Manuskript Beitrag: Bahn-Kollisionen – Der vermeidbare Tod auf der Schiene Sendung vom 18. Oktober 2016 von Martin Gronemeyer und Kersten Schüßler Anmoderation: Es stimmt zwar: Bahnfahren ist vergleichsweise sicher. Es könnte aber sicherer sein. Denn längst gibt es ein Warnsystem, mit dem sich Zugunglücke wie in Bad Aibling verhindern ließen. Damals mussten zwölf Menschen sterben, 85 wurden verletzt, weil zwei Züge auf eingleisiger Strecke ineinander rasten. Mit dem Warnsystem hätten die Lokführer die Gefahr rechtzeitig erkennen können. Aber da war keins: Denn die meisten Bahnbetreiber haben die lebensrettende Technik aufs Abstellgleis geschoben. Martin Gronemeyer und Kersten Schüßler über den vermeidbaren Tod auf der Schiene. Text: Bad Aibling, am 9. Februar 2016. Der Faschingsdienstag wird zu einem Unglückstag. Auf eingleisiger Strecke rasen zwei Züge frontal aufeinander. O-Ton Thomas Staudinger, Unfallopfer Zugunglück Bad Aibling: Ungefähr eine halbe Minute, Minute sind wir gefahren, gefühlt. Und dann gab es eine Notbremsung, eine starke – sie war ungefähr eine Sekunde – und dann hat es schon gekracht. Ich hab immer noch im Kopf, wie das Metall sich verbiegt und das Plastik bricht. Und da dachte ich mir als erstes, ich bin der einzige, der lebt. Bis dann die ersten rumzukramen angefangen haben – zu stöhnen, schreien. Zwölf Menschen sterben. 85 werden verletzt, weil die Sicherheitssysteme versagten. Thomas Staudinger brach sich die Nase, hatte Verstauchungen, war monatelang in Psychotherapie. 30 Mal im Jahr stoßen mitten in Europa Züge zusammen. In Sachsen-Anhalt zum Beispiel rasen im Januar 2011 in Hordorf bei Oschersleben auf eingleisiger Strecke zwei Züge ineinander. O-Ton Stefan Karnop, Referatsleiter Eisenbahn Verkehrsministerium Sachsen-Anhalt: Zehn Tote, 23 Verletzte, sieben Millionen Euro Sachschaden und das unglücklicher Weise auf einer Strecke, wo eben das ansonsten übliche Zugsicherungssystem noch nicht eingebaut war und noch nicht aktiv war. Und so kam es dann zu diesem schweren Unfall und da haben wir dann überlegt, was kann man denn im Grunde genommen noch machen, um die Sicherheit zu verbessern. Die Schmalspurbahn im Harz. Hier lässt Referatsleiter Karnop ein Antikollisionssystem einbauen, auf Grundlage einer Technik, die sich im Flugverkehr bewährt hat. Bei der Fahrt auf den Brocken wird noch Kohle in den Dampfkessel geschippt. Auf der eingleisigen Strecke war bislang das einzige Sicherungssystem: der Blick des Lokführers aus dem Fenster. Doch jetzt unterstützt ihn ein Antikollisionssystem mit GPS. Wenn ein Zusammenstoß droht, warnt es. Egal, ob Signale falsch stehen oder Fahrdienstleiter abgelenkt sind. Dank der Warntechnik aus der Luftfahrt kann der Lokführer sofort selbst eingreifen. Fehlalarme habe es in dem Pilotprojekt bislang keinen gegeben, versichert Eisenbahnbetriebsleiter Jörg Bauer. O-Ton Jörg Bauer, Eisenbahn-Betriebsleiter Harzer Schmalspurbahn: Wir können es natürlich jetzt nicht vorführen, weil wir natürlich keinen potenziellen Zusammenstoß haben. Aber wir würden hier also eine Rotausleuchtung bekommen, also ein rotes, optisches Signal und zusätzlich würde es ein akustisches Signal in Form einer Hupe geben, die auch nicht ohne Weiteres auszuschalten ist, sodass der Lokführer und sein Heizer alarmiert werden und merken, jetzt müssen sie hier reagieren. Kosten für das Antikollisionssystem: rund 30.000 Euro pro Lok. Kosten insgesamt: nur etwa drei Millionen Euro. Ab Frühjahr 2017 sollen alle 47 Harzer Loks mit dem zuverlässigen und günstigen System fahren - für mehr Sicherheit auf den 140 Kilometern des Harzer Schmalspurnetzes. O-Ton Jörg Bauer, Eisenbahn-Betriebsleiter Harzer Schmalspurbahn: Wir gehen mal davon aus, wenn der Lokführer eine akustische und optische Warnung erhält, dann wäre er ja eigentlich ein Selbstmörder, wenn er nicht bremsen würde. Also, insofern denken wir, sollten solche Effekte erzielt werden, die wir uns hier wünschen. Ein zusätzliches, vom Fahrdienstleiter unabhängiges Sicherungssystem - das kann Leben retten. Ausgerechnet die Bayerische Oberlandbahn, zu der die Unglücksstrecke von Bad Aibling gehört, hatte das System bereits 2011 getestet. Der ehemalige Betriebsleiter verließ 2013 das Unternehmen, noch bevor er die Technik einführen konnte. O-Ton Heino Seeger, ehemaliger Eisenbahn-Betriebsleiter Bayrische Oberlandbahn: Ich bin überzeugt worden, dass man über bestimmte Bereiche doch nachdenken muss. Vor allen Dingen dann, wenn es neue Techniken gibt, die bestimmte Graubereiche klar werden lassen. Das heißt, eine zusätzliche Absicherung im menschlichen Bereich der menschlichen Entscheidungen nochmal zu überprüfen. O-Ton Frontal 21: Hätte so ein System so ein Unglück wie in Bad Aibling verhindern können? O-Ton Heino Seeger, ehemaliger Eisenbahn-Betriebsleiter Bayrische Oberlandbahn: Das hätte es – mit Sicherheit! Doch auf ein lebensrettendes Antikollisionssystem werden die Kunden der Bayrischen Oberlandbahn und die allermeisten Bahnreisenden noch lange warten müssen. Denn Politik und Bahnindustrie setzen auf ein anderes kompliziertes und teures Großprojekt von Siemens und anderen: ETCS. Ein europäisches Signalsystem, das, im Gleisbett fest verbaut, Loks in ganz Europa lenken und sichern soll. Doch bislang funktioniert ETCS nur auf wenigen Strecken – zu wenigen. Für den Geschäftsführer des größten unabhängigen Güterzugbetreibers in Deutschland, Henrik Würdemann, ist ETCS bislang keine Erfolgsgeschichte. O-Ton Henrik Würdemann, Captrain: Im Sommer letzten Jahres wurde in der Schweiz auf der Gotthard-Strecke ETCS eingeführt in einer neuen, leicht abweichenden Version von den Niederlanden. Das hat für uns dazu geführt, dass wir hier seitdem mit unseren Loks nicht mehr fahren können, weil es bislang nur einen Lokomotive-Typ gibt, für den ein ETCS verfügbar ist und auch zugelassen ist für diese Strecke. Das führt für uns dazu, dass wir kostspielig Umwege in Kauf nehmen müssen. Seit den 90ern wird ETCS entwickelt. Wie viel es bislang gekostet hat, weiß offenbar niemand so genau. Die Grünen nehmen an – Milliarden. Der verkehrspolitische Sprecher der Grünen, Matthias Gastel, kritisiert: In Deutschland gebe es bislang nur eine Strecke mit ETCS. Und die sei extrem störanfällig. O-Ton Matthias Gastel, B‘90/GRÜNE MdB: Wir hatten auch jetzt schon mehrfach den Fall, dass ICE- Züge liegen geblieben sind auf der Strecke, sie dann aber nicht ohne Weiteres abgeschleppt werden konnten, weil keine Lok zu finden war, die über ETCS verfügt und diese Strecke befahren darf. Bedeutet: teure, milliardenschwere Infrastruktur, die gebaut wurde, aber von den wenigsten Zügen genutzt werden kann. Das ist mit Sicherheit keine sinnvolle Investition. Bislang also nicht mehr Sicherheit trotz enormer Kosten. Das bestätigen ausgerechnet interne Dokumente der Deutschen Bahn, die Frontal 21 exklusiv vorliegen: Laut Bahn-eigenen Experten führt ETCS zu “hohen Investitionen und geringen Effekten”. Das System sei “in keinem der untersuchten Szenarien wirtschaftlich”, für die Sicherheit bleibe nur ein “geringer Nutzen”. Der ehemalige Betriebsleiter der Bayerischen Oberlandbahn zweifelt, ob ETCS überhaupt jemals auf Nebenstrecken wie in Bad Aiblingen eingebaut wird. O-Ton Heino Seeger, Geschäftsführer Tegernsee-Bahn: Ehe ETCS also in der flächendeckend deutschlandweit ist, vergehen 20 Jahre, wenn‘s gut geht, 50 Jahre oder nie kommt es an, weil dann die Strecke wirtschaftlich das nicht hergibt. Hinter dem komplizierten und teuren ETCS-System steht der Verband der Bahnindustrie. Der wiegelt ab, hält weiter fest an seinem Großprojekt. O-Ton Ben Moebius, Hauptgeschäftsführer Verband der Bahnindustrie in Deutschland: Es muss da schneller gehen, aber es ist sinnvoll, sich erst mal auf die Hauptstrecken, die Magistralen, zu konzentrieren und dann zu schauen, wie man ETCS in der gesamten Breite ausrollen kann. O-Ton Frontal 21: Bis wann wäre das denkbar? O-Ton Ben Moebius, Hauptgeschäftsführer Verband der Bahnindustrie in Deutschland: Also, die Ziele sind jetzt 2030 – wenn da noch etwas ehrgeiziger unterwegs wäre, wären wir gerne dabei. Also, noch bis 2030 - selbst, wenn man ehrgeizig ist. Doch auf unsere Nachfrage zu den exakten Ausbauzielen ist sich das Bundesverkehrsministerium sicher, Zitat: „(...), dass sich die Ausrüstungsverpflichtungen im vorgegebenen Zeitfenster nicht realisieren lassen.“ Das preiswerte und zuverlässige Antikollisionsystem mit GPS hingegen könnte schnell für mehr Sicherheit sorgen auf vielen Tausend Kilometern eingleisigen Nebenstrecken, sagt Heino Seeger. O-Ton Heino Seeger, Geschäftsführer Tegernsee-Bahn: Dieses Antikollisionsystem kann ich sofort bestellen und innerhalb Monatsfrist einbauen - sagen wir Jahresfrist. Thomas Staudinger hat Bad Aibling überlebt und erwartet, dass Bahnfahren sicherer wird. O-Ton Thomas Staudinger, Unfallopfer Zugunglück Bad Aibling: Mir würde so ein System sehr viel weiter helfen, da ich einfach beruhigter in den Zug steigen könnte. Und ich finde es sehr schade, dass das System nicht schon damals vor einem halben Jahr installiert war. Es hätte viele Menschenleben retten können und auch viele Trauma verhindern können. Bei der Harzer Schmalspurbahn sorgt das Antikollisionssystem ab 2017 auf allen Loks für mehr Sicherheit. Auf vielen Tausend Kilometer Bahnstrecke fährt die Gefahr weiter mit. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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