faulheit & arbeit Sonnabend/Sonntag, 15./16. Oktober 2016, Nr. 241 n Drucksachen n Schwarzer Kanal n Reportage n XYZ Im Oktober 1916 verfasste Rosa Luxemburg einen Flugblattext für ihren inhaftierten Genossen Karl Liebknecht. Sozialistin Clinton vs. Trump: US-Wahlkampf in der BRD. Die Medienkonzerne haben sich längst entschieden. Von Sebastian Carlens Im Jahr 25 nach der Katastrophe: BosnienHerzegowinas schwerer Weg zu einem neuen Vielvölkerstaat. Von Gerd Schumann Gesicht des schwarzen Widerstandes: Über Assata Shakur, die der Repression in den USA entkommen konnte. Von Jürgen Heiser PHOTO JOSEP MOLINA (C) 2011 FOR HARMONIA MUNDI »Persönlichkeitsbildende Funktion der Kunst gerät aus dem Blick« Gespräch Mit Andreas Staier. Über die Entwicklung der Tasteninstrumente, Anpassungsdruck bei jungen Interpreten und den Zusammenhang zwischen der Französischen Revolution und Musik A lte Instrumente haben Konjunktur, denn historisch informiertes Musizieren dominiert das Repertoire von Carlo Gesualdo bis George Gershwin. Warum sind die alten Tasteninstrumente Schlusslichter dieser Entwicklung? Das Klavier hat sich wie kein anderes Instrument in den vergangenen dreihundert Jahren technisch verändert und es wurde viel merkbarer und drastischer als die anderen Instrumente auf die soziologischen Veränderungen des Musiklebens abgestimmt. Es ist mitten im Barock entstanden, also noch zu Zeiten des Absolutismus, und wurde dann – indem es etwa lauter werden musste, weil die Säle aus Kommerzgründen größer wurden – entsprechend der Entwicklung des Der Pianist Andreas Staier, Jahrgang 1955, studierte Tasteninstrumente in Hannover und Amsterdam. Er tritt inzwischen weltweit als Cembalist, Hammerflügelspieler und Liedbegleiter auf, allein oder mit führenden Alte-Musik-Ensembles wie Concerto Köln, Akademie für Alte Musik Berlin oder Freiburger Barockorchester bürgerlichen Musiklebens verändert. Am frühesten natürlich in London, weil die Gesellschaft dort entwickelter war als auf dem Kontinent. Deswegen sind auch in den späteren Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts die Londoner Flügel in gewisser Weise am modernsten. Das Klavier ist allerdings eine italienische Erfindung. Der florentinische Klavierbauer Bartolomeo Cristofori, der es um 1700 konstruierte, war eine Art Leonardo da Vinci und Daniel Düsentrieb des Klavierbaus. Hätte er nicht in Italien gelebt, wo man sich weniger für Tasteninstrumente als für den Gesang interessiert, hätte es sich gegenüber dem Cembalo bestimmt schneller durchgesetzt. Aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts kann man die Entwicklung des Klavierbaus nur noch mit der Entwicklung des Computers heute vergleichen: Ein zehn Jahre alter Rechner ist heute Alteisen oder Altplastik. So ähnlich war es mit den Klavieren um 1800. Wenn man heute auf einem Walter-Flügel von 1805, wie das viele Pianisten machen, Mozart spielt, dann benutzt man, selbst für den späten Mozart, das falsche Instrument. Das Problem einer zu geringen Lautstärke der alten Tasteninstrumente und die sich daraus ergebende Frage der Balance zwischen solistischem Klavier und Begleitinstrumenten kannte schon Bach. Das zeigt Ihre neue Aufnahme der Cembalokonzerte, in der Sie von elf Streichern und zwei Bläsern des Freiburger Barockorchesters begleitet werden. Eine im Vergleich zur Konvention winzige Besetzung. Aber die Cembalokonzerte sind ja – zumindest im heutigen Verständnis – auch keine Orchestermusik; sie sind eine Art größere Kammermusik. Im Hintergrund steht das Modell des Vivaldischen Konzertsatzes. Aber Bach hat in diesen Konzerten einfach alles sehr Der Pianist Andreas Staier wählte für seine Solistenlaufbahn nicht das Übliche, eine Karriere auf dem modernen Flügel. Er fühlte sich offenbar mehr seiner Neugier verpflichtet und entschied sich für Cembalo und Hammerklavier Klangwelten Ein Gespräch mit dem Pianisten Andreas Staier. Über die Entwicklung der Tasteninstrumente, Anpassungsdruck bei jungen Interpreten und den Zusammenhang zwischen der Französischen Revolution und Musik. Außerdem: US-Wahlkampf in deutschen Medien. Schwarzer Kanal ACHT SEITEN EXTRA n Fortsetzung auf Seite zwei GEGRÜNDET 1947 · SA./SO., 15./16. OKTOBER 2016 · NR. 241 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT Gegenddarstellung: Zur Lage der jW WWW.JUNGEWELT.DE Siehe Seite 16 Für den Frieden kämpfen Präsident Syriens warnt vor »Drittem Weltkrieg« REUTERS Großdemonstrationen in Kolumbien für Umsetzung des Abkommens zwischen FARC-Guerilla und Regierung. Präsident Santos verlängert Waffenstillstand. Von André Scheer I Moskau. Syriens Präsident Baschar Al-Assad hat die Eroberung der Stadt Aleppo als entscheidendes strategisches Kriegsziel bezeichnet und gleichzeitig scharfe Kritik an der Politik der USA geübt. »Die Einnahme von Aleppo wird ein Sprungbrett zur Befreiung weiterer Städte von Terroristen«, wurde er in in der Freitagausgabe der russischen Tageszeitung Komsomolskaja Prawda zitiert. Nach der Eroberung gelte es dann, die Provinz Idlib zu »säubern«. In Syrien liege der »Geruch des Dritten Weltkriegs« in der Luft, sagte Assad. Der blutige Konflikt in seinem Land sei zu einer Art Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen geworden. Kremlchef Wladimir Putin unterzeichnete unterdessen wie erwartet ein Militärabkommen über die unbefristete Stationierung von Kampfjets in Syrien. (dpa/jW) AP PHOTO/FERNANDO VERGARA n Kolumbien sollen die Waffen zumindest bis zum Jahresende weiter schweigen. Staatschef Juan Manuel Santos verlängerte am Donnerstag (Ortszeit) die mit der FARC-Guerilla vereinbarte Feuerpause bis zum 31. Dezember. Ursprünglich hatte Santos die eigentlich »endgültige« Waffenruhe bis Ende des Monats befristet, nachdem am 2. Oktober eine knappe Mehrheit der Referendumsteilnehmer den zwischen der Regierung und den Aufständischen ausgehandelten Friedensvertrag abgelehnt hatte. Bei den Unterstützern des Friedensprozesses war daraufhin die Sorge gewachsen, dass im November der Krieg wieder aufflammen könnte. Die Guerilla zog ihre Einheiten, die sich schon auf die Abgabe ihrer Waffen vorbereitet hatten, in Stellungen im Urwald zurück. Nun aber betonte Santos: »Damit es ganz klar ist: Das ist kein Ultimatum.« Er hoffe, dass es »viel eher« ein »neues Abkommen« geben werde. Mit der Verlängerung des Waffenstillstands reagierte der Staatschef ausdrücklich auf die Großdemonstrationen der Befürworter des Friedensvertrages in den vergangenen Tagen. Allein am Mittwoch hatten Zehntausende Menschen in Bogotá an einem »Marsch der Blumen« teilgenommen – die Veranstalter sprachen von mehr als 200.000 Teilnehmern. Santos kam am Donnerstag mit einigen der jungen Aktivisten zusammen, die Anfang Oktober in der Hauptstadt ein Friedenscamp errichtet hatten, und zeigte sich anschließend beeindruckt. Ein Student habe ihn daran erinnert, »dass in diesem Augenblick junge Leute in der Armee und in der Guerilla warten, was passiert – und hoffen, dass sie nie wieder schießen müssen«. Vertreter des Kabinetts hatten in den Seit der Ablehnung des Vertrags beim Referendum am 2. Oktober gehen täglich Tausende für den Frieden auf die Straße vergangenen Tagen jedoch in erster Linie Unterredungen mit den Gegnern des Friedensprozesses um Expräsident Álvaro Uribe geführt. Dieser fordert »Nachbesserungen« des Vertrags mit den Aufständischen. Unter anderem stellt er die in Havanna ausgehandelte Bodenreform in Frage, weil diese keine »ehrlichen Besitzer oder Eigentümer« schädigen dürfe. Gemeint sind offenkundig Großgrundbesitzer, die sich Ländereien angeeignet haben, von denen die Bauern vertrieben wurden. Zudem will Uribe die Vereinbarungen mit der Guerilla unter Finanzierungsvorbehalt stellen, »ohne das Steuerrecht, das Vertrauen des Privatsektors in die Sicherheit seiner Investitionen, die Wettbewerbsfähigkeit oder die Sozialprogramme zu beeinträchtigen«. Damit wären die Vereinbarungen praktisch nur noch unverbindliche Vorschläge. »Sie wollen die Enttäuschung nutzen, um das Abkommen zu beseitigen«, warnte deshalb der Generalsekretär der Kolumbianischen Kommunistischen Partei, Jaime Caycedo, in einem am Freitag von der Wochenzeitung Voz veröffentlichten Interview. Sollte der in Havanna seit 2012 ausgehandelte Vertrag komplett neu erörtert werden, kämen »logischerweise« auch die Forderungen von Linken, Bauern und Indígenas nach einer Veränderung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf den Tisch. »Unsere Vorschlagslisten sind fertig, um sie zu präsentieren, wenn die Verhandlungen neu eröffnet werden.« Die FARC selbst begrüßten in einem Kommuniqué die großen Friedensdemonstrationen und versprachen, sie stünden zu ihrer Entscheidung für den Frieden und ihre Umwandlung in eine legale politische Bewegung. »Wir halten es für höchst drängend, die Umsetzung des Abkommens zu beginnen, dessen Vorteile sich auf das Leben der gesamten kolumbianischen Bevölkerung und besonders ihrer ärmsten Schichten auswirken werden.« Siehe Seite 6 Sachsens Behörden unter Druck Fahndungsdesaster und Tod eines Terrorverdächtigen: Auch die Bundesregierung mahnt Aufklärung an N achdem der mutmaßliche ISAttentäter und Selbstmörder Dschaber Al-Bakr im Leipziger Gefängnis erhängt aufgefunden wurde, geraten Politik und Behörden in Sachsen nicht nur bei den Oppositionsparteien in die Kritik. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte am Freitag vollständige Aufklärung. In der Haftanstalt sei offensichtlich etwas schiefgelaufen, und es habe Fehleinschätzungen gegeben, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Das müsse »gründlich untersucht« werden. Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) räumte zwar Fehler ein, lehnte personelle Konsequenzen aber vorerst ab. Die Obduktion Al-Bakrs hat laut Staatsanwaltschaft Leipzig bestätigt, dass der Syrer sich selbst getötet habe. Die Arbeit der Ermittler werde durch den Tod des 22jährigen schwieriger, so Merkels Sprecher. Dies betreffe sowohl die Frage nach möglichen Hintermännern als auch nach dem Radikalisierungsweg. Ein Bruder des Toten kann hier vielleicht weiterhelfen: Dem Spiegel sagte dieser jedenfalls, Al-Bakr habe sich erst in Deutschland radikalisiert. Ein Berliner Imam habe ihn einer Gehirnwäsche unterzogen. Im September 2015 habe sich der junge Mann in Syrien der Untergrundstruktur des »Islamischen Staates« angeschlossen. Schließlich wurde er beschuldigt, mehr als ein Kilogramm hochbrisanten Sprengstoffs hergestellt und damit einen Bombenanschlag auf einen Berliner Flughafen geplant zu haben. AlBakr war der Polizei während eines Großeinsatzes zu seiner Festnahme am Samstag in Chemnitz zunächst entkommen und dann von drei Landsleuten der Polizei übergeben worden. Die drei Sy- rer erheben ebenfalls Vorwürfe gegen die Behörden: Sie erhielten Morddrohungen vom IS, sagte einer von ihnen am Freitag der Bild. »Geschützt werden wir bis heute nicht.« Zugleich wies er den Vorwurf Al-Bakrs zurück, sie hätten seine Anschlagspläne gekannt: Er habe sich mit dieser Behauptung nur an ihnen rächen wollen. Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) versicherte am Freitag »dass die Verantwortlichen in Sachsen selbst genau am besten wissen, dass noch viel Arbeit vor ihnen liegt.« (Reuters/dpa/jW) Regionalparlament will CETA stoppen Brüssel. Das belgische Regionalparlament von Wallonien hat am Freitag den EU-Freihandelsvertrag CETA mit Kanada abgelehnt und damit eine neue Hürde für den Pakt aufgebaut. Die Mehrheit der Abgeordneten forderte die Regionalregierung auf, die Unterzeichnung des Abkommens durch die belgische Regierung nicht mitzutragen, wie die Nachrichtenagentur Belga meldete. Die Auswirkungen des Votums sind unklar. Nach dem föderalen System Belgiens könnte der Zentralregierung dadurch das Mandat fehlen, CETA am 18. Oktober im Kreis der EU-Minister zu billigen und am 27. Oktober zu unterzeichnen. Käme es so weit, könnte dies den Handelspakt mit Kanada stoppen. Die EU-Kommission wollte jedoch unmittelbar nach der Abstimmung nicht über ein Scheitern spekulieren. Es liefen Diskussionen vor dem Rat der EU-Handelsminister am kommenden Dienstag, sagte ein Sprecher. (dpa/jW) wird herausgegeben von 1.881 Genossinnen und Genossen (Stand 14.10.2016) n www.jungewelt.de/lpg
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