Interview - Thüringer Landtag

TA-Interview vom 19. Oktober 2016
zur dimap-Umfrage „Thüringer Identität und Heimatverbundenheit“
Herr Carius, der Landtag hat gerade eine Umfrage zum Heimatempfinden der Thüringer gemacht –
was hat Sie überrascht?
Zum einen die Vielschichtigkeit des Begriffes und zum anderen die Offenheit, die in der Aussage zum
Ausdruck kommt: Heimat ist Kindheit, Familie, Landschaft und vieles mehr. Thüringer ist, wer sich als
Thüringer oder Thüringerin fühlt. Die hohe Identifikation mit Heimat zeigt ein Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit, und das weit weg von jeglicher Folklore oder Heimattümelei, wie sie Heimatschlager oder –filme gern vorgeben.
Aber was ist Heimat dann?
Die Antwort darauf wirft auch politische Fragen auf. Was heißt das für Politik, für politische Entscheider? In einer so beschleunigten Welt mit vielen Problemen, muss sich Politik Gedanken darüber machen, wie das Heimatempfinden der Bürger für nachfolgende Generationen gesichert werden kann.
Dafür müssen die aktuellen Überfremdungsängste ernst genommen werden. Wenn also Bürger nicht
in Städten leben wollen, in denen die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund schon
deshalb nicht funktionieren kann, weil es einfach zu viele sind, dann darf die Politik das nicht einfach
ignorieren.
Dann würde der Heimat-Begriff zu einem Begriff der Abgrenzung?
Es geht nicht um Abgrenzung, sondern um Identifikation. Bei Flüchtlingen, die zu uns kommen, muss
die Frage erlaubt sein, welche Integrations- und Identifikationsleistung wir von ihnen erwarten. Das
Bekenntnis zu unseren Werten und zu unserer Verfassung ist nur ein erster Schritt. Insofern halte ich
den Vorschlag von Quotierungen als einer Integrationsvoraussetzung für nachdenkenswert. Danach
sollte der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund beispielsweise in Schulklassen nicht über
25 Prozent betragen. So kann Integration gelingen und Parallelgesellschaften werden vermieden. Die
Thüringer sind sehr weltoffen, haben aber auch ein hohes Bewusstsein für ihre Traditionen und Kultur.
Für die einen ist Heimat eine Region, in der sie zuhause sind, für andere ist es der Ort an dem man
sich wohl und angenommen fühlt, wo man Freunde hat. Was ist es für Sie?
Sich angenommen und wohl zu fühlen in familiärer Atmosphäre, ist für mich absolut elementar. Darüber hinaus sind Heimat für mich auch die Orte, in denen ich aufgewachsen bin und wo ich unterschiedliche Erfahrungen gemacht habe. Landschaften prägen. Am Ende ist Heimat immer auch regional.
Sie haben Ihre Nordthüringer Heimat früh verlassen und sind als Jugendlicher vier Jahre In Pforta
zur Schule gegangen – hatten Sie Heimatweh?
Wenn man als 14-Jähriger in ein Internat geht, wäre es unnormal, kein Heimweh zu haben. Letztlich
ist mir auch Pforta Heimat geworden, ich fahre da noch heute gern hin. Man hat eben nicht nur die
eine Heimat. Das heißt aber für mich als Politiker auch, dass wir mit dem Bedürfnis der Menschen
nach Heimat etwas Sinnvolles anfangen müssen. Traditionen stärken, Junge Leute ermuntern, sich
ihre ganz eigenen Erfahrungsraum von Heimat zu erschließen.
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Wenn jeder unter Heimat verstehen kann, was er denkt, wie kann man Heimat dann überhaupt
politisch fassen?
Heimat ist ein sehr facettenreicher Begriff. Interessanterweise gibt es den Begriff so in anderen Ländern nicht. Das englische Homeland beispielsweise meint nur die Region. Aber so diffus der Heimatbegriff vielleicht sein mag, trotzdem können wir damit positiv umgehen. Wir müssen nicht nach Bayern schauen, wo das Heimatgefühl eine große Rolle spielt. Wir sind hier vielleicht, auch durch die
DDR-Tradition, anders sozialisiert. Wir können genauso stolz auf unsere Thüringer Heimat sein. Was
mich aber stört, ist das heute Leute den Untergang des christlichen Abendlandes beschwören, aber
nicht im mindesten eine Vorstellung vom christlichen Glauben haben.
AfD und Pegida reiten auf dem Heimatbegriff herum und Grenzen jeden aus, der da angeblich nicht
dazugehört. Ist Ihre Umfrage eine Antwort darauf?
Die Umfrage-Ergebnisse zeigen es: Die Thüringer sehen das anders als Pegida und AfD. In Deutschland haben 20 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund. Was also ist das deutsche Volk,
von dem da so gern die Rede ist? Traditionell ist Deutscher, wer deutsche Vorfahren hat. Allerdings
ist das Staatsangehörigkeitsrecht mehrfach überarbeitet worden. Die Thüringerinnen und Thüringer
sehen das laut Umfrage sehr offen. Thüringer ist, wer sich als Thüringer fühlt, sagt eine Mehrheit.
Wenn schon jetzt jeder Fünfte einen Migrationshintergrund hat, und das zum Teil über mehrere Generationen, funktioniert der Homogenitätsanspruch nicht mehr.
Gefragt haben Sie, ob sich die Menschen eher als Thüringer, Ostdeutsche, Deutsche oder Europäer
fühlen – kann all das auch Heimat sein?
Das ist eine Frage der Perspektive. Ist man in Thailand oder Japan unterwegs, fühlt man sich eher als
Europäer und Deutscher. In Deutschland ist man Thüringer. Dass sich die Thüringer jedenfalls nicht
mehr als abgehängte Ostdeutsche sehen, ist für mich ein Grund zu starkem Selbstbewusstsein.
Man stößt bei Heimat immer wieder auf Bezüge zur Vergangenheit. Ist Heimat da, wo wir herkommen oder da wo wir hinwollen?
In dem Begriff steckt beides. Für die Politik stellt sich die entscheidende Frage, was müssen wir dafür
tun, dass dieses Land der Ort ist und bleibt, in dem Menschen ihre Zukunft zubringen wollen. Es ist
unsere Heimat und die unserer Kinder und Kindeskinder.
Was wollen Sie bewahren und was wollen Sie ändern?
Ich finde zum Beispiel das Vereinsverständnis in Deutschland sehr erhaltenswert. Es bringt Menschen
mit Gemeinsinn zusammen, ob nun bei der Freiwilligen Feuerwehr oder im Sport. Chorfeste, Bergmannstraditionen gehören zu unserer Kultur. In unserer Umfrage sagten 43 Prozent, Kirchen und
Religionsgemeinschaften prägten ihr Heimatgefühl. Das gehört zum Heimisch-fühlen. Ungern bewahren würde ich mir das Gefühl, dass uns das zu besseren Menschen macht. Es macht uns allenfalls
eigen und besonders.
Heimat ist auch da, wo es vertraut nach Bratwurst riecht und nach Klößen schmeckt. Geht Heimat
am Ende durch den Magen?
Absolut. Die Bratwurst stand und steht für Thüringen.
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Apropos Religion: Gehören auch Moscheen irgendwann zur Thüringer Heimat?
Sie gehören zur Religionsfreiheit. Das gilt aber meines Erachtens nicht für das Minarett, das nicht
unserer Identität entspricht. Vielleicht ist das in einigen Jahrzehnten ja mal anders.
Das empfinden Muslime, die in Thüringen heute ihre Heimat sehen, sicher anders?
Das mag sein. Aber das gehört zur Akzeptanz unserer Werte und Kultur. Wir sind kein muslimisches
Land.
Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Vertreibungen, Millionen Menschen haben ihre Heimat verloren und anderswo eine neue Heimat gefunden. Junge Leute studieren heute in aller Welt
und bleiben dort – wird das, was man unter Heimat versteht, immer schnelllebiger?
Die Heimatverluste des letzten Jahrhunderts hatten wenig mit freiwilligen Entscheidungen zu
tun. Wer eine neue Heimat findet, vergisst deshalb seine alte Heimat nicht. Diese Verbundenheit
bleibt, das steht für mich trotz Reise- und Wahlfreiheit außer Frage. Und dann sind wir eben auch
ganz schnell bei den Thüringern, die vielleicht zurück wollen und denen wir den Weg nach Hause
ebnen müssen.
Wir erleben hier in Ostdeutschland immer noch und wieder Menschen, die glauben, mit der DDR
auch Heimat verloren zu haben. Haben Sie dafür Verständnis?
Ja. Für viele Menschen hat sich das Leben nach der Wende komplett verändert. Sie haben ihre Arbeit
verloren, mussten sich neu orientieren, beruflich und auch privat. Das Leben, das sie bis dahin kannten, gab es nicht mehr. Dadurch kann sicherlich das Gefühl entstehen, Geborgenheit verloren zu haben. Das ist aber nur noch ein Thema älterer Generationen.
Weil Sie die Älteren erwähnen. Viele leben auf dem Land, haben aber das Gefühl, dort immer mehr
abgeschnitten zu werden von Infrastruktur und Weiterentwicklung. Was ist zu tun, damit Heimat
auch auf dem Land Heimat bleibt?
Ich glaube, dass hier in Zukunft viel Flexibilität gefragt sein wird. Wir brauchen mehr Breitbandausbau, vernünftige Relationen bei den Kosten für Wasser, Energie und Verkehrswege. Schon in meiner
Zeit als Verkehrsminister ging es um praktikable kleine Lösungen, die nicht so teuer sind, aber dennoch Komfort und Lebensqualität sichern. Politik muss letztlich dafür sorgen, dass der ländliche Teil
des Landes eben nicht abgeschnitten wird. Es gibt dafür sicher Einzellösungen. Ich gebe aber zu, dass
eine Art Generalplan bisher fehlt.
Darf und muss Thüringen in Zukunft auch Heimat für Flüchtlinge sein?
Ich sehe uns primär zunächst nicht als Zuwanderungsland. Es ist wichtig, dass wir denen, die Schutz
suchen, diesen Schutz bieten. Bevor diese Menschen hier aber eine neue Heimat finden können,
müssen sie für sich klären, ob sie das wollen oder ob sie später wieder in ihre Heimat zurückkehren.
Mich stört aber die Diskussion, Flüchtlinge aus Eritrea oder Syrien sollten unser demografisches oder
unser Facharbeiter-Problem lösen. Das müssen wir schon selber in den Griff bekommen.
Wie bewerten Sie die Gebietsreformpläne der Landesregierung?
„Das Modell des Innenministers irritiert mich. Sollte es ernst gemeint sein, offenbart es eine Ignoranz
gegenüber den historisch gewachsenen und aktuell gelebten Verflechtungen.“
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Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?
„Nehmen Sie den Nordkreis. Das bisherige Sömmerda hat eine ganz klare Zuordnung zur Planungsregion Mittelthüringen. Das liegt daran, dass die Mehrheit der Menschen, die hier lebt, beruflich wie
auch privat, viel stärker auf die Mitte, beispielsweise auf die Städte Erfurt und Weimar ausgerichtet
ist. Ich bin gespannt, wie nun den Menschen erklärt wird, das entweder alle aus dem Umfeld Erfurts
nach Nordhausen für behördliche Besorgungen fahren sollen oder umgekehrt, jemand aus dem Harzer Vorland nach Sömmerda fahren soll. Wenn das funktionieren soll, spart man nichts ein und umgekehrt, sollte man versuchen etwas einzusparen, wird es nicht funktionieren.“
Die geplante Gebietsreform zerstört Heimat?
Ja. Denn letztlich bleiben Heimat und Identität auf der Strecke, wenn gewachsene Stärken unserer
lokalen und regionalen Strukturen in dem Entwurf der Landesregierung nicht ausreichend berücksichtigt werden. Das bereitet mir Sorgen.“
Welche Art von Heimat wünschen Sie sich für Ihre Tochter?
Eine Heimat, in der sie sich auf der einen Seite mit meiner Idee von Heimat möglichst identifizieren
kann und auf der anderen Seite offen ist für andere Kulturen und Erfahrungen. Das schärft auch das
Bewusstsein für das Eigene.