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Seite 64: Schach-Fragen
Jürgen Kaube
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat seit einigen Monaten einen
Schachblog. Die Idee dazu hatte Jürgen Kaube, der einer der vier Herausgeber der FAZ und deren Feuilletonchef ist. Kaube, der Philosophie,
Germanistik, Kunstgeschichte und Wirtschaftswissenschaften studiert
hat, ist passionierter Schachspieler und tritt im Blog als einer der Autoren auf. Dass der 54-jährige gebürtige Schwabe etwas von der Materie
versteht, zeigen seine Antworten auf unsere SCHACH-Fragen.
1. Wo möchten Sie im Moment gerne sein?
An der Seite meiner Frau, die heute Abend nicht da ist.
2. Was würden Sie tun, wenn es ab morgen absolut
kein Schach mehr in Ihrem Leben geben würde?
Bridge lernen. Aber kann man Bridge im Internet
spielen? Und gibt es Blitz-Bridge? Hat Viktor Moskalenko gute Bücher über Bridge-Eröffnungen geschrieben? Ich fürchte, wenn es kein Schach mehr
gäbe, würde ich an dieser Leerstelle einfach nur
schönen Erinnerungen nachhängen.
3. Was halten Sie a) für die schädlichste und b) für
die beste Entwicklung im modernen Schach?
a) Dass Spieler in europäischen Ligen gleichzeitig
für vier oder mehr Vereine spielen können und überhaupt das Vereinsschach sich in der Elite ein wenig
zu einem Zirkus entwickelt hat. Die ökonomischen
Gründe dafür liegen auf der Hand – Geld schießt
nicht nur Tore, Geld setzt auch matt –, aber zur Idee
von Ligen und Vereinen passt es trotzdem nicht,
wenn viele Mannschaften an den ersten Brettern nur
noch hochauflösliche Kombinate aus Stars sind, die
mal antreten, mal nicht, mal anderswo, die aber im
Grunde nichts verbindet als diese Auftritte selbst.
b) In den vergangenen dreißig Jahren hat die
Schachpublizistik und überhaupt der Informationsstand einen unglaublichen Aufschwung genommen.
Wenn ich zurückdenke, auf wie wenig Literatur man
noch um 1985 herum angewiesen blieb, wenn man
sich in den Kopf gesetzt hatte, das Budapester Gambit zu spielen – zwei, drei Partien pro Informator, ab
und zu ein Loseblatt von Rolf Schwarz und die Broschüre von Otto Borik, viel mehr gab es da nicht –,
ist der heutige Zugang sogar zu solchen entlegenen
Gebieten großartig. In meiner Jugend hatten im Verein zwei, drei Leute den Cheron oder den Awerbach
für Endspiele, das war’s. Mir scheint, dass wer sich
Schach auch lesend erschließen will, heute in einer
unglaublich viel besseren Lage ist.
4. Wer ist Ihrer Meinung nach die am meisten überund die am meisten unterbewertete Persönlichkeit
der Schachgeschichte?
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Was
das
Schach der großen Spieler angeht, steht mir
bestimmt kein
Urteil zu, jemanden als überschätzt zu bezeichnen. Dazu müsste
ich den Betreffenden ja richtig einschätzen können.
Gibt es zu viele Bücher über Bobby Fischer? Vielleicht kann man sagen, dass es so wenige über Tigran
Petrosjan gibt, weil sein Stil für viele nichts sehr
Gewinnendes hat, und zu wenige über Boris Spasski,
weil er mitunter nur noch als der Verlierer des Dramas von Reykjavik erinnert wird und in den Hintergrund getreten ist, wie und gegen wen er zum stärksten sowjetischen Spieler geworden ist.
Was ebenfalls unterschätzt wird, sind oft die Leistungen von Spielern, die nicht in der Zone der Mythenbildung gelebt haben, sagen wir Geller, Portisch,
Polugajewski oder Nunn. Und einen Namen aus meiner Generation muss ich noch nennen. Wenn ich
bedenke, wie viele Partien ich von ihm nachgespielt
habe, dann ist Julian Hodgson und das, was er für die
Durchsetzung der Wahrheit getan hat, dass der weiße
Läufer nach g5 gehört, ebenfalls völlig unterschätzt.
5. Mit welchen Klischees über Schachspieler sehen
Sie sich konfrontiert und wie kommentieren Sie diese?
Schachspieler sind ruhige, gebildete, in sich gekehrte, kopflastige Leute, die wahnsinnig gut rechnen
können. Darauf antwortet man am besten, indem
man Anekdoten erzählt, in denen man Nervensägen,
Schwätzern, Zockern, Aggressiven oder Angetrunkenen gegenüber saß – und verlor. Oder mit Hinweisen auf die Schachgeschichte, in der in der Reihe
der Großen alle Charaktermerkmale und Geistesfähigkeiten, die es überhaupt gibt, vorgekommen sind.
6. Mit welchen Vorurteilen über Ihr Schach oder Ihre
Person würden Sie gerne aufräumen?
Über mein Schach hat wahrscheinlich niemand Vorurteile außer ich selbst. Was meine Person angeht, so
zögere ich, mit Vorurteilen über sie aufräumen zu
wollen, denn das zöge ja nur das nächste Vorurteil
Schach 10/16
Seite 64: Schach-Fragen
nach sich – dass sie mich stark beschäftigen. Wenn
man in Gesprächen und Texten missverstanden wird,
gibt es einem zu denken, aber nicht, wenn Leute, die
einen nicht kennen, irgendetwas über einen sagen,
oder solche, die einen kennen könnten, etwas Falsches.
7. Welche Themen möchten Sie in der Schachöffentlichkeit/Schachpresse stärker behandelt wissen?
Wie kommt es zu den Konjunkturen bestimmter Eröffnungen, die zuerst nur wenig gespielt werden,
dann plötzlich überall, um dann wieder völlig zu
verschwinden? Sind das nur Moden oder lässt sich
mehr darüber sagen? Auch über das Training der
Großmeister wüsste ich gern mehr. Wie hat sich
beispielsweise das Spiel dadurch verändert, dass
Neuerungen heute sofort bekannt werden, nachdem
sie gespielt worden sind?
8. Was möchten Sie in Ihrem Leben unbedingt noch
erlernen bzw. bedauern, es nie erlernt zu haben?
Gelassenheit, Französisch, Snooker.
9. Was ist Ihnen peinlich?
Witze, die nicht ankommen.
10. Was gefällt Ihnen an sich und was missfällt Ihnen
an sich?
Mir fällt viel ein, ich kann mich auf Argumente gut
konzentrieren, ich erinnere viel. Aber es missfällt
mir, dass zu dem Vielen, das ich erinnere, im entscheidenden Augenblick nie gehört, wie man Partien
mit 5... Ía5 in der Winawer Variante gewinnt.
11. Welchen Missstand würden Sie in Ihrem Land
beseitigen, wenn es in Ihrer Macht stünde?
Es gibt viel unnötige Verdummung durch phrasenhafte Beschreibungen der Welt, es gibt viel Frechheit
im Zugriff auf anderer Leute Geld, es gibt zu wenig
Nachsicht gegenüber Lebensweisen, die man nicht
auf Anhieb oder gar nicht versteht.
12. Wer sind Ihre Helden in der Gegenwart?
Hauptschullehrer, die ihre Sache gut machen.
13. Welche Frage würden Sie gerne gestellt bekommen und wie lautet die Antwort darauf?
Es liegen gerade zwölf Fragen hinter und noch sieben vor mir, es ist elf Uhr abends, da werde ich doch
jetzt nicht die Probleme künstlich vermehren.
14. Welche drei Bücher können Sie empfehlen?
Schachbücher (zur Zeit): Viktor Moskalenko The
Diamond Dutch und Will Hendriks: Move First,
Think Later. Von den anderen Büchern: jeden Roman von Jane Austen.
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15. Welches ist die interessanteste Schachpartie, die
Sie je gespielt haben?
Vor ganz langer Zeit habe ich gegen den späteren
Neuköllner Bundesligaspieler Lars Thiede eine Partie gespielt, bei der ich wohl bis kurz vor Schluss
besser stand, aber dann doch in Zeitnot verlor. Das
war in der Erinnerung einer der intensivsten Kämpfe.
16. Auf welche eigene Leistung sind Sie besonders
stolz und warum?
Auf meine Frau und meine Kinder bin ich stolz, aber
da liegen die Leistungen nicht bei mir. Die Biographie des Soziologen Max Weber, die ich geschrieben
habe, ist aber, glaube ich, sehr gut lesbar.
17. Mit wem würden Sie gerne einen Tag lang tauschen und warum?
Das letzte Mal, als ich das von einer Zeitschrift gefragt wurde, habe ich »George Clooney« gesagt,
woraufhin eine Kollegin wissen wollte, warum. Ich
dachte, die Antwort wäre selbsterklärend. Darum
jetzt: Richárd Rapport. Wie kommt einer zu den
Gedanken, um auf diesem Niveau so wild zu spielen?
18. Wann haben Sie zum letzten Mal etwas zum
ersten Mal getan und was?
Ich habe mich im vergangenen Winter in der Nähe
von Linz im Eisstockschießen geübt.
19. Aktuelle Frage
a) Wie schätzen Sie den Stellenwert und das Potenzial des Schachs für die Berichterstattung in Tageszeitungen ein?
Der Stellenwert ist nicht so hoch wie sein Potenzial.
Das Spiel ist zum einen eine so reichhaltige Kombination aus Sport, Kunst, Denken und Forschung,
dass man sehr gut darüber berichten kann. Die
großen Kämpfe waren schon immer Stoff für Erzählungen. Zum andern schlägt sich Schach ja in den
Notationen völlig adäquat nieder. Während bei anderen Sportarten also immer nur indirekt über die Vorgänge berichtet werden kann, zeigt jede Partiestellung die Sache selbst. Das ist eigentlich ein großer
Vorteil für die Berichterstattung.
b) Wie kam es zum Schachblog in der FAZ?
Im Mai las ich, ich glaube im fabelhaften Schachmagazin KARL, dass die ZEIT unter den deutschen
Zeitungen führend bei der Schachberichterstattung
ist, was völlig zutrifft. Auch die Neue Zürcher Zeitung ist hier übrigens sehr gut. Daraufhin fragte ich
meinen FAZ-Kollegen Alexander Armbruster, der in
der Zweiten Bundesliga spielt, ob wir nicht mit einem Blog versuchen sollten, den Abstand zu verringern. Kurz darauf haben wir damit angefangen.
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