Stellungnahme der Plattform Rechtsberatung für Menschenrechte

www.plattform-rechtsberatung.at
Bundesministerium für Inneres
Abteilung III/1 – Legistik
Per Email: [email protected]
Betreff: Stellungnahme zur Verordnung der Bundesregierung zur Feststellung der Gefährdung der
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Plattform Rechtsberatung – FÜR MENSCHEN RECHTE ist spezialisiert auf Bewusstseinsarbeit
zum Thema Flucht und Asyl in Tirol. Wir verfolgen die Aufgabe, mit unserer Arbeit aktiv auf die
Einhaltung und Wahrung der Rechte von Menschen auf der Flucht hinzuwirken und gutes
Zusammenleben durch Information und Begegnung zu fördern. Wir nehmen besonders gerne die
Aufforderung wahr, öffentlich zur vorliegenden Verordnung zur Feststellung der Gefährdung der
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit Stellung zu
beziehen um basierend auf der Erfahrung unserer Arbeit zu einer kritischen Auseinandersetzung
beizutragen.
Zur Vermeidung allzu großer Redundanz zu anderen Stellungnahmen aus zivilgesellschaftlicher
Perspektive, konzentrieren wir uns insbesondere auf folgende Aspekte: wir nehmen erstens Bezug
auf die kommunikativen Folgen der Verordnung allgemein und beleuchten zweitens die Folgen
der Botschaft, die sie an in Österreich lebende Menschen mit Fluchtbiographie und ihre
Gemeinden transportiert. Abschließend möchten wir als in Tirol angesiedelte NGO auf besondere
Herausforderungen der Verordnung im Land Tirol hinweisen.
1. Die Verordnung als Instrument zur Förderung von Ängsten und fiktiven Wirklichkeiten
Die vorliegende Erläuterung zur Feststellung einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und des
Schutzes der inneren Sicherheit stützt sich im Wesentlichen auf die im vergangenen Jahr
angestiegene Anzahl von Asylanträgen in Österreich. Die Begründung zur Verordnung beschreibt
die mangelhafte Krisenfestigkeit österreichischer Institutionen in den Bereichen Asylwesen,
Grundversorgung,
Gesundheit,
Bildung,
Strafvollzug,
Arbeitsmarktintegration
und
Wohnversorgung sowie in den sozialen Sicherungssystemen und setzt diese zu den steigenden
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Zahlen von globalen Krisenherden und Menschen auf der Flucht in eine gefährliche ursächliche
Beziehung: sie begründet strukturelle Defizite im staatlichen Verwaltungssystem, mangelhafte und
schwerfällige Reaktionsfähigkeit in Zeiten von Herausforderungen und knapp kalkulierte
Ressourcen in den genannten Bereichen vordergründig mit dem Faktor Zuwanderung und dem
Anstieg von Fluchtmigration innerhalb des vergangenen Jahres. Die Verantwortlichen leiten aus
dieser Beziehung einerseits eine Politik geprägt von Autorität und Kontrolle in den kommenden
Monaten ab und treffen darüber hinaus eine maßgebliche Entscheidung für den Umgang mit
Krisensituationen im Allgemeinen. Sie entscheiden sich gegen eine Stärkung der Krisenfestigkeit in
den angeführten Bereichen wie auch gegen eine positive Lösungsorientierung in den Institutionen.
Damit kapitulieren sie vor der Unberechenbarkeit zukünftiger Herausforderungen und überlassen
es fiktiven Sorgen und Ängsten mit den Folgen einer Umbruchszeit umzugehen.1
Die vorliegende Verordnung erscheint uns darum aus mehreren Gründen problematisch. Sie
suggeriert kein Gefühl der Stabilität in einer als instabil wahrgenommenen Zeit. Im Gegenteil, sie
aktiviert alle mit Angst und Sorge einhergehenden menschlichen Schutzmechanismen und das
Bedürfnis mancher, sich in einer ersten Reaktion gegen sämtliche äußere Einflüsse abzuschotten.
Die direkte Verknüpfung von mangelhafter Planung und fehlender Flexibilität im Staatswesen mit
Flucht und Migration verstärkt den Eindruck, Fluchtmigration würde einen Anstieg an Komplexität
und neuen Anforderungen an europäische Gesellschaften direkt hervorrufen. Diese Ansicht
blendet dabei aus, dass Vertreibung und erzwungene Migration Folgen derselben
Komplexitätssteigerung darstellen, mit der eine globalisierte Welt als Ganzes herausgefordert wird.
Bereits die Debatte um die Verordnung spielt aus unserer Sicht vor allem jenen Kräften in die
Hände, welche uns auf der Basis von Vereinfachungen versprechen, die Komplexität globaler, hochtechnologisierter Gesellschaften durch die Rückbesinnung auf eine fiktive, stabile Vergangenheit
auflösen zu können. Die Begründung zur Verordnung begünstigt stark vereinfachte
Wirklichkeitskonstruktionen und lenkt die Aufmerksamkeit stark auf die entstandenen Probleme,
welche sie zudem als schwer oder kaum überwindbar stilisiert. Dadurch nimmt sich die
Bundesregierung geradezu selbst die Möglichkeit den bereits vorliegenden und eventuell noch
nicht abschätzbaren kommenden Herausforderungen lösungsorientiert zu begegnen. Zugleich
verhindert sie die positive Haltung gegenüber den gewonnenen Ressourcen und Fähigkeiten durch
die Fluchtbewegung des vergangenen Jahres und arbeitet gegen die positive Wahrnehmung vieler
Menschen im Land. Sie fördert stattdessen „Wir“-Fiktionen, die rein auf der Abgrenzung
gegenüber Gruppen von fiktiven und gesichtslosen „Anderen“ basieren.
1
vgl.http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_Begutachtungen/2016_09_07/Erlaeuterungen_VO_BReg_Feststellung_der_Ge
faehrdung_doeO.pdf; http://www.unhcr.org./news/latest/2016/6/5763b65a4/global-forced-displacement-hits-recordhigh.html; bezogen am 29.09.2016
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Unseres Erachtens ist die Verordnung damit stark dazu geeignet, die in ihrer Begründung
aufgedeckten Herausforderungen zu handfesten Problemen zu verschärfen und damit zu
verschlimmern.2
2. Die Verordnung als Botschaft an Menschen mit Fluchtbiographie in Österreich
Menschen mit Fluchtbiographie bilden einen Teil der österreichischen Gesellschaft. Sie nehmen
am Alltagsleben teil, gehen einer Arbeit nach und beginnen hier ein neues Leben in Sicherheit. Sie
verfolgen die Nachrichten, lernen Deutsch, schicken ihre Kinder in die Schule, zahlen Steuern und
schließen Freundschaften. Auch Menschen, die vergangenes Jahr im Zuge der Fluchtbewegung
2015 ankamen, sind mittlerweile vielfach als anerkannte Flüchtlinge Teil von
Integrationsmaßnahmen. Sie arbeiten, sind Einzahler und Anspruchsberechtigte sozialstaatlicher
Leistungen und verfolgen die Entwicklungen der österreichischen Politik. Sie spüren den
Stimmungswandel und fürchten Anzeichen von Instabilität. Sie nehmen wahr, dass sie selbst in
Verbindung gebracht werden mit Verursachern von Gewalt und Terrorismus und jenen, vor denen
sie selbst geflüchtet sind. Seit einigen Wochen hören sie in den Nachrichten, dass ihr Gesuch um
Internationalen Schutz als Gefährdung für die innere Sicherheit und öffentliche Ordnung
Österreichs gewertet wird.
Zur selben Zeit nehmen Geflüchtete in ihren Gemeinden ein gesteigertes Bewusstsein für
gegenseitige Unterstützung und Willen zum Austausch über gutes Zusammenleben wahr. Nach wie
vor und in manchen Gemeinden sogar erst gerade beginnend, arbeitet man fieberhaft an
Maßnahmen und Verbesserungen für Integration und Dialog. In vielen Gemeinden engagieren sich
Menschen freiwillig in der Nachbarschafts- und Flüchtlingshilfe. 3
Die Früchte der ersten Monate, der vielen Schulungen und Einarbeitung in das Thema Integration
werden sowohl bei der Aufnahmegesellschaft als auch bei Geflüchteten gerade erst reif, da betitelt
die Bundesregierung die Flucht der neuen NachbarInnen als Gefahrenpotenzial für die Stabilität
und innere Sicherheit in Österreich. Die gerade erst mühsam überwundenen ersten
Herausforderungen der Gemeinden durch das Plus an BewohnerInnen stellt sich ihnen implizit als
gescheitert dar, da regionale Best-Practice Beispiele gegenüber einem Notstand im restlichen
Bundesgebiet zu Inseln umgeben von Problemen verkommen. Noch bevor Maßnahmen evaluiert
sind, entsteht Angst vor neuen Herausforderungen. Positive Effekte, die durch die Fluchtbewegung
2
vgl. http://derstandard.at/2000044322507/Hofer-in-der-Prater-Alm-Gebe-euch-euer-Oesterreich-zurueck;
http://www.tt.com/politik/landespolitik/12064867-91/stadtsenat-ringt-um-haltung-zu-notverordnung.csp,
http://www.heute.at/news/politik/Petition-und-Kritik-an-neuer-Notverordnung;art23660,1348634,
http://www.heute.at/news/politik/Asyl-Notstandsverordnung-ist-haesslicher-Populismus;art23660,1340359;
bezogen 29.9.2016;
Untersuchungen SORA Institut: http://www.pressreader.com/austria/der-standard/20160629/281809988204866,
bezogen am 3.10.2016;
3
Vgl. https://www.alpbach.org/de/alpbacher-buergermeisterinnen-treffen/, bezogen 05.10.2016
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und Integration ihrer Menschen ebenso im Entstehen begriffen sind, werden durch die Verordnung
in Frage gestellt und überlagert durch die einseitige und verkürzte Summierung ihrer Kosten und
Folgekosten.
Wir befürchten durch die Inkraftsetzung der Verordnung Auswirkungen auf die Bemühungen von
Seiten der Aufnahmegesellschaft wie auch auf Seiten der Menschen mit Fluchtbiographie, wenn
sich ihre Möglichkeiten als unüberwindbare Hürden darstellen. Unseres Erachtens transportiert die
in der Verordnung enthaltene Suggestion von Notstand und Gefahr eine stark demotivierende
Botschaft und treibt eine Polarisierung voran, die sowohl die Aufnahmegesellschaft als auch bei
Betroffenen die Frage aufwirft, ob ihre Anstrengungen überhaupt Sinn ergeben.4
3. Die Verordnung und die Aufnahme ihrer Botschaft im Land Tirol
Tirol und seine Grenze zu Südtirol liefern eine besondere geschichtliche Ausgangsposition, die
ohne notwendige Sensibilität kaum angetastet werden kann. Die Grenze am Brenner ist eine
höchst politisierte und verläuft nicht nur an geographischen Orten, sondern auch in den Köpfen
von Nord- und SüdtirolerInnen. Sie ist eine symbolische und höchst emotionale Grenze, die sowohl
Trennung als auch Wiedervereinigung für die beiden Regionen Nord- und Südtirol bedeutet. Nach
ihrer wechselvollen Geschichte im 20. Jahrhundert und den daraus entstandenen
Herausforderungen, lassen seit 2011 Bestrebungen der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino für
regionsübergreifende Zusammenarbeit die drei Regionen wieder stärker zusammenwachsen. Es ist
der Versuch, eine historisch schwierige Zeit durch den Blick in eine gemeinsame, von Kollaboration
und Vertrauen gekennzeichnete Zukunft zu überwinden. Bereits bloße Überlegungen zur
Errichtung neuer Grenzbalken in einem besonderen Ernstfall ließen im Frühjahr die Wogen bei
verschiedensten Gruppen und entlang ideologischer Ansichten hochgehen. Sie spielen mit
unbewältigten Verletzungen der Vergangenheit und lösen altbekannte Sorgen und Ängste aus.
In Hinblick auf diese besondere Situation in Tirol braucht es Lösungen und Diskussionen, die eine
gemeinsame Bewältigung von Herausforderungen ermöglichen und Ängste in der Bevölkerung
abbauen. Wir empfehlen in Bezug auf die Grenze am Brenner neben einer sensiblen
Kommunikation zudem die Schaffung von Räumen, die eine Versachlichung der Diskussion
begünstigen. Der Erlass der Verordnung, die einen Zustand suggeriert, wie er zuletzt zu
Kriegszeiten wahrgenommen wurde, ist hierin nicht dienlich und transportiert eine falsche und
4
Vgl. http://www.imf.org/external/pubs/ft/sdn/2016/sdn1602.pdf; Studie zu Aufnahme von Geflüchteten in Gemeinden
http://medienservicestelle.at/migration_bewegt/2016/06/17/fluechtlinge-stimmung-in-gemeinden-verbessert-sichdurch-aufnahme/; bezogen am 03.10.2016
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destabilisierende Botschaft. 5
Aufgrund der Erfahrungen unserer Bewusstseinsarbeit und der Diskussionsräume, in denen wir uns
mit Menschen aus Aufnahmegesellschaft und Geflüchteten bewegen, setzen wir uns dafür ein,
dass von dem Erlass der Verordnung komplett abgesehen wird.
Österreich befindet sich nicht in einer Situation von Notstand, die öffentliche Sicherheit ist nicht
durch Migration und Flucht bedroht, sondern vielmehr herausgefordert neue Wege zu entwickeln.
Wir sind der Ansicht, es braucht ein stabiles „Wir“- Gefühl, das Neuankömmlinge miteinschließt
und welches dazu einlädt, gemeinsam an Stabilität gebenden Faktoren kollegial und kooperativ zu
arbeiten. Es braucht ein Behördenwesen, dem man guten Gewissens zutraut, Herausforderungen
zu meistern und welches über Personal verfügt, das gut auf diese vorbereitet ist. Damit es im Falle
schnell und lösungsorientiert reagieren kann. Eine Flexibilisierung von Abläufen in Perioden großer
Instabilität und hoher Komplexität der Anforderungen an unser Staatswesen ist eine Anforderung
unserer Zeit und der globalisierten Welt, vor welchen wir uns weder fürchten sollten, noch
verstecken können.
5
vgl. http://www.zeit.de/2016/09/brenner-staatsgrenze-nationalismus-italien-oesterreich-fluechtlinge;
http://www.sueddeutsche.de/politik/oesterreich-suedtiroler-unternehmer-fuerchten-grenzzaun-am-brenner1.2850925; http://www.tageszeitung.it/2016/02/11/keine-neue-brenner-grenze/;
http://derstandard.at/2000031300006/Buerger-wehren-sich-gegen-Schliessung-der-Brenner-Grenze; bezogen am
03.10.2016)
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