Statement Martin Litsch - AOK

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Gemeinsame Pressekonferenz „Studierendenstress“
11. Oktober 2016
Statement Martin Litsch
Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes
Sehr geehrte Damen und Herren,
was stresst Studenten heute am meisten, wie hoch ist ihr Stresslevel, welche Fächer sind mit den
höchsten Belastungen verbunden? WissenschaftlerInnen der Uni Potsdam und Hohenheim können
mit ihrer Befragung erstmals das Stressprofil deutscher Hochschüler genauer beschreiben. Aber
bevor Ihnen Frau Prof. Herbst gleich die Erkenntnisse im Einzelnen vorstellt, darf ich als Auftraggeber der Studie ein Ergebnis dieser Umfrage vorwegnehmen.
Viele Ergebnisse und Tendenzen dieser Studie bestätigen aus meiner Sicht das, was wir aus anderen Umfragen zum Stressempfinden her kennen. Aber über ein Kuriosum der Ergebnisse stolpert
man sofort: Demnach sind Studenten mit Nebenjob nicht mehr oder teilweise sogar weniger gestresst als Studenten, die sich ausschließlich aufs Lernen fokussieren.
Erst hat mich das amüsiert, dann aber nachdenklich gemacht. Ich dachte, das kann doch nicht
sein: Doppelbelastung, Geldknappheit und ständige Ablenkung. Das muss doch stressiger sein als
das konzentrierte Studium ohne Nebenjob. Dann aber, nach etwas Überlegung, leuchtete mir ein:
Vielleicht haben die Studenten, die jobben, einfach eine bessere Work-Life-Balance, sind besser
organisiert, am Ende gar fokussierter – oder einfach nur entspannter, weil sie sich nicht ausschließlich mit den Anforderungen des Studiums beschäftigen.
Ich habe in den 70/80er-Jahren in Trier Soziologie und Volkswirtschaft und sogar vier Semester
Geographie studiert. Damals hörte man in der berufstätigen Bevölkerung öfters mal die Auffassung,
die Studienzeit sei doch total relaxed. Im Radio wurde die 12-Uhr-Mittagszeit angesagt mit „Guten
Tag meine Damen und Herren, guten Morgen liebe Studenten“. Tatsächlich nahmen wir uns mehr
Zeit als heute. Es konnte auch mal über „zehn Semester hinaus studiert“ werden, ohne dass das
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negative Folgen gehabt hätte. Wenn ich heute das Studium meiner Söhne anschaue, muss ich
feststellen, dass sich einiges geändert hat. Das Studium mag immer noch die schönste Zeit des
Lebens sein, aber es ist dichter, strukturierter, gezielter, insgesamt verschulter geworden.
Damals machten sich viele Studenten gar keinen Kopf darum, später einen Job zu bekommen. Heute sind die Jobperspektiven/ Karrierechancen von Anfang an für Studenten sehr präsent, ja prioritär.
Manchmal hat es den Anschein, als gäbe es zwischen Prüfung und Praktika kaum noch Zeit zum
eigentlichen inhaltlichen Studieren.
Nun bin ich weit davon entfernt, die studentische Vergangenheit rosarot zu sehen bzw. die Gegenwart zu verteufeln. Erstens: Mehr Struktur und Verbindlichkeit an den Universitäten waren ja gesellschaftlich erwünscht. Zweitens: Es sollte jedem klar sein, der studiert, dass Prüfungssituationen
und Lerndruck Bestandteile eines jeden Studiums sind. Denn das hat auch die Funktion, auf das
spätere Berufsleben vorzubereiten. Die Kehrseite dieser Medaille ist aber Druck und Stress. Und
dieser darf natürlich nicht überhand nehmen. Sonst lähmt er, verursacht Leid und führt vielleicht
auch in die Krankheit.
Das kann jeder im eigenen Alltag erleben, und die Kassen können es an ihren Abrechnungsdaten,
den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen oder den Befragungsergebnissen ablesen. Hier ein paar
Kostproben aus den letzten Monaten:
• Fehltage nehmen aufgrund psychischer Erkrankungen weiter zu. Zwischenzeitlich geht jeder
zehnte Fehltag (10,5 Prozent) auf diese Erkrankungsart zurück. Im Durchschnitt fehlte ein
AOK-Mitglied 2,8 Tage im Betrieb aufgrund einer psychischen Erkrankung und damit 0,1 Tage
mehr als noch im Jahr 2014. Seit 2004 nahmen die Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen damit um knapp 72 Prozent zu. Auffällig ist dabei vor allem, dass die Ausfallzeiten
bei psychischen Erkrankungen mit im Schnitt 25,6 Tagen je Fall mehr als doppelt so lange
dauerten wie der Durchschnitt mit 11,6 Tagen.
• Interessant sind auch die Befragungsergebnisse zur Belastungssituation von Familien. In der
aktuellen Umfrage gab knapp die Hälfte aller Befragten (47 Prozent) an, dass der Zeitmangel
im Alltag sie am meisten stresst. Andere starke Belastungsfaktoren wie knappe Finanzen
oder psychische Anstrengungen rangieren mit jeweils 28 Prozent weit dahinter. Die neuen
Zahlen bestätigen frühere AOK-Familienstudien. Der Stress durch die fehlende Zeit liegt aktuell sogar noch um einen Prozentpunkt höher als im Jahr 2014.
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• Im letzten Jahr hat unser Wissenschaftliches Institut, das WIdO, die Situation bei Auszubildenden unter die Lupe genommen und eine erste repräsentative Studie zum Gesundheitszustand der Auszubildenden in Deutschland durchgeführt. Und schon da zeigte sich: Beim
Nachwuchs ist längst nicht alles eitel Sonnenschein. Zwar lebt mehr als die Hälfte der Auszubildenden (54,3 Prozent) in Deutschland gesundheitsbewusst und hat kaum körperliche und
psychische Gesundheitsbeschwerden. Allerdings muss man sich um die anderen durchaus
Sorgen machen. So klagt jeder vierte Auszubildende über häufige Kopfschmerzen; mehr als
jeder fünfte leidet häufig an Rückenschmerzen und Verspannungen. Bei regelmäßig auftretenden psychischen Beschwerden wurden vor allem Müdigkeit und Erschöpfung, Lustlosigkeit
oder Ausgebrannt-Sein, Reizbarkeit und Schlafstörungen genannt.
Keine Frage: Stress ist gesellschaftlich gerade „in“. Jeder ist irgendwie gestresst oder redet wenigstens darüber. Stress-Umfragen haben aktuell Hochkonjunktur, auch unter Krankenkassen, heute
die AOK, morgen die Ersatzkassen. Aber Stress ist auch real. Burnout, Depression und innere
Leere. Das sind Reflexe auf eine steigende Belastungskurve, die immer mehr Menschen überfordert. Familien, pflegende Angehörige, Beschäftigte, Azubis, aber auch Studenten. Darum ist eine
bessere Work-Life-Balance ganz offensichtlich auch ein Thema für Studenten. Denn die Hälfte der
Studierenden wünscht sich den Ausbau von Beratungsangeboten zur Stressbewältigung durch die
Hochschule und externe Organisationen. Wir verstehen dies als Auftrag, unser spezielles Know-how
in Sachen Umgang mit Stress als Gesundheitskasse auch für diese jungen Menschen in Ausbildung
und Studium zukünftig noch stärker zu platzieren.
ANSPRECHPARTNER
Dr. Kai Behrens | Pressesprecher | 030 346 46-23 09 | [email protected]
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