DE DE BERICHT

Europäisches Parlament
2014-2019
Plenarsitzungsdokument
A8-0297/2016
17.10.2016
BERICHT
über den Antrag auf Schutz der Vorrechte und der Immunität von Jane Collins
(2016/2087(IMM))
Rechtsausschuss
Berichterstatter: Tadeusz Zwiefka
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In Vielfalt geeint
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INHALT
Seite
VORSCHLAG FÜR EINEN BESCHLUSS DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS .......... 3
BEGRÜNDUNG ........................................................................................................................ 5
ERGEBNIS DER SCHLUSSABSTIMMUNG IM FEDERFÜHRENDEN AUSSCHUSS.... 12
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VORSCHLAG FÜR EINEN BESCHLUSS DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS
über den Antrag auf Schutz der Vorrechte und der Immunität von Jane Collins
(2016/2087(IMM))
Das Europäische Parlament,
–
befasst mit dem am 3. Mai 2016 von Jane Collins übermittelten und am 11. Mai 2016
im Plenum bekannt gegebenen Antrag auf Schutz ihrer Vorrechte und ihrer Immunität
im Zusammenhang mit einem beim High Court in London, Queen’s Bench Division
(Verwaltungsgericht), gegen sie anhängigen Zivilverfahren (Aktenzeichen
Nr. HQ14DO4882),
–
nach Anhörung von James Carver als Vertreter von Jane Collins gemäß Artikel 9
Absatz 5 seiner Geschäftsordnung,
–
gestützt auf die Artikel 7, 8 und 9 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und
Befreiungen der Europäischen Union und auf Artikel 6 Absatz 2 des Aktes vom
20. September 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder
des Europäischen Parlaments,
–
unter Hinweis auf die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 12. Mai
1964, 10. Juli 1986, 15. und 21. Oktober 2008, 19. März 2010, 6. September 2011 und
17. Januar 20131,
–
gestützt auf Artikel 5 Absatz 2 und die Artikel 7 und 9 seiner Geschäftsordnung,
–
unter Hinweis auf den Bericht des Rechtsausschusses (A8-0297/2016),
A.
in der Erwägung, dass Jane Collins im Zusammenhang mit einem beim High Court in
London, Queen’s Bench Division (Verwaltungsgericht), gegen sie anhängigen
Zivilverfahren den Schutz ihrer parlamentarischen Vorrechte und ihrer Immunität
gefordert hat;
B.
in der Erwägung, dass der Antrag erstens den Schutz des Rechts der Mitglieder des
Europäischen Parlaments nach Artikel 7 des Protokolls betrifft, bei ihrer Reise zum und
vom Tagungsort des Europäischen Parlaments keinen verwaltungsmäßigen oder
sonstigen Beschränkungen unterworfen zu werden;
C.
in der Erwägung, dass sich dieser Teil des Antrags darauf bezieht, dass Jane Collins
behauptet, sie sei durch die Terminierung des gegen sie eingeleiteten Gerichtsverfahrens
daran gehindert worden, zu Sitzungen des Parlaments zu reisen;
1
Urteil des Gerichtshofs vom 12. Mai 1964, Wagner/Fohrmann und Krier, 101/63, ECLI:EU:C:1964:28; Urteil
des Gerichtshofs vom 10. Juli 1986, Wybot/Faure und andere, 149/85, ECLI:EU:C:1986:310; Urteil des Gerichts
vom 15. Oktober 2008, Mote/Parlament, T-345/05, ECLI:EU:T:2008:440; Urteil des Gerichtshofs vom
21. Oktober 2008, Marra/De Gregorio und Clemente, C-200/07 und C-201/07, ECLI:EU:C:2008:579; Urteil des
Gerichts vom 19. März 2010, Gollnisch/Parlament, T-42/06, ECLI:EU:T:2010:102; Urteil des Gerichtshofs vom
6. September 2011, Patriciello, C-163/10, ECLI: EU:C:2011:543; Urteil des Gerichts vom 17. Januar 2013,
Gollnisch/Parlament, T-346/11 und T-347/11, ECLI:EU:T:2013:23.
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D.
in der Erwägung, dass Artikel 7 des Protokolls allerdings nicht auf Beschränkungen
Anwendung findet, die auf gerichtlichen Verfolgungsmaßnahmen beruhen, weil diese
durch die spezifischen Bestimmungen der Artikel 8 und 9 des Protokolls abgedeckt
sind1, und in der Erwägung, dass der Antrag auf Schutz des parlamentarischen
Vorrechts daher in Bezug auf Artikel 7 des Protokolls unzulässig ist;
E.
in der Erwägung, dass der Antrag zweitens den Schutz der Mitglieder des Europäischen
Parlaments nach Artikel 8 des Protokolls davor betrifft, wegen einer in Ausübung ihres
Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung in ein Ermittlungsverfahren verwickelt
oder festgenommen oder verfolgt zu werden;
F.
in der Erwägung, dass sich dieser Teil des Antrags darauf bezieht, dass gegen Jane
Collins im Vereinigten Königreich eine zivilrechtliche Klage auf Schadenersatz,
einschließlich Schadenersatz in einem besonders schweren Fall, aufgrund des Vorwurfs
der Verleumdung und der üblen Nachrede sowie eine Unterlassungsklage betreffend
eine Wiederholung der umstrittenen Äußerungen erhoben wurden;
G.
in der Erwägung, dass sich der Vorwurf der Verleumdung und üblen Nachrede auf
Anschuldigungen bezieht, die Jane Collins während eines Parteitags erhob;
H.
in der Erwägung, dass sich die nach Artikel 8 des Protokolls verliehene
parlamentarische Immunität nur auf Äußerungen bezieht, die die Mitglieder des
Europäischen Parlaments in Ausübung ihres Amtes machen;
I.
in der Erwägung, dass von Mitgliedern des Europäischen Parlaments außerhalb des
Europäischen Parlaments abgegebene Erklärungen nur dann als in Ausübung ihres
Amtes erfolgte Äußerungen betrachtet werden, wenn sie einer subjektiven Beurteilung
entsprechen, die in einem unmittelbaren und offenkundigen Zusammenhang mit der
Ausübung eines solchen Amtes steht2;
J.
in der Erwägung jedoch, dass kein unmittelbarer und offenkundiger Zusammenhang
zwischen den umstrittenen Äußerungen und den Pflichten von Jane Collins als Mitglied
des Europäischen Parlaments besteht, weil sie sich nicht auf ihre Tätigkeit als Mitglied
des Europäischen Parlaments oder auf die Politik der Europäischen Union beziehen und
im Rahmen einer nationalen politischen Debatte erfolgten;
K.
in der Erwägung, dass die umstrittenen Äußerungen somit nicht durch Artikel 8 des
Protokolls abgedeckt sind;
1.
beschließt, die Vorrechte und die Immunität von Jane Collins nicht zu schützen;
2.
beauftragt seinen Präsidenten, diesen Beschluss und den Bericht seines zuständigen
Ausschusses unverzüglich den Behörden des Vereinigten Königreichs, darunter auch
Herrn Richter Warby, zu übermitteln.
1
Urteil des Gerichts vom 15. Oktober 2008, Mote/Parlament, T-345/05, ECLI:EU:T:2008:440,
Randnummern 49 und 51.
2
Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2011, Patriciello, C-163/10, ECLI: EU:C:2011:543.
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BEGRÜNDUNG
I. HINTERGRUND
In der Sitzung vom 11. Mai 2016 gab der Präsident gemäß Artikel 9 Absatz 1 der
Geschäftsordnung bekannt, dass er einen Antrag von Jane Collins vom 3. Mai 2016 auf
Schutz ihrer Immunität erhalten hat.
Der Antrag hat folgenden Wortlaut:
„Ich fordere das Parlament höflich auf:
1. meine Immunität gemäß Artikel 8 (absolute Immunität) zu verteidigen und
2. meine Bewegungsfreiheit im Zusammenhang mit der Mitarbeit im Parlament und der
Ausübung meiner Aufgaben zu verteidigen.
Gegen mich wurde ein Gerichtsverfahren eingeleitet, weil ich in meiner Funktion als Mitglied
dieses Parlaments und in der Ausübung meiner Aufgaben eine Meinung geäußert habe. Wenn
gegen ein Mitglied Maßnahmen ergriffen werden, weil es im Zuge der Ausübung seines Amts
eine Meinung äußert, die im Interesse der Öffentlichkeit liegt, wird die Integrität des
Parlaments als demokratische gesetzgebende Versammlung untergraben.
Die zuständige Behörde hat keinen Antrag auf Verzicht auf diese Vorrechte und Befreiungen
eines Mitglieds des Parlaments gestellt.
Ich habe im Zuge dieses Gerichtsverfahrens alles mir mögliche getan, um mit den englischen
Gerichten zu kooperieren und ihnen meine Funktion als Mitglied des Europäischen
Parlaments und Vertreterin der Bürger meines Wahlkreises bewusstzumachen. Die beteiligten
Parteien lehnten es jedoch ab, meine Aufgaben und meine Verpflichtung zur Mitarbeit im
Parlament und zur Teilnahme an den Plenartagungen anzuerkennen. Dies wurde im
derzeitigen Verfahren sogar als ein erschwerender Faktor dargestellt.
Außerdem hat man versucht, mich unter Androhung eines Gerichtsbeschlusses in meiner
Reisetätigkeit zum Parlament in Brüssel und Straßburg und zurück einzuschränken.
Ich fordere Sie auch auf, die Anwendung der Immunität gemäß Artikel 9 für ein Mitglied des
Parlaments des Vereinigten Königreichs klarzustellen. Gemäß Artikel 9 stehen Mitgliedern
dieselben Vorrechte und Befreiungen zu, wie sie auch von den Parlamenten der
Mitgliedstaaten gewährt werden. Im Vereinigten Königreich gilt dieses Vorrecht nur auf dem
Grundstück des Westminster-Palasts. Mitglieder des Europäischen Parlaments haben nicht
das Recht, ihre Aufgaben im Westminster-Palast auszuüben. In meinem Fall ist Westminster
von dem Parlamentswahlkreis, den ich vertrete, weit entfernt.
In dem Gerichtsverfahren, das gegen mich angestrengt wurde, wurde eingeräumt, dass meine
Meinungsäußerung im Zuge der Ausübung meiner Aufgaben als Mitglied des Europäischen
Parlaments von dem Parlamentssender des Vereinigten Königreichs (UK Parliament Channel)
auf das Grundstück des Westminster-Palasts übertragen wurde.
Die wesentliche Anschuldigung im Rahmen des Gerichtsverfahrens gegen mich ist, dass ich
mit der Meinungsäußerung in dieser Übertragung auf dem Grundstück des WestminsterRR\1107207DE.docx
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Palasts den Ruf der Kläger geschädigt hätte.
Würden Sie bitte folgendes klarstellen:
1. Den Status einer Übertragung in einen gemäß Artikel 9 geschützten Bereich.
2. Welchen Status haben Mitglieder des Europäischen Parlaments aus dem Vereinigten
Königreich, denen das Recht auf die Ausübung dieses Vorrechts praktisch verwehrt wird?“
Laut der geänderten Klagebegründung im Auftrag von Herrn Richter Warby vom 29. April
2015 hat Frau Collins am 26. September 2014 auf dem Parteitag der UKIP-Partei in
Doncaster Worte gesprochen und veröffentlicht und die Veröffentlichung dieser Worte
gegenüber den Medien und der Öffentlichkeit verursacht (darunter auch auf dem Weg einer
Live-Übertragung der Veranstaltung im Parlaments-TV-Kanal der BBC), durch die die
klagenden Mitglieder des Parlaments des Vereinigten Königreichs verleumdet werden.
Laut der genannten Klagebegründung hat Frau Collins behauptet, die Kläger hätten Kenntnis
von vielen Details der sexuellen Ausbeutung von Kindern, die während eines Zeitraums von
sechzehn Jahren in Rotherham stattfand und bei der schätzungsweise 1400 Kinder von
Männern asiatischer Herkunft vergewaltigt, geschlagen, zum Konsum von Alkohol und
Drogen genötigt und gewalttätig bedroht wurden, gehabt, sie hätten sich jedoch bewusst dafür
entschieden, nicht einzugreifen, sondern zuzulassen, dass der Missbrauch fortgesetzt wird,
ihre Motive für dieses Vorgehen seien politische Korrektheit, politische Feigheit oder
politischer Egoismus gewesen, und sie hätten sich dadurch eines Fehlverhaltens schuldig
gemacht, das so gravierend sei, dass es kriminell sei oder sein sollte, weil es den Tätern
geholfen und ihrem Tun Vorschub geleistet habe und die Kläger ebenso schuldig mache wie
die Täter.
Die Kläger streben Schadenersatz, einschließlich Schadenersatz in einem besonders schweren
Fall, wegen Verleumdung und übler Nachrede sowie eine Unterlassungsanordnung betreffend
jede weitere Veröffentlichung an.
Frau Collins wurde vom Rechtsausschuss zu einer Anhörung eingeladen, sie entschied sich
jedoch dafür, sich von Jim Carver, MdEP, vertreten zu lassen.
II. DIE RECHTSLAGE
a) Die Verträge
Protokoll Nr. 7 zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union
„Artikel 7
Die Reise der Mitglieder des Europäischen Parlaments zum und vom Tagungsort des
Europäischen Parlaments unterliegt keinen verwaltungsmäßigen oder sonstigen
Beschränkungen.
Die Mitglieder des Europäischen Parlaments erhalten bei der Zollabfertigung und
Devisenkontrolle
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a) seitens ihrer eigenen Regierung dieselben Erleichterungen wie hohe Beamte, die sich in
offiziellem Auftrag vorübergehend ins Ausland begeben;
b) seitens der Regierungen der anderen Mitgliedstaaten dieselben Erleichterungen wie
ausländische Regierungsvertreter mit vorübergehendem offiziellem Auftrag.
Artikel 8
Wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung dürfen
Mitglieder des Europäischen Parlaments weder in ein Ermittlungsverfahren verwickelt noch
festgenommen oder verfolgt werden.
Artikel 9
Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments
a) steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den
Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu,
b) können seine Mitglieder im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats weder festgehalten
noch gerichtlich verfolgt werden.
Die Unverletzlichkeit besteht auch während der Reise zum und vom Tagungsort des
Europäischen Parlaments.
Bei Ergreifung auf frischer Tat kann die Unverletzlichkeit nicht geltend gemacht werden; sie
steht auch nicht der Befugnis des Europäischen Parlaments entgegen, die Unverletzlichkeit
eines seiner Mitglieder aufzuheben.“
b) Die Rechtsprechung des Gerichtshofes
Mote/Parlament1
48 Der Gerichtshof hat für Recht erkannt, dass Art. 7 Abs. 1 des Protokolls den
Mitgliedstaaten verbietet, u. a. auch durch ihre Besteuerungspraktiken, die Reisefreiheit der
Mitglieder des Parlaments verwaltungsmäßigen Beschränkungen zu unterwerfen (Urteil des
Gerichtshofs vom 15. September 1981, Bruce of Donington, 208/80, Slg. 1981, 2205,
Randnr. 14). Wie diese Vorschrift bestimmt, soll das Vorrecht gewährleisten, dass die
Mitglieder des Parlaments ihre Freiheit, sich zum Tagungsort des Parlaments zu begeben und
von dort zurückzukehren, ausüben können.
49 Es ist jedoch zu unterstreichen, dass diese Beschränkungen, auch wenn sie in Art. 7 Abs. 1
des Protokolls, der sich auf verwaltungsmäßige „oder sonstige“ Beschränkungen bezieht,
nicht abschließend aufgeführt sind, die Beschränkungen nicht einschließen, die auf
gerichtlichen Verfolgungsmaßnahmen beruhen, da diese in den Anwendungsbereich des
Art. 9 fallen, der die rechtliche Regelung der Immunität außerhalb des in Art. 8 geregelten
spezifischen Bereichs von Abstimmungen und Äußerungen der Parlamentarier in Ausübung
ihres Amtes festlegt. Die gerichtliche Verfolgung ist nämlich in Art. 9 Abs. 1 Buchst. b des
Protokolls ausdrücklich unter den Maßnahmen genannt, von denen das Mitglied des
Parlaments im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats als des eigenen während der
Dauer der Sitzungsperiode des Parlaments freigestellt ist. Auch steht dem Mitglied des
1
Wie oben zitiert.
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Parlaments nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls während desselben Zeitraums im
Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Mitgliedern des Parlaments seines Staates
zuerkannte Immunität zu, die die nationalen Parlamentarier gegen strafrechtliche Verfolgung
schützt, die gegen sie gerichtet sein könnte. Schließlich sieht Art. 9 Abs. 2 vor, dass die
Immunität für die Mitglieder des Parlaments auch während der Reise zum und vom
Tagungsort des Parlaments besteht. Das Bestehen dieser Vorschrift, die wie Art. 7 Abs. 1 des
Protokolls die Mitglieder des Parlaments gegen Beeinträchtigungen ihrer Reisefreiheit
schützt, bestätigt, dass die in der letztgenannten Vorschrift genannten Beschränkungen nicht
alle möglichen Beeinträchtigungen der Reisefreiheit der Mitglieder des Parlaments umfassen
und dass, wie die vorstehend geprüften Regelungen in Art. 9 zeigen, anzunehmen ist, dass die
Strafverfolgung unter die durch den letztgenannten Artikel geschaffene rechtliche Regelung
fällt.
50 Art. 9 des Protokolls soll somit die Unabhängigkeit der Mitglieder des Parlaments
dadurch sicherstellen, dass er verhindert, dass während der Dauer der Sitzungsperiode des
Parlaments auf sie Druck in Form von Drohungen mit Festnahme oder gerichtlicher
Verfolgung ausgeübt werden könnte (Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 2. Mai
2000, Rothley u. a./Parlament, T--17/00 R, Slg. 2000, II-2085, Randnr. 90).
51 Art. 7 des Protokolls soll die Mitglieder des Parlaments gegen andere als gerichtliche
Beschränkungen ihrer Reisefreiheit schützen.
Strafverfahren gegen Aldo Patriciello1
[Eine] von einem Europaabgeordneten außerhalb des Europäischen Parlaments abgegebene
Erklärung, die in seinem Herkunftsmitgliedstaat zu einer strafrechtlichen Verfolgung wegen
falscher Anschuldigung geführt hat, [stellt] nur dann eine in Ausübung seines
parlamentarischen Amtes erfolgte Äußerung [dar], die unter die in dieser Vorschrift
vorgesehene Immunität fällt, wenn sie einer subjektiven Beurteilung entspricht, die in einem
unmittelbaren und offenkundigen Zusammenhang mit der Ausübung eines solchen Amtes
steht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob diese Voraussetzungen im
Ausgangsverfahren vorliegen.
c) Die Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments
„Artikel 6
Aufhebung der Immunität
1. Bei der Wahrnehmung seiner Befugnisse hinsichtlich der Vorrechte und Immunitäten
handelt das Parlament so, dass es seine Integrität als demokratische gesetzgebende
Versammlung bewahrt und die Unabhängigkeit seiner Mitglieder bei der Wahrnehmung ihrer
Aufgaben sicherstellt. Jeder Antrag auf Aufhebung der Immunität wird gemäß den Artikeln 7,
8 und 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union und nach
den Grundsätzen dieses Artikels geprüft.
1
Wie oben zitiert, Randnr. 41.
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Artikel 7
Schutz der Vorrechte und der Immunität
3. Ein Antrag auf Schutz der Vorrechte und der Immunität eines Mitglieds ist unzulässig,
wenn ein Antrag auf Aufhebung oder Schutz der Immunität dieses Mitglieds bereits in Bezug
auf das gleiche Verfahren eingegangen ist, unabhängig davon, ob zu diesem Zeitpunkt ein
Beschluss gefasst wurde oder nicht.
4. Ein Antrag auf Schutz der Vorrechte und der Immunität eines Mitglieds wird nicht weiter
geprüft, wenn ein Antrag auf Aufhebung der Immunität dieses Mitglieds in Bezug auf das
gleiche Verfahren eingeht.
5. In Fällen, in denen ein Beschluss gefasst wurde, die Vorrechte und die Immunität eines
Mitglieds nicht zu schützen, kann das Mitglied unter Vorlage neuen Beweismaterials einen
Antrag auf Überprüfung des Beschlusses stellen. Der Antrag auf Überprüfung ist unzulässig,
wenn gemäß Artikel 263 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union gegen
den Beschluss Klage erhoben wurde oder wenn der Präsident die Auffassung vertritt, dass
das neu vorgelegte Beweismaterial nicht hinreichend substantiiert ist, um eine Überprüfung
zu rechtfertigen.“
b) Anwendbares nationales Recht
Im Vereinigten Königreich bezieht sich der Schutz durch das Vorrecht der Freiheit der Rede
auf die Äußerungen, die im Zuge der Debatten in den beiden Kammern getätigt werden. In
Artikel 9 der Bill of Rights aus dem Jahr 1689 heißt es: Die Freiheit der Rede sowie der Inhalt
von Debatten oder Beratungen im Parlament sollte an keinem Gerichtshof und an keinem
anderen Ort außerhalb des Parlamentes unter Anklage oder in Frage gestellt werden („The
freedom of speech and debates or proceedings in Parliament ought not to be impeached or
questioned in any court or place out of Parliament“). Das Wort „Beratungen“ (proceedings)
wird weit gefasst ausgelegt als die Äußerungen und Handlungen in den formellen Verfahren
der beiden Kammern oder ihrer Ausschüsse, einschließlich von Gesprächen, schriftlichen
Dokumenten und anderen Unterlagen, die mit diesen Verfahren in unmittelbarem
Zusammenhang stehen. Das parlamentarische Vorrecht gilt allerdings nicht für Äußerungen
außerhalb des Parlaments1.
II. BEGRÜNDUNG DES VORGESCHLAGENEN BESCHLUSSES
a) Artikel 7 des Protokolls
Frau Collins macht geltend, sie sei durch das gegen sie eingeleitete Gerichtsverfahren daran
gehindert worden, zu Sitzungen des Parlaments zu reisen, was einen Verstoß gegen Artikel 7
des Protokolls darstellt.
Aus dem Urteil in der Rechtssache Mote geht jedoch eindeutig hervor, dass Artikel 7 des
Protokolls nicht auf Beschränkungen Anwendung findet, die auf gerichtlichen
Verfolgungsmaßnahmen beruhen, weil diese durch die spezifischen Bestimmungen der
Artikel 8 oder 9 des Protokolls abgedeckt sind.
1
Vgl. das Handbuch über die Unvereinbarkeiten und die Immunität der Mitglieder des Europäischen Parlaments
– April 2014, GD IPOL, Fachabteilung C.
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Der Antrag auf Schutz des parlamentarischen Vorrechts ist daher in Bezug auf Artikel 7 des
Protokolls unzulässig.
b) Artikel 8 des Protokolls
Ferner muss der Schutz der Mitglieder des Europäischen Parlaments nach Artikel 8 des
Protokolls betrachtet werden, wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder
Abstimmung in ein Ermittlungsverfahren verwickelt oder festgenommen oder verfolgt zu
werden.
Dieser Teil des Antrags bezieht sich darauf, dass gegen Jane Collins im Vereinigten
Königreich eine zivilrechtliche Klage auf Schadenersatz, einschließlich Schadenersatz in
einem besonders schweren Fall, aufgrund des Vorwurfs der Verleumdung und der üblen
Nachrede sowie eine Unterlassungsklage betreffend eine Wiederholung der umstrittenen
Äußerungen erhoben wurde.
Der Vorwurf der Verleumdung und der üblen Nachrede betrifft Anschuldigungen, die Jane
Collins während einer Rede auf einem Parteitag erhob und die an die Medien und die
Öffentlichkeit weitergeleitet wurden (darunter auch auf dem Weg einer Live-Übertragung der
Veranstaltung im Parlaments-TV-Kanal der BBC).
Allerdings ist zu beachten, dass sich die nach Artikel 8 des Protokolls verliehene
parlamentarische Immunität nur auf Äußerungen bezieht, die die Mitglieder des Europäischen
Parlaments in Ausübung ihres Amtes machen.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs werden von Mitgliedern des Europäischen
Parlaments außerhalb des Europäischen Parlaments abgegebene Erklärungen nur dann als in
Ausübung ihres Amtes erfolgte Äußerungen betrachtet, wenn sie einer subjektiven
Beurteilung entsprechen, die in einem unmittelbaren und offenkundigen Zusammenhang mit
der Ausübung eines solchen Amtes steht1. Es besteht jedoch kein unmittelbarer und
offenkundiger Zusammenhang zwischen den umstrittenen Äußerungen und den Pflichten von
Frau Collins als Mitglied des Europäischen Parlaments, weil sich die Äußerungen nicht auf
ihre Tätigkeit als Mitglied des Europäischen Parlaments oder auf die Politik der Europäischen
Union beziehen und im Rahmen einer nationalen politischen Debatte erfolgten.
Die umstrittenen Äußerungen sind somit nicht durch Artikel 8 des Protokolls abgedeckt.
b) Artikel 9 des Protokolls
Frau Collins scheint zu implizieren, dass Artikel 9 des Protokolls auf ihren Fall anwendbar
sein könnte. Einzelne Abgeordnete des Parlaments des VK genießen jedoch keine Immunität
vor straf- oder zivilrechtlicher Verfolgung. Der Gemeinsame Ausschuss zu parlamentarischen
Vorrechten fasste 1999 die anwendbaren Regelungen wie folgt zusammen: „Ist ein
Abgeordneter einer Straftat angeklagt, ist keine Aufhebung der Immunität erforderlich. Wenn
ein Abgeordneter inhaftiert ist und nicht an den parlamentarischen Sitzungen teilnehmen
kann, erwarten die Häuser lediglich, von diesem Umstand in Kenntnis gesetzt zu werden. Der
gleiche Ansatz gilt für die Räumlichkeiten, in denen das Parlament zusammenkommt. Eine
innerhalb des Parlaments begangene Straftat ist vor Gericht verhandelbar. Ein Abgeordneter
1
Siehe die oben zitierte Rechtssache Patriciello.
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kann innerhalb des Parlaments festgenommen werden.“1
Selbstredend kann Artikel 9 der Bill of Rights nicht über Artikel 9 des Protokolls auf sie
angewendet werden, weil Artikel 9 der Bill of Rights in seiner Funktion identisch mit
Artikel 8 des Protokolls ist, sein Zweck jedoch nur darin besteht, die Mitglieder des
nationalen Parlaments zu schützen.
Artikel 9 des Protokolls ist daher nicht einschlägig.
II. FAZIT
In Anbetracht der obenstehenden Ausführungen gibt es keine Grundlage dafür, die Immunität
von Frau Collins zu schützen.
1
Bericht des Gemeinsamen Ausschusses zu parlamentarischen Vorrechten vom 9. April 1999, Abs. 242, zitiert
im Handbuch über die Unvereinbarkeiten und die Immunität der Mitglieder des Europäischen Parlaments –
April 2014, GD IPOL, Fachabteilung C.
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ERGEBNIS DER SCHLUSSABSTIMMUNG
IM FEDERFÜHRENDEN AUSSCHUSS
Datum der Annahme
12.10.2016
Ergebnis der Schlussabstimmung
+:
–:
0:
Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung
anwesende Mitglieder
Joëlle Bergeron, Marie-Christine Boutonnet, Jean-Marie Cavada,
Kostas Chrysogonos, Therese Comodini Cachia, Mady Delvaux, Enrico
Gasbarra, Lidia Joanna Geringer de Oedenberg, Mary Honeyball, Gilles
Lebreton, António Marinho e Pinto, Emil Radev, Evelyn Regner, Pavel
Svoboda, Axel Voss, Tadeusz Zwiefka
Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung
anwesende Stellvertreter
Pascal Durand, Heidi Hautala, Sylvia-Yvonne Kaufmann, Virginie
Rozière
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