Abstract - ETH E-Collection

DISS. ETH Nr. 23287
Nüchterne Staatsbürger für junge Nationen:
Antialkoholaktivismus in einer atlantischen Welt
(Buenos Aires und Montevideo, 1876-1933)
Abhandlung zur Erlangung des Titels
DOKTOR DER WISSENSCHAFTEN der ETH ZÜRICH
(Dr. sc. ETH Zürich)
vorgelegt von
Sönke Pascal Bauck
Magister Artium, Universität zu Köln
Geboren am 2. August 1980
Aus Deutschland
angenommen auf Antrag von
Prof. Dr. Harald Fischer-Tiné
Prof. Dr. Stephan Scheuzger
Prof. Dr. Corinne Pernet
2016
Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit analysiert den Antialkoholaktivismus einer weltweit verbreiteten Temperenzbewegung am
Beispiel von Buenos Aires und Montevideo. Sie betrachtet die sich wandelnden Beziehungen innerhalb transnationaler
Netzwerke und die Bedeutung und Widersprüche dieses Aktivismus im Spannungsfeld von Projekten der Nationsbildung in Argentinien und Uruguay. Als erste Arbeit zu dem Thema in der Region führt sie somit über bisherige‚ ‚nationale‘ Kulturgeschichten des Alkohols hinaus, um den Blick auf transatlantische Aushandlungsprozesse von Gesellschaftsreformen zu richten. Zwischen 1876 und 1933 prägten Mediziner einen Diskurs, in dem der Alkoholismus als eine erste
‚moderne‘ Sucht klassifiziert wurde. Sozialisten nahmen dieses Wissen auf und versuchten insbesondere männlichen Arbeitern die möglichen degenerativen Auswirkungen des Alkoholkonsums und die Vorteile einer nüchternen Arbeitermoral
zu vermitteln. Auch sozialkonservative Aktivistinnen initiierten Temperenzkampagnen. Sie stellten sich als Teil einer
bürgerlichen bis elitären Gesellschaftsschicht dar und versuchten, ihren Status durch die Missionierung von Arbeiterfamilien unter Betonung einer gelebten weiblichen Moral zu festigen. Einige Frauen nahmen diese als überlegen angesehene
weibliche Moral als Ausgangspunkt für Forderungen nach einer rechtlichen Gleichstellung. Alkoholgegnerinnen und –
gegner unterschiedlicher Couleur verbanden mit dem Antialkoholaktivismus eine nationale Zivilisierungsmission. Sie
propagierten eine nach den Kategorien ‚Rasse‘, Klasse und Geschlecht unterteilte Gesellschaftsordnung, ein Ideal, das sie
mit anderen transnational agierenden Akteuren wie den Missionarinnen der World Woman’s Christian Temperance
Union teilten. Die Interaktionen und Aushandlungsprozesse zwischen sozialistischen und sozialkonservativen Alkoholgegnerinnen und -gegnern am Rio de la Plata zeigen, wie sich nationale Reformer zwischen einer nordatlantischen ‚Moderne‘ und einem vermeintlich rückständigen Südamerika verorteten. Die Reformer waren von sehr unterschiedlichen ideologischen bzw. religiösen Weltbildern geleitet. Sie alle aber verordneten ihren ‚jungen‘ Nationen Reformen als ‚Rezepte‘ gegen
die ‚Gesellschaftskrankheit‘ Alkoholismus und versuchten, Gewohnheiten wie den Konsum von Schnaps und Wein zu
unterbinden und Nüchternheit als bürgerliche Tugend für eine ‚zivilisierte‘ Gesellschaft zu fördern. Wie diese Arbeit
aufzeigt, standen Reformbewegungen ständig in komplexen Beziehungen zueinander, die über nationale Territorien hinausgingen: von Buenos Aires und Montevideo als ‚Zentren‘ innerhalb eines als ‚unzivilisiert‘ wahrgenommen Kontinents
blickten Mediziner über den Atlantik nach Europa, während Sittlichkeitsformerinnen ihr Engagement ab 1914 zunehmend an die US-amerikanische Temperenzbewegung knüpften. Die Bewegungen in Montevideo und Buenos Aires erarbeiteten ihre eigenen, jedoch sehr ähnlichen Aktivitäten, Programmatiken und Maßnahmen, und standen dabei immer
auch in Auseinandersetzung mit Gegnern der Gesellschafts- bzw. Moralreform vor Ort, für die Wein ein wichtiger Bezugspunkt zu Europa darstellte. Alkoholismusdiskurs, Erziehungskampagnen und Gesetzesprojekte machen deutlich,
wie Mediziner und Sittlichkeitsreformerinnen in teils widersprüchlichen Prozessen der Aneignung und Abgrenzung gegenüber anderen nationalen Bewegungen und ‚eigenen‘ marginalisierten Bevölkerungsgruppen eine bürgerliche Nation verorteten.
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Abstract
‘Sober citizens for young nations’ analyzes the anti-alcohol activism of a global temperance movement in the cities of
Buenos Aires and Montevideo. It looks at the changing relationships within transnational networks and the meanings as
well as contradictions of this activism in relation to projects of nation-building in Argentina and Uruguay. Being the first
comprehensive study on this matter in the region, it goes beyond traditional, ‘national’ histories of alcohol. Instead, it focuses on transatlantic processes of negotiation over social reform. Between 1876 and 1933 medical experts shaped discourses
about alcoholism, classifying the latter as the first ‘modern’ form of addiction. Socialists took this knowledge up and sought
to convey ideas about the degenerative effects of alcohol consumption and the advantages of a working-class morality to male
workers. Social-conservative activists, too, initiated temperance campaigns. These mostly female activists tried to confirm
their middle- and upper-class positions in society through ‘civilizing’ working-class families under the framework of a particular female morality. To some women, female morality became a starting point for advocating women’s suffrage. Antialcohol activists of all persuasions identified a national civilizing mission as their common goal. They conceived of a society
divided by categories of race, class and gender, a notion that was shared by transnational activists like the missionaries of
the World Woman’s Christian Temperance Union. The interactions and negotiations between socialist and socialconservative activists show how national reformers positioned themselves between a North Atlantic ‘modernity’ and a supposedly backward South America. Despite being guided by different ideological and religious world-views, they all prescribed reforms against the ‘social illness’ alcoholism in ‘young’ nations and tried to alter habits like the consumption of
liquor and wine by propagating soberness as part of a bourgeois code of morality in a ‘civilized’ society. In conclusion, this
study suggests that reform movements were entangled in complex relationships that went beyond the limits of national
territories: since 1876, male medical experts gazed towards Europe from Buenos Aires and Montevideo, considered to be
the ‘centers’ within an otherwise ‘uncivilized’ continent, and from 1914 onwards, female moral reformers connected with
the US temperance movement. The movements in Buenos Aires and Montevideo developed their own, though similar,
approaches in activities, programs and actions against the background of adverse forces, such as the consumers of wine. The
latter opposed the idea of sobered, ‘europeanized’ nations at the River Plate. The discourse on alcoholism, educational
campaigns and legislative initiatives highlight how medical experts and moral reformers positioned their concept of ‘nation’
in a process of adaptation and dissociation towards other national movements and marginalized sections of their own society.
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