nachhaltig gärtnern – ökologischer Gemüsebau im Kleingarten Anbau alter und seltener Kulturpflanzen zur Erhaltung der genetischen Vielfalt Dipl.-ING. AGR. GUnilla Lissek-Wolf Humboldt-Universität zu Berlin • Hintergrund • Praktische Sortenerhaltung • Resümee Was sind alte Sorten? • S orten in historischen Samenkatalogen und Gartenbüchern • Nach dem Saatgutgesetz nicht mehr zugelassen • „Traditionssorten“ Katalog Gustav Jensch & Co. 1906 Verlag Parey 1877 Im Handel seit ca. 1900, zugelassen 1937–1969 Im Handel seit 1890 bundesverband deutscher gartenfreunde e. v. – grüne schriftenreihe 248 17 Sind alte Gemüsesorten regional? Alte Sorten sind genetische Ressourcen Saatguthandel war überregional Alte Sorten sind Quellen von Variation für die Pflanzenzüchtung • Moderne Erdbeersorten gezüchtet auf Ertrag und Transporteignung • Genetischer Trichtereffekt Verlust der Gene für Aroma oder z. B. ‚Elsanta‘ fehlt Schlüsselsubstanz im Aromaprofil (Ulrich, JKI) • Gene für Aroma in ‚Mieze Schindler‘ • Genquelle für neue Züchtungen • Wenige Beispiele für regionale Sorten ‚Teltower Rübchen‘, Salat ‚Kasseler Strünkchen‘, ,ostfriesische Palme‘ • Zentren des Samenbaus namengebend Blumenkohl ‚Erfurter Zwerg‘, Stangenbohne ‚Quedlinburger Speck‘ • Sortenbezeichnungen „Markt“ als Werbung Hamburger Markt, Erfurter Markt, Berliner Markt, etc. Samenkataloge Haage & Schmidt, Erfurt Erhaltung von alten Arten und Sorten 1890 Kohlrabi, Wiener allerfrüheste Treib • A grobiodiversität fördern • Formen und Nutzungsvielfalt wiederbeleben • Ausgangsmaterial für die Pflanzenzüchtung sichern • Kulturelles Erbe bewahren 1892 Markerbse, Pride of the Market 1898 Kraut, Berliner grosses 1920 Kopfsalat, Erfurter Dickkopf Politische Rahmenbedingungen Was unterscheidet alte Sorten von aktuellen Zuchtsorten? Alte Sorten • Formen- und Farbenvielfalt, Aroma • Nicht an heutige Intensivkultur angepasst • Ertrag niedrig Internationale Verträge • Convention on Biological Diversity (CBD 1993) Biodiversität in der Agrarlandschaft nachhaltige Nutzung biologischer Vielfalt Erhaltung von pflanzengenetischen Ressourcen Nationale Programme Aktuelle Zuchtsorten • Hoher Ertrag, hochgradig homogen • Geeignet für agrarindustriellen Anbau • Robust, transport- und lagerfähig • Anteil Hybridsorten bei ca. 70% (Kohl, Möhren, Zucchini…) 18 bundesverband deutscher gartenfreunde e. v. – grüne schriftenreihe 248 Erhaltung von alten Sorten in Genbanken Genbank bewahrt Samenmuster • trägt bei zum Verhindern des Aussterbens von Kulturpflanzen Album Benary 1876, Tafel X ‘Erfurter Lange‘ (IPK BETA 42) Zugang 1946, Donor: E. Benary Verein zur Erhaltung und Rekultivierung von Nutzpflanzen – VERN • 1996 Gründung • Schau- und Vermehrungsgarten Greiffenberg in der Uckermark • 600 Mitglieder Privatpersonen, Landwirte, Gärtner Ziele des VERN e. V. • Alte und seltene Kulturpflanzen erhalten • Alte Sorten einfach zugänglich halten • Wissen darüber vermitteln Warum reicht es nicht, alte Sorten in der Genbank zu erhalten? Genbanken erhalten eingefrorene Samenmuster • statisch • Erhaltung durch Nutzung Dynamisch, evolutive Anpassung möglich Beitrag zur Biodiversität G rößere Bestände für Erhaltungszüchtung wichtig Nutzer erfassen Sorteneigenschaften mit allen Sinnen (Aussehen, Geschmack, Textur…) Kulturelles Erbe lebendig erhalten bundesverband deutscher gartenfreunde e. v. – grüne schriftenreihe 248 19 On-farm Erhaltung Führungen • Erhaltung durch Nutzung • Seltene Sorten im Betriebskreislauf erhalten • Wiedereinführung alter Sorten in den Markt In-garden Erhaltung Schaugarten besuchen • Erhaltung durch Nutzung • Individuelle Sortenauswahl • Ausreichend Saatgutmengen vorhanden Aktivitäten Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit • Veranstaltungen und Feste • Saatgutkurse • Führungen durch den Schaugarten • Herausgabe von Broschüren 20 bundesverband deutscher gartenfreunde e. v. – grüne schriftenreihe 248 Saatgutkurse Sortenerhaltung Techniken der Kartoffeln pflanzen Alte Sorten verfügbar machen • Saatgutproduktion und Aufbereitung • Herausgabe eines Saatgutkataloges • Abgabe von Saat- und Pflanzgut 60 Sorten Techniken der Kartoffeln pflanzen Saatgutlager und Schau- und Vermehrungsgarten Erhaltungssammlung von • 1200 Gemüse- und Nutzpflanzenherkünften • 650 Getreideherkünften • 200 Tomaten- und Paprikasorten Selektion von Samenträgern bundesverband deutscher gartenfreunde e. v. – grüne schriftenreihe 248 21 27.0 Vermehrung bei höheren Pflanzen Saatgut muss regelmäßig vermehrt werden • Abgabe von Saatgut an Gärtner/innen • Saatgut hat begrenzte Lebensdauer Lagerfähigkeit von Gemüsesämereien • Lauch/Porree: sehr empfindliche Samen, wenige Monate • Möhre: kurze Lebensdauer, 2 – 3 Jahre • Salat: mittlere Lebensdauer, 4 – 5 Jahre • Melone, Tomate: lange Lebensdauer, über 5 Jahre ‐ ‐ Vegetative Fortpflanzung Generative Fortpflanzung • genetisch identisch • Erbgut neu gemischt Vermehrung bei höheren Pflanzen • ungeschlechtlich über • geschlechtlich über Samen Pflanzenteile der Generative Fortpflanzung Vegetative Fortpflanzung Mutterpflanze genetisch identisch ungeschlechtlich über Pflanzenteile der Mutterpflanze Kartoffel (Sprossknolle) Kartoffel (Sprossknolle) Knoblauch, Etagenzwiebel Knoblauch, Etagenzwiebel (Brutzwiebeln) (Brutzwiebeln) Schalotte (Teilzwiebeln) Schalotte (Teilzwiebeln) Schnittlauch, viele Stauden Schnittlauch, viele Stauden (Stockteilung) (Stockteilung) Meerrettich (Wurzelschnittlinge) Erdbeeren, Minzen (Ausläufer) Meerrettich (Wurzelschnittlinge) Erdbeeren, Minzen (Ausläufer) ‐ ‐ Erbgut neu gemischt geschlechtlich über Samen Selbst- oder Fremdbefruchtung Selbst‐ oder Fremdbefruchtung Stempel Narbe Griffel Fruchtknoten Kronblätter Pollensäcke (Petalen) Kelchblätter Anthere Filament (Sepalen) Staubblatt Blütenachse Beschaffenheit von Saatgut: Keimfähigkeitstest Selbstbefruchtung Ausgeprägte oder vorwiegende Selbstbefruchter: Selbstbefruchtung Ausgeprägte oder vorwiegende Selbstbefruchter: Erbse Tomate Salat Weizen Lein Gerste, Hafer, Linse, Tabak ... • bei manchen Arten Bestäubung in geschlossener Knospe ‐ z.B. Salat, Erbsen, Buschbohnen, Tomaten • im Freiland kann durch Insekten Verkreuzung stattfinden ‐ z.B. Salat, Mohn, Paprika, Puffbohne, Aubergine • manche Selbstbestäuber brauchen Wind oder Insekten ‐ z. B. Tomaten Wiederholung Tag 1 Tag 1 Anzahl Anzahl Samen Samen Tag 7 Tag 10 Anzahl % Zwischen- Endaus- gekeimte gekeimte zählung zählung Samen Samen 1 Probe 1 Probe 2 50 50 13 24 19 14 1 1 73 73 2 Probe 3 Probe 4 50 50 18 29 21 7 0 0 75 75 3 Probe 5 Probe 6 50 50 1 28 13 10 7 2 59 59 4 Probe 7 Probe 8 50 50 11 19 14 14 2 2 62 62 Erbse Tomate Salat Weizen Lein, Gerste, Hafer, Linse, Tabak ... • b ei manchen Arten Bestäubung in geschlossener Knospe z. B. Salat, Erbsen, Buschbohnen, Tomaten • i m Freiland kann durch Insekten Verkreuzung stattfinden z. B. Salat, Mohn, Paprika, Puffbohne, Aubergine • m anche Selbstbestäuber brauchen Wind oder Insekten z. B. Tomaten 22 bundesverband deutscher gartenfreunde e. v. – grüne schriftenreihe 248 Fremdbefruchtung Bestäubung durch Insekten und Wind, auch Fremdbefruchtung Regen Abweicher in Form und Farbe bei ‚Wiener Maidivi‘ • BBestäuberinsekten estäubung durch Insekten sind: und Wind, auch Regen • Wild‐ und Honigbienen • Bestäuberinsekten • Schwebfliegen sind: • Wildund Honigbienen Hummeln, Wespen • Schwebfliegen Käfer, Schmetterlinge Allium giganteum mit Honigbienen Hummeln, Wespen Insektenbestäuber Käfer, Schmetterlinge • z. B. Kohl, Radieschen, Basilikum, Kürbis, Feuerbohne Windbestäuber Insektenbestäuber Tab. 1: Keimprüfung einer Partie z•. B.z. B. Rote Rübe, Mangold, Mais, Roggen, Amarant Kohl, Radieschen, Basilikum, Kürbis, Feuerbohne Windbestäuber z. B. Rote Rübe, Mangold, Mais, Roggen, Amarant Isolierung von Samenträgern und Einsatz von Bestäuberinsekten Vermehrung ein‐ Vermehrung ein- undund zweijähriger zweijährigerKulturen Kulturen Salat Nutzungs- und Samenreife im 1. Jahr Radieschen Rüben Weißkohl Mohrrüben Nutzungsund Samenreife nach Überwinterung im 2. Jahr Abb.: Heistinger 2004 Sortenerhaltung • Bewahrung der Sortenechtheit • Verkreuzungen vermeiden Gefahr bei Fremdbefruchtern (Radieschen, Rote Beete, Möhre, Gurke, Zucchini…) Abstände einhalten, Isolierkäfige einsetzen, Handbestäubung 13 Farbliche Abweichung vom Sortenbild bei ‚Brauner Sommer‘ bundesverband deutscher gartenfreunde e. v. – grüne schriftenreihe 248 23 Selektion von Samenträgern Saatgut Gewinnung – Trockenreinigung Auflage der Mairübe ‚Demi Long Blanc Hâtif de Croissy’.Croissy’. Auflage der Möhre „Blanche ½ longue des vosges“ vor der Selektion Genbankmaterial sichten Auswahl der Superelite (32 Möhren) 24 bundesverband deutscher gartenfreunde e. v. – grüne schriftenreihe 248 Nassernte bei Tomaten und Gurken Resümee Der Erhalt alter Pflanzensorten durch aktive Nutzung ist wichtig, weil • damit die Formen‐ und Nutzungsvielfalt belebt wird • die Sorten im Anbau dynamisch erhalten werden • Ausgangsmaterial für die Pflanzenzüchtung gesichert wird • das kulturelle Erbe lebendig bleibt • das Übereinkommen über die Biologische Vielfalt (CBD) der aktiven Nutzung Vorrang gibt Mögliche Unterstützung • • • • Alte Sorten anbauen VERN e.V. Saatgut nutzen Mitglied werden Mitmachen am Garten- arbeitstag in Greiffenberg am 8. Oktober 2016 • Spenden • Regional einkaufen Sortenlagerung Literatur • B ecker H 1993: Pflanzenzüchtung. Ulmer Verlag Stuttgart UTB 1744 • Becker‐Dillingen J 1942: Leitfaden für den Gemüsesamenbau, Heft 12 der Praktischen Reihe Leistungssteigerung im Gemüsebau (Hrsg. J. Reinhold) Rud. Bechthold & Comp. Wiesbaden • Becker‐Dillingen J 1943: Handbuch des Gesamten Gemüsebaus. Vierte neubearbeitete Auflage, Parey Berlin • Heistinger A, Arche Noah, Pro Specie Rara (Hrsg.) 2004: Handbuch der Samengärtnerei. Löwenzahn, Innsbruck Bozen • Hoffmann W, Mudra A, PlarreW 1971: Lehrbuch der Züchtung landwirtschaftlicher Kulturpflanzen, Band 1 Allgemeiner Teil, Parey, Berlin und Hamburg bundesverband deutscher gartenfreunde e. v. – grüne schriftenreihe 248 25
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