R. Millington: State, Society, Memories of the Uprising of 17 - H-Net

Richard Millington. State, Society and Memories of the Uprising of 17 June 1953 in the GDR. Basingstoke: Palgrave
Macmillan, 2014. IX, 204 S. $95.00 (cloth), ISBN 978-1-137-40350-6.
Reviewed by Rüdiger Bergien
Published on H-Soz-u-Kult (October, 2016)
R. Millington: State, Society, Memories of the Uprising of 17 June 1953
Der 17. Juni“ war das Trauma der Mächtigen in der
”
DDR. Nicht zuletzt die bekannte, von Erich Mielke im
September 1989 gestellte Frage, ob morgen der 17. Ju”
ni ausbricht? “ Armin Mitter / Stefan Wolle (Hrsg.), Ich
liebe Euch doch alle. Befehle und Lageberichte des MfS,
Januar – November 1989, Berlin 1990, S. 128–131. , illustriert, wie stark die Wirklichkeitsdeutungen der Machtelite bis zuletzt durch den Volksaufstand geprägt war.
Weniger eindeutig erscheint nach wie vor, welche Rolle der 17. Juni“ eigentlich für das Volk“ selbst spiel”
”
te. Wie weitgehend fand die offiziöse Deutung als fa”
schistischer Putschversuch“ zumindest teilweise Akzeptanz? Spielte der 17. Juni“ im kollektiven Gedächtnis
”
der ostdeutschen Gesellschaft auch nach zwei oder gar
drei Jahrzehnten noch eine Rolle? Und welche Bedeutung hatte der gescheiterte Aufstand für die Aktivisten
und Demonstranten des Herbsts 1989?
ren. In seinen insgesamt acht Kapiteln widmet sich Millington einleitend der Ereignisgeschichte des 17. Juni“
”
in Magdeburg. In den Kapiteln 2 ( Day X: Fascists, Spies
”
and Thugs“) und 3 ( Tales of That Day“) zeichnet der Au”
tor nach, wie der Volksaufstand im Rahmen des Offizialdiskurses der SED-Diktatur dargestellt wurde. Millington
widerspricht hier der von Zeitzeugen häufig geäußerten
Erinnerung, der 17. Juni“ sei bis 1989 in der DDR ein
”
Tabu-Thema gewesen, das die Partei totgeschwiegen habe und dessen bloße Erwähnung zu Schwierigkeiten führen konnte (S. 74). Gerade an den ersten Jahrestagen widmete sich die Parteipresse ausführlich dem gescheiterten
Aufstand; zudem listet Millington nicht weniger als 17 in
der DDR erschienene Romane mit teils erheblicher Auflagenhöhe auf, die den Aufstand thematisierten (S. 185f.).
Auch im Schulunterricht wurde das Thema durchaus behandelt (S. 38f.).
Die Studie Richard Millingtons verspricht, auf 200
Seiten Antworten zu geben. Als seinen Forschungsgegenstand bezeichnet der Autor die nature of memories
”
of the uprising“ in der DDR-Gesellschaft (S. 6). Die Breite
dieses Gegenstands macht Millington handhabbar, indem
er sich räumlich auf die Stadt Magdeburg beschränkt. Das
ist plausibel, zumal es sich bei Magdeburg um eine der
Hochburgen des Juni-Aufstands handelte, steht jedoch in
einem Kontrast zu dem mehr versprechenden Titel der
Studie. Deren empirische Grundlage bilden in erster Linie Interviews, die der Autor mit 39 Personen geführt
hat. Bei diesen handelte es sich zur Hälfte um Zeitzeugen
des Juni-Aufstands in Magdeburg, zur anderen Hälfte um
Personen, die erst 1953 und später geboren worden wa-
Eine gewisse Wirkung spricht Millington dem SEDOffizialdiskurs insofern zu, als auch Interviewpartner,
die dem System distanziert gegenüberstehen, noch heute auf bestimmte Deutungsmuster zurückgreifen. So erwähnt ein Zeitzeuge die RIAS-Hetze“, die in Magdeburg
”
für Unruhe gesorgt habe – tatsächlich konnte der RIAS
in Magdeburg gar nicht empfangen werden. Für bedeutender und wirkungsvoller hält Millington dagegen die
westdeutsche Berichterstattung in Hörfunk und Fernsehen, auf die die Mehrzahl der DDR-Bürger Zugriff gehabt
hätten.
Dieses westdeutsche external collective memory“,
”
wie Millington es nennt, demzufolge der 17. Juni ein gescheiterter, demokratisch inspirierter Volksaufstand war,
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hatte aus seiner Sicht eine Schlüsselbedeutung für die
kollektive Erinnerung in der DDR. 37 von 38 von Millingtons Interviewpartnern gaben an, dass ihnen die westdeutsche Berichterstattung bekannt gewesen sei. Zwar
gaben die Augenzeugen des Aufstands an, die westdeutsche Perspektive überwiegend mit Skepsis aufgenommen
zu haben: Die teilweise stark vereinfachende westliche
Deutung des 17. Juni“ stand in einem Kontrast zu ih”
ren persönlichen, oftmals komplexeren Erfahrungen. Die
1953 und später Geborenen waren hingegen gegenüber
der westlichen Berichterstattung weniger misstrauisch.
Viele betrachteten diese als die einzige Möglichkeit, überhaupt Details über den Aufstand zu erfahren (S. 96). Damit sorgten, und diesen Befund betont Millington stark,
die Westmedien dafür, dass der Aufstand im Bewusstsein
der DDR-Bürger präsent blieb (ebd.).
Parteiabzeichen wiedergekommen sei (S. 101). Doch geht
der Autor nicht weiter auf die Frage ein, wie verlässlich
diese Erinnerung des damals 12-jährigen Balzerts fast 25
Jahre nach dem Ende der DDR sein kann. Erst in seinem
Resümee geht Millington auf die Frage ein, ob und inwiefern sich durch Interviews überhaupt Aussagen über
die Vergangenheit gewinnen lassen (S. 175–182). Seine
Überlegungen sind hier durchaus auf dem Stand der OralHistory-Forschung. Sie ersetzen jedoch angesichts der
zentralen Rolle, die die Interviews für seine Arbeit spielen, nicht die kritische und zuweilen dekonstruktivistische Behandlung von Interviewaussagen im Rahmen seiner eigentlichen Analyse.
In seinem 6. und 7. Kapitel geht der Autor schließlich
auf die Frage ein, ob und inwiefern der 17. Juni“ eine ak”
tivierbare Referenz für Personen darstellte, die das System ablehnten oder sich sogar aktiv widersetzten. Zweigeteilt und durchaus aufschlussreich ist Millingtons Urteil in Bezug auf den Herbst 1989: Zwölf von 20 Interviewpartnern, die den 17. Juni“ als Zeitzeugen erlebt
”
hatten, gaben an, dass sie die Demonstrationen im Herbst
1989 vor dem Hintergrund des ersten Volksaufstands“
”
wahrgenommen hätten (S. 154). Die im Jahre 1953 erfahrene Gewalt hätte ihre Bereitschaft, zu demonstrieren,
durchaus gemindert. Anders die Interviewten, die nach
1953 geboren worden waren: Hier erklärten nur vier von
18 Interviewpartnern, dass die Erinnerung an den 17. Ju”
ni“ für sie eine Rolle gespielt bzw. sie von einer Teilnahme an den Demonstrationen abgehalten hätte (S. 161).
Für die große Mehrzahl aber spielte die Erinnerung an
den Volksaufstand keine Rolle. Die SED, so Millingtons
Fazit, war mit ihrer Politik, die Erinnerung an den Aufstand zu tilgen, so erfolgreich, dass auch die im Juni 1953
verübte repressive Gewalt bei der Generation der um die
40-Jährigen kaum mehr präsent gewesen sei. Sie ließen
sich daher von dieser, anders als es das Regime intendiert haben mochte, von einem erneuten Anlauf zu dessen Sturz nicht abschrecken.
In seinem 5. Kapitel gelangt Millington zu dem Kern
seiner Fragestellung: Wie wurde der Volksaufstand konkret in der DDR-Gesellschaft erinnert (Kapitel 5.1) bzw.
diskutiert (Kapitel 5.2)? Die Antworten der Zeitzeugen sind hier vielschichtig und gestatten keine linearen
Schlussfolgerungen. Generell hing die Art und Weise, wie
der 17. Juni“ erinnert wurde, stark davon ab, welche Er”
fahrungen die Zeitzeugen vor dem Aufstand mit dem Regime und dessen Politik gesammelt hatten. Systemloyale Bürger, so der nicht unbedingt überraschende Befund
des Autors, akzeptierten die offizielle Lesart der Parteiführung, Kritiker der neuen Ordnung nicht (S. 106). Immerhin kann Millington zeigen, dass Augenzeugen in der
Regel nicht viel über ihre persönlichen Erfahrungen sprachen und wenn dann allenfalls im engeren Familien- und
Freundeskreis. Seit den ausgehenden 1960er-Jahren verblasste das Ereignis in der kollektiven Erinnerung der
DDR-Bürger insgesamt, auch wenn eine Zeitzeugin erklärt, dass dieses Datum zumindest bis in die 1960erJahre in ihrem Betrieb immer wieder Diskussionen ausgelöst habe.
Als Problem erweist sich zunehmend, dass der Autor nur geringen Aufwand darauf verwendet, die Aussagen seiner Interviewpartner zu hinterfragen oder ihren
Charakter als adressatenbezogene Konstruktionen“ zu”
mindest exemplarisch zu reflektieren. Der Begriff nach
Harald Welzer, Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der
Zeitzeugenforschung, in: Bios 13 (2000), Nr. 1, S. 51–63,
hier S. 60. Zwar sind die von Millington wiedergegebenen Interviewauszüge aussagekräftig und lesen sich zuweilen spannend. Das betrifft etwa die Erinnerung Jakob Balzerts, dass seine durch und durch rote“ Lehre”
rin, konfrontiert mit Gerüchten über den Sturz der SEDFührung, das Klassenzimmer verlassen hätte und ohne
Dieses Fazit Millingtons liest sich zwar rund“. Es wi”
derspricht jedoch seinem eigenen zentralen Befund, dass
die Westmedien die Erinnerung an den 17. Juni“ in der
”
DDR-Gesellschaft wachgehalten hätten. Schwerer wiegt
indes, dass sich der überwiegende Teil seiner Befunde auf
die Aussagen eines überschaubaren Samples von Interviewpartnern stützt, das nach Kriterien ausgewählt wurde, die für den Leser bzw. die Leserin nicht transparent
sind und über deren soziales und biographisches Profil man gerne mehr oder besser: überhaupt etwas erfahren hätte. Millingtons Arbeit eröffnet aufschlussreiche
Perspektiven auf die Erinnerungen seiner Magdeburger
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Gesprächspartner. Inwiefern sich von diesen ausgehend Juni“ für die DDR-Gesellschaft ziehen lassen, bleibt einstverallgemeinerbare Schlüsse auf die Bedeutung des 17. weilen offen.
”
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Citation: Rüdiger Bergien. Review of Millington, Richard, State, Society and Memories of the Uprising of 17 June 1953
in the GDR. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. October, 2016.
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