1. JXK Reader

1. Reader der JXK - Oktober 2016
Alle Angriffe auf unsere Heimat, sowie alle Angriffe auf unser Volk, sind Angriffe auf uns
junge Frauen und unseren Kampf um Selbstbestimmung und Freiheit.
Deshalb sagen wir: „Xwebûn – xwe parastin!“
JXK – Studierende Frauen aus Kurdistan
Info:
[email protected]
Twitter: @JXK_Online
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Inhalt
Wer ist die JXK? Selbstverständnis und Kongressbeschlüsse
3
Kampagne: Selbstsein und Selbstverteidigung
8
Grußbotschaft der JXK an den Kongress der KJC
11
Das Symbol der kurdischen Frau: Şehîd Zîlan
13
"Tu cenga warên Kurda yî..."- Şehîd Berîtan
17
Rahşan Demirel – Die Frau, die zum Newroz-Feuer wurde
20
Zekiye Alkan - "Newroz wird mit dem Newrozfeuer gefeiert"
22
Jineoloji - Oder: Haben wir Rêber Apo wirklich verstanden?
24
Der Weckruf der Frauen aus Deutschland
28
Die Rolle der Frau in Rojava
30
Sara, Rojbin, Ronahî...
32
2
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Wer ist die JXK?
Die JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan - Studierende Frauen aus Kurdistan) ist die
autonome Frauenorganisierung des Verbands der Studierenden aus Kurdistan (YXK). In
ihr organisieren sich Schülerinnen, Studentinnen, Auszubildende und Arbeiterinnen, die
sich politisch und feministisch engagieren. Die JXK hat sich nach ihrem
Neustrukturierunkongress im Januar 2016 aus der damaligen YXK-Jin heraus gegründet.
Die JXK organisiert sich im Dachverband der Jinên Ciwanên Azad ("Freien jungen
Frauen"), welche politische Arbeiten in Deutschland sowie Europa ausübt.
Unser Ziel ist eine basisdemokratische, ökologische, ökonomisch gerechte und
geschlechterbefreite Gesellschaft. Dabei nehmen wir uns den Kampf der kurdischen
Frauenbewegung und die Revolution der Frauen in Kurdistan nicht nur als Beispiel,
sondern versuchen ihn zu unterstützen und sehen uns als ein Teil dessen. Den Kampfgeist
der kurdischen Frauen wollen wir auch in uns wecken und nehmen uns die
Frauenbewegung in Kurdistan dabei als Vorbild. Als in der Diaspora lebenden kurdischen
Frauen sehen wir uns nicht nur mit patriarchalen und kapitalistischen Verhältnissen
konfrontiert, sondern auch mit einer starken Assimilierung und Kriminalisierung unserer
3
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
vielschichtigen Identitäten. Nach dem Motto der kurdischen Frauenbewegung: "Die freie
Frau ist die freie Gesellschaft!" sehen wir das Zusammenspiel der verschiedenen
Unterdrückungsmechanismen gegen die Menschheit, speziell gegen die Frau, im
bestehenden Patriarchat als einen Hauptwiderspruch, den es zu bekämpfen gilt.
Die patriarchale Herrschaft ist durch Mythologien, Religionen und positivistischen und
rationalistischen Theorien in den Köpfen der Menschen verankert, die aufgebrochen
werden soll. Durch diese Herrschaft werden Frauen benachteiligt, diskriminiert und in
verschiedene Rollen gedrängt, die das Patriarchat für sie entworfen hat. Machtausübung
gilt dabei als ein Instrument der Herrschaft, denen Frauen überall auf der Welt ausgesetzt
sind.
Dieser Denkweise, die vor allem im kapitalistischen Staat und seinen Institutionen am
stärksten ausgeprägt ist, stellen wir etwas gänzlich anderes gegenüber: die Jineolojî, auch
Wissenschaft
der Frau
genannt.
Doch
anders
als
bei
dem uns
bekannten
Wissenschaftsbegriff geht es nicht um eine akademisch-elitäre Forschung in den
systemimmanenten Hochschulen. Die Jineolojî hat es sich zur Aufgabe gemacht,
sämtliche Lebensbereiche aus nicht-männlicher Perspektive zu beleuchten, und zwar nicht
aus den „Elfenbeintürmen“ der Universitäten, sondern direkt aus dem Leben, aus der
Gesellschaft. In der Geschichte des 5000-jährigen Patriarchats wurde die Geschichte
nämlich stets aus der Perspektive der Herrschenden, und somit von Männern erzählt.
Doch auch Frauen haben seit jeher gelebt und gewirkt und tun dies auch heute. Ihre
Geschichten, Positionen und Stimmen gilt es mit diesem Ansatz der noch jungen Jineolojî
wahrnehmbar zu machen. Die Jineolojî steht im Zentrum einer freiheitlichen Soziologie,
mit der die Welt und die herrschenden Mentalitäten verändert werden können. Wir
machen es uns zur Pflicht, die Jineolojî zu füllen und zu verstehen. Als studierende
Frauen sehen wir uns in der Aufgabe, uns dem patriarchalen Gedankengut der
Bildungseinrichtungen zu widersetzen und dem unser ökologisches, basisdemokratisches
und geschlechterbefreites Paradigma entgegenzubringen.
Die patriarchale Denkweise greift bis in den Geist der Frau und verwüstet ihr
Bewusstsein. Innerhalb der kapitalistischen Moderne wird sie dazu getrieben in
übertriebenes Konkurrenzdenken zu verfallen und eine selbstsüchtige und rücksichtslose
4
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Persönlichkeit zu entwickeln. Das Konkurrenzdenken, welches die Vereinzelung und
Entsolidarisierung unter Frauen hervorruft, muss abgelehnt werden. Frauensolidarität ist
dementsprechend eines der stärksten Waffen um unseren Widerstand zu stärken.
Innerhalb von gemischt-geschlechtlichen Räumen ist eine Auflösung der patriarchalen
Rollenbilder und Verhaltensmuster nicht möglich. Dazu müssen sich, nach dem Vorbild
der Frauenbefreiungsideologie der kurdischen Bewegung, Frauen autonom und losgelöst
von männlichem Einfluss, sei es in Form von Männern, patriarchalen Gedanken oder
Gefühlen organisieren. Wir als JXK sehen es als Notwendigkeit, denn nur in autonomen
Strukturen kann ein geschützter und befreiter Raum für uns geschaffen werden.
In der JXK haben wir die Möglichkeit gemeinsam die dominierenden Systeme zu
analysieren und einen Weg zu finden, dieses Muster zu brechen. Nur gemeinsam bilden
wir eine eminente Gegenkraft gegen das Patriarchat. Daher wollen wir die Solidarität
unter Frauen auf alle Lebensbereiche ausweiten. Gerade durch Bildungsseminare für
Frauen soll das Bewusstsein der Frauen für ihre eigene Identität gestärkt und erhöht
werden. Kollektive Stärke entwickelt sich durch jede einzelne Frau, die sich ihrer
Situation bewusst wird und bereit ist gegen ihre Fesseln, gegen ihre Rollen und gegen die
Diskriminierung Widerstand zu leisten. Der erste Schritt dabei ist die Hinterfragung der
eigenen Rolle der Frau, aber auch eine kritische Untersuchung der Rolle des Mannes und
das ihm überlegende ausbeuterische System.
Wir heißen alle Frauen* bei der JXK willkommen, die sich unserem Kampf gegen das
Patriarchat anschließen möchten. Wir freuen uns über jede Unterstützung und sind offen
für Anregungen und Zusammenarbeit! Ihr könnt uns unter unserer Emailadresse
([email protected]) erreichen.
Beschlüsse der JXK vom ersten Kongress im Januar 2016 in Kassel
1. Die Frauen innerhalb der YXK organisieren sich als JXK autonom und halten
regelmäßig eigene Versammlungen ab. Dies gilt sowohl für die Ortsgruppen, als auch auf
Regional- und Verbandsebene. Die JXK-Arbeiten haben den gleichen, wenn nicht einen
5
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
höheren Rang als die YXK-Arbeiten und sollen dementsprechend ernst genommen
werden.
2. In den Regionaltreffen/Verbandssitzungen nimmt die JXK einen autonomen Platz ein,
trifft sich und erstellt ihre eigene Planung. Dabei soll die JXK selbst entscheiden, wieviel
Zeit sie benötigt und sich den Raum nehmen, den sie braucht. Währenddessen sollen auch
die männlichen Genossen eigene Sitzungen abhalten, in welchen sie sich kritisch mit ihrer
eigenen Männlichkeit und ihrem Verhalten auseinandersetzen und ihre eigene Rolle
reflektieren.
3. Alle Frauen der JXK treffen sich einmal vor dem YXK-Zwischenkongress sowie
einmal vor dem YXK-Kongress zu einer Konferenz, um eigene Beschlüsse gemeinsam zu
diskutieren, Projekte zu planen und die Kandidatinnen der JXK für den Vorstand zu
wählen.
4. Die JXK führt ihre eigenen Bildungsarbeit mit dem Motto: „Selbsterkennung –
Selbstbehauptung - Selbstverteidigung“ durch. Die Vorstandsmitglieder der JXK kommen
zeitnah zum Kongress zusammen, um sich für ihre zukünftige Arbeit zu bilden. Alle
Frauen der JXK bilden in ihren jeweiligen Ortsgruppen und Städten Lesekreise, welche
auf die Regionen erweitert werden. Jede Frau, die im Namen der JXK an einer
Bildungsveranstaltung, an einem Lesekreis etc. teilgenommen hat, wird die erlangte
Bildung an andere Frauen anhand von Veröffentlichungen von Artikeln in der
Verbandszeitschrift „Ronahî“ und der Homepage weitergeben.
5. Die JXK schreibt Artikel in der Organisation der Verbandszeitschrift „Ronahî“ und
verfasst genderspezifische Beiträge. Dabei soll nicht nur der JXK-Vorstand, sondern alle
Frauen beteiligt sein, die in der JXK organisiert sind.
6. Die JXK nimmt frauenspezifische Anlässe wahr und gestaltet diese aktiv. Dies sind
vorallem der 06. Februar (Tag gegen Genitalverstümmelung), der 8. März (FrauenKampftag), der 1. Sonntag im Mai und der 25. November (Kampftag gegen Gewalt an
Frauen) und der 9. Januar (Morde an Sakine, Leyla und Fidan)
7. JXK macht es sich zur Aufgabe, aktiv die Aufklärung der Morde an den Freundinnen
Sakine Cansiz, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez zu fordern.
8. Die JXK greift alle Kampagnen der kurdischen Frauenbewegung auf und trägt diese
6
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
auf die universitäre Ebene und kooperiert in den Universitäten bzw. Städten mit anderen
feministischen Organisationen. Die Zusammenarbeit mit Ceni, JCA, UTAMARA und der
Stiftung der freien Frauen aus Rojava (WJA) soll gestärkt werden.
9. Die JXK nimmt autonom an internationaler Vernetzungsarbeit mit anderen jungen
Frauen und Organisationen teil und organisiert Delegationen.
10. Die JXK vertritt sich durch ihre eigene Transparente und Flyer. In der sozialen
Öffentlichkeit nimmt sie autonom ihren Platz ein (Homepage/Facebook/Email/Ronahî).
11. Die JXK bringt sich ab sofort intensiver in die Veranstaltungen der YXK ein (z.B. bei
der Delil-Ates-Veranstaltung mit einem eigenen Fußballteam oder bei den den HüseyinCelebi-Literaturpreisen). Nebenbei soll die JXK ab sofort selbst eine eigene Veranstaltung
auf die Beine stellen
12. Die JXK veranstaltet ihre eigenen Akademien, um die ideologische Bildung zu
stärken.
13. Berichte der JXK-Ortsgruppen/Regionen sollen monatlich an den JXK-Vorstand
geschickt werden.
14. Die JXK selbst wählt die Frauen für den YXK-Vorstand.
7
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Kampagne: Selbstsein und Selbstverteidigung (Xwebûn - Xwe Parastin)
Wir begrüßen den 20. Jahrestag der heldenhaften Aktion von Sehid Zilan und werden
unseren Kampf mit dem Widerstandsgeist und dem revolutionären Feuer von Zilan
beleben. Heute versucht die faschistische türkische Regierung mit allen Mitteln unseren
Kampf um Selbstbestimmung und Freiheit zu zerschlagen, besetzt und zerstört unsere
Städte sowie Dörfer und hält sich nicht zurück unser Volk auf grausamste Art und Weise
zu massakrieren. Dieser unmenschliche Angriff der AKP- Regierung ist hierbei in erster
Linie ein Angriff auf den Befreiungskampf der jungen Frauen, die sich gegen eine 5000
jährige Mentalität wenden und dem patriarchalen System den Kampf ansagen. Die
Erdogan Regierung übt jegliche unmenschliche Methoden aus um den Willen der Frauen
zu brechen und sie in einen Schleier der Versklavung zu drücken. Durch Vergewaltigung
und eine Politik der Gewalt versucht Erdogan uns zum Schweigen zu bringen. Doch in
allen Städten in allen Dörfern Kurdistans, kämpfen unsere Freundinnen heldenhaft um die
Besatzer und ihrer patriarchale Ideologie zu beseitigen. Die Angriffe auf unsere Heimat,
sowie alle Angriffe auf unser Volk, sind Angriffe auf uns junge Frauen und unseren
Kampf um Selbstbestimmung und Freiheit. Deshalb sagen wir: „Xwebûn – xwe
parastin!“
Im Mittleren Osten zeigt die patriarchale Ideologie momentan sein hässlichstes Gesicht.
Reaktionäre Gruppen wie der sogenannte „Islamische Staat“ vergewaltigen, versklaven,
foltern, verbrennen und verkaufen Frauen und Kinder. Die Frau ist nicht nur ihrer
Identität beraubt, sondern auch jeglicher Selbstbestimmung und ihrer Existenz. Inmitten
dieses grauenhaften Zustandes, schafft die kurdische junge Frau ein neues Leben. Ein
neues Leben, welches auf Frauenbefreiung, Ökologie und Demokratie basiert. Wir zeigen
der ganzen Welt, dass die Frau im revolutionären Kampf die Vorreiterrolle einnehmen
muss, um die Gesellschaft zu befreien. Wir sprechen davon, dass es keine freie
Gesellschaft ohne eine freie Frau geben kann. Die kurdische Frau zeigt heute der ganzen
Welt, das die Freiheit kein latentes Wort ist, sondern eine gelebte Utopie.
Wir wollen die Utopie des freien Lebens in allen Staaten aufbauen und organisieren!
Aus diesem Grund: „Xwebûn – xwe parastin!“
8
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Die kapitalistischen Staaten in Europa, versuchen uns durch ein falsche Freiheit zu
assimilieren
und
unseren
Widerstand
zu
kriminalisieren.
In Europa wird eine Freiheit inszeniert die für viele junge Frauen attraktiv und anziehend
ist. Aber es wird uns verheimlicht, dass unsere angebliche Freiheit in Europa, auf die
Objektivisierung der Frauen zu begrenzen ist. Die Objektifizierung und Erniedrigung der
Frau gilt als selbstverständlich. In solchen Zeiten werden wir die vermeintliche Freiheit,
die uns die kapitalistischen Staaten versuchen zu verkaufen, nicht akzeptieren. Denn
solange das patriarchale System fortbesteht und solange wir keinen Widerstand dagegen
leisten, kann keine von uns sich als frei bezeichnen. Die kapitalistischen Staaten in
Europa vermitteln uns Frauen ein Bild von Freiheit, das nur darin besteht, sich dem
Kapitalismus anzupassen und sich somit der Versklavung zu ergeben. Wenn wir uns dem
patriarchalen und kapitalistischen Bild von Freiheit anpassen, dann entwurzeln wir uns
von unserer Identität, als Frau und als Kurdin. Wir lassen uns weder kriminalisieren noch
assimilieren!
Deshalb sagen wir: „Xwebûn – xwe parastin!“
Die Unterdrückung, Isolierung und Gewalt, denen Frauen heute ausgesetzt sind,
verbergen eine 5000-jährige Geschichte und Mentalität, die es aufzudecken und zu
zerschlagen gilt. Wir wollen jedoch nicht nur gegen die patriarchale Ideologie und Gewalt
ankämpfen, sondern auch der Wahrheit näher kommen, die wir im Laufe der
Zivilisationsgeschichte verloren haben. Wir müssen zunächst verstehen, dass dieses
System nicht natürlich ist und das Patriarchat nicht schon immer existiert hat. Wir müssen
verstehen, dass es davor Gesellschaften gegeben hat, die um die Frau herum organisiert
waren und in der keine Klassen und Staaten existiert haben. Wir müssen begreifen, dass
uns einst unsere Identität und Stellung weggenommen wurde, die in der Phase der
kapitalistischen Moderne nun komplett verloren zu gehen scheint. Diese Identität müssen
wir wiederfinden, wir müssen uns selbst erkennen. Wir müssen erkennen, wer ist die Frau
fernab von dem, was das System aus ihr gemacht hat? Wenn wir uns nicht selbst finden
und selbst verteidigen, können wir auch nicht verstehen, wie unsere Freiheit aussehen
kann
und
wie
wir
zu
unserer
Aus diesem Grund sagen wir: „Xwebûn – xwe parastin!“
9
Wahrheit
zurückkehren.
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Reber Apo der unsere Philosophie der Freiheit ins Leben gerufen hat, befindet sich seit 17
Jahren in einer gesetzeswidrigen Isolationshaft. Die Haftbedingungen sind gegen jegliche
juristische Norm und seit über einem Jahr wird ihm jeglicher Kontakt zur Außenwelt
verwährt, er befindet sich in einer Totalisolation. Der Krieg der faschistischen AKPRegierung gegen die kurdische Bevölkerung und die Totalisolation von Reber Apo, sind
eng miteinander verbunden und zeigen die Annährung der türkischen Regierung an das
kurdische Volk. Denn die Totalisolation von Reber Apo ist nicht nur eine Angriff auf den
Freiheitskampf, sondern auch ein Angriff auf das gesamte kurdische Volk. Die
kapitalistischen Staaten, sehen den Befreiungskampf der Kurdinnen und den
demokratischen Willen der Bevölkerung als große Gefahr an und versuchen durch die
Totalisolation von Reber Apo unseren Willen und unsere Kraft zu mindern.
Doch die Freiheit von Reber Apo – ist die Freiheit der kurdischen Frau und der gesamten
Gesellschaft!
Deshalb sagen wir: „Xwebûn – xwe parastin!“
Um unseren Widerstand auf Basis von Selbstsein und Selbstverteidigung auch in Europa
zu stärken, haben wir als junge Frauen die Kampagne „Xwebûn – Xwe parastin“ ins
Leben gerufen.
Mit den Worten von S. Zilan: Lasst uns kämpfen und uns befreien! Rufen wir alle junge
Frauen dazu auf ihre Stimmen zu erheben auf die Straßen zu gehen und Widerstand zu
leisten! Wir, die kurdischen jungen Frauen in Europa, nehmen den Freiheitswillen von
Sehid Zilan als Vorbild und bündeln unsere Kräfte gegen den Patriarchat und die Angriffe
auf unsere Heimat und Selbsbestimmung!
Xwebûn – xwe parastin!
JCA – Jinên Ciwan ên Azad
JXK – Jinên Xwendekar ên Kurdistan
Erklärung vom 01.07.2016
10
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Grußbotschaft der JXK an den Kongress der Komalên Jinên Ciwan ên
Kurdistan
Vom 12.-14. Juli 2016 fand in den Medya-Verteidigungsgebieten in Kurdistan der
Kongress der KJC statt, der Vereinigung der jungen Frauen aus Kurdistan (Komalên Jinên
Ciwan ên Kurdistan). Im Zentrum des Kongresses standen die ideologischen,
organisatorischen und militärischen Arbeiten der jungen Frauen sowie die momentane
Situation Serok Apos. Mit Verweis auf den immer kritischer werdenden Zustand Abdullah
Öcalans erklärt die KJC, dass sie von nun an keinen weiteren Moment ohne Rêber Apo
hinnehmen, und rufen in diesem Sinne alle Frauen zu radikalen Aktionen für die Freiheit
Öcalans auf.
Abdullah Öcalan, unser Vorsitzender und Denker unserer Freiheitsideologie, befindet sich
noch immer in einer Totalisolation, die jeglichen Kontakt zu ihm verweigert. Anträge
verschiedener Anwält_innen und Politiker_innen werden vom Staat seit den Vorfällen am
15.Juli in der Türkei noch strenger abgelehnt, die Trennung zwischen dem Volk und Serok
Apo noch mehr vertieft. Der Erklärung der KJC zufolge sollen von nun an alle politischen
11
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Arbeiten unter dem Motto "Auflehnung der jungen Frauen, Vergeltung bis zur Freiheit"
fortgeführt werden. Unter den Beschlüssen der KJC auf ihrem Kongress befanden sich
weitere Planungen wie u.A. die stärkere Organisierung der jungen êzîdischen Frauen, der
Widerstand gegen jegliche sexistische Politik und die Selbstverteidigung der Frau. Die
KJC erklärt Leyla Saylemez, die mit Sakine Cansiz und Fidan Dogan zusammen in Paris
ermordet wurde, zu ihrer ersten Gefallenen und erkennt sie als ein Symbol aller jungen
Frauen an.
Mit unseren revolutionären Grüßen an den Widerstand der KJC rufen auch wir als junge
kurdische Frauen in Deutschland alle Frauen auf die Straßen auf, um sich gegen die
momentanen Kriegszustände aufzulehnen sowie den damit zusammenhängenden Druck
und die Gewalt auf Frauen nicht länger zu akzeptieren. Auch wir müssen unseren
Widerstand verstärken und radikalisieren und uns nach der Linie unserer Gefallenen
organisieren und leiten lassen. Die Mauer, die die türkische und deutsche Regierung
versuchen zwischen uns und Rêber Apo aufzubauen, werden wir mit Gewalt
durchbrechen und nicht länger unbeantwortet lassen. Lasst uns mit dem kämpferischen
Geist der Frauen in Kurdistan gegen Kapitalismus und Patriarchat auf die Straßen, lasst
uns gemeinsam unserer Verantwortung als junge Frauen nachkommen!
Nochmals begrüßen wir den Kongress und die Beschlüsse der KJC und sehen darin auch
unsere Linie und Aufgabe wieder. Wir blicken mit Zuversicht auf unsere weiteren
Arbeiten und sehen die freie junge Frau als den Schlüssel zu unserem Erfolg.
Jin, Jîyan, Azadî - Bijî Serok APO - Bijî soresa jinên azad!
Erklärung vom 10.08.2016 - Jinên Xwendekar ên Kurdistan (JXK)
12
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Das Symbol der kurdischen Frau: Şehîd Zîlan
„Ich möchte der Ausdruck des Freiheitskampfes meines Volkes sein. Gegen die
Politik des Imperialismus, die Frau zu versklaven, möchte ich die Bombe an
meinem Leib entzünden und zeitgleich meine ganze Wut zeigen und das Symbol des
Widerstandes der kurdischen Frau sein. Mein Lebenswille ist stark. Mein Wunsch
ist ein erfülltes Leben durch eine große Aktion. Der Grund für diese Aktion ist
meine Liebe zu den Menschen und zum Leben.“ - Şehîd Zîlan
Zîlan – dieser Name wird in der kurdischen Geschichte immer wieder mit Widerstand,
Aufständen und Aufopferung assoziiert. Dieser Name steht in unser Vergangenheit für
zwei besondere Geschehnisse: 1930 wurden während der Ararat-Aufstände im Zîlan-Tal
(Wan) hunderttausende Kurd_innen Opfer türkischer Staatsgewalt. Am 30. Juni 1996
verwirklichte Şehîd Zîlan (Zeynep Kınacı) während einer Militärparade in Dersîm eine
Aufopferungsaktion. Dabei kamen viele türkische Soldaten ums Leben. Aber wer ist Zîlan
und was kann eine Frau mit 25 dazu bewegen, solch eine Aktion durchzuführen?
Zeynep Kınacı, mit Kämpfer_innennamen Zîlan, kam im Jahre 1972 im Zentrum von
Malatya (kurd. Meletî) zur Welt. Die aus einer mittelmäßig, patriarchal und kemalistisch
geprägten Familie stammende Zîlan absolvierte die Grundschule, sowie das Gymnasium
in Malatya. Ihr Studium zur Reisebegleiterin und psychologischen Beraterin absolvierte
13
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
sie ebenfalls dort. Anschließend arbeitete sie einige Jahre als Krankenschwester im
Bereich der Radiologie. Zeynep Kınacı genoß eine liberale Erziehung und fand den
Kontakt und ihre Sympathie zur kurdischen Freiheitsbewegung während ihrer Zeit am
Gymnasium. Zîlan fing an Interesse an der Ideologie der PKK zu entwickeln, während
sich diese Anfang der 90er Jahre noch in der Aufbauphase befand. Sowohl die
wirtschaftlichen Hindernisse, als auch politisch, gesellschaftliche Haltungen hinderten sie
Langezeit an ihrer Identitätsfindung.
1994 begann sie sich in Adana aktiv an den Arbeiten der Bewegung zu beteiligen. Ein
Jahr lang führte sie dort die Parteiarbeit. Zu den Arbeiten gab sie damals folgende
Bewertung ab: „Eine ernsthafte Bildungsphase habe ich nicht durchmachen können. Da es
auf der Führungsebene zu einigen Festnahmen kam und ich dadurch keine große
Unterstützung erlangen konnte. Auch aufgrund einer bürgerlichen und unwirksamen
Haltung des Einzelnen und trotz meines großen Interesses, einen Persönlichkeitswandel
zu vollziehen, gelingt mir die Weiterentwicklung und meine Erfolgserzielung nicht.“
1995 schloss sich Zîlan in Dersîm der ARGK-Guerilla an. Beweggründe ihres
Anschlusses waren vor allem die existentielle Vernichtung der Kurd_innen, dem sie
damals im mittleren, sowie nahen Osten ausgesetzt waren. Das Bewusstsein und die
Identität des kurdischen Volkes, konnten ihrer Ansicht nach nur mit Widerstand
aufrechterhalten bleiben. Für diesen Kampf waren geschichtliches Bewusstsein, kühne
Entschlusskraft und eine große Verantwortung an erster Stelle notwendig. Innerhalb der
Guerilla entwickelte sie ihre Persönlichkeit entscheidend weiter. In Punkten wie
Entschlossenheit, Moral und Bewusstsein entwickelte sie eine starke Haltung. Sie
interessierte sich vor allem für die Kurd_innen und ihre Geschichte, die Anfänge der
Menschheitsgeschichte, die PKK sowie die Haltung und Verbundenheit zu Abdullah
Öcalan. 1996 zeigte sie im Angesicht der Kriegshaltung gegenüber der Freiheitsbewegung
eine sehr militante Haltung. Eines ihrer letzten Worte an ihre Genoss_innen war: „Ich
möchte das Symbol der kurdischen Frau werden.“
Mit diesem Versprechen verwirklichte sie am 30. Juni 1996 in Dersîm während einer
Militärparade eine Aufopferungsaktion und sprengte sich in die Luft. Bei diesem
Anschlag kamen fünf Soldaten ums Leben. Zudem wurden 35 Soldaten schwer verletzt.
14
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Mit dieser Aktion hinterließ Genossin Zîlan innerhalb der Guerilla und der Bevölkerung
eine sehr tiefe Wirkung. Diese Aktion wurde innerhalb der Bewegung zu einer Wende.
Eine Frau Mitte 30, mit Träumen und Wünschen, mit einer starken Persönlichkeit und
einer großen Lebensfreude beendet so ihr Leben. Warum? Für viele Menschen ist es
schwer, für solch einen Anschlag Verständnis aufzubringen. Es klingt absurd und
unmenschlich. Aber...
In den 90ger Jahre wurde weder die Existenz einer kurdischen Identität noch Kurdistan
als ein geografischer Ort anerkannt. Die kurdische Sprache, kurdische Namen, kurdische
Musik und Kultur waren verboten. Kurd_innen wurden als „Bergtürken“ diffamiert und
einer starken Assimilations- und Vernichtungspolitik ausgesetzt. Dörfer wurden komplett
verbrannt und vernichtet, Menschen zur Flucht getrieben und tausende festgenommen und
ermordet. Viele verschwanden während der Untersuchungshaft und man hörte nie wieder
etwas von ihnen.
Auf der anderen Seite erlebte die Freiheitsbewegung in den 90er Jahren den Höhepunkt
ihrer Gefechte, sowie Verluste innerhalb der eigenen Reihen. Viele Freund_innen verloren
die Motivation, anderen fielen, aber auch viele Menschen schlossen sich der Bewegung
an. Zeitgleich gab es 1996 ein Bombenattentat auf Abdullah Öcalan in der Parteischule in
Damaskus, welche um Haaresbreite gescheitert ist.
Und inmitten dieser Realität verwirklichte Genossin Zîlan eine Aufopferungsaktion. Ihre
Verbundenheit zu Abdullah Öcalan verdeutlichte sie in ihren Briefen an das kurdische
Volk, an die Frauenbewegung und an den Vorsitzenden selbst. Dieser Anschlag auf
Abdullah Öcalan war für sie in keinster Weise zu akzeptieren. Als Antwort dagegen
richtete sie die Bomben an ihrem Leib an den Feind.
Die Aktion von Sehid Zîlan war keine einfache Selbstmordaktion. Abdullah Öcalan
bewertet ihre Aktion als eine vollkommen der Zeit angemessenen, plan- und
aufopferungsvolle, mutige und mit kühlem Kopf durchdachte Aktion. Eine Angriffsaktion
mit einer sehr weitreichenden Dimension. Sie war direkt an den Feind gerichtet. Gegen
die Politik des Imperialismus, die Frau zu unterdrücken und zu versklaven.
In Anbetracht der Sabotage, Attentate und erfolgreichen Operationen, erklärte sie, welche
taktische Aktionsverständnis die Bewegung verfolgen muss. Eine Antwort, mit der sie
15
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
ihre Verbundenheit zu dem Vorsitzenden nochmal Ausdruck verleihen wollte. Serokatî
ergänzt folgenden wichtigen Punkt: „Die von der Genossin Zîlan durchgeführte Aktion ist
zugleich auch ein Schlag gegen das genannte Selbstmordverständnis. Wenn ihr sterbt,
dann sterbt richtig! Wenn ihr angreift, dann greift richtig an!“ Dieser Anschlag auf den
Feind war nicht aus Verzweiflung, sondern aus Stärke und Widerstand, aus Verbundenheit
zur Freiheitsbewegung. Sie sah ihre Aktion als Pflicht für den Kampf. Hierbei wird das
musterhafte und tiefe Begreifen der ideologisch-politischen Linie der PKK deutlich. Es ist
eine vollkommen mit geschichtlichen Aspekten der Menschheit verbundene, eine
organisierte, eine mutige, aufopfernde und mit einem freien Willen durchgeführte Tat.
Es ist eine Aktion der freien Frau, die mit dem Leben sehr verbunden war. Heval Zîlan
zeigt den Frauen als Wegweiserin den Weg in eine freie Welt. Indem sie sich gegen den
Feind gestellt hat und mit erhobenem Kopf die Unterdrückung nicht akzeptiert hat, sich
dagegengestellt und diese in ihrer Praxis widergespiegelt hat. Ihre Haltung zeigt, wie sehr
sie die Ideologie der Freiheitsbewegung verinnerlicht hatte. Ihre Praxis zeigt: eine große
Aktion. Ein organisiertes Leben. Die ideologisch - politische Reife. Die Art, das
Verhalten, das Erreichen eines hohen Tempos.
„Wenn du lebst, lebe richtig! Wenn du stirbst, stirb richtig. Wenn du angreifst, dann greif
richtig an. So einfach ist es.“ - Şehîd Zîlan
März 2016 - Artikel der JXK Marburg aus der 43. Ronahî-Ausgabe der JXK/YXK
16
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
"Tu cenga warên Kurda yî" - Şehîd Berîtan
Der Name Gülnaz Karataş ist für viele unbekannt, doch wenn der Name Heval Berîtan
fällt, weiß jeder wer gemeint ist. Wegen ihrem außergewöhnlichem Mut und ihrem
leidenschaftlichem Charakter ging Heval Berîtan in die kurdische Geschichte ein. Noch
heute werden unzählige Lieder und Gedichte für und über sie gesungen, sowie unzählige
Neugeborene nach ihr benannt. Zudem gibt es einen gleichnamigen Film über ihre
Kampfgeschichte.
Gülnaz Karataş – auch unter dem Decknamen Beritan bekannt – wurde 1971 in Solhan in
der Provinz Bingöl geboren. Ihre Familie stammte ursprünglich aus Dersim. Die Schule
besuchte sie in Elaziğ. Sie war unter anderem der Kapitän der Handballmanschaft ihrer
Schule, sie war redegewandt und besaß schon in jungen Jahren ein ausgeprägtes
Gerechtigkeitsempfinden. 1989 begann sie an der Universität Istanbul ein Studium im
Fach der Wirtschaftswissenschaften.
Erst während der Newrozfeierlichkeiten 1989 erfuhr Gülnaz Karataş, dass sie kurdischer
Abstammung war. Ihr Gerechtigkeitsempfinden fand 1990 ihren Höhepunkt, als sie sich
gemeinsam mit ihrem Verlobten der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans
(PKK) anschloss.
Während öffentlicher Arbeiten innerhalb von linksorientierten Kreisen wurde sie
festgenommen. Nach einer kurzen Haftstrafe entschied sich Karataş, die Revolution auf
17
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
den Bergen fortzuführen. Am 9. Mai 1991 stieß sie zu den Gerillakämpfer_innen auf dem
Gebirge Cudi. Aufgrund ihrer Tapferkeit und ihrer guten kriegerischen Fähigkeiten sandte
man sie 1992 als Kommandantin einer kleinen Truppe in das Gebiet Şemzînan.
In den 90er Jahren spitzten sich die kriegerischen Auseinandersetzungen in der ganzen
Türkei zu, aber nicht nur gegen die türkischen Soldaten musste die Gerilla kämpfen.
Vielmehr kam es zu gewaltsamen Begegnungen mit den Peschmerga der PDK unter der
Führung von Mesut Barzani, welcher mit der Türkei kooperiert haben. Die Politik unter
den Kurd_innen der PKK und den Kurd_innen im Nordirak hat sich gravierend
unterschieden, sodass es neben den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in der Türkei auch
zu kriegerischen Auseinandersetzungen, zum sog. "Süd(-Kurdistan)-Krieg" zwischen
diesen kurdischen Parteien kam. Während des gewaltsamen Konfliktes im Süd-Krieg hat
sich der damalige Komandant der Region Xakurke und Xinere, Osman Öcalan entgegen
der Linie und den Vorgaben von Parteichef Abdullah Öcalan mit seinen Kämpfer_innen
ergeben, und sich mit den Peschmergas und der Türkei kapitulierend geeinigt.
Währenddessen
wurde
in
Şemzînan
Gülnaz
Karataş
und
ihre
Truppe
von
Perschmergakämpfern eingekesselt und angegriffen. Um ihr eigenes Team zu schützen,
opferte sie sich auf. Dabei wurde sie am Arm, an der Seite und am Auge schwer verletzt.
Aber selbst als die junge Frau an einer Klippe der Gebirge von den Perschmerga
umzingelt wurde, gab sie den Kampf nicht auf. Bis zur letzten Munition kämpfte Heval
Beritan. Doch als sie keine Patronen mehr hatte und ihr die Perschmerga den Satz „Ergib
dich, wir werden dich verheiraten, du wirst leben wie eine Rose“ entgegen riefen, sah sie
keinen anderen Ausweg. Sie baute ihr Gewehr auseinander, umarmte die Teile und sagte
dabei „Biji Serok Apo“. Im selben Moment stürzte sie sich die Klippe herunter.
Seit dieser Tat wird Gülnaz Karataş als Märtyrerin verehrt, weil sie vor allem gegen den
Verrat
und
der
Niederlagenpersönlichkeit
von
Osman
Öcalan
eine
starke
Heldenpersönlichkeit innerhalb der PKK hervorgebracht hat. Heval Beritan etabliert
damit als einjährige Gerilla-Kämpferin vor allem für die Frauenbewegung militärisch und
ideologisch
ganz
neue
Maßstäbe
und
setzte
ein
großes
Zeichen
für
den
Widerstandskampfgeist der Partei. Trotz ihrer Liebe zu ihrem Verlobten, war ihr Drang
nach Freiheit und Gerechtigkeit groß genug, um Teil einer Volksrevolution zu werden und
18
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
ihre eigenen individuellen Bedürfnisse nach hinten zu stellen. Statt sich den Peschmerga
zu ergeben, von ihnen vergewaltigt und zwangsverheiratet zu werden, beschloss sie lieber
ihrem Dasein ein Ende zu setzen und nahm sich die Freiheit gegen Verrat unsterblich zu
werden. Beritan hat bewiesen, dass auch eine Frau im Stande ist für ihren Glauben und
ihre Ziele zu kämpfen und bis zum Ende zu gehen. Sie hat mit ihrem Selbstmord jeder
Frau gezeigt, dass gegen Unterdrückung, Patriarchat und Verrat eine alternative Wahl
möglich ist. Nach ihrer Tat haben die meisten Peschmerga, die in dieser Operation
beteiligt waren, die Waffen niedergelegt. Unzählige Kinder, vor allem in Südkurdistan,
wurden von da an Beritan genannt.
Heval Beritan hat uns gelehrt, dass Freiheit alle Grenzen überschreiten kann und dass man
selbst im Tod eine größere Freiheit finden kann, als innerhalb eines unterdrückenden
Systems.
Oktober 2015 - Artikel der ehemaligen YXK-Jin Darmstadt in der 42. Ronahî Ausgabe
19
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Rahşan Demirel – Die Frau, die zum Newroz-Feuer wurde
Rahşan Demirel kam am 15. August 1975 in Nisêbîn (Mêrdîn) auf die Welt. Aufgrund
der Repressionen seitens des türkischen Staates zog ihre Familie wie auch viele andere
kurdische Familien zu dieses Zeiten, als sie ein Jahr alt war, nach Izmir um. Rahşan fühlte
sich ihrer Heimat Kurdistan trotzdem immer sehr verbunden und verstand früh, was für
einen Krieg der türkische Staat gegen die kurdische Identität und Sprache führte.
Erzählungen über sie sagen, dass sie als Kind immer in den kurdischen Farben, gelb-rotgrün, gekleidet sein wollte. Als sie einmal in diesen Farben in der Schule erschien, wurde
sie dafür von einem ihrer Lehrer bestraft und geschlagen. Diese Farben jedoch bedeuteten
für Rahşan Freiheit. Für sie symbolisierten sie ihre Heimat Nisêbîn, ihre Existenz und ihre
Identität.
Die Wut über die Unterdrückung und Leugnung des kurdischen Volkes, welche Rahşan
schon im Kindesalter empfand, teilte sie ihrer Mutter mit folgenden Worten mit: „Siehst
du es nicht, Mama? Jeden Tag werden Dörfer verbrannt. Unsere Menschen werden
ermordet. Wir dürfen nicht in unserem eigenen Land leben. Wir dürfen weder unsere
Muttersprache sprechen noch unsere Kultur leben. Ich bin stolz darauf, gegen diese
Leugnung Widerstand zu leisten.“
Die Aufstände in Cizîr, Nisêbîn und Silopî im Jahr 1992 haben Rahşan sehr mitgerissen.
Der damalige Innenminister Ismet Sezgin gab zu dieser Zeit, ein Tag vor Newroz bekannt,
20
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
dass jegliche Newroz-Feierlichkeiten verboten seien. Dennoch feierte man am 21. März in
den Straßen Kurdistans das Newroz-Fest. Der türkische Staat antwortete darauf mit der
Ermordung mehrerer Dutzend Menschen. Weitere Hunderte wurden an diesem Tag
verletzt.
Am Morgen danach, dem 22. März 1992, hinterließ Rahşan Demirel, die am Abend zuvor
die Gefechte mitverfolgte, auf einem Stück Karton eine Notiz: „Heute in Kadifekale
werde ich zu Newroz. Ich muss auf Cizîr, Mêrdîn und Nisêbîn antworten. Tretet für mich
ein. Ich werde Ismet Sezgin zu verstehen geben, dass Newroz gefeiert wird. Wir werden
Newroz mit unserem Leben feiern!“ Das sind ihre Worte gewesen, bevor sie ihren Körper
in Kadifekale im Alter von 17 Jahren verbrannte...
Ihre Mutter erzählt von ihren Gedanken an jenem Morgen, nachdem sie die Notiz ihrer
Tochter entdeckte: „Meine Knie wurden weich. Ich suchte Rückhalt an dem mir nah
liegendem Baum. Ohne lange zu überlegen habe ich akzeptiert: ‘Meine Tochter hat so
eine Entscheidung getroffen und sich dem Volk geopfert. Nun liegt es an uns, für ihr
Andenken Verantwortung zu übernehmen'. Ich ging zu meiner Tochter. und rief meine
erste Parole. Nun lag es an uns. Die ganze Welt hatte Rahşan erhört. Aus Angst vor
Rahşans Widerstand wollten Sicherheitskräfte sie begraben, ohne dass es jemand
mitbekam. Die Polizei wollte sie für die Autopsie mitnehmen und ins Krankenhaus
bringen um sie dort zu vernichten. Ich habe es nicht zugelassen. „Wenn ihr sie mitnimmt,
verbrenne ich mich auch“, sagte ich. Gemeinsam mit Tausenden Menschen haben wir den
Leichnam von meiner Tochter, Rahşan mitgenommen. Wir brachten sie in die Moschee
von Kadifekale, und dann nach Nisêbîn. „Meine Tochter war verliebt in das Land, in dem
sie geboren war.“ Rahşans Geschichte ist ein Symbol für den Widerstand gegen die
Leugnung und Assimilation der kurdischen Identität.
Rahşan ist die Revolution in rot-gelb-grünen Farben, die Frau, die zum NewrozFeuer wurde...
06.05.2016 - Aus dem Handbuch der JXK/YXK
21
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Zekiye Alkan - „Newroz wird mit dem Newroz-Feuer gefeiert“
Zekiye Alkan kam 1970 in Kurdistan zur Welt. In Amed studierte sie an der Dîcle
Universität Medizin, wo auch ihr Interesse an der kurdischen Freiheitsbewegung geweckt
wurde. Die 90iger Jahre waren sowohl in Kurdistan als auch in der Türkei von der
Assimilations- und Vernichtungspolitik des türkischen Staates geprägt. Die kurdische
Identität, sowie der Widerstand wurde mit allen Mitteln niedergeschlagen. Viele
Menschen wurden vom Staat ermordet, andere wiederum in Untersuchungshaften
verschwunden. Inmitten dieser Realität verbrannte Zekiye Alkan am 21. März 1990 in
Amed an den historischen Mauern aus Protest gegen die Unterdrückungs- und
Vernichtungspolitik
ihren
Körper.
Ihr
Protest
sollte
eine Antwort
auf
den
Frauenwiderstand sein, der sich in den 90iger Jahren in Kurdistan sehr stark verbreitete.
Freunde von Zekiye beschreiben sie als eine sehr rebellische Person und das in allen
Bereichen ihres Lebens. Sie befand sich immer wieder auf der Suche nach neuen Sachen.
Zekiye war sehr rebellisch. Die Aufstände in Nisêbîn hatten sie sehr geprägt und ihren
Widerstandsgeist geweckt.
„Zekiye hatte gegen das bestehende System und den Unterdrückungen immer eine
reaktive Haltung. Auch an der Uni war sie so. Sie war anders als die anderen Frauen. Sie
war sehr lebensfroh. Sie war nicht sowie die Menschen um uns. Sie passte nicht in das
22
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
typische Bild der Kurden, in das typische Bild der kurdischen Frau, naiv und
zurückhaltend. Immer leistete sie Widerstand gegen das System. Sie war eine freie Frau.
Zum System hatte sie keine Verbindung, sondern immer eine reaktive Haltung.
Nicht mal ihre täglichen Verhalten passten dazu. Ihre Aktion passte zu ihr.
„So wird Newroz gefeiert“
Nach ihrer Aktion im Krankenhaus sagte sie ihren Freunden: „Newroz wird
so gefeiert. Das Newroz-Feuer wird so angezündet.
Zekiye Alkan hat mit ihrer Aktion den Widerstandswind von Mazlum Dogan, Ferhat
Kurtay, Esref Aynik und den anderen Freunden weitergetragen. Sie wollte für alle
unterdrückten Frauen in Kurdistan eine Antwort werden und ihnen Hoffnung für ihren
Widerstand geben. Denn es war der Anfang einer Frauenbewegung, die in dieser
Revolution die Vorreiterrolle spielen sollten. Ihre Aktion hat gezeigt, dass sie als eine
kurdische Frau die Haltung der kurdischen Frau und ihre Ideologie am stärksten begriffen
hatte. Als sie damals ihr Körper in Brand setzte, war ihr Name als eine Frau verboten,
heute tragen Millionen Frauen den Widerstandsgeist von ihr in sich und tragen ihre
Revolution an die vorderste Front.
06.05.2016 - Aus dem Handbuch der JXK/YXK
23
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Jîneolojî - Oder: Haben wir Rêber Apo wirklich verstanden?
"Eine Wissenschaft, die um die Frau herum entwickelt wird, wird den ersten Schritt zu einer
richtigen Soziologie darstellen." - Abdullah Öcalan
Die Wissenschaft der Frau – Jîneolojî. Ein durchaus interessanter Begriff, zumal der
Wissenschaftsbegriff zuweilen das Erste ist, was der_die normale Student_in in
seinem/ihrem ersten Semester definiert bekommt. In den Sozialwissenschaften ist eine der
wichtigsten
Prämissen,
dass
es
nicht
die
eine
soziale
Realität
gibt.
Die
Sozialwissenschaften versuchen sich an das, was soziale Realität ist, durch qualitative
oder quantitative Arbeit heranzutasten. Dennoch ist trotz dieser bescheidenen
Begrifflichkeit der Wissenschaft auch die Sozialwissenschaft geprägt von Denkern, die
durchaus totalitär und fast schon deterministisch im Umgang mit ihren eigenen Theorien
waren. Beschäftigt man sich mit dem Positivismusstreit oder mit dem Anspruch der
realistischen Theorie der internationalen Beziehungen, die wirklich alles, was auf der
Bühne der Weltpolitik geschieht, mit einer negativen Anthropologie zu erklären sucht, so
wird einem schnell bewusst, dass es höchste Zeit ist, in Forschung und Wissenschaft das
zu etablieren, was Jîneolojî ist. Zunächst ist es wichtig, Jîneolojî von der allgemeinen
Frauenfrage zu trennen. Hier geht es nicht um die Analyse der Frauenbewegung, der
Guerilla, der Mütter oder sonstiger rollengebundener Subjekte. Vielmehr geht es um die
Wissenschaft, die ganz im Sinne des Erkenntnisgewinns voranstellt, dass noch gar nicht
24
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
klar ist, was eine Frau nun wirklich ist. Da Frauen, frei nach Serok Apo, die älteste
kolonialisierte Gruppe der Welt sind, ist auch ihre Rolle in der Welt der Wissenschaft eine,
die von dieser Fremdbestimmung beherrscht wird. Tatsächlich bestehen gerade die Reihen
der linken Klassiker aus einer intellektuellen patriarchalen Elite. Sozialwissenschaft
besteht eben aus der Analyse der gesamten Gesellschaft, wozu Frauen ebenfalls gehören.
Dass dies nicht der Fall ist, wenn es nach den Gründervätern des klassischen
Kommunismus geht, wird klar, wenn man sich mit Serok Apos direkter Kritik des
Realsozialismus des 20. Jahrhunderts und der Selbstkritik der PKK auseinandersetzt.
Die Analyseeinheiten Bourgeoisie und Proletariat verbergen eine Bandbreite an anderen
sozialen Konfliktgruppen, die gehört werden müssen um eine wahrhaft egalitäre
Gesellschaft zu erschaffen. Ob das nun die Missachtung der Jugend oder die
Kolonisierung der Frau ist: Sowohl in Theorie als auch in Praxis wird es Zeit, die
bisherige Rhetorik und bisherige theoretische Rahmen zu überdenken.
Genau das macht Jîneolojî möglich. So ist es ein Beitrag über die Frauenbewegung, wenn
man einen Artikel über Frauen in der Guerilla schreibt. Jîneolojî wäre es jedoch einmal
zu erheben, wie viele junge Frauen es denn sind, die tatsächlich erst zwischen den
kurdischen Bergen und dem tagtäglichen Kampf gegen die Besatzerstaaten überhaupt
Lesen und Schreiben lernen und was der Grund dafür ist. Es ist Jîneolojî zu erheben, für
was Frauen sich in unserer Gesellschaft denn eigentlich selbst halten, wie sie ihre
Kolonialisierung eigentlich selbst erleben und einschätzen. Es ist Jîneolojî ein
wissenschaftliches Vakuum herzustellen, innerhalb dessen endlich die genaue Frage nach
dem Sein der Frau beantwortet werden kann. Besonders zu betonen ist die ästhetische und
moralische Komponente, die diese Wissenschaftsform nach Serok Apo hat. So ist nicht
nur – wie bereits aufgeführt – die politische Theorie eine Denkschule, welche von
Männern dominiert wurde und weiter wird, nein, auch die Moral ist eine patriarchale
Moral geworden, wie Serok sagt. Tatsächlich mag diese Verbindung von Moral und
Wissenschaft
dem
ein
oder
anderen
modernen
Zeitgenossen
der
Forschung
unwissenschaftlich und irrational vorkommen. Hält man sich jedoch an die griechische
Antike und sogar weiter noch an den zoroastrischen Ursprung dessen, was wir heute
25
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Philosophie nennen, so wird klar, dass es doch der Erkenntnisgewinn ist, der Menschen zu
moralischen Wesen macht. Schon immer war es der Erkenntnisgewinn, der Menschen vor
die Frage des Moralischen, des Guten gestellt hat. Um zum Vakuum zurück zu kommen,
ist es doch die deontologische Ethik Kants, die gedeutet hat, dass es die intrinsische
Motivation und der intrinsische gute Wille ist, der Menschen zu moralisch handelnden
Wesen macht. Natürlich ist Wissenschaftstheorie ein verzwicktes Feld, und diese
Interpretation der Jîneolojî mag nicht jeden vollends befriedigen, dennoch halte ich
gerade diese Prämisse einer fast schon in sich geschlossenen Wissenschaft der Frau, eine
sich selbst entdeckende Lehre, eine Denktradition der Ästhetik und Ethik für die, die dann
tatsächlich aus der bloßen abstrakten theoretischen Diskussion den Geist macht, den die
kurdische Frau verinnerlichen muss, um ihre eigene Revolution zu schaffen. Die
Werkzeuge sind uns durch Theorie und Praxis der PKK gegeben. Die Umsetzung ist
jedoch ein harter Prozess, der tatsächlich nicht diktiert wird. Erinnern wir uns nämlich
daran, wie Serok Apo die grundlegende Unterscheidung zwischen der emotionalen
Intelligenz der Frau und der analytischen Intelligenz des Mannes darlegt, so muss uns
bewusst werden, dass nur die Frau selbst diesen Weg begehen kann. Blickt man in die
Realität der kurdischen Frau im zivilen Leben, ob nun in Kurdistan oder im Exil, so wird
oft schmerzhaft bewusst, dass auch in der freien Gesellschaft das Leben dieser Frauen von
Männern diktiert wird. Allein im politischen Aktivismus zeigt sich eine Weigerung des
autonomen Handelns, des sich Loslösens von männlichen Akteuren, die im Zweifelsfall
den Ton ansagen.
Leider zeigt sich auch in der Ciwanên Azad (kurdische Jugend) die Dominanz des
Männerbildes nach außen, obwohl mindestens genauso viele junge Frauen wie junge
Männer an Demonstrationen, Sitzungen und sonstigem teilnehmen. Im Bewusstsein als
YXK, als Teil der gesamten kurdischen Jugend und nicht als eine Art intellektueller Elite,
die vom Elfenbeinturm aus weise Worte zum Plebs wirft, ist es die allererste Aufgabe
diesen Geist der Jîneolojî zu verinnerlichen und weiterzugeben. Bloßer Militarismus,
bloßer Aktivismus darf kein Selbstzweck sein. Gerade eine Theorie, wie die des
Demokratischen Konföderalismus, hat Serok Apo Jahre der intensiven Studien gekostet.
Wie soll diese Theorie dann verinnerlicht werden, wenn unsere Jugend keinen Umgang
26
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
damit hat? Genauso, wie sich kein YXK-Mitglied zu schade sein sollte, Militanz und
Stärke im Widerstand der Praxis zu zeigen, so sollten keine Jugendlichen, die in einer
Realität fern der institutionalisierten Bildung leben, wie die Universität sie eine ist, keinen
Bezug zur theoretischen Arbeit im Rahmen der PKK haben. Es gab genügend laute
Revolutionen,
die
schnell
verpufft
sind.
Lasst
uns
endlich
im
Sinne
des
Erkenntnisgewinns eine stille Revolution des Wissens anspornen, die kein Ende haben
wird.
Jîn, Jîyan, Jîneolojî û Azadî!
März 2016 - Artikel der JXK Stuttgart aus der 43. Ronahî-Ausgabe der JXK/YXK
27
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Der Weckruf der Frauen in Deutschland
Die kurdische Frauenbewegung hat die Frauen in Deutschland mit ihrer Stärke, ihrer
Überzeugung und ihren Analysen nachhaltig inspiriert. Aus dieser Inspiration beginnen
wir Frauen einen neuen Anlauf uns zu organisieren, uns in neuen Zusammenhängen zu
finden. Das besondere Augenmerk liegt auf der Bildung. Dem gemeinsamen Austausch,
der Wissensweitergabe, der inhaltlichen Auseinandersetzung und den Diskussionen
untereinander. Was ist in der Geschichte der Frauen passiert, warum sind wir an diesem
Punkt stehengeblieben? Es geht uns um eine neue Analyse der aktuellen Geschehnisse
ohne dabei die Geschichte außer Acht zu lassen. Dabei schauen wir nicht nur in die
Geschichte der letzten 100 Jahre, sondern noch weiter...
Die Vergangenheit zu analysieren heißt aus Fehlern vorangegangener Generationen
lernen. Was uns schwer fällt, denn die Geschichte der Frauen ist kaum existent. Junge
Frauen wissen nichts oder kaum was von den Kämpfen der vorangegangenen Generation.
Sie haben nichts an dem sie anknüpfen können. Die feministische Bewegung in
Deutschland war schon mal sehr viel stärker als sie es heute ist. Was ist passiert? Wo
liegen die Knackpunkte? Warum haben es die vorherigen Generationen nicht geschafft ihr
Wissen weiter zutragen? Warum sind wir Frauen so stark vereinzelt in unseren
individuellen, lokalen und subkulturellen Grabenkämpfen? Warum haben wir den Blick
über den Tellerrand verloren? Wo ist unser Internationalismus? Mit all diesen Fragen
beschäftigen sich bundesweit verschiedenste Generationen von Frauen gemeinsam. Wir
versuchen die Antworten darauf zu finden. Wir wollen von der Kraft der kurdischen
Frauenbewegung schöpfen, von ihr lernen und eine neue feministische Perspektive für die
Frauen hier entwickeln.
5.000 Jahre Patriarchat heißt 5.000 Jahre feministischer Widerstand!
Auch wenn wir es jetzt noch nicht sehen, heißt es nicht das Frauen sich schon immer in
dieser Rolle steckten in die sie jetzt gepresst werden. Frauen haben sich über
Generationen hinweg aufgelehnt gegen die Unterdrückung durch die HERRschenden.
Viele starke, mutige, kämpferische Frauen haben gegen das Patriarchat gekämpft, dabei
viel aufgegeben, wenn nicht sogar alles. (z. B. Lilith, die Suffragetten, die Frauen in der
28
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Black-Power-Bewegung, die Frauen von EZLN, die Frauen in der palästinensischen
Bewegung, die Frauen im Baskenland, die RoteZora, die Frauen innerhalb der RAF etc.)
Ihre Kämpfe sollen nicht weiter im verborgenen bleiben. Sie sollen nicht umsonst
gewesen sein. Sie sollen für uns ein Vorbild sein für eine neue Generation kämpferisch
mutiger Frauen die sich gemeinsam organisieren, bilden und die kapitalistische Moderne
analysieren und an den richtigen Stellen ansetzten und gegen die HERRschenden
kämpfen.
Wir sind solidarisch zu all den Frauen weltweit, mit ihren Kämpfen individuell oder
gemeinsam organisiert. Wir wollen es ihnen gleich tun, mit ihnen Seite an Seite kämpfen
und eine gemeinsame Kraft bilden. Besonders Danken wir der kurdischen
Frauenbewegung für ihre Kraft und Überzeugung die uns so tiefgreifend inspiriert, sodass
wir hier in Deutschland endlich aufgewacht sind und anfangen aufzustehen.
Sie haben uns einen Spiegel vorgehalten, in unserer Überzeugung, in unseren
eurozentristischem Denken, den Kapitalismus verinnerlicht dachten wir wir wüssten viel
und sahen dann das wir noch viel zu wenig wissen. Aus ihrem Beispiel sehen wir wie sehr
wir uns im Kreis drehen, uns die Analysen fehlen und dem kapitalistischen System nur in
die Hand gespielt haben. Doch nun haben wir das erkannt und fangen endlich an fragend
voran zu schreiten. Schritt für Schritt lernen wir und erlangen eine neue Kraft die ihr
hoffentlich bald ebenfalls verspüren werdet.
Jin Jiyan Azadî!
Oktober 2015 - Artikel des ehemaligen YXK-Jin Vorstands aus der 42.Ronahî-Ausgabe
29
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Die Rolle der Frau in Rojava
Der 12. November 2013. An diesem Tag wurde in Rojava im Westen Kurdistans
(Nordsyrien) die Autonomie ausgerufen. Für die Menschen und insbesondere die Frauen
in diesem Gebiet hat das fundamentale Veränderungen mit sich gebracht. Schaut man nur
5 Jahre zurück in die Vergangenheit, galt die Frau noch als Besitz des Mannes. Sie war
seine „Ehre“ und zugleich auch immer eine Garantie für sein ganz persönliches
Wohlbefinden und seine Bequemlichkeit. Sie war sein schönes Aushängeschild. Sein
Spielzeug. Ein Objekt. Vielleicht schon im Kindesalter verheiratet und nun als Zweitoder Drittfrau, ist sie an den Herd gebunden und verantwortlich für zahlreiche Kinder.
Ausgebeutet und missbraucht wird sie gezielt vom gesellschaftlichen Leben und von
Bildung ferngehalten. Vom Baath-Regime wurden den Kurd_innen elementare Rechte,
wie das Wahlrecht, die Muttersprache und sogar die Staatsbürgerschaft genommen. Auch
alle anderen ethnischen und religiösen Minderheiten werden im Gegensatz zur arabischen
Bevölkerung stark ökonomisch und sozial benachteiligt. Noch heute haben terroristische
Organisationen wie Daesh (ISIS/IS), die im Zuge des syrischen Bürgerkriegs aufgeblüht
sind, tausende Frauen und Mädchen, insbesondere Ezidinnen und Christinnen
verschleppt, gefoltert, sie zu ihren Sexsklavinnen gemacht und den Menschenhandel
wieder eingeführt.
Aber was wäre die kurdische Kultur ohne den Widerstand? Schon in den 1990er Jahren
hat sich auf Initiative der Yekîtîya-Star in Rojava eine starke Frauenbewegung entwickelt.
Die Frau wurde über ihre Rechte und ihre Geschichte aufgeklärt und weitergebildet. So
wurde das Fundament für die heute stattfindende Revolution erbaut. Seit 2011 gibt es in
Rojava zwei Frauenakademien, 26 Bildungszentren, einige Frauenhäuser und Frauenräte.
Alle Institutionen haben die Funktion des Schutzes, der Beratung und Bildung der Frau.
So wird außerdem gegen patriarchale Strukturen innerhalb der eigenen Gesellschaft
gekämpft. Nicht nur in der Praxis sind Frauen an allen Prozessen beteiligt. Die
Gleichstellung der Frau ist auch gesetzlich fest verankert. Zwei Beispiele hierfür sind zum
einen die 40%-Quote für die Beteiligung von Frauen und zum anderen das Hev-SerokSystem (Prinzip der Doppelspitze). Gesetzliche Änderungen werden der Bevölkerung,
30
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
unter anderem durch die von Frauen für Frauen geschriebene Zeitschrift „Dengê Jîyan“
mitgeteilt. So wurde in einer Ausgabe beispielsweise das nun geltende Verbot für
Kinder-/Zwangsheirat und Berdêl (Mädchentausch) veröffentlicht. Weiterhin hat sich im
Jahr
2013
autonom
von
der
YPG
(Volksverteidigungseinheiten),
die
YPJ
(Frauenverteidigungseinheiten) gegründet. Mit geschätzten 15.000 Kämpferinnen
beteiligen sich Frauen allen Alters militärisch am Kampf gegen Daesh (ISIS/IS) und dem
Assad-Regime und verteidigen Menschen mit ihrem Leben. Die Mainstream-Medien sind
häufig begeistert von den Kämpferinnen der YPJ und loben ihren mutigen Kampf gegen
so barbarische Feinde wie den sogenannten „Islamischen Staat“.
Frauen aus dem Mittleren Osten werden erstmalig, zumindest in dem Maße, auch von
Modezeitschriften wie „Marie Claire“ als glorreiche Kämpferinnen porträtiert. Allerdings
ist zu erwähnen und daran zu erinnern, dass alle eben beschriebenen Fortschritte auf eine
ganz bestimmte Ideologie zurück zu führen sind. Die Fortschritte basieren auf dem
Demokratischen Konföderalismus, formuliert von Abdullah Öcalan, der 1978 die
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mitbegründete. Dieses „Detail“ bleibt von den
Mainstream-Medien jedoch völlig unbeachtet. Somit werden die Motive dieser Frauen
neutralisiert und man nimmt ihnen ihre politische Identität. Sie sind aber keine
Maskottchen oder Aushängeschilder im Kampf gegen Daesh (ISIS/IS). Sie beteiligen sich
als Subjekte im zweifachen Kampf für eine befreite Frau und eine befreite Gesellschaft.
"Wir sind nicht bloß Frauen, die gegen den IS kämpfen. Wir kämpfen, um die Mentalität
der Gesellschaft zu verändern und der Welt zu zeigen, wozu Frauen fähig sind. Wir
wollen nicht, dass die Welt uns wegen unserer Waffen kennt. Wir wollen, dass sie unsere
Ideen kennen."
– Sozdar, Kommandeurin bei der YPJ
Aber wie könnte man auch sonst die Frauen aus Rojava öffentlich feiern, während die
PKK als terroristische Vereinigung eingestuft ist?
März 2016 - Artikel der JXK Bochum aus der 43. Ronahî-Ausgabe der JXK/YXK
31
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Sara, Rojbîn, Ronahî...
Wir schreiben das Jahr 2016. Es sind nun drei Jahre vergangen, seit unsere drei
Genossinnen mitten in Paris kaltblütig ermordet wurden. Was sich am 09. Januar 2013 in
den Räumlichkeiten des kurdischen Informationsbüros in der Nähe des Pariser
Nordbahnhofs ereignete, hat eine sehr tiefe Wunde hinterlassen, die auch heute, nach drei
Jahren, nicht verheilt ist. Denn an diesem kalten Januarabend wurden drei Genossinnen,
drei revolutionäre Freundinnen ermordet, die sich auf dem Weg des politischen Kampfes
um Freiheit, Frieden und Geschlechterbefreiung vereinigt hatten. Drei Freundinnen mit
Träumen, Wünschen und einer großen Lebensfreude wurde das Leben genommen. Was
genau ereignete sich am 09.01.2013 im kurdischen Informationsbüro? Das KurdistanInformationsbüro (CIK) befindet sich in der Rue la Fayette 147. Eine relativ ruhig
liegende Gegend mit vielen Geschäften und Wohnungen. Im Büro befanden sich die
PKK-Mitbegründerin und Aktivistin Sakine Cansız (Sara), die Pariser Vertreterin des
Nationalkongresses Kurdistan (KNK) Fidan Doğan (Rojbîn) und ein Mitglied der
kurdischen Jugendbewegung Leyla Şaylemez (Ronahî). Als es am besagten Tag an der
Tür klingelte, zögerten die Freundinnen nicht und öffneten der bekannten Person die Tür.
Schüsse fielen! Heval Sara und Heval Rojbîn wurden durch Kopfschüsse und Heval
Ronahî, die sich gegen den Mörder stellte, mit Kopf- und Bauchschüssen hingerichtet.
Die letz te Kugel wurde Heval Rojbîn in den Mund geschossen. Dunkelheit... Was genau
in der Zwischenzeit i m Inneren des Büros geschah, ist ungewiss. Der Täter verschwand,
32
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
die Tür fiel zu. Stundenlang blieben die Anrufe an die Freund_innen unbeantwortet. Die
Tür wurde nicht geöffnet. Als die Sorge größer wurde und es schon Mitternacht geworden
war, fand man die drei Leichname der Freundinnen auf dem Boden des Büros. Der erste
Schock saß bei allen Freund_innen sehr tief. Unverständnis, Unklarheit, Wut und Trauer
verbreitete sich. Klar war von Anfang an Eines: Dies war ein politischer Mord und der
türkische Staat, sowie die dunklen Kräfte waren involviert.
Ömer Güney – erster Verdächtiger, erste Festnahme
Ömer Güney wurde kurze Zeit nach den Morden vom französischen Staatsanwalt
Francois
Molins
als
Hauptverdächtiger
festgenommen.
Aufzeichnungen
einer
Überwachungskamera zufolge soll Güney sich zur Tatzeit in den Räumen des Büros
aufgehalten haben. Auf seiner Jacke wurden später DNA-Spuren eines Opfers entdeckt
und in seiner Tasche Schmauchspuren. Ömer Güney war seit zwei Jahren ein aktives
Mitglied im kurdischen Verein in Paris. Vor Ort gab er den Freund_innen eine falsche
Identität von sich bekannt und zeigte großes Interesse an den Arbeiten. Aufgrund seiner
guten Französischkenntnisse half er vielen Kurd_innen dort als Dolmetscher. Er pflegte
mit vielen Jugendlichen eine gute Beziehung und gewann schnell das Vertrauen der
Vereinsmitglieder. Nach der Festnahme von Ömer Güney gab der ehemalige MIT-Agent
Murat Sahin, der in der Schweiz lebt, in einem Interview bekannt, dass Güney zur selben,
auf linke Organisationen spezialisierte Einheit gehöre, wie er selbst. Eine Frau, die seine
in Ankara stationierte Einheit führte, hatte ihm ein Bild von Güney gezeigt und erklärt,
dass er ein „Hevalci“ sei und er sich das Bild gut merken solle. Später, unmittelbar nach
den Morden, konnte er die Person auf dem in der türkischen Presse weit verbreiteten Bild
von Ömer Güney mit der auf der ihm damals vorgelegten Aufnahmen identifizieren. Doch
bei diesem Hinweis blieb das Ganze nicht. Im Januar 2014 gab es in der Türkei einen
großen Machtkampf zwischen der AKP- Regierung, sowie der Gülen-Bewegung.
Während beide Seiten mit harten Mitteln ihren Machtkampf führten, wurde im Internet
zunächst eine Tonaufnahme veröffentlicht. In dem über zehn Minuten dauernden
Gespräch von Ömer Güney mit zwei türkischen Agenten ist zu hören, wie sie Mordpläne
33
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
und Fluchtwege planen. Darüber hinaus wurden noch viele andere Namen von kurdischen
Politiker_innen genannt, an denen auch Morde geplant sind. Wenige Tage danach tauchte
ein weiteres Dokument auf. Ömer Güney wird in diesem Dokument mit dem Mordattentat
beauftragt. Das Dokument ist mit Unterschriften von Mitgliedern des türkischen
Geheimdienstes versehen.
Hintergrund –Wie sind diese Morde zu bewerten?
Fest steht, dass Sakine Cansiz bewusst als Ziel ausgewählt wurde. Es handelt sich bei den
Morden um äußerst gut organisierte, geplante und professionell ausgeführte Taten. Die
Morde in dieser Form können nicht von einer einfachen Person verübt worden sein. Fest
steht, dass dieser Mord von professionellen Kräften ausgeführt wurde. Kräfte, die eine
friedliche Lösung der Kurdenfrage verhindern wollen, Kräfte wie die türkische „Gladio“,
die sich auf internationale Kräfte stützen und vom tiefen Staat unterstützt werden. Die
Morde in Paris waren kein Zufall, sondern wurden äußerst bewusst geplant, sehr
professionell strukturiert und sind als politische Morde zu bewerten. Zweifellos wurden
die Morde aus mehr als nur einem Grund verwirklicht. Solch politisch motivierten Morde
werden nicht aus einfachen Gründen begangen. Schon gar nicht so professionell
durchgeführte Morde. Deshalb muss man sich im Hinblick auf die Hintergründe weit aus
dem Fenster lehnen. Kurz vor dem Massaker wurde der 68-tägige Hungerstreik von über
Tausenden politischen Gefangenen mit dem Aufruf von Abdullah Öcalan beendet. Die
AKP-Regierung war in eine ausweglose Lage geraten und sah sich gezwungen,
Gespräche mit Abdullah Öcalan aufzunehmen. Die Gespräche zwischen Ankara und
Imrali gelangen nun auch an die Öffentlichkeit. Sowohl von Abdullah Öcalan, als auch
aus Kandil und der kurdischen Bevölkerung war ein großes Interesse und Unterstützung
zu sehen, um das Blutvergießen zu beenden.
An erster Stelle sollten diese Morde die anlaufenden Gespräche zukünftig verhindern und
den Friedensprozess sabotieren, der ins Rollen gekommen war. Kurz nach den Morden
gab Hüseyin Celik, der stellvertretende Parteivorsitzende der AKP, bekannt, dass es sich
ihrer Vermutung nach bei den Morden, um eine „interne Abrechnung“ handle. Zwischen
34
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
Abdullah Öcalan und Sakine Cansiz soll es schon seit Jahren Streitigkeiten gegeben
haben. Weiterhin führten sie an, dass es sich bei den Morden um Provokationen handle,
um eine friedliche Lösung der kurdischen Frage zu verhindern. Offensichtlich macht sich
bei diesen Aussagen bemerkbar, dass die türkische Regierung auf ihrer psychologischen
Kriegsführung beharrt. Es ist offensichtlich, dass die türkische Seite versucht, diesen
heimtückischen Mord zu verschleiern, zu manipulieren und zu verdrehen.
Die Rolle Frankreichs...
Auch Frankreichs Einfluss und Rolle darf bei diesen Morden nicht außer Acht gelassen
werden. Nach Erdogans Vorwürfen, die EU würde den „Terroristen“ Raum bieten, gab der
für die Anti-Terror-Angelegenheiten zuständige französische Richter Thierry Fragnoli
bekannt, dass insgesamt vier Richter, acht Staatsanwälte und 28 Kommiss are
ausschließlich im Hinblick auf die Kurd_innen in Frankreich arbeiten würden. Viele
politisch aktive Kurd_innen, unter anderem auch Sakine Cansiz, standen 24 Stunden lang
unter Beobachtung und waren starken Repressionen ausgesetzt. Der Staat führte so seine
staatlichen Repressionen und seine enge Zusammenarbeit mit der Türkei durch. Die
Festnahme von Adem Uzun darf in diese m Zusammenhang ebenfalls nicht vergessen
werden. Adem Uzun war im Namen des KNK nach Paris gereist, um dort an einer
Konferenz über die Entwicklungen in Westkurdistan am 13. Oktober in den
Räumlichkeiten des französischen Parlaments teilzunehmen. Am 06. Oktober wurde er
während einer Razzia in Paris festgenommen. Der Eingang zum Gebäude, in dem sich
auch das Kurdistan Informationszentrum befindet, wird durch viele Kameras in der
Umgebung erfasst. Direkt gegenüber des Büros befindet sich der Supermarkt Carrefour,
welche über eine 360°-Kamera verfügt. Die Ermittlungsbehörden haben bis heute noch
keine einzige Erklärung dazu abgegeben. Viele weitere und ähnliche Indizien gestalten
das Ganze in eine sehr unseriöse und fragliche Richtung. Bei dem Attentat auf Charlie
Hebdo wurden mit Hilfe der modernsten Überwachungstechniken, über die der
französische Staat verfügt, die Täter in wenigen Stunden komplett ausfindig gemacht.
Es ist deshalb sehr fragwürdig, was die Aufklärung der Morde vom 09.01.2013 so schwer
35
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
macht. Wie unter solch strenger Beobachtung ein derartiger Mord geschehen konnte,
bleibt fragwürdig. Oder gibt es etwas zu verheimlichen, Frankreich? Auch drei Jahre nach
den Morden wird weder von der französischen Regierung, noch von der türkischen
Regierung das Interesse oder der Wille gezeigt, die Morde aufzudecken. Weder wurden
Angehörige der Opfer, noch die kurdische Öffentlichkeit, die auch nach drei Jahren die
Morde noch immer nicht verkraftet hat, kontaktiert oder über zusätzliche Informationen
benachrichtigt, über die Frankreich verfügt. Frankreich schweigt. Auch wurde die
Geheimhaltungspflicht über weitere Informationen nicht aufgehoben, die eventuell das
Verfahren beschleunigen könnten. In welchem Zustand und wo sich Ömer Güney
befindet, ist ebenfalls fragwürdig. Die juristische Untersuchung mit all den öffentlichen
Hinweisen auf die Hintermänner oder Unterstützer wurde abgeschlossen. Zugleich führt
Frankreich seine Beziehungen mit der Türkei fort. Weder Erdogan noch andere staatliche
Vertreter_innen wurden bis dato von Frankreich konfrontiert, geschweige denn von ihnen
Aufklärung oder Kooperation gefordert. Kein Interessenbereich? Ist euer Schweigen das
Eingeständnis eurer Mitschuld? Aber auch dieses Schweigen und die Ignoranz hat
Frankreich mit schweren Folgen miterleben müssen. Ende 2014 wurde die Satirezeitung
Charlie Hebdo und kurze Zeit danach 130 Menschen Opfer fundamentalistischer
Anschläge. Frankreich ist in einen Krieg involviert, von dem sie nicht wegkommen
werden, wenn sie ihre politisch und ökonomischen Interessen über Gerechtigkeit und
Wahrheit stellen. Solange die Morde an den drei Freundinnen nicht aufgeklärt werden,
wird Frankreich in dieser Dunkelheit bleiben.
Und auch wir werden nicht schweigen und bei jeder Gelegenheit für die Aufklärung der
Morde kämpfen. Wir wollen Gerechtigkeit für Sara, Rojbîn und Ronahî. Der türkische
Staat und die EU müssen mit ihrer Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik gegenüber
Kurd_innen aufhören und die Forderungen der kurdischen Bevölkerung nach Frieden und
Freiheit unterstützen. Dieser Anschlag war nicht nur gegen die Freiheitsbewegung
gerichtet, sondern gegen den fortschrittlichen Kampf der kurdischen Frau. Die
Vorreiterrolle der Freundinnen in diesem Kampf gegen patriarchale, feudale und
sexistische Strukturen war der kapitalistischen Moderne ein Dorn im Auge. Dieser Mord
36
1. Reader der JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan)
2016
war ein gezielter Angriff gegen unseren Kampf. Aber sie hat ihn nicht geschwächt,
sondern uns noch einmal bewusst gemacht, wie richtig wir in diesem Kampf sind und
dass wir ihn niemals aufgeben werden!
Sara – Rojbîn – Ronahî, Berxwedan heya dawî.
Sara – Rojbîn – Ronahî, Widerstand bis zum Schluss!
März 2016 - Artikel der JXK Marburg aus der 43. Ronahî-Ausgabe der JXK/YXK
37