Ton Dr. Johannes Fechner, Vorstand, Kassenärztliche
Vereinigung Baden-Württemberg:
Wir müssen über das Thema Patientensteuerung
nachdenken. Wie kann man den Patienten in die richtige
Versorgungebene hineinschleusen, wo er auch qualitativ gut
versorgt wird, nicht nur finanziell günstiger. Also, wenn Sie
mit Rückenschmerzen gleich die Ambulanz der
Universitätsklinik gehen, dann sind Sie da sicher fehl am
Platz.
Wer Schmerzen hat, muss selbst rausfinden, wo er hingehen
muss. Denn in Deutschland gilt auch für den Notfall eine
Trennung zwischen stationär, also Krankenhaus, und ambulant,
also Arztpraxis.
Bei akuten Symptomen hat der Patient fünf Wahlmöglichkeiten:
Für stationäre Fälle gibt es die 112 und die Notaufnahme. Für
ambulante Fälle gibt es den niedergelassenen Arzt, die Nummer
des kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes 116 117 und – wenn
vorhanden – eine Notdienstpraxis.
Wir machen den Realitätstest in einer Berliner Notaufnahme.
Freitagnachmittag im Königin Elisabeth Herzberge Krankenhaus.
Die Behandlungsräume sind besetzt, der Warteraum ist voll.
Fragen nach der Notfallnummer des Kassenärztlichen
Bereitschaftsdienstes:
O-Ton Frontal 21:
Kennen Sie die Nummer 116 117?
O-Ton Patientin:
Nee.
O-Ton Patientin:
Nö.
O-Ton Patient:
Ne, kannte ich noch nicht. Nein. Was ist das?
O-Ton Patientin:
Ne.
O-Ton Frontal 21:
Noch nie gehört?
O-Ton Patientin:
Ne, noch nie gehört.
Eine Studie ergab: Mehr als die Hälfte, 55 Prozent, kannten die
Rufnummer nicht. Praktiker halten die Trennung von ambulant
und stationär für falsch.
O-Ton Dr. Bernhard Kumle, Notaufnahme-Chefarzt,
Schwarzwald-Baar-Klinikum:
Woher soll jetzt der Patient entscheiden, welche Stelle jetzt
für ihn die richtige ist. Das ist für einen Patienten eigentlich
fast nicht machbar. Er weiß ja nicht, hat er jetzt einen
Herzinfarkt oder keinen Infarkt. Hat er jetzt eine BlinddarmEntzündung oder hat er keine. Der hat halt Bauchschmerzen
oder Brustschmerzen und was dann da jetzt zeitkritisch ist
oder nicht, das kann er ja selbst gar nicht entscheiden. Und
das, glaube ich, ist die Schwierigkeit. Dass wir jetzt
versuchen, den Patienten dem System irgendwie anzupassen
und nicht irgendwie das System an den Patienten.
Anfang des Jahres hat die Politik das Krankenhausstrukturgesetz
beschlossen. Seitdem können Krankenhäuser Portalpraxen
einrichten. Doch die Kassenärztlichen Vereinigungen sträuben
sich nach wie vor aus Kostengründen.
O-Ton Dr. Johannes Fechner, Vorstand, Kassenärztliche
Vereinigung Baden-Württemberg:
Ich seh‘ mich natürlich gezwungen jetzt, durch die
Entwicklung, da mitzumachen. Die Zahlen, die mir bisher von
den Krankenhaus-Notfall-Ambulanzen genannt werden, 20,
25 pro Tag, sind jetzt nicht so hoch, als dass sich da wirklich
eine Arztpraxis lohnt und rechnet.
Richtig ist, derzeit lohnt und rechnet es sich nicht für die
Krankenhäuser: Die Notaufnahmen machen laut Studien jährlich
rund eine Milliarde Euro Verluste – bundesweit.
Die Krankenhäuser geben für Patienten, die eigentlich von
niedergelassenen Ärzten behandelt werden müssten,
durchschnittlich 130 Euro aus. Von den Kassenärztlichen
Vereinigungen erstattet werden jedoch nur circa 30 Euro pro
Patient. Die Kostenfrage - für Gesundheitsökonom Alexander
Geissler nur eine Ausrede der Ärztevertreter:
O-Ton Dr. Alexander Geissler, Gesundheitsökonom,
Technische Universität Berlin:
Die KVen haben bereits diesen Auftrag, rund um die Uhr
ambulante Notfallversorgung zu leisten. Vielleicht haben sich
die KVen in den letzten Jahren da zurückgezogen, aber die
KVen stehen in der Pflicht und müssen dieser Pflicht
nachkommen. Und wenn sie das nicht tun, dann haben sie an
dem Punkt versagt.
Für Ärzte, die jeden Tag um das Leben von Menschen kämpfen,
ergibt die Trennung von ambulanter und stationärer
Notfallversorgung ohnehin keinen Sinn.
O-Ton Dr. Bernhard Kumle, Notaufnahme-Chefarzt,
Schwarzwald-Baar-Klinikum:
Es gibt einfach viele Symptome, da kann man nicht von
vornherein sagen, das ist jetzt ein ambulanter oder
stationärer Notfall, sondern das zeigt sich eigentlich erst,
wenn man die Diagnostik, die Untersuchung gemacht hat, ob
er jetzt ein ambulanter oder stationärer Notfall ist. Letzten
Endes ist es nur ein Abrechnungssystem, was da dahinter
steht, aber es ist nicht der Patient als Notfall gesehen.
Aymeric ist auch deshalb gestorben, weil das Notfallsystem
versagt hat.
O-Ton Mathias Pahl, Vater:
Das ist etwas, was auch noch heute an uns nagt. Das ist
einfach etwas, was wir nicht akzeptieren können. Weil wir
einfach sagen, so geht das nicht. Das kann nicht in den
Notaufnahmen so sein, dass Menschen ihre Chance nicht
bekommen.
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