Karriere 94 10. April 2016 | sonntagszeitung.ch Die Schule – eine Kindersortieranstalt Auch 40 Jahre nach seinem Bestseller wettert Jürg Jegge gegen unser Schulsystem. Ein Essay Sorgte für heftige Diskussionen: Jürg Jegges Kritik am Schweizer Schulsystem Was wäre von einem Fussballclub zu halten, der sich seine Spieler ausschliesslich aus Sängern zusammensucht? Bei dem erfolgreiches Singen Bedingung ist, damit ein Spieler überhaupt zugelassen wird? Sowieso werden auch unter Sängern begabte Fussballer zu finden sein, und mit stetem Training und grossem Einsatz kann man manches erreichen. Aber für die vielen andern Sänger ist ein Erfolg im Fussballspiel nur mit Krampf oder gar nicht zu erreichen. Die Breite einer möglichen Auswahl ohne Not derart einzuschränken... Das ist Blödsinn. So etwas Unlogisches passiert nur in der Schule. «Hauptfächer» sind Rechnen und Sprache. Wer hier ausreichende Lernerfolge aufweisen kann, kommt weiter. Oder hat man je gehört, dass eine Sechstklässlerin in die Sekundarschule aufgenommen wird, weil sie gut zeichnen kann? Lernerfolge in «Hauptfächern» fallen denen leichter, die auf diesen Gebieten schon einigermassen sattelfest, also ausreichend gefördert worden sind. Den vielen andern geht es wie dem Sänger, der jetzt plötzlich Fussball spielen soll. Die kämen eben aus bildungsfernen Schichten. Der Ausdruck «bildungsfern» ist eigentlich eine Frechheit. Er behauptet, dass Rechnen und Sprache mehr wert sind als Singen, Fussballspielen oder sich im Wald auskennen. Diese Kinder sind meist genauso gefördert oder gebildet worden wie andere auch. Nur weiss die Schule mit deren Wissen oder Können kaum etwas anzufangen. Vielleicht in einem «Nebenfach» können sie kurz glänzen. Aber sonst ... Wenn ich einen Vortrag halte, frage ich manchmal die Leute im Publikum: «Wer hier verdient sein Geld hauptsächlich mit Rechnen oder mit dem möglichst fehlerfreien Gebrauch der deutschen Sprache?» Da meldet sich vielleicht ein Mittelschullehrer oder der Journalist von der Lokalzeitung, und wenns ums Rechnen geht, eine Bankfachfrau oder die Serviertochter. Aber sonst ... Zudem: Die Erfolge in Rechnen und Sprache müssen sich innerhalb einer vorgeschriebenen Zeit einstellen. Sonst wird ein Kind zum Spätzünder. Es wird einem Förderprogramm unterworfen. Und zwar wieder einem Förderprogramm in Rechnen und Sprache. Anstatt ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre wirklichen Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln, versucht man, aus furchtbar schlechten Rechnern wenigstens schlechte zu machen. Es geht ums Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten Ein Angriff auf die Lehrerinnen und Lehrer? Nein. Viele von ihnen versuchen, mit grossem persönlichem Aufwand diesen grundsätzlichen Schaden einigermassen auszuwetzen. Mein Vater, lebenslang ein begeisterter Mittelstufenlehrer, erzählte mir von einer ehemaligen Schülerin, die im Rechnen in der vierten Klasse mit Aufgaben wie 8 + 4 = ? überfordert war. Er habe sie trotzdem nicht zurückgestellt. Jahre später habe er sie zufällig wieder getroffen – hinter dem Schalter einer Bankfiliale. Es ist wichtig, dass die Lernbemühungen eines jungen Menschen zunächst auf einem Feld erfolgen können, auf dem er eine gewisse Sicherheit hat und auf dem ihm ein gewisser Erfolg möglich ist. Das kann durchaus Rechnen oder Sprache sein, muss aber nicht. Es geht um das Vertrauen zu den eigenen Fähigkeiten. Später lernt man dann auch Dinge, die einen weniger begeistern. Rechnen zum Beispiel. Ebenso wichtig ist, dass der Fortschritt auf andern Gebieten (Naturbeobachtungen, Theaterspielen) nicht von den Anforderungen in Rechnen und Sprache abhängig gemacht wird. Sonst besteht die Gefahr, dass die Schule und das Lernen überhaupt für viele von Anfang an hoffnungslos und uninteressant werden. Niemand hat das so schön ausgedrückt wie vor Jahren der Erstklässler im Berner Oberland. Er besuchte keinen Kindergarten. Es gab auf dem elterlichen Bauernhof genug zu schauen, zu helfen und zu lernen. Dann begann die Schule. Nach zwei Wochen fragte ihn eine Nachbarin, wie es ihm denn gefalle. Darauf machte er ein ganz ernstes Gesicht und sagte mit einem Seufzer: «S versumt eim halt.» Ich war zwanzig Jahre lang Lehrer und leitete anschliessend 26 Jahre lang den Märtplatz, unsere kleine, aber feine Ausbildungsstätte für junge Menschen mit «Startschwierigkeiten». Nach allem, was ich in meinen Berufsjahren gesehen habe, bin ich heute überzeugt: Die meisten der sogenannten schulischen Schwächen sind ganz gewöhnliche Fertigkeiten, die nicht die Möglichkeit bekamen, sich in Ruhe zu entfalten. Ohne diesen Ehemaliger Lehrer, Liedermacher und Schriftsteller: Jürg Jegge Scharfer Kritiker Sein Erstlingswerk «Dummheit ist lernbar» machte den damaligen Primarlehrer von Embrach ZH über Nacht zum Star. In der Schweiz, aber auch in Deutschland sorgte sein pädagogisches Sachbuch, in dem er die These vertritt, dass sich die Schule den individuellen Stärken der Schüler anpassen müsste und nicht umgekehrt, für heftige Diskussionen. 1985 gründete Jürg Jegge die Stiftung Märtplatz, eine Ausbildungsstätte für junge Menschen mit «Startschwierigkeiten». Raum zur Entfaltung ist für etwa die Hälfte aller Kinder (nämlich für alle, die – egal, wie weit – unter dem Gesamtdurchschnitt liegen) keine oder nur eine schwache Entwicklung möglich. Für diese Kinder sind die grundlegenden Lernerfahrungen in der Schule anstrengend, im schlimmeren Fall sogar negativ. Sie verlieren die Freude am Lernen, werden entmutigt oder resignieren. Es scheint allgemein Übereinstimmung zu herrschen dass das eben zum Erwachsenwerden gehöre. Lieber ein glücklicher Strassenwischer als ein depressiver Mediziner, heisst es. Aber auf diese Weise wird die Hälfte aller jungen Menschen um biografische Chancen betrogen. Die Möglichkeit, später ein erfülltes Leben zu führen, indem man einen Beruf ausübt, der einen wirklich ausfüllt, wird für sie von allem Anfang an kleiner, im schlimmsten Fall sogar sehr klein. Damit steigt der Anteil an dem, was Erich Fromm «ungelebtes Leben» genannt hat. Das Gefühl: Da, in mir drin, steckt einiges, das nicht herauskommen kann, mit dem ich nichts anzufangen weiss, von dem ich nicht weiss, wohin ich damit soll. Das entlädt sich dann oft in Neid und Ressentiments, in Aggression oder aber in übertriebener Selbstbescheidung bis zur Selbstaufgabe. Auf jeden Fall schafft es Entmutigung, zum Teil tiefgehende Entmutigung und damit zusätzliches, oft unendlich grosses Leid. Ausserdem ist es ökonomisch dumm. Da bejammert man, dass in nächster Zukunft zu wenig ausgebildete Fachkräfte zur Verfügung stehen werden. Und noch immer leistet man sich den Luxus, etwa die Hälfte der Kinder von Anfang an zu entmutigen und ihnen die Freude am Lernen zu nehmen. In jeder Sek.-B- oder Sek.-CKlasse (also in jeder Klasse mit niedrigeren Anforderungen) findet man Kinder, deren Intellekt sich nicht im vorgesehenen Tem- po entwickelt hat und jetzt keine oder zu wenig Nahrung bekommt. Und die dabei recht unglücklich sind. Die gleiche Beobachtung kann man auch in Anlehrklassen – soweit es sie noch gibt – und in Vorlehrklassen machen. Der «glückliche Strassenwischer» ist nur glücklich, wenn sein Entscheid freiwillig war. Und wenn er den Beruf wechseln muss oder gar keine Arbeit hat? Dann ist erst recht wichtig, dass er über seine Interessen und Fähigkeiten Bescheid weiss und seiner Lernfähigkeit vertraut. Die Computertechnik bietet wunderbare Möglichkeiten Einwand: 25 Kinder so zu unterrichten, dass alle auf ihre Rechnung kommen – das ist unmöglich. Doch, das geht. Das beweisen viele mehrklassige Bergschulen. Auch in der Geschichte der Pädagogik und vereinzelt in der heutigen Praxis sind solche Beispiele zu finden. Zudem wären heute dank der Computertechnik wunderbare zusätzliche Möglichkeiten vorhanden. Aber diese Technik wird in erster Linie zu Kontrollzwecken eingesetzt. Was uns als Reform verkauft wird, dient meist der Effizienzsteigerung oder der Kontrolle. Der Lehrplan 21 ist mit seiner Kompetenzhuberei ein ergreifendes Beispiel. Warum ist das so? Ich meine, es liegt daran, dass die Schule nicht in erster Linie als Lernort, sondern als Kindersortieranstalt funktioniert. In unserer Welt lassen sich, grob gesagt, drei Schichten von Menschen erkennen: führende, geführte und solche, die an der Nase herumgeführt werden. Die Schule sortiert hier vor, indem sie die Kinder rechtzeitig einteilt und so für die entsprechenden Bildungsunterschiede sorgt. Das machte sie bisher offenbar zur Zufriedenheit der Führenden, denn sonst hätte sich längst etwas geändert. Ein Klischee? Sicher. Traurig nur, wenn das Klischee die Wirklichkeit bestätigt. Anzeige Hunger ist biologisch abbaubar. Die Sprache zum Beruf machen! Lehrgänge Studiengänge · Autobiographisches in t/lis na ur Jo . pl Di · Schreiben bzw. Corporate · Literarisches Schreiben Publisher · Drehbuchautor/-in · Dipl. Übersetzer/-in · Lektorieren · Lehrdiplom t ch Sprachunterri · SVEB-Zertiikat/ g) un ld bi en en hs ac (Erw eidg. FA Ausbilder/-in · ide-Zertiikat SAL Sonneggstr. 82 8006 Zürich 044 361 75 55 [email protected] www.sal.ch Ausbildungsqualität seit 1969 und eduQua-zertiiziert Weiterbildung an der Universität Zürich Wo Forschung und Wissenschaft die beruliche Praxis prägen. Unser Weiterbildungsangebot umfasst rund 60 Weiterbildungsstudiengänge und 60 ein- bis mehrtägige Weiterbildungskurse. Fordern Sie bei uns Unterlagen an unter 044 634 29 67 oder [email protected]. Unser aktuellstes Angebot inden Sie immer auf unserer Website: www.weiterbildung.uzh.ch Spenden Sie jetzt 10 Franken: SMS «give food» an 488 Mehr Infos: swissaid.ch/bio
© Copyright 2024 ExpyDoc