Kulturradio, Gott und die Welt, 21

Abteilung:
Sendereihe:
Sendedatum:
Kirche und Religion
Gott und die Welt
03.10.2016
Redaktion:
Autor/-in:
Sendezeit:
Anne Winter
Elena Griepentrog
9.04-9.30 Uhr/kulturradio
Erstsendung: 21.12.2008
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GOTT UND DIE WELT
Vom Wir zum Ich und retour - ein Lebensgefühl im Wandel
Sprecherin:
Regina Lemnitz
Regie:
Ralph Schäfer
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Musik-Collage: Ton Steine Scherben „Allein machen sie dich ein“, Reinhard
Mey „Allein“ „Einer für alle, alle für einen“ etc.
Titelsprecherin:
Vom Wir zum Ich und retour - ein Lebensgefühl im Wandel.
Eine Sendung von Elena Griepentrog.
Fortsetzung Musik-Collage
Sprecherin: Gemeinschaft. Wir brauchen sie, sobald wir auf die Welt kommen. Ohne
Gemeinschaft kann kein Mensch überleben, kein Kind, aber auch kein Erwachsener.
Gemeinschaft deckt biologische Grundbedürfnisse des Menschen ab. Sie gibt uns
Sicherheit - körperliche Nähe - Zugehörigkeit - Anerkennung. Gemeinschaft lehrt uns
Rücksicht, Empathie, Vertrauen und Fairness.
Gleichzeitig hat der Mensch auch das Bedürfnis nach Individualität, nach dem
eigenen Weg. Auch das ist biologisch vorgegeben. Denn soziale Gruppen können
auch einengen, maßregeln, ausschließen. Den eigenen Lebensweg und
persönlichen Lebensstil verhindern. Um gesund zu sein, braucht ein Mensch ein
gutes Verhältnis zwischen dem Ich und dem Wir. Heute jedoch scheint es, als hätte
sich in Deutschland die feine Balance von Gemeinsinn und Individualität immer mehr
in Richtung Individualismus verschoben. Manche meinen auch: in Richtung
Egoismus. In jedem Fall also eine Gesellschaft von Einzelkämpfern? Experten
beobachten dieses heutige gesellschaftliche Phänomen aus verschiedenen
Richtungen.
O-Ton Ganßmann: Was mit der Individualisierung auch gemeint ist, das ist die
Verstärkung einer individualistischen Einstellung insgesamt.
Sprecherin: Heiner Ganßmann, Soziologe
(ff.) Also, dass da mehr Anforderungen gestellt werden an Individuen, die sie auch
zum Teil aus Bindungen heraus ziehen. Also, wenn Sie nur denken ein junges Paar
heutzutage, was die für Schwierigkeiten haben, überhaupt zusammen zu leben, also
jedenfalls im Akademikerbereich, sagen wir mal. Dann kriegt man irgendwo eine
Stelle und dann geht man halt dahin, und der Andere bleibt da, wo er eine Stelle hat.
Also, die Berufsansprüche sind schon so, dass es eine Art von Individualisierung
verstärkt, einerseits, was die Alltags-Lebensführung angeht, andererseits auch die
Einstellung.
O-Ton Hoff: Diese vormalige strikte Trennung hat man schon längst nicht mehr
zwischen Arbeits- und Privat- und Familienleben.
Sprecherin: Ernst Hoff, Arbeitspsychologe
O-Ton Hoff: Diese Balance war allein schon durch die Reglementierung der
Arbeitszeiten schon gegeben, der wöchentlichen, der monatlichen, der
Jahresarbeitszeit und der Lebensarbeitszeit. Und man kann mehr und mehr
entdecken, wenn die jungen Leute einsteigen in das Beschäftigungssystem, dass sie
rund um die Uhr arbeiten müssen, dass sie total flexibel sein müssen, aber auch sein
wollen, und da droht die Grenze zwischen Berufs- und Privatleben zu
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verschwimmen. Oder das Privatleben wird verschluckt von dem übermächtigen
Berufsleben.
O-Ton Hempelmann: In den Kirchen gibt es natürlich auch ganz unterschiedliche
Trends.
Sprecherin: Reinhard Hempelmann, Theologe
(ff.)Es gibt einen Trend, diese christliche Perspektive so zu interpretieren, dass man
sehr großen Wert auf die individuelle Gewissensentscheidung des einzelnen
Christen legt, aber es gibt in den Kirchen ja auch wieder sehr starke
Gemeinschaftsbewegungen. Und der Sachverhalt, dass zahlreiche neue Freikirchen
in den letzten Jahrzehnten auch entstanden sind hier in Deutschland, zeigt dass es
eben nicht nur die Sehnsucht nach individueller Freiheit gibt, sondern dass es auch
die Sehnsucht nach stärkerer, verbindlicherer überschaubarer Gemeinschaft gibt, die
in solchen neuen freikirchlichen Szenen erkennbar wird und sich dort ausdrückt.
Sprecherin: Sehnsucht nach Gemeinschaft. Der Wunsch nach dem Wir-Gefühl
gegen die Vereinzelung zeigt sich an vielen Ecken: Public Viewing während der
Fußball-WM, Party-Cliquen treffen sich in ihrem Lieblings-Club zum gemeinsamen
Tatort-Kucken, ganze Firmen-Abteilungen melden sich zum kollektiven Kochkurs im
Szenerestaurant an.
Gemeinsinn und Individualismus - schon immer ist der Mensch zwischen
diesen Polen hin und her gependelt. Seit dem Krieg hat sich das Verhältnis jedoch
beständig verschoben. Vom Wiederaufbau in den 50ern bis zur Wiedervereinigung in
den 90ern.
Atmo-Collage 50er Jahre
O-Ton Gerlach: Ich bin Wolfgang Gerlach, aus dem Jahr 1933, komme aus
Ostpreußen und bin, nachdem ich 35 Jahre evangelischer Pfarrer war, jetzt im
zehnten Jahr der Pensionszeit.
Sprecherin: In den 50er Jahren lebt Wolfgang Gerlach zunächst noch in einem so
genannten Alumnat, einer Art Internat – fern von der Geborgenheit einer Familie.
Seine verwitwete Mutter hatte ihre fünf Kinder nach der Flucht quer durch
Deutschland verteilt untergebracht.
O-Ton Gerlach: Gemeinschaft, ja, zweierlei: Unter den Schülern. In der Klasse, im
Alumnat und auch in der Klasse selber, da habe ich durchaus Gemeinschaft erlebt,
auch weil das fast eine reine Jungsschule war, das war nur unter Jungs. Und ich
habe zwischen 48-58 in allen Ferien Gemeinschaft erlebt auf einem zur
Verwandtschaft gehörenden sehr hübschen Schlösschen im Württembergischen, wo
ich alle Ferien war und wo ich die meisten geistigen Anregungen bekommen habe.
O-Ton Ganßmann: Ich glaube in der Aufbauphase, war das eine andere Form von
Zusammenhalt, also in dem Sinne, dass dieses Aufbauprojekt doch auch ein WirGefühl erzeugt hat, also, man muss es wieder richten und man muss in der Welt
wieder etwas werden, ich denke, da war das noch stärker. Und es ist auch klar, dass
so etwas wie eine westlich-individualistische Kultur ja doch erst später wirklich greift.
Kommentar [a1]: Die Formulierung
„während der 68er“ ist nicht ganz glücklich,
außerdem sprechen ja nicht nur besagte
Menschen.
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Sprecherin: Akademiker haben einige kleine individuelle Freiheiten mehr.
O-Ton Gerlach: Im Studium war ich sehr erschrocken, zunächst im Kunststudium,
wie freizügig dort Feste gefeiert wurden. Ich sah mich da in einem abenteuerlichen
Sündenpool. Aber wie so oft: Der Appetit kommt beim Essen, fand ich das nachher
so schön, dass ich mich sehr, sehr schwer getrennt habe von diesem Studium und
von dieser Akademie in Kassel.
Sprecherin: Denn die Moral ist ansonsten eng in der Adenauer-Republik, die
gesellschaftlichen Regeln starr, Gemeinschaft oft sehr einengend. Eigene
Lebensentwürfe sind nicht vorgesehen.
Um Theologie zu studieren, wechselt Gerlach die Stadt.
O-Ton Gerlach: In Hamburg wohnte ich mit Mutter und Großmutter zusammen und
zum Teil auch noch mit einem Bruder in einer kleinen Dreizimmerwohnung, da habe
ich mein Eigenes schon auch gelebt, dass ich noch sehr genau weiß, dass meine
Mutter drei Tage nicht mit mir gesprochen hatte, nachdem ich eine Nacht mal nicht
nach Hause gekommen war. Das musste ich damals empfinden, wie über sämtliche
verfügbare Stränge zu schlagen.
Sprecherin: Selbstverwirklichung war auch im Berufsleben nicht die Regel
O-Ton Hoff: Der klassische Arbeitstyp war eigentlich der Fabrikarbeiter, und da gab
es doch viele Leute, die nicht so qualifizierte Handarbeit verrichteten, und eine ganze
Reihe Facharbeiter, der deutsche Facharbeiter, der etablierte sich damals so richtig,
aus der Sicht der Entwicklung in der Arbeitsgesellschaft kann man vielleicht sagen,
dass die negativen Begleiterscheinungen von Taylorismus und Fordismus, sehr
repetitive Teilarbeit, die teilweise damals doch sehr restriktiv war und eine Menge an
physischen Belastungen mit sich brachte, dass dieses mehr und mehr versucht
wurde zu kompensieren durch gesicherte Arbeitsverhältnisse und durch die
sozialstaatlichen Regelungen.
Atmo-Collage 60/70er
O-Ton Kernich: Ich bin Christine Kernich, 1947 geboren, Beruf ist immer ganz
schwierig zu sagen, weil ich habe so viele gemacht, im Moment bin ich Beraterin in
einem sozialtherapeutischen Institut und arbeite mit Gewaltopfern, mit Kindern und
Jugendlichen in Brandenburg.
Sprecherin: 1966 kommt Christine Kernich zum Studium nach West-Berlin und zieht
zeittypisch in eine WG.
O-Ton Kernich: Wir haben unheimlich viel mehr zusammen gemacht, dadurch dass
auch viele Arbeitsformen, die wir entwickelt haben, auch im Studium, immer
gemeinschaftliche Arbeitsformen waren. Das hatte schon eine Struktur. Also
entweder man hat zusammen gegessen und gekocht, zusammen natürlich immer
diskutiert, immer, immer, immer oder man hat zusammen etwas vorbereitet für eine
der vielen Arbeitsgruppen oder Gruppen oder Organisationen, mit denen man sich
gemeinschaftlich beschäftigte und in denen man drin war, wo man gemeinschaftlich
etwas gelesen hat und darüber diskutiert hat, es wurde viel über Bücher gesprochen
oder über Theorien gesprochen oder es wurden unheimlich viel Pläne geschmiedet.
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Sprecherin: Gemeinschaft ist Kernich wichtig. Ebenso aber das Gefühl, sich von
ihrer traditionellen Erziehung abzusetzen und einen eigenen Weg zu gehen.
O-Ton Kernich: Ich selber kenne aus meiner frühen Kindheit und meinem
Heranwachsen noch sehr autoritäre Strukturen -, nicht durchgängig in der Familie auf der Großelternebene, und der war ich auch sehr ausgesetzt, das heißt, ich hatte
ganz eindeutig natürlich den Wunsch, dazu Alternativen in meinem Leben zu
entwickeln. Wir haben einfach neue Lebensformen ausprobiert.
O-Ton Ganßmann: Die Studentenbewegung selber ist dann auch gekippt in ein
Projekt, wo dann eher die repressiven Züge von Gemeinschaft intern sehr stark
wurden. Also, wer nicht für uns ist, ist gegen uns, also diese Art von Gedanken, nicht
nur Gedanken, sondern auch Organisationen gab es ja auch in der Zeit. Aber ich
denke insgesamt, was die Art der Lebensführung angeht, war das dann doch ein
großer Umbruch, der vielleicht bedeutet hat, dass alte Formen von Gemeinschaft
weggefallen sind und dann aber dann es auch Versuche gab, etwas Neues
herzustellen. Also, denen Sie an so etwas wie die Kinderladen-Bewegung, also man
organisiert es selber, macht es zusammen und nimmt das nicht irgendwie als vom
Staat gegebene Sache, wo man seine Kleinen abliefert und kümmert sich nicht
weiter drum.
Atmo DDR: FDJ-Lied
O-Ton Nitschmann: Mein Name Nik Nitschmann, ich sage zum Jahrgang gern, ich
bin ungarischer Jahrgang, also 1956, Jahr des Aufstandes in Ungarn, stamme aus
Thüringen, Berufe habe ich etliche, der erste nannte sich im DDR-Amtsdeutsch
Zootechniker mit Abitur ... - Religionspädagoge und PR-Berater.
Sprecherin: Nik Nitschmann stammt aus einer Familie überzeugter Sozialisten, hatte
das Denken verinnerlicht. Und eckte doch immer wieder mit seinem Eigensinn an.
Später wendete er sich der evangelischen Kirche zu und studierte Theologie.
O-Ton Nitschmann: Gemeinschaft ... wenn ich wirklich versuche, zu verallgemeinern,
Gemeinschaft wurde in der DDR eher gepflegt als eine Flucht vor dem Staat. Nicht
weil ich eine Philosophie hatte oder eine Lebensphilosophie, dass ich sage, ich bin
Gemeinschaftswesen, von daher muss ich auch etwas für die Gemeinschaft tun,
sondern es war überwiegend schlicht Ausweichen vor dem offiziellen Druck des
Staates. Das konnten genauso gut Hundezüchter-Vereine sein, habe ich in den 80er
Jahren gesagt, oder Briefmarkensammler, okay, ich war dann halt in so genannten
Zweidrittel-Weltgruppen aktiv, wir nannten das Zweidrittel-Welt, nicht Dritte Welt, als
eine Form von politischem-gesellschaftlichem Gemeinschaftsengagement.
O-Ton Ganßmann: Was man so weiß, ist, dass das eben so eine Art
Doppelgesellschaft war, in dem Sinne, dass es einen offiziellen Teil gab und einen
sehr stark auf Vernetzung angewiesenen informellen Teil. Also, wo kriegt man was
her, was man braucht, was man nicht kaufen kann, wie hilft man sich gegenseitig,
also dieses ganze Tauschsystem, was auf persönlichen Netzwerken beruht. Und da
könnte man sagen, das ist natürlich auch eine starke Form von
Gemeinschaftsbildung. Die so eher aus der Not geboren ist, aber das heißt ja nichts
über die Stärke dieser Gemeinschaft, die dann wirklich zusammen etwas macht und
organisiert.
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O-Ton Nitschmann: Die große Zahl derjenigen, die heute jammern oder klagen oder
nur feststellen, früher war es mehr Gemeinschaftsleben, sind vielleicht solche, die
sich nur wenig dem äußeren Druck so engagiert haben. Du kannst dich auch heute
noch mit Leuten treffen, du kannst das viel leichter, suchst dir Leute, gründest eine
Gruppe zu irgendeinem Thema, das ist doch heutzutage viel leichter!
Atmo-Collage 80er Jahre
O-Ton Siller: Mein Name ist Wigbert Siller, ich bin Jahrgang 56, arbeite in der
Kommunalverwaltung unserer Stadt, bin verheiratet, habe zwei erwachsene Kinder
und 0,38 betrachte mich ein Leben lang als auf der Suche.
Sprecherin: In den 80er Jahren sucht Siller trotz Familie mit damals zwei kleinen
Kindern auch den Kontakt zu Gleichgesinnten. Er will gesellschaftlich etwas
verändern.
O-Ton Siller: Das heißt einerseits eine bewusste Nähe zur Hausbesetzerbewegung,
die aus meiner Sicht versuchte, hier verkrustete Lebensverhältnisse im Sinne von
Gemeinschaftlichleben-Modellen durchzusetzen, sicherlich in sehr unterschiedlicher
Qualität, aber das war der Grundansatz, der war auf jeden Fall erstrebens- und
verteidigungswert. Der kirchliche Bereich war geprägt für mich von Aktivitäten in der
katholischen-charismatischen Gemeindeerneuerung, das war damals relativ... in ist
jetzt nicht der ganz richtige Begriff.
Sprecherin: Wigbert Siller sieht sich damals als links-katholisch und ist in der
kirchlichen Friedensbewegung aktiv.
O-Ton Siller: Sagen wir mal: Gesellschaftlich etwas bewirken zu wollen, war in der
Altersgruppe junger Menschen Anfang der 80er doch relativ Konsens. Wenn
natürlich auch die Wege dahin sehr unterschiedlich waren. Aber die Frage, wieso
wirkt man überhaupt in die Gesellschaft hinein und versucht es, die war, sagen wir
mal, im Regelfall nicht noch Diskussionsinhalt.
O-Ton Hoff: Es ging dann mit der Computertechnologie, der Informations- und
Kommunikationstechnologie so richtig los in den 80er und in den 90er Jahren. So
dass man dann sagen kann, die Rede von der Wissens-, der Kommunikations- und
der Informationsgesellschaft, das kam eigentlich erst so richtig Ende der 80er, in den
90er Jahren. So dass man sagen kann aus der alten Industriegesellschaft ist
allmählich geworden eine Dienstleistungs- und dann vermehrt eine Wissens- und
Kommunikationsgesellschaft.
O-Ton Ganßmann: Ich glaube, einen Teil, den es dann neu gibt, ist also die
Wirtschaftskrise, also sozusagen die Wohlstandsaufbauphase, die endet ja schon mit
dem ersten Ölpreisschock, also so Mitte der 70er Jahre, dann gab es den zweiten
Anfang der 80er Jahre und seitdem haben wir relativ hohe Arbeitslosigkeit und haben
natürlich Probleme mit der ganzen Frage, wie werden die Belastungen von so etwas
verteilt. Und was natürlich während der Zeit auch läuft und für die ganze Frage
wichtig ist, ist die Zuwanderung. Anfangs Gastarbeiter, also, es fängt ja in den 60er
Jahren an und wird dann sozusagen zu einem permanenten Phänomen. Das war ja
ursprünglich, wie der Name sagt, gedacht, man schickt die Leute wieder weg, wenn
man sie nicht mehr braucht, das Kalkül ist eben nicht aufgegangen, und jetzt haben
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wir die Frage, wie werden die Leute integriert und gibt es noch so etwas wie
Gemeinschaftsbildung über diese ethnischen Grenzen weg.
O-Ton Siller: Die Erfahrung von Solidarität, von Dasselbe-Wollen, war unheimlich
wichtig, die Frage, wie weit das nachher wirklich über längere Zeiten im Alltag, die
würde ich rückblickend jedenfalls wesentlich differenzierter sehen. Die Frage bei
einer Sitzblockade der US-Radarstation am Teufelsberg in West-Berlin,
gemeinschaftlich der Staatsgewalt, der Militärpolizei zu trotzen, die Zufahrt zu
blockieren, sich von der Fahrbahn tragen zu lassen, von einem Anwalt
gemeinschaftlich vertreten zu lassen, sich vorher festzulegen auf „Wir bleiben
unbedingt gewaltfrei“ waren alles Erfahrungen, war sehr gut, die Frage aber, was ist
davon nach zwei Jahren noch übrig, wenn jeder sein Leben weiter lebt, mit einer
Anzeige oder nicht, sehr unterschiedlich dann auch, aber da setzte auch, jedenfalls
rückblickend denke ich, auch damals schon ein ganzes Stück Vereinzelung ein, die
heute stärker geworden ist, aber die ich da auch schon sehr stark im Werden sehe.
Lied Die Mauer ist weg, etwas stehen lassen
Sprecherin: Die 90er Jahre – Vereinigung zweier Staaten, zweier
Wirtschaftssysteme und zweier Mentalitäten. Dazu Millionen von osteuropäischen
Einwanderern. Ganz Deutschland hat eine große Herausforderung zu bewältigen.
Die Frage nach Gemeinsinn und Individualität stellt sich unverhofft ganz neu – in der
Form nach nationaler Solidarität.
O-Töne Ganßmann: Man kann die Probleme, die die Wende mit sich gebracht hat,
also die großen Ungleichheiten im Einkommen, die De-Industrialisierung im Osten,
wie baut man die Wirtschaft wieder auf und so weiter, die hätte man ja mit... und das
ist zum Teil auch versucht worden, mit Appellen an so etwas wie eine nationale
Gemeinschaft, versuchen können, anzugehen. Da gab es damals so einen Brief von
Leuten inklusive Helmut Schmidt und so weiter, die dann so etwas gefordert haben,
dass man das macht, es ist aber offiziell nie so aufgegriffen worden, und ich glaube,
da steckt auch ein bisschen das Gefühl dahinter, dass das vielleicht nicht geklappt
hätte.... und das hat man dann eben auf dem Weg von Finanzströmen geregelt.
Sprecherin: Die 90er Jahre bringen auch das Internet, die Globalisierung,
verschärften Wettbewerb, immer mehr Armut und gleichzeitig immer mehr Reichtum,
mehr Konkurrenzdruck und rasante Auflösung der klassischen Arbeitszeiten.
Faktoren, die den Menschen zunehmend zum Einzelkämpfer machen. Es gibt kaum
noch einen gemeinsamen Lebensrhythmus.
Musikzäsur, Minimal Music, ca. 30 Sekunden
Sprecherin: Individualismus und Gemeinschaft. Der Mensch braucht beides. Und er
braucht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen beiden Polen, um sich wohl zu
fühlen. Doch dieses rechte Maß zwischen „Ich“ und „Wir“ zu finden, ist nicht leicht.
Die große individuelle Freiheit, dass jeder seinen ganz persönlichen Lebensstil
suchen und leben kann, hat ihren Preis. Die Gemeinschaftserlebnisse, die noch in
den 50er Jahren, 1968 oder in den 80ern so natürlich schienen, sind heute nicht
mehr selbstverständlich. Doch Gemeinschaft ist möglich, auch heute – allerdings mit
viel Bewusstsein, Eigeninitiative und einer großen Portion Selbstverantwortung.
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O-Ton Nitschmann: Ich denke, dieser Punkt Gemeinschaftsgeist... wer sich
engagiert, hat so einen Geist, und der macht das mehr oder wenig unabhängig
von...ob das 1945 ist oder 1989 und ob das in Ost-oder Westdeutschland ist, also, es
hängt viel von der Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen ab.
O-Ton Siller: Wenn ich Individualismus so verstehe, dass ich für mich
Entscheidungen finden muss, dass ich für mich einen Weg finde, und diese
Entwicklungen meist in den Phasen stattfinden, wo man nicht per se glücklich ist und
nicht einfach alles toll ist und Spaß macht, sondern wo man über seine
Schwierigkeiten stolpert, das sind die Auslöser für Entwicklungen, und zwar
individuelle. 2,18 Niemand lebt für sich allein, das sage ich auch aus Überzeugung,
aber die eigene Entwicklung, die nimmt mir doch niemand ab.
O-Ton Gerlach: Ich mach die Erfahrung, wenn ich, wie das im Osten üblich war, da
wartete man nicht, bis jemand einen einlud, da sagte man sich an. Hast du heute
auch nichts vor oder hast du keine Lust mehr zu arbeiten? Dann komm ich mal
schnell rüber. Und die sind alle froh und sagen, dass ist doch wunderbar, das
müssten wir doch mal weiter pflegen.
O-Ton Kernich: Wir sind auch noch als ältere Leute ziemlich kraftvoll, also, so wie ich
uns erlebe, wenn wir uns treffen haben wir sehr viel Spaß und Vergnügen und
gleichzeitig habe ich immer das Gefühl, da sind wir von früher auch noch drin, wir
tragen das auch noch in uns, wir entwickeln uns einfach weiter.
Sprecherin: Möglichkeiten, heute Gemeinschaft zu erleben, sehen auch die
Experten.
O-Ton Ganßmann: Das ist natürlich auf der einen Seite so was wie der
Freizeitbereich, also, wenn man Sachen zusammen macht, also eine Kanutour oder
Skifahren oder weiß der Himmel was, also etwas Vergnügliches oder auch
Mannschaftssport ist ja so etwas, wo das auf eine elementaren Ebene immer abläuft.
Und bei so Fragen wie sozialen Bewegungen, also Engagement für eine politische
Sache, das gibt es ja nach wie vor auch sehr stark. 2,07 Und ich denke, auch nach
wie vor in den Kirchen kann man so etwas machen und wird auch gemacht.
O-Ton Hempelmann: Also, es gibt zum Beispiel in den evangelischen Landeskirchen,
in zahlreichen Landeskirchen die Einladung zu Glaubenskursen. Für Erwachsene.
Wo erwachsene Menschen, die sich dem christlichen Glauben wieder annähern
wollen, Gelegenheit haben zum Gespräch, auch Gelegenheit bekommen,
Information über das christliche Leben, über die christlichen Kirchen zu bekommen.
O-Ton Hoff: Diese Work-Life-Balance, dahinter steckt für mich eigentlich doch sehr
stark eigentlich ein uralter Gedanke, der die ganze praktische Philosophie historisch
durchzieht, nämlich der Gedanke nach dem guten Leben.
Music, s.o. darauf
Titelsprecherin:
Vom Wir zum Ich und retour – ein Lebensgefühl im Wandel. Sie hörten eine Sendung
von Elena Griepentrog.
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Es sprach: Regina Lemnitz
Ton: Robin Rudolph
Redaktion: Anne Winter
Regie: Ralph Schäfer
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