Sonntagszeitung vom 10.4.2016

Karriere
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10. April 2016 | sonntagszeitung.ch
Die Schule – eine Kindersortieranstalt
Auch 40 Jahre nach seinem Bestseller wettert Jürg Jegge gegen unser Schulsystem. Ein Essay
Sorgte für
heftige
Diskussionen:
Jürg Jegges
Kritik am
Schweizer
Schulsystem
Was wäre von einem Fussballclub
zu halten, der sich seine Spieler
ausschliesslich aus Sängern zusammensucht? Bei dem erfolgreiches
Singen Bedingung ist, damit ein
Spieler überhaupt zugelassen wird?
Sowieso werden auch unter Sängern begabte Fussballer zu finden
sein, und mit stetem Training und
grossem Einsatz kann man manches erreichen. Aber für die vielen
andern Sänger ist ein Erfolg im
Fussballspiel nur mit Krampf oder
gar nicht zu erreichen. Die Breite
einer möglichen Auswahl ohne
Not derart einzuschränken...
Das ist Blödsinn. So etwas Unlogisches passiert nur in der Schule. «Hauptfächer» sind Rechnen
und Sprache. Wer hier ausreichende Lernerfolge aufweisen kann,
kommt weiter. Oder hat man je gehört, dass eine Sechstklässlerin in
die Sekundarschule aufgenommen
wird, weil sie gut zeichnen kann?
Lernerfolge in «Hauptfächern» fallen denen leichter, die auf diesen
Gebieten schon einigermassen sattelfest, also ausreichend gefördert
worden sind. Den vielen andern
geht es wie dem Sänger, der jetzt
plötzlich Fussball spielen soll.
Die kämen eben aus bildungsfernen Schichten. Der Ausdruck
«bildungsfern» ist eigentlich eine
Frechheit. Er behauptet, dass Rechnen und Sprache mehr wert sind
als Singen, Fussballspielen oder
sich im Wald auskennen. Diese
Kinder sind meist genauso gefördert oder gebildet worden wie andere auch. Nur weiss die Schule
mit deren Wissen oder Können
kaum etwas anzufangen. Vielleicht
in einem «Nebenfach» können sie
kurz glänzen. Aber sonst ...
Wenn ich einen Vortrag halte,
frage ich manchmal die Leute im
Publikum: «Wer hier verdient sein
Geld hauptsächlich mit Rechnen
oder mit dem möglichst fehlerfreien Gebrauch der deutschen Sprache?» Da meldet sich vielleicht ein
Mittelschullehrer oder der Journalist von der Lokalzeitung, und
wenns ums Rechnen geht, eine
Bankfachfrau oder die Serviertochter. Aber sonst ...
Zudem: Die Erfolge in Rechnen
und Sprache müssen sich innerhalb einer vorgeschriebenen Zeit
einstellen. Sonst wird ein Kind
zum Spätzünder. Es wird einem
Förderprogramm unterworfen.
Und zwar wieder einem Förderprogramm in Rechnen und Sprache. Anstatt ihnen die Möglichkeit
zu geben, ihre wirklichen Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln, versucht man, aus furchtbar
schlechten Rechnern wenigstens
schlechte zu machen.
Es geht ums Vertrauen in die
eigenen Fähigkeiten
Ein Angriff auf die Lehrerinnen
und Lehrer? Nein. Viele von ihnen
versuchen, mit grossem persönlichem Aufwand diesen grundsätzlichen Schaden einigermassen auszuwetzen. Mein Vater, lebenslang
ein begeisterter Mittelstufenlehrer, erzählte mir von einer ehemaligen Schülerin, die im Rechnen in
der vierten Klasse mit Aufgaben
wie 8 + 4 = ? überfordert war. Er
habe sie trotzdem nicht zurückgestellt. Jahre später habe er sie zufällig wieder getroffen – hinter dem
Schalter einer Bankfiliale.
Es ist wichtig, dass die Lernbemühungen eines jungen Menschen
zunächst auf einem Feld erfolgen
können, auf dem er eine gewisse
Sicherheit hat und auf dem ihm
ein gewisser Erfolg möglich ist. Das
kann durchaus Rechnen oder Sprache sein, muss aber nicht. Es geht
um das Vertrauen zu den eigenen
Fähigkeiten. Später lernt man dann
auch Dinge, die einen weniger begeistern. Rechnen zum Beispiel.
Ebenso wichtig ist, dass der Fortschritt auf andern Gebieten (Naturbeobachtungen, Theaterspielen) nicht von den Anforderungen
in Rechnen und Sprache abhängig
gemacht wird. Sonst besteht die
Gefahr, dass die Schule und das
Lernen überhaupt für viele von
Anfang an hoffnungslos und uninteressant werden.
Niemand hat das so schön ausgedrückt wie vor Jahren der Erstklässler im Berner Oberland. Er besuchte keinen Kindergarten. Es gab auf
dem elterlichen Bauernhof genug
zu schauen, zu helfen und zu lernen. Dann begann die Schule.
Nach zwei Wochen fragte ihn eine
Nachbarin, wie es ihm denn gefalle. Darauf machte er ein ganz ernstes Gesicht und sagte mit einem
Seufzer: «S versumt eim halt.»
Ich war zwanzig Jahre lang Lehrer und leitete anschliessend 26
Jahre lang den Märtplatz, unsere
kleine, aber feine Ausbildungsstätte für junge Menschen mit «Startschwierigkeiten». Nach allem, was
ich in meinen Berufsjahren gesehen habe, bin ich heute überzeugt:
Die meisten der sogenannten schulischen Schwächen sind ganz gewöhnliche Fertigkeiten, die nicht
die Möglichkeit bekamen, sich in
Ruhe zu entfalten. Ohne diesen
Ehemaliger Lehrer, Liedermacher
und Schriftsteller: Jürg Jegge
Scharfer Kritiker
Sein Erstlingswerk «Dummheit ist
lernbar» machte den damaligen Primarlehrer von Embrach ZH über
Nacht zum Star. In der Schweiz, aber
auch in Deutschland sorgte sein
pädagogisches Sachbuch, in dem
er die These vertritt, dass sich die
Schule den individuellen Stärken
der Schüler anpassen müsste und
nicht umgekehrt, für heftige Diskussionen. 1985 gründete Jürg
Jegge die Stiftung Märtplatz, eine
Ausbildungsstätte für junge Menschen mit «Startschwierigkeiten».
Raum zur Entfaltung ist für etwa
die Hälfte aller Kinder (nämlich
für alle, die – egal, wie weit – unter
dem Gesamtdurchschnitt liegen)
keine oder nur eine schwache Entwicklung möglich. Für diese Kinder sind die grundlegenden Lernerfahrungen in der Schule anstrengend, im schlimmeren Fall sogar
negativ. Sie verlieren die Freude
am Lernen, werden entmutigt oder
resignieren. Es scheint allgemein
Übereinstimmung zu herrschen
dass das eben zum Erwachsenwerden gehöre.
Lieber ein glücklicher Strassenwischer als ein depressiver Mediziner, heisst es. Aber auf diese Weise wird die Hälfte aller jungen
Menschen um biografische Chancen betrogen. Die Möglichkeit, später ein erfülltes Leben zu führen,
indem man einen Beruf ausübt,
der einen wirklich ausfüllt, wird
für sie von allem Anfang an kleiner, im schlimmsten Fall sogar sehr
klein. Damit steigt der Anteil an
dem, was Erich Fromm «ungelebtes Leben» genannt hat. Das Gefühl: Da, in mir drin, steckt einiges, das nicht herauskommen
kann, mit dem ich nichts anzufangen weiss, von dem ich nicht weiss,
wohin ich damit soll. Das entlädt
sich dann oft in Neid und Ressentiments, in Aggression oder aber
in übertriebener Selbstbescheidung bis zur Selbstaufgabe. Auf jeden Fall schafft es Entmutigung,
zum Teil tiefgehende Entmutigung
und damit zusätzliches, oft unendlich grosses Leid.
Ausserdem ist es ökonomisch
dumm. Da bejammert man, dass
in nächster Zukunft zu wenig ausgebildete Fachkräfte zur Verfügung
stehen werden. Und noch immer
leistet man sich den Luxus, etwa
die Hälfte der Kinder von Anfang
an zu entmutigen und ihnen die
Freude am Lernen zu nehmen.
In jeder Sek.-B- oder Sek.-CKlasse (also in jeder Klasse mit
niedrigeren Anforderungen) findet man Kinder, deren Intellekt
sich nicht im vorgesehenen Tem-
po entwickelt hat und jetzt keine
oder zu wenig Nahrung bekommt.
Und die dabei recht unglücklich
sind. Die gleiche Beobachtung
kann man auch in Anlehrklassen
– soweit es sie noch gibt – und in
Vorlehrklassen machen. Der
«glückliche Strassenwischer» ist
nur glücklich, wenn sein Entscheid
freiwillig war. Und wenn er den
Beruf wechseln muss oder gar keine Arbeit hat? Dann ist erst recht
wichtig, dass er über seine Interessen und Fähigkeiten Bescheid weiss
und seiner Lernfähigkeit vertraut.
Die Computertechnik bietet
wunderbare Möglichkeiten
Einwand: 25 Kinder so zu unterrichten, dass alle auf ihre Rechnung kommen – das ist unmöglich. Doch, das geht. Das beweisen
viele mehrklassige Bergschulen.
Auch in der Geschichte der Pädagogik und vereinzelt in der heutigen Praxis sind solche Beispiele zu
finden. Zudem wären heute dank
der Computertechnik wunderbare zusätzliche Möglichkeiten vorhanden. Aber diese Technik wird
in erster Linie zu Kontrollzwecken
eingesetzt. Was uns als Reform verkauft wird, dient meist der Effizienzsteigerung oder der Kontrolle. Der Lehrplan 21 ist mit seiner
Kompetenzhuberei ein ergreifendes Beispiel. Warum ist das so?
Ich meine, es liegt daran, dass
die Schule nicht in erster Linie als
Lernort, sondern als Kindersortieranstalt funktioniert. In unserer
Welt lassen sich, grob gesagt, drei
Schichten von Menschen erkennen: führende, geführte und solche, die an der Nase herumgeführt
werden. Die Schule sortiert hier
vor, indem sie die Kinder rechtzeitig einteilt und so für die entsprechenden Bildungsunterschiede
sorgt. Das machte sie bisher offenbar zur Zufriedenheit der Führenden, denn sonst hätte sich längst
etwas geändert.
Ein Klischee? Sicher. Traurig
nur, wenn das Klischee die Wirklichkeit bestätigt.
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