Der Sinn des Lebens
Bild: Meaning of Life (Quelle: Pixabay, bearbeitet)
Worin besteht Der Sinn des Lebens? Die Antwort wird gern mit
einem immerwährenden individuellen Zustand des Glücks in
Verbindung gebracht, oder auf die Vorgaben einer göttlichen
Instanz abgebildet, die einen inhärenten Sinn oder ein Ziel in
die Welt eingebaut hat. „Mit dem Zerfall überkommener
Glaubensvorstellungen gewinnt die Frage nach dem Sinn des
Lebens enorm an Bedeutung. Die große Bedeutung provoziert ein
breites Spektrum von Antworten. Wegen dieser verwirrenden
Vielfalt verliert aber jede einzelne Antwort an
Glaubwürdigkeit.“ Dieses Zitat stammt aus dem Büchlein Der
Sinn des Lebens von Terry Eagleton, einem ehemaligen SpiegelBestseller. Er erörtert darin die Vielfalt der Aspekte
humorvoll und aus meiner Sicht teilweise sehr überzeugend. Aus
Sicht der Emergenz ist bemerkenswert, dass er dabei die
Fragestellung nicht auf die Selbstverwirklichung des einzelnen
Menschen einschränkt, sondern auf den Menschen zusammen mit
seiner Gesellschaft bezieht.
Eagleton (geboren 1943) ist britischer Literaturtheoretiker
und Professor für englische Literatur an der Lancaster
University. Er meldet sich auch immer wieder in Publikationen
zu politischen Ereignissen zu Wort.
Terry Eagleton (Quelle: Wikimedia, bearbeitet)
Bild
1:
bearbeitet)
Terry
Eagleton
(Quelle:
Wikimedia,
Die Frage nach dem Sinn des Lebens betrachtet Eagleton aus
sehr unterschiedlichen Blickwinkeln.
Der Bedeutung der Frage:
Der englische Ausdruck Meaning für Sinn ist breiter angelegt,
er umfasst nicht nur Sinngehalt und Bedeutung, sondern auch
Meinung, Absicht usw. Deshalb investiert Eagleton eine Menge
Text in die Definition des Sinns (und auch die der anderen
Worte der Frage nach dem Sinn des Lebens). Ein klares Ergebnis
dafür habe ich aber nicht gefunden. Eine gute Zusammenfassung
könnte der Satz auf S. 104 sein: “Tatsächlich ist Sinn das
Ergebnis einer Transaktion zwischen uns und der Wirklichkeit.“
Die Frage nach dem Sinn des Lebens beinhaltet aber auch
diejenige nach der Bestimmung des Menschen in der
Gesellschaft. Sie ist davon nicht zu trennen.
Die Religionen:
Eagleton hinterfragt das religiöse Prinzip in etwa wie folgt:
Gibt es in der Welt einen inhärenten Sinn, der ihr innewohnt?
Und er antwortet: Wenn Gott allmächtig ist, kann es den nicht
geben, denn sonst würde die Schöpfung ihrem Schöpfer eventuell
Widerstand leisten. Gibt es den inhärenten Sinn aber nicht,
kommt der göttliche Wille als reine Willkür zu seinem Recht,
„denn wie alle Tyrannen ist Gott ein Anarchist, der weder
durch Gesetz noch durch Vernunft gebunden ist.“ Und weiter:
Die Anhänger der Postmoderne – nach Eagleton die
abendländische Kultur und Gesellschaft seit den 1980er Jahren
– ersetzen Gott lediglich durch den Menschen, wenn sie meinen,
dass sie die Welt nach ihrem eigenen Gutdünken gestalten
können.
Die Philosophen:
Eagleton kommt gleich mit dem ersten Satz des Buches humorvoll
zur Sache: „Philosophen haben die ärgerliche Angewohnheit,
Fragen nicht zu beantworten, sondern sie zu analysieren.“ Er
kann sich das erlauben, denn er ist kein Philosoph, sondern
Fachmann für englische Literatur. Weiter geht es mit einem
Zitat von Nietzsche: „Die … Philosophen aber sind Befehlende
und Gesetzgeber; sie sagen: So soll es sein.“ Der
philosophische Kreis schließt sich dann nach umfangreichen
Erörterungen mit Wittgenstein, der „… keine besondere Achtung
vor der Philosophie empfand, und ihr mit seinem Tractatus ein
Ende zu machen hoffte.“ Wittgenstein meinte auch, der Sinn des
Lebens könne keine Antwort auf eine philosophisch sinnvolle
Frage sein. Die von ihm bevorzugte analytische Philosophie,
verbunden mit dem Gebrauch der normalen Sprache auf der Basis
solider Definitionen, ist aber sicher ein guter
philosophischer Ansatz für Themen im Grenzbereich zur
Naturwissenschaft.
Als Philosoph hilft uns aber Aristoteles in seiner
Nikomachischen Ethik beim Sinn des Lebens ein Stück weiter: Er
sah die Menschen als Vernunftwesen und meinte, dass ihr
Handeln an ihrem Wunsch ausgerichtet sei, glücklich zu sein.
Wobei er mit Glück eigentlich Wohlbefinden meint, denn er hat
es mit einem Appell zur Tugend der Mäßigung verbunden.
Allerdings spielen bei Aristoteles‘ Sicht von Wohlbefinden und
Tugend zwischenmenschliche Beziehungen (noch) keine Rolle. Mit
Ausnahme der Gerechtigkeit, bezogen auf die Mitbürger.
Wohlbefinden ist nach Aristoteles das Ergebnis „… einer
Lebensweise, einer sozialen Praxis, einer Art des Handelns,
die die innere Disposition des Wohlbefindens hervorbringt.“
Die postmoderne Gesellschaft:
Eagleton hat den Eindruck, dass für die Anhänger des
postmodernen Denkens wie die Liberalen und die Humanisten eine
endgültige Antwort zum Sinn des Lebens weniger wichtig ist als
die Tatsache, dass es so zahlreiche und exotisch vielfältige
Antworten dazu zu geben scheint. … Für sie „… zählt vor allem
der fröhliche Lärm des Gesprächs, der in ihren Augen das
Maximum an Sinn ausmacht, dass sie überhaupt zu Tage fördern
können. Der Sinn des Lebens liegt in der Suche nach dem Sinn
des Lebens.“ Antworten betrachten sie schon als unangemessene
Einschränkungen. Bei den Liberalen „…zeigt sich eine
überzogene individualistische Sicht, wie sie für die
Postmoderne typisch ist. Sie verstehen den Sinn des Lebens
nicht als ein Projekt, das auf Gemeinsamkeit und
Gegenseitigkeit beruht.“ Auch die Humanisten scheinen zu
dieser Haltung zu neigen. Vielleicht ist die Ursache dafür
eine gewisse Oberflächlichkeit infolge des Wohlstands und der
ständige Reizüberflutung in der modernen Gesellschaft, die
keine Anstrengungen mehr erfordert bzw. keine Muße mehr für
Ausdauer und Tiefe lässt. Die postmodernen Intelektuellen
haben sich offenbar zu einer überwiegend kommentierenden
Generation entwickelt.
Der Rolle der Sprache und der Literatur:
In großen Teilen des Buches wird der Sinn des Lebens an
Beispielen aus der Literatur analysiert. Das liegt nahe, weil
Eagleton ja Literaturtheoretiker ist. Aus (meiner) Sicht des
ontologischen Naturalismus ist das aber auch problematisch,
weil die literarischen Werke weitgehend die Meinung der
Autoren wiederspiegeln, und nicht die Wirklichkeit. Außerdem
müssen die Autoren Rücksicht auf die Erwartungen ihrer Leser
nehmen, damit ihre Werke erfolgreich sind. Das alles führt
mehr zu Interpretationen oder Hypothesen über die Wirklichkeit
als zur Wirklichkeit selbst.
Manche Philosophen meinen, Sinn sei nur eine Sache der Sprache
und keine Eigenschaft von Dingen. Dabei wird gern übersehen,
dass die Sprache zwar eine großartige Fähigkeit der Menschen
ist, wir unserem Leben aber nicht nur durch sprechen (und
schreiben) einen Sinn geben können, sondern auch und vor allem
durch handeln, durch unser tun. Dies ist ein Punkt, den auch
Eagleton immer wieder betont.
Aspekte der Emergenz
Was hat das Buch von Eagleton mit emergenten Prozessen zu tun?
Eagleton berücksichtigt sowohl den einzelnen Menschen als auch
die Gemeinschaften, in denen der sinnsuchende Mensch lebt und
wirkt. Beides gehört aus seiner Sicht unabdingbar zusammen:
Die Freiheit und Selbstverwirklichung des Einzelnen und das
Wohl des Ganzen.
Ein Beispiel aus seinem Buch, eine Jazzband, kann als Modell
für einem Prozess dienen, der den individuellem Sinn mit dem
Sinn einer Gruppe „unter einen Hut bringt“ – zusammen mit den
Regeln, die in der Gruppe wirken. Die Musiker der Band sind
frei in ihrem musikalischen Ausdruck, sie dürfen und sollen
improvisieren. Sie nutzen diese Möglichkeit jedoch mit
einfühlsamer Rücksichtnahme auf die Harmonien des zugrunde
liegenden Musikstücks, einer verabredeten Struktur aus Soli
und Tutti und auf die Ausdrucksfreiheit der anderen Musiker
der Band. Daraus ergibt sich eine komplexe Harmonie, die nicht
aus einer Partitur stammt. Jeder einzelne Musiker kann die
anderen Musiker inspirieren. Es gibt – im Rahmen der o.g.
Regeln – keinen Konflikt zwischen der Freiheit und
Selbstverwirklichung des Einzelnen und dem Wohl des Ganzen.
Aus der gemeinsamen künstlerischen Leistung erwachsen Freude
und auch Glück durch die damit verbundene freie und zugleich
geordnete Entfaltung der einzelnen Musiker und den Erfolg der
Band.
Aus der Sicht der emergenten Sozialordnung gibt es in diesem
Beispiel ein Gleichgewicht zwischen der Freiheit der einzelnen
Musiker und einem Mindestmaß an Ordnung in der Band, das sich
aus den Regeln ergibt, die sich in der Jazzmusik im Laufe der
Zeit herausgebildet haben bzw. in der Band vereinbart sind.
Ähnlich ist es auch im Mannschaftssport: Die Beiträge der
einzelnen Spieler führen im Rahmen der Regeln der Sportart und
der Ordnung der Mannschaft zum Erfolg des Teams und der
Zufriedenheit der Spieler (oder auch nicht, wenn die
Mannschaft nicht funktioniert). Die Erfahrung im Sport zeigt
immer wieder, dass ein Team aus lauter Stars ohne Bindung
untereinander nicht erfolgreich ist, und ebenso wenig ein Team
aus lauter Mitläufern ohne Engagement und Inspiration.
Eagleton hat das Beispiel von der Jazzband verallgemeinert:
„Die Menschen bestimmen sich selbst – aber nur auf Basis einer
tieferen Abhängigkeit von der Natur, der Welt und anderen
Menschen. Und jeder Sinn, den ich selbst meinem Leben geben
mag, ist … durch diese Abhängigkeiten beschränkt.“ Denn „wir
sind von Natur aus soziale Tiere, die kooperieren müssen, wenn
sie nicht sterben wollen. Aber wir sind auch individuelle
Wesen, die nach ihrer eigenen Erfüllung streben.“ Diese beiden
Bestrebungen
sind
im
Sinne
der
emergenten
Sozialordnung Antagonisten, die in einem dynamischen
Gleichgewicht sein müssen. Nach Eagleton wird dadurch für
Andere den Raum geschaffen, in dem sie sich entfalten können,
während sie dasselbe für uns tun. „Das steht aber alles im
Widerspruch zum liberalen Gesellschaftsmodell, wonach es
ausreicht, dass die eigene individuelle Entfaltung vor
störenden Einflüssen anderer Menschen (insbes. des Staates)
geschützt ist.“ Im liberalen Gesellschaftsmodell sind andere
Menschen keine Notwendigkeit, sondern eine Bedrohung für das
Individuum. Dabei wird völlig übersehen, wie sehr die
Gesellschaft die Selbstverwirklichung der einzelnen modernen
Menschen möglich macht, durch Schulen, Krankenhäuser und
andere Infrastruktur, Gesetze, Verhinderung von Gewalt usw.
Auch das (zu) reichhaltige Angebot an Produkten aller Art
braucht man ja nur zu nutzen, wenn man einen Sinn darin sieht,
und nicht, um die Nachbarn zu übertrumpfen.
Weitere Merkposten
Eine Kernaussage von Eagleton ist aus meiner Sicht:„Der Sinn
des Lebens ist nicht die Lösung eines Problems, sondern eine
bestimmte Art, zu leben. Er ist nicht metaphysisch, sondern
ethisch. Er ist … das, was das Leben lebenswert macht, d.h.
eine bestimmte Qualität, Tiefe, Fülle und Intensität des
Lebens.“ „Sinn ist .. ein auf Dauer unabgeschlossener
Prozess.“
Bei der Suche nach dem Sinn gibt immer wieder den Konflikt
zwischen Freiheit und Notwendigkeit: „Schaffung eines eigenen
Sinns oder Übernahme eines Sinns, der in der Welt bereits
vorhanden ist?“ Ein ausreichendes Maß an Gesundheit, Frieden,
Gerechtigkeit usw. sind Anwärter auf die Kategorie des
inhärent Wertvollen, ebenso ausreichend Nahrung, Wasser,
Wärme, Unterkunft usw., die wir zum Überleben brauchen. Andere
Dinge wie Geldscheine oder religiöser Glaube haben ihren Wert
nur infolge gesellschaftlicher Übereinkünfte dazu.
Unsere moderne Art zu leben setzt aber ein gewisses Maß an
Wohlstand und gesellschaftlicher Ordnung voraus. Mehr noch:
Der Sinn des Lebens ist generell abhängig von der Situation,
in der sich der Sinnsuchende befindet. In der Steinzeit war
das schiere Überleben ein vorrangiger Sinn des Lebens. Der ist
inzwischen glücklicherweise in der modernen westlichen
Gesellschaft weitgehend „verloren gegangen“. Also braucht man
einen Ersatz dafür. Aber auch in der Postmoderne gibt es ein
breites Spektrum an Situationen, von Menschen, die mit dem
Existenzminimum auskommen müssen, über einen glücklicherweise
weit verbreiteten Wohlstand bis hin zu den überaus Reichen und
Mächtigen. Die Frage nach dem Sinn ihres Lebens wird deshalb
auch ein breites Spektrum subjektiver Antworten haben.
Eagleton meint, dass nicht mehr die Religion sondern der Sport
– insbesondere professionalisierter Fußball – heute Opium für
das Volk ist. (Dabei ist beim Sport zuschauen gemeint, und
nicht selbst ausüben.) Für viele scheint dies ein wichtiger
Teil des Sinns ihres Lebens zu sein. Eagleton schränkt das auf
England ein; es ist aber in Deutschland und vielen anderen
Ländern offenbar auch nicht anders. Ich möchte das noch
verallgemeinern: Die omnipräsente Unterhaltung durch die
Massenmedien ersetzt sicher für Viele einen großen Teil des
Sinns des Lebens, oder hält sie zumindest davon ab, sich mit
dieser Frage zu beschäftigen. Ob das aber auf die Dauer
ausreicht? Dazu Eagleton: „Wer sich noch nie gefragt hat, wie
es um das eigene Leben bestellt ist und ob es nicht
verbesserungsfähig wäre, dem scheint es in erheblichem Maße an
Selbsterkenntnis zu mangeln.“ Das (begründete) Bewusstsein,
dass man sein Leben gut meistert, stärkt das Wohlbefinden.
Dabei ist „Wissen … ein Weg zum Glück, nicht sein
Gegenspieler.“
Ausblick
Kommen wir nochmal zur Jazzband zurück: Auf der vorletzten
Seite seines Buchs schreibt Eagleton: „Ziel wäre es, diese
Art der Gemeinschaft im größeren Maßstab zu schaffen. Das ist
eine Aufgabe der Politik. Natürlich ist das ein utopisches
Ziel, aber darum ist es ja nicht schlecht. Der Sinn solcher
Vorstellungen liegt darin, dass sie die Richtung angeben, auch
wenn wir das Ziel selbst leider niemals erreichen werden.“
Dabei sieht er die Unfähigkeit der postmodernen Kultur, selbst
in lebenswichtigen Grundfragen wie der nach dem Sinn des
Lebens Einigkeit zu erzielen, als „gleichzeitig beunruhigend
und ermutigend“.
Terry Eagleton: Der Sinn des Lebens, List 2010
Dieser Artikel beim Emergenz-Netzwerk