Vignetten Datei

Schratz, M., Schwarz, J.F., & Westfall-Greiter, T. (2012). Lernen als
bildende Erfahrung: Vignetten in der Praxisforschung. Innsbruck:
Studienverlag.
Vignette 7
Heute gibt es in der Mathe-Stunde ein Laufdiktat mit vier
verschiedenen Problemen, welche die beiden Lehrpersonen im
Zimmer aufgehängt haben. Nach der Erklärung geht es los. Die
SchülerInnen laufen hin und her zu den Aufgaben, versuchen
sich die Informationen zu merken, und das Problem in ihrem
Heft bei ihrem Arbeitsplatz zu lösen. Manche bleiben im Stehen,
damit sie schneller sind und rasen hin und her, andere arbeiten
langsamer. Lenny hat zufällig mit einer schwierigen Aufgabe
angefangen und ist bereits mehrmals hin und her gelaufen. Er ist
angespannt und sagt verzweifelt, dass er es nicht kann. Sein Frust
steigt, er scheint paralysiert zu sein, kurz vor dem Explodieren.
Eine Lehrerin versucht ihn zu beruhigen und zu ermutigen.
„Aber das kann ich nicht!“, sagt er. Sie gibt ihm einen Tipp und
sagt ihm, er solle es wieder versuchen. Unwillig geht er wieder
zur Aufgabe an der Tafel, die Lehrerin verlässt seinen Tisch. Das
geht nicht, das geht nicht, das geht nicht. Er kommt zu seinem
Schreibtisch zurück und radiert hektisch. Du kannst das nicht, du
kannst das nicht, du kannst das nicht. Er schimpft mit sich selber,
weil er sich nichts merken kann und marschiert verärgert wieder
zur Aufgabe hin. Du kannst das nicht, du kannst das nicht, du kannst
das nicht. Du bist zu blöd, du bist zu blöd. Ein Scheiß. Es ist ein Scheiß.
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Vignette 17
Lesestunde mit freiem Lesen in der fünften Unterrichtseinheit.
Alle wissen, was zu tun ist. Roland dreht sich um und holt sich
ein Mickey Mouse Heft vom Regal an der Wand hinter sich. Er
braucht nicht einmal aufzustehen, da er in der letzten Bank
alleine in der Fensterreihe sitzt. Er legt das Heft auf seine
Oberschenkel, den rechten Unterarm auf die Bank, seine Stirn
darauf und vertieft sich in den Lesestoff. Immer wieder lacht er
bei für ihn lustigen Stellen und sagt „Super!“ Einige Male blättert
er vor und zurück.
In der Zwischenzeit bespricht Frau Redl mit einigen
SchülerInnen Organisatorisches. Nach etwa 15 Minuten
durchdringt die Stimme der Lehrerin für alle hörbar den
Arbeitslärm: „Alle Bücher auf die Seite und Mitteilungsheft
herausnehmen!“ Alle SchülerInnen bis auf Roland kommen der
Aufforderung nach. Er ist so in seinen Lesestoff vertieft, dass er
nicht reagiert. Die Lehrerin nähert sich Roland und fragt ihn, ob
er weiß, was sie gesagt hat. Er antwortet prompt und völlig
unbeteiligt: „Alle Bücher auf die Seite und Mitteilungsheft
herausnehmen!“ Seine Nase rümpfend, klappt er das Heft
langsam zu.
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Vignette 18
Es herrscht eifrige Stille. Die Schülerinnen und Schüler üben
Personenbeschreibung für die Deutschschularbeit und sind in
ihre Arbeitsblätter vertieft. Olivera, die den Ruf als sehr
selbständige und überdurchschnittlich gute Schülerin genießt,
braucht, wie andere, heute Erklärungen zu den
Arbeitsanleitungen. Nachdem Herr Oppitz ihr erklärt hat, was zu
tun ist, beginnt sie sogleich mit der Übung. Sie erledigt die
geforderte Anzahl von Sätzen rasch. Olivera bespricht ihren Text
mit Olga, die im Vergleich zu ihr noch besser rechtschreiben
kann. Erst dann bringt sie ihre Arbeit zu Herrn Oppitz, der auf
einem freien Schreibtisch im hinteren Bereich der Klasse Texte
korrigiert. Danach kehrt sie, durch die Reihen schlendernd, an
ihren Platz zurück und erkundigt sich dabei, wer gerade woran
arbeitet. An ihrem Sitzplatz angelangt, korrigiert sie Olga über
ihre Schulter hinweg: „Das schreibt man aber mit ‚ä‘ und nicht
mit ‚e‘!“ Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck, wie nach
einem guten Essen, legt Herr Oppitz ihr den korrigierten Text
kurze Zeit später auf ihren Schreibtisch. „Ich hab ja gar keinen
Fehler!“, bricht es aus ihr heraus. Sie strahlt, wirft einen zweiten
erstaunten Blick auf ihren Text, klopft dann abwechselnd Olga
und Ottilie auf die Schulter und fächert mit ihrem Text vor deren
Gesicht herum.
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Vignette 21
Hanna arbeitet an den Mathe-Aufgaben auf dem Zettel. Sie kennt
sich aus und die ersten Aufgaben sind flott erledigt. Sie sind
leicht für sie, wie die meisten Aufgaben in diesem Schuljahr.
Vieles wird wiederholt und sie versteht warum, aber manchmal
hätte sie gerne eine Aufgabe, bei der sie denken muss. Heute
stellt sie ihren Arm zwischen sich und ihren Tischnachbarn, um
ihre Ergebnisse vor seinem Blick zu schützen. Sie hat das Gefühl,
er schaut immer bei ihr ab. Das wäre an sich in Ordnung für sie,
nur hat die Lehrerin das letzte Mal ihn gelobt. „Brav, Tom, sehr
brav“, sagte sie. Und zu Hanna: „Und du hast auch alles richtig.
Hast von Tom abgeschrieben, oder?“
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Vignette 22
Fred sitzt auf seinem Stuhl, den Kopf nur wenige Zentimeter
über sein vor ihm auf dem Tisch liegenden Arbeitsblatt gebeugt.
Die linke Hand stützt den Kopf, Daumen und Zeigefinger
umschließen die Stirn und die restlichen Finger bilden einen
Schutz gleich einer Schildkappe vor seinen Augen. Die rechte
Hand schreibt sehr schnell, mühelos. Er ist fleißig, tut sich leicht
und er ist immer der Beste in der Klasse. Nach einiger Zeit steht
Fred auf, nimmt das Arbeitsblatt, geht zum Lehrertisch und legt
es auf einen Stapel. Er nimmt sich das nächste Blatt. „Das ist jetzt
Level drei!“, sagt Frau Flörl. Fred geht zum Platz zurück. Er
nimmt wieder seine Arbeitshaltung ein, seine Blicke fliegen über
das Arbeitsblatt und die rechte Hand schreibt los.
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Vignette 26
Nach einer pantomimischen Einführung zum Thema Märchen
teilt die Klassenlehrerin die Wochenpläne aus, erklärt noch einige
Punkte und gibt das Zeichen zum Start: „Das war's, ihr dürft jetzt
anfangen.“ Die Kinder stehen auf, richten ruhig ihre Unterlagen
her und beginnen. Die Klassenlehrerin erinnert die Kinder an die
Flüstersprache: „Wir werfen unseren Brunnen an, den würde ich
gerne plätschern hören“, und schaltet den kleinen Brunnen ein,
der auf einem Regal neben der Tafel steht.
Eine ruhige, angenehme Atmosphäre macht sich breit. Barbara
und Brigitte arbeiten in der Sitzecke. Sie haben
Arbeitsmaterialien am Tisch liegen und sprechen leise
miteinander. Barbara blickt auf, schüttelt den Kopf, kaut am
Bleistift, schüttelt wieder den Kopf und zu Brigitte gewendet:
„Das kann so nicht stimmen!“ Brigitte schaut, blättert in den
Unterlagen, blättert vor, liest, blättert zurück. Auch Barbara
nimmt sich noch einmal das Blatt vor und beugt sich über den
Text. Lange Zeit reden sie nicht miteinander. Dann ein Strahlen
auf Brigittes Gesicht. Sie stupst Barbara am Arm, zeigt auf eine
Stelle im Buch, Barbara nickt und unterstreicht die Stelle mit dem
Lineal. Barbara und Brigitte arbeiten weiter und reden leise
miteinander. Das Plätschern des Brunnens bleibt hörbar.
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Vignette 31
„Ich hab‘s!“, ruft Franz halblaut in die Klasse. Frau Falkner setzt
sich zu ihm, stützt den Ellbogen auf den Tisch, betrachtet das
Arbeitsblatt und sagt: „So, jetzt schaffst du das auch noch!“ Franz
bemüht sich eine Antwort zu finden, steht auf, setzt sich, steht
wieder auf, sucht vergeblich mit seinen Augen und Händen vor,
neben und unter sich nach einer passenden Lösung. Es gelingt
ihm nicht. Frau Falkner fordert ihn auf, die richtige Antwort auf
der Pinnwand nachzulesen. Franz studiert ein Lösungsblatt an
der Wand, kommt zu seinem Platz zurück und schreibt das
richtige Ergebnis auf sein Arbeitsblatt. Er liest die nächste Frage:
„Wie heißt die größte Stadt in Afrika?“ und wendet sich sofort
mit hilfesuchenden Blicken an die Lehrerin. „Das liegt mir auf
der Zunge“, stammelt Franz vor sich hin. Frau Falkner steht auf,
schreitet zum hinteren Regal in der Klasse und nimmt einen
Atlas aus dem Fach. Franz eilt ihr hinterher, schlägt im Atlas eine
Seite auf, flitzt auf seinen Platz zurück und trägt etwas stehend in
sein Arbeitsblatt ein. „So, es wird gleich läuten! Ihr könnts mir
die Sachen jetzt abgeben!“, ruft Frau Falkner in die Klasse. Franz
reißt seine Hände halbgestreckt in die Höhe, geht ein wenig in
die Knie, gibt ein freudiges „Yeah“ von sich und wackelt dabei
mit dem Hintern.
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Vignette 42
In der Mathematikstunde erklärt die Lehrerin ausführlich die
Aufgabenstellung. Dominik wendet ihr sein Gesicht zu. Nach
kurzer Zeit dreht er sich zu Daniel, seinem Nachbarn, um und
flüstert ihm etwas zu. Beide lachen leise. Sie öffnen ihre Bücher,
legen eines in die Mitte des Tisches und beginnen in ihren Heften
zu arbeiten. “Dass ihr mir ja nicht die Überschrift vergesst oder
das Datum. Achtet darauf, dass die Nummer der Aufgabe im
Heft steht!” Während die Lehrerin weiter erklärt, wie die
Aufgabe ins Heft zu übertragen ist, arbeiten Dominik und Daniel
bereits. Es wird viel gelacht. Dann, plötzlich, ein Stocken, etwas
stimmt nicht mit dem Rechenvorgang. Dominik und Daniel
beraten sich. Kurzes Kopfschütteln. Dominik zeigt auf. Während
die Lehrerin einem anderen Schüler noch einmal erklärt, wie man
gut arbeitet, hält Dominik seine Hand weiterhin in die Luft
gestreckt und bespricht sich aber gleichzeitig mit seinem
Nachbarn. So könnte es gehen! Beide rechnen in Dominiks Heft
weiter, er nimmt seine Hand herunter. Kurz darauf sind sie sich
einig: So muss es stimmen! Sie nicken beide, geben sich ein HighFive. Daniel überträgt die Rechnung in sein eigenes Heft.
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Vignette 50
Othmar steht beim Fenster und kontrolliert am Fensterbrett das
Arbeitsblatt mit Eigenschaftswörtern zur Personenbeschreibung.
Er kontrolliert Wort für Wort, löscht Falsches und notiert das auf
dem Lösungsblatt angegebene Wort. „Der braucht aber lang!“,
meint Oskar, der zu Othmars Linken sitzt. Othmar blickt kurz
von seiner Arbeit auf, wendet sich, eine Grimasse schneidend, an
Oskar und fügt erklärend hinzu: „Ich habe diese Aufgabe mit
Lukas von der anderen Klasse gemacht- es ist eine lange
Aufgabe.“
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Vignette 58
In der Geographiestunde streicht sich Türkan das Haar hinter die
Ohren, stützt den Kopf auf ihre Hände, sucht nach Stiften, malt
am Kompass in ihrem Heft. Sie schaut kurz auf und malt
konzentriert weiter, während die Lehrperson den mitgebrachten
Kompass demonstriert. „Kommt einmal heraus, wir sehen uns
den Kompass an!“ Sofort steht Türkan auf und sichert sich einen
Platz ganz nah an der Lehrperson, geht mit dieser in nahezu
identischer Körperhaltung zu Boden, bleibt ganz nah am
Kompass, folgt allem was geschieht, wach und aufmerksam. Im
engen Kreis um den Kompass, auf der anderen Seite, kniet
Tijana, ebenfalls ganz nah, ebenfalls hochkonzentriert. Beide
Mädchen verfolgen jede Bewegung und jede Aussage, als wollten
sie nichts versäumen. Beide berühren den Kompass kurz, bevor
die Lehrperson den Kreis auflöst.