1 Freitag, 21.10.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Eleonore Büning Hohe Kunst der Parodie DANIEL BEHLE & SCHNYDER TRIO Mein Hamburg BERLIN CLASSICS 0300826BC Echtes Comeback JOHANN SEBASTIAN BACH French Suites MURRAY PERAHIA DG 479 6565 Delikate Zauberstimme BACH • TELEMANN SACRED CANTATAS PHILIPPE JAROUSSKY ERATO 0825646 491599 16 Ersteinspielungen ARNOLD SCHÖNBERG PIANO ARRANGEMENTS by WEBERN • BERG • BUSONI SCHÖNBERG • STEIN CLAUDIA BARAINSKY KONRAD JARNOT URS LISKA IRMELA ROELCKE GRAUSCHUMACHER PIANO DUO CAPRICCIO C 5277 Voller Kraft und Virtuosität 1B1 CLEMENS HAGEN HAYDN CELLO CONCERTO IN C MAJOR SIMAX classics PSC 1351 Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … mit Eleonore Büning, ich grüße Sie! È strano! Seltsam sind die Wege des Marketings: Vorgestern noch klagten alle über die Krise der Klassik und die Lücken im Parkett und über das Altern und Aussterben der Abonnenten. Die Parole hieß: „Kampf dem Silbersee“ und „Education“, „Event“ und „Crossover“. Aber dann, plötzlich, propagierte und entwarf man für die schrumpfende Kundschaft jede Menge neuer Konzertsäle. Nächste Woche weihen die Sinfoniker in Bochum ihren neuen Saal ein. Im März wird der von Frank Gehry entworfene Pierre-BoulezSaal in Berlin eröffnet werden, im April der nagelneue Konzertsaal im Dresdner Kulturpalast. Der dickste Brummer aber, natürlich auch der teuerste, das ist die Elbphilharmonie von „Herzog und De Meuron“, fällig in genau 81 Tagen, am 11. Januar. Die Hamburger, an sich nicht gerade als Konzertgänger berühmt, sind schon wahnsinnig aufgeregt. Da kommt diese neue CD hier, von dem Hamburger Tenor Daniel Behle, genau zur richtigen Zeit. Sie heißt: „Mein Hamburg“. Behle ist auch Komponist. Hier eine erste Kostprobe: „Grog & Rum“. 2 Daniel Behle: Grog und Rum (Schluckauf-Trio) 1:40 Das Schnyder Trio aus der Schweiz (mit dem Pianisten Oliver Schnyder, dem Geiger Andreas Janke und dem Cellisten Benjamin Nyffenegger) spielte eine Komposition von Daniel Behle, genannt „Grog & Rum“ – im Untertitel heißt das Stück: „Schluckauf-Trio“. Der Operntenor Daniel Behle, gebürtig aus Hamburg, der in der Schweiz lebt und nicht nur singt, sondern auch komponiert, hat, das war eben nicht zu überhören, einen starken Hang zum Küchenpersonal. Er neigt der sogenannten U-Musik zu, vorwiegend klassischen U-Musik-Schlagern, Evergreens. Allerdings hat er auch eine beachtliche „Winterreise“ von Schubert neu arrangiert, und er ist – gemeinsam mit seinem Freund, dem fabelhaften Pianisten Oliver Schnyder als Begleiter, – auch als Liedsänger viel unterwegs. Zum ersten Mal stellt Daniel Behle sich jetzt als Sänger u n d als Komponist vor auf dieser CD. Sie heißt: „Mein Hamburg“ und ist in jeder Hinsicht herrlich aus der Art geschlagen: Ein Wurf! Ein Knüller! Ein Juwel! Aber bevor wir weiterschunkeln mit Klabautermann Behle, ein Blick nach vorn: Gleich im Anschluss geht es dann um das überraschende Comeback des Pianisten Murray Perahia. Er hat das Label gewechselt, ist von der Sony zur Deutschen Grammophon gegangen und spielte Johann Sebastian Bachs „Französische Suiten“ ein. Anschließend ist ein ganz anderer Bach-Sound zu hören: Der Countertenor Philippe Jaroussky singt geistliche Kantaten von Bach und Georg Philipp Telemann, begleitet vom Freiburger Barockorchester. Viertens habe ich Ihnen Klavierbearbeitungen der zweiten Wiener Schule mitgebracht, eine Doppel-CD mit dem GrauSchumacher Piano Duo und Gästen – und mit vielen hochinteressanten Ersteinspielungen: von Arnold Schönberg vor allem, aber auch Ferruccio Busoni ist mit von der Partie. Und beschließen möchte ich die Sendung „Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ mit klassischer Musik der ersten Wiener Schule: Clemens Hagen, der Cellist vom Hagen Quartett, geht fremd. Er machte sich selbstständig als Solist und spielte BrillantKonzertantes von Haydn ein, zusammen mit dem jungen norwegischen Orchester „1B1“ und dessen Begründer, dem Geiger und Dirigenten Jan Bjøranger. Soweit das Musikprogramm in SWR2 für die nächsten eineinhalb Stunden. Wir bleiben vorerst im hohen Norden. Hier ist der Daniel Behle, mit seiner Hommage an Hamburg: Daniel Behle: Kennt Ihr schon Hamburg (Ausschnitt) 2:00 Nun ist Daniel Behle nicht Mario Lanza. Und allerdings ist auch Hamburg nicht Granada. Aber gewisse Ähnlichkeiten sind musikalisch nicht von der Hand zu weisen! Die sind auch absolut beabsichtigt, wie diese nordlichternde Verfremdung des alten Tenor-Schlagers „Granada“ von Agustin Lara zeigt. Daniel Behle und dem Schnyder Trio geht es bei ihrem neuen Hamburg-Lieder-Album um die hohe Kunst der Parodie. Wenn es auf dem Plattencover heißt: „Hamburg ist die schönste Stadt der Welt“ oder die Pressemeldung behauptet: „Vergesst Hans Albers, hier kommt Daniel Behle“ – dann darf man das nicht allzu alsterwasserernst nehmen, man sollte auf die Zwischentöne hören: Viel Selbstironie gibt es da, einige raffinierte Gemeinheiten und vor allem ein buchstäblich diebisches Vergnügen daran, Melodien zu klauen. Behle singt mit großer Opernstimme kleine Couplets und Gassenhauer, er dreht sie mit neuen Texten um in veritable Hamburg-Hymnen. Bedient sich bei den Beatles, bei Robert Stolz oder Jacques Offenbach, verirrt sich ins Wiener Kaffeehaus, schwärmt aus in die Operette. Dabei geht es ihm aber nicht um Liebesfreud- und leid, vielmehr um Gräten und um Möven, um Heringsund Walfang und um Markenprodukte, die von Hamburg aus die Welt erobert haben, zum 3 Beispiel das Schmuddelwetter oder den Steinway. Und natürlich reimt sich Sankt Pauli auf Gaudi! Die Texte schrieb sämtlich Behle selbst, auch das musikalische Arrangement für Klaviertrio. Es ist vom Feinsten. Dem Reeperbahn-Geschunkel werden quasi die höheren Weihen eines vielschichtigen klassischen Sounds verliehen. Ein Akkordeon zu verwenden, das wäre Behle viel zu naheliegend und billig gewesen! Aber ein echtes Hamburger Lied, ein einzies, hat er doch mitgenommen: Daniel Behle / Agustin Lara: „Auf der Reeperbahn“ (Ausschnitt) 1:15 Daniel Behle sang „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“. Begleitet wurde er vom Oliver-Schnyder-Trio: vom Pianisten Oliver Schnyder, dem Geiger Andreas Janke und dem Cellisten Benjamin Nyffenegger. Wie Behle im Interview verrät, haben alle vier bei den Aufnahmen „viel Spaß“ gehabt. Ja, das glaube ich gerne! Beim Hören hat man das aber auch! – Herausgekommen ist dieses Hamburg-Lieder-Machwerk beim Label BERLIN CLASSICS im Vertrieb von Edel. Kürzlich hat Murray Perahia das Plattenlabel gewechselt. Mit weitreichenden Folgen. Es war ja schon richtig still geworden um ihn, ja, es sah so aus, als sei die Karriere dieses Weltklassepianisten für immer vorbei; er hatte bereits, wie zur Ablenkung – vielleicht, damit die Presse nicht dauernd wieder die Sache mit seinem verletzten Daumen breitlatscht – mit dem Dirigieren angefangen. Doch wie gesagt, Perahia wechselte das Label. Er ging von der SONY zur Deutschen Grammophon. Die Wahl zwischen diesen beiden menschenfressenden Major-Labels, die nur einen Gott anbeten, nämlich die Quote, ist normalerweise die zwischen Skylla und Charybdis. In diesem Falle aber nicht. Denn plötzlich ist Murray Perahia wieder da. Nicht „in alter Frische“, wie man zu sagen pflegt; das wäre viel zu niedrig gehängt! Vielmehr: in „neuer Reife“ – und zu seinen eigenen Bedingungen. Perahia legt eine im Studio Nalepastraße in Berlin von Tonmeister Andreas Neubauer produzierte Aufnahme der „Französischen Suiten“ von Johann Sebastian Bach vor. Es handelt sich um ein echtes Comeback. Perahia weiß seine spezifische Fähigkeit, Töne zum Reden zu bringen, in dieser unverwechselbar unaufgeregten Kombination aus extremer Subjektivität und glasklarer Objektivität, noch einmal neu zu steigern. Hören wir hinein in die Suite Nr. 1 d-Moll: Johann Sebastian Bach: „Französische Suite“ Nr.1 d-Moll BWV 812, 1. und 2. Satz 5:20 Aus der „Französischen Suite“ Nr. 1 d-Moll BWV 812 von Johann Sebastian Bach spielte Murray Perahia: Allemande & Courante – einen deutschen Schreit-Tanz im Viervierteltakt und eine schnelle französische Courante, verspielt im ungeraden Takt: Hier sind es drei Halbe gewesen. Schlicht kommen diese sechs Suiten daher. Sie sind zwei- oder dreistimmig gesetzt, bestehen aus fünf bis sieben Tänzen, scheinbar „einfach“ zu spielen. Bach komponierte sie in Köthen, als er Hofkapellmeister des Fürsten Leopold von Anhalt war, und wirklich gehörten sie zum familiären Hausmusikschatz der Bachs, als Lehr- und Übungsstücke, wie die Abschriften von Anna Magdalena Bach zeigen. Aber, so sagt es Murray Perahia, man täusche sich nicht. Auch wenn Kinder das spielten können, so seien es doch wegweisende, erwachsene, „tiefgründige Werke“, in denen (als Vorstufe zu den Inventionen und dem Wohltemperierten Klavier) „jede einzelne Note eine tiefere Bedeutung“ habe. Jede Stimmführung ist, wie die Fortschreitung der Harmonien in diesen kurzen Tanzstücken, vom Kontrapunkt aus entwickelt und gedacht. Dazu ist interessant, was Bachs Schüler Johann Philipp Kirnberger sagt: 4 „Gute Tonlehrer haben ihre Schüler allezeit hauptsächlich zu Tanzstücken verschiedener Art angehalten … Die verschiedenen Taktarten, die mannigfaltigen Einschnitte, die deutlich markiert werden mussten, die jedem Tanzstück eigene Bewegung und Schwere oder Leichtigkeit im Vortrag, die Mannigfaltigkeit der Charaktere und des Ausdrucks gewöhnten … die Schüler an einen sprechenden, ausdrucksvollen und mannigfaltigen Vortrag. Nur der, welcher sich hinlänglich darin geübt hat, kann ein Muster im Gesang werden.“ – Soweit Kirnberger, anno 1771. Er muss dabei Murray Perahia im Sinn gehabt haben. Der ist ein „Muster im Gesang“ par excellence – ein Poet am Klavier, wie selten einer. Geboren in New York, wohnhaft in London, Spross einer sephardisch-jüdischen Familie, gefördert von Vladimir Horowitz, ausgebildet von Mieczyslaw Horszowski, ist Perahia mittlerweile 69 Jahre alt. Aber schon als er 25-jährig erstmals internationale Aufmerksamkeit auf sich zog beim Klavierwettbewerb in Leeds, bemerkten Publikum und Kritiker diesen besonderen, sprechenden Dichterton in seinem Klavierspiel. Musik als eine Sprache eigenen Rechts auffassen zu können – als „Sprache jenseits der Sprachen“, wie Robert Schumann es einmal nannte, das ist am Ende vielleicht doch eine Begabung und nicht lehrbar. Vermutlich wusste Perahia schon als Kind davon. Die fünfte der „Französischen Suiten“ von Bach, die in G-Dur, war das erste, was er siebenjährig von seinem Lehrer vorgelegt bekam, und es war seine erste Begegnung mit Bach überhaupt. Er hat sie sein Leben lang gespielt, diese Suite, jetzt also erstmals für die Platte. Wir hören daraus: Bourrée, Loure, Gigue. Johann Sebastian Bach: „Französische Suite“ Nr. 5 G-Dur BWV 816, 5., 6. und 7. Satz 6:35 Pure Lebensfreude! Das springt uns an aus dieser finalen Gigue aus der „Französischen Suite“ G-Dur Nr. 5 BWV 816, gespielt von Murray Perahia. Zuvor hörten wir, aus der nämlichen Suite: Bourrée und Loure. Bach selbst hatte seine Tanz-Suiten, ganz in der Tradition der französischen Cembalisten seiner Zeit, schlicht „Suites pour clavecin“ genannt. Warum man sie später umtaufte in „Französische Suiten“, auch wenn sie allesamt, jede einzelne, mit einer deutschen Allemande beginnen und mit einer geschwinden, punktierten, britischen Gigue endigen – darüber kann man nur spekulieren. Natürlich sind die französischen Clavecinisten, Couperin & Co, bei diesen kurzen Stücken das probate Vorbild Bachs gewesen, in einigen Sätzen kann man das auch heraushören. Murray Perahia persönlich ist sogar der Ansicht, dass die Verzierungen und Betonungen, etwa in den Sarabanden, auf französische Art notiert und zu spielen sind. Er selbst spielt alle Tanzsätze der „Französischen Suiten“ mit Wiederholungen und leistet sich improvisierte Verzierungen erst in der Reprise. Abgesehen natürlich von den Sätzen, in denen Bach selbst schon jede Menge Praller, Triller, Doppelschläge, Vorschläge und Mordente hineinmontiert hatte, wie in dieser Sarabande hier, aus der Suite h-Moll: Johann Sebastian Bach: „Französische Suite“ Nr. 3 h-Moll BWV 814, 3. Satz 2:50 Der Poet am Klavier. Murray Perahia spricht zu uns mit den Fingern, auf den Tasten. Sein Comeback feiert Perahia derzeit mit den „Französischen Suiten“ von Johann Sebastian Bach, eingespielt für die Deutsche Grammophon. Das Album kam am 7. Oktober heraus, im Vertrieb von Universal, und demnächst ist Perahia damit, erstmals seit langer Zeit wieder, auf Tournee. Leider gibt es keine Station in Deutschland. Nur in Luzern, in Paris, natürlich in London. Da haben die deutschen Konzertveranstalter mal wieder geschlafen. Dass Perahia seinen Bach, anders als Bach es vorschrieb, auf einem Steinway spielt, darüber regt sich heute niemand mehr auf. Heutzutage ist auf dem Gebiet der historisch informierten Aufführungspraxis fast alles legitim, Hauptsache, man macht es richtig. Sogar, dass eine Solo-Kantate Bachs, die ursprünglich für Bass komponiert wurde, jetzt von einem 5 falsettierenden Countertenor zu hören ist, das finden wir total normal. Hauptsache, es handelt sich um Philippe Jaroussky. Jaroussky hat, gemeinsam mit dem Freiburger Barockorchester unter Leitung von Petra Müllejans, ein neues Album mit Kantaten herausgebracht, die sich inhaltlich-thematisch alle um eines drehen: ums Sterben. Johann Sebastian Bach: „Ich habe genug“ BWV 82, „Ich habe genug“, „Schlummert ein, ihr matten Augen“ 11:40 Philippe Jaroussky sang, begleitet vom Freiburger Barockorchester, Rezitativ und Arie „Schlummert ein, ihr matten Augen“ aus der Kantate „Ich habe genug“ BWV 82 von Johann Sebastian Bach. Die Solo-Oboe spielte Anne-Kathrin Brüggemann, die Leitung hatte Petra Müllejans. Jaroussky singt beweglich und klangschön, sauber, engelsrein und ausdrucksstark, und wie elegant er die Register wechselt, fließend aus der Kopf- in die Bruststimme switcht und zurück, das macht ihm kein anderer Countertenor so schnell nach. Sie haben es gehört: Das Tempo nehmen die Freiburger ungewöhnlich getragen, da sind andere Einspielungen schneller. Und es gibt viele andere, die Konkurrenz für Jaroussky ist riesengroß. Diese SoloKantate, komponiert 1727 in Leipzig für das Fest „Mariae Reinigung“, ist eine der beliebtesten Bach-Kantaten überhaupt, sie wird sehr oft aufgeführt und wurde schon mehr als 100-mal eingespielt. Auch Johann Sebastian Bach selbst liebte diese Kantate besonders, er kam mehrfach darauf zurück und bearbeitete sie neu, einmal für Sopran, für Alt, einmal für Flöte statt der obligaten Oboe. Es ist nichts dagegen einzuwenden, auch eine Countertenor-Fassung davon zu erstellen. Im Studio freilich ist die Tatsache, dass Jarousskys delikate Zauberstimme ein wenig zu wenig Resonanz hat, gut auszugleichen. Sie spielt keine Rolle. Im Konzert mag sich das bemerkbar machen, da stünde er hinter einem Bass vermutlich zurück. Falls Ihnen das Tempo dieser Fassung soeben mit dem Freiburger Barockorchester zu langsam vorkam: Dies geschah freilich nicht mit Rücksicht auf den Sänger, der ist eher einer, der treibt, statt zu bremsen. Und in der letzten Arie der Kantate „Ich freue mich auf meinen Tod“ sind Tempo und Charakter naturgemäß flotter. Wunderbar, wie souverän dieser Sänger hier auf das Wort „Tod“ in die Bruststimme absteigt. Johann Sebastian Bach: „Ich habe genug“ BWV 82, „Ich freue mich auf meinen Tod“ 3:30 So endet die Kantate BWV 82 – in Dur: „Ich freue mich auf meinen Tod“. Philippe Jaroussky sang, leicht und fein begleitet vom Freiburger Barockorchester. Gekoppelt hat er diese BachKantate, die das Herzstück seiner brandneuen CD mit deutschen Kirchen-Kantaten bildet, zum einen mit „Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust“ BWV 170, was insofern bestens passt, als es auch hier um die Sehnsucht nach dem Jenseits geht, da das Diesseits, dieses weltliche „Sündenhaus“, vergiftet ist. Andererseits komplettiert Jaroussky das Programm mit zwei Kirchen-Kantaten aus der Passionszeit, in denen die Perspektive gewechselt wird: Nicht der von Christus erlöste Sünder singt, sondern besungen wird das Leiden Christie. Auch der Komponist wird gewechselt: Jetzt ist es Georg Philipp Telemann. Telemann komponierte viele kirchliche Solo-Kantaten, die dem Sänger geben, was des Sängers ist, nämlich Brillanz und Koloratur. Stilistisch sind die Unterschiede zu Bach allerdings enorm, und es kommt mir fast ein wenig ungerecht vor, dass diese beiden Komponisten hier, wenn auch aus naheliegenden thematischen Gründen, so direkt in Konkurrenz gestellt worden sind. Hören wir, im direkten Vergleich, hinein in das Finale der Kantate vom „Sterbenden Jesu“ TWV I:983. Wieder freut sich ein Sänger auf seinen Tod. 6 Georg Philipp Telemann: „Jesus liegt in letzten Zügen“ TWV I:983, „Darauf freuet sich mein Geist“ 2:15 Philippe Jaroussky sang, begleitet vom Freiburger Barockorchester, die Arie „Darauf freuet sich mein Geist“ aus der Kantate „Jesus liegt in letzten Zügen“ von Georg Philipp Telemann. Die deutsche Artikulation Jarousskys ist supergenau, auch idiomatisch kann man diese dramatische Barock-Arie kaum besser singen. Und überhaupt: Auch wenn inzwischen gute Countertenöre so massenhaft nachwachsen wie Hallimasche im Herbst, so steht Jaroussky, dieser Ausnahmesänger, immer noch als ein Solitär einsam an der Spitze dieser Zunft. Die Konzertveranstalter reißen sich um ihn. Gerade ist er als „Artist in Residence“ berufen worden für diese Saison an die zwar noch nicht eröffnete, aber schon munter Wellen schlagende Elbphilharmonie. Verlegt wurde Jarousskys neues Album mit Solo-Kantaten von Bach und Telemann vom Label ERATO, im Vertrieb von WARNER CLASSICS. SWR2, Sie hören „Treffpunkt Klassik – Neue CDs“, heute mit Eleonore Büning. Nicht weniger als 16 Ersteinspielungen gibt es auf dem Doppelalbum, das ich Ihnen als nächstes vorstellen möchte. Dabei sind weder die Stücke unbekannt, noch ist es der Komponist. Wie kann das sein? Nun, ganz einfach, dies ist eine Art „Abfallprodukt“. Vor Jahr und Tag hatte nämlich der Pianist und Liedbegleiter Urs Liska eine preisgekrönte Box herausgebracht mit sämtlichen Liedern von Arnold Schönberg. Er stieß nebenbei auf eine Fülle von Klavier-Bearbeitungen zu vier bis acht Händen, nach Werken Schönbergs. Wer, außer Liska, käme auf die Idee, so etwas einzuspielen? Arnold Schönberg: Sechs Orchesterlieder op. 8, „Sehnsucht“, bearbeitet für Klavier von Anton Webern 1:35 Das waren jetzt erstmal nur zwei Hände am Klavier, nämlich die von Urs Liska, er begleitete die Sopranistin Claudia Barainsky durch das Lied „Sehnsucht“ aus den sechs Orchesterliedern op. 8 von Arnold Schönberg, wobei das Orchester durch ein Klavier ersetzt wurde, und zwar studienhalber für Klavierbegleitung arrangiert von Anton Webern. Eine Ersteinspielung. Und damit ist die Frage eigentlich schon beantwortet: Wenn jemand sich die Mühe macht, diese spätromantischen Lieder einzustudieren und für Schallplatte aufzunehmen, dann wählt er natürlich die farbenreiche Orchesterfassung und nicht den Klavierauszug. Man weiß natürlich davon, dass viele solcher Bearbeitungen existieren. Für Schönberg und seine Kompositions-Schüler war das Arrangieren und Bearbeiten essentiell – noch hatte nicht jeder einen CD-Player daheim, mit dem er sich ganze Sinfonieorchester ins Wohnzimmer holen konnte. Im Zweifelsfalle sind die Originalversionen für eine Aufführung freilich viel ergiebiger. Doch Urs Liska, der nicht nur als Pianist und Liedbegleiter arbeitet, sondern auch als Musikwissenschaftler in die Archive abtaucht, der hat auch noch anderes im Sinn als nur den puren Schönberg-Schönklang. Er sagt: „Zwar weniger farbig als der Orchestersatz, ermöglicht der Klaviersatz dennoch interessante Einblicke in den Kern der Musik.“ Und so veröffentlicht Liska nun etliche interessante Fälle, die sonst durchs gefallen sind. Zum Beispiel diese Zwischenspiele hier, aus Arnold Schönbergs orchestersatten „Gurre-Liedern“: Die hat Anton Webern, studienhalber und zum Kennenlernen, für ein Schönberg-Konzert im Wiener Ehrbar-Saal anno 1910 arrangiert – für zwei Klaviere und sechs bis acht Hände, also drei bis vier Spieler. Arnold Schönberg: Gurre-Lieder, Zwischenspiele, arrangiert für zwei Klaviere zu sechs bis acht Händen von Anton Webern 3:25 7 In den „Gurre-Liedern“ von Arnold Schönberg, einer seiner letzten Abschiedsbeschwörungen spätromantischer Ästhetik, gibt es etliche orchestrale Überleitungen, von Szene zu Szene. Drei davon haben Sie soeben gehört, zur Kenntlichkeit entstellt, nämlich in der Klavierauszug-Fassung von Anton Webern. In allen drei Fällen handelt es sich um eine Ersteinspielung. Die Stücke sind kurz, sie wirken mit ihren offenen Schlüssen wie Fragmente. Trotzdem hat Webern erheblichen Aufwand geleistet, um den komplexorchestralen „Gurre-Lieder“-Sound richtig einzufangen. Vier Pianisten fordert seine Bearbeitung für Klavier zu acht Händen. Da dauert die Aufzählung aller Mitwirkenden beinahe länger, als das Stück. Es spielten: Andreas Grau und Götz Schumacher, bekannt als GrauSchumacher Piano Duo, außerdem Irmela Roelcke und Urs Liska. Liska war es, Pianist und Musikwissenschaftler, dem wir die Ausgrabung dieses „GurreLieder“-Arrangements verdanken. Es gibt noch mehr solche Skurrilitäten aus dem Komponierlabor der zweiten Wiener Schule auf diesem Album. Nicht alles, was Liska ausgrub und edierte, ist auch als, nun, sagen wir es so, „musikalisches Genussmittel“ konsumierbar. Aber interessant sind diese Stücke allemal. Zum Beispiel ist da auch Ferruccio Busoni vertreten, der große, von der Schallplattenindustrie schändlicherweise vergessene Jubilar des Jahres 2016. Busoni gehörte definitiv n i c h t zum SchönbergKreis. Doch im Sommer 1909 schickte ihm Arnold Schönberg zwei seiner Klavierstücke op. 11, die, so schrieb er dazu, „nur jemand spielen kann, der wie Sie mit seinen Sympathien auf der Seite all jener sind, die suchen“. Schönberg erwartete wohl, dass der gefeierte Pianist Busoni etwas für ihn tun könne, indem er die Stücke öffentlich aufführt. Busoni begann auch tatsächlich, sie zu studieren. Doch wenige Wochen später schreibt er an Schönberg von „ersten Bedenken … die wenige Breite des Satzes im Umfange der Zeit und des Raumes“ betreffend. Dann beichtet er, er habe Schönbergs op. 11 „unbescheidenerweise uminstrumentiert“. Denn: „Das Asketische des Klaviersatzes scheint mir ein unnützer Verzicht auf schon Errungenes. Sie setzen einen Wert anstelle eines früheren, anstatt den neuen mit diesem zu addieren. Sie werden anders, und nicht reicher.“ – Soweit Busoni an Schönberg. Man sieht: Diese beiden Künstler werden nicht zusammenkommen. Tatsächlich ist Ferruccio Busonis „Uminstrumentierung“ der Klavierstücke op. 11 auch keine Bearbeitung geworden, sondern eine eigenständige, große Busoni-Improvisation, er selbst nennt es: eine „Konzertmäßige Interpretation“. Ferruccio Busoni: „Konzertmäßige Interpretation“ von Arnold Schönbergs Klavierstück op. 11 Nr. 2 (Ausschnitt) 6:15 Urs Liska spielte aus einer „Konzertmäßigen Interpretation“, die Ferruccio Busoni 1909 schrieb, inspiriert vom Studium der Klavierstücke op. 11 von Arnold Schönberg. Diese Aufnahme finden Sie auf einem Doppelalbum mit Klavierbearbeitungen der zweiten Wiener Schule, ausgegraben von Urs Liska und eingespielt von ihm selbst, wozu er sich das GrauSchumacher Piano Duo eingeladen hat, außerdem von Fall zu Fall die Pianistin Irmela Roelcke und zwei Sänger, nämlich Claudia Barainsky und Konrad Jarnot. Das Label heißt CAPRICCIO, im Vertrieb von NAXOS. Das Hagen Quartett spielt schon seit den 70er Jahren zusammen. Es gehörte einmal zu den fraglos besten Streichquartettformationen der Welt und wurde mit Preisen überhäuft. Erst vorletzte Woche bekam das Hagen Quartett wieder einen Klassik-Echo überreicht, ich weiß nicht, der wievielte das ist. Aber wie beim Echo oft der Fall, wurde da nicht das Beste von heute prämiert. Beim Echo geht es immer zuerst um die Verkaufsquote. Da kriegen die Preise diejenigen, von denen man hofft, dass sie übermorgen zu den Besten oder vielmehr Bestverkauften gehören. Oder aber diejenigen, die gestern die Besten und berühmt waren. Das ist die komplexe Kunst des Marketings. 8 Was das Hagen Quartett anbetrifft, muss man leider sagen: Kenner und Liebhaber der Streichquartett-Musik (natürlich vor allem das Hagen Quartett selbst) wissen sehr genau, dass sie längst überholt worden sind von der jüngeren Quartett-Elite: von dem Ebène- oder Artemis- oder dem Kuss- oder dem Sonar-Quartett oder dem Quatuor Casals. Was die Qualität des Klangbildes anbelangt, ist die große Zeit der Hagens vorbei. Auf diesem Hintergrund muss man es wohl sehen, wenn jetzt die stärkste, die treibende Kraft dieser Formation ausschert und solistisch auftritt. Schon immer hat Clemens Hagen, der Cellist des Hagen Quartett, nebenbei auch Kammermusik gemacht – das machen alle so, das ist normal. Er spielte mit anderen Musikern, in wechselnden Formationen, unter anderem mit Renaud oder Gautier Capuçon. Und spielte gelegentlich auch Konzerte. Aber jetzt liegt eine neue Plattenaufnahme vor mit Clemens Hagen als Solist. Gemeinsam mit einem jungen Orchester aus Norwegen – dem von dem Geiger Jan Bjøranger gegründeten Orchester „1B1“ spielte Clemens Hagen das Cellokonzert C-Dur von Joseph Haydn ein, ein frühes Haydn-Konzert mit einer interessanten Editionsgeschichte, komponiert in den 1760er Jahren, voller Spielfreude und Eleganz. Das junge Orchester musiziert mit Emphase. Aber stilistisch ist da noch etwas Luft nach oben. Doch der Solist Hagen indes zeigt sich auf der Höhe seiner Kunst. Bewundernswürdig klar im Ausdruck, voller Kraft und Virtuosität, aber auch mit lyrischer Emphase. Allein, wie er die Kadenz im ersten Satz des Haydnschen Konzertes ausführt, das setzt Maßstäbe: Joseph Haydn: Cellokonzert C-Dur Hob. VIIb:1, 1. Satz 10:15 Clemens Hagen ist der Solist in diesem Cellokonzert C-Dur von Joseph Haydn. Er wurde durch den ersten Satz begleitet vom Orchester „1B1“ unter Leitung von Jan Bjøranger. Diese Aufnahme ist erschienen beim Label SIMAX, im Vertrieb von NAXOS. Die Sendung „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ geht damit für heute zu Ende. Am Mikrophon verabschiedet sich Eleonore Büning. Danke fürs Zuhören und – auf Wiederhören! Nähere Angaben zu den vorgestellten neuen CDs finden Sie im Internet unter www.swr2.de. Dort steht die Sendung auch noch eine Woche lang zum Nachhören. Hier in SWR2 geht es jetzt weiter mit dem Kulturservice, danach folgt „Aktuell“, mit den Nachrichten.
© Copyright 2025 ExpyDoc