Leidenschaftlich unbesorgt

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Tandem
Leidenschaftlich unbesorgt
Der unbesorgte Autor Hans-Otto Reintsch hat mit besorgten
Bürgern über ihre Sorgen gesprochen und erstaunliche
Erkenntnisse gewonnen
Von Hans-Otto Reintsch
Sendung: Donnerstag, 29.09.2016 um 10.05 Uhr
Redaktion: Rudolf Linßen
Regie: Hans-Otto Reintsch
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
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MANUSKRIPT
O-Ton:
(Kampfvortrag besorgter Bürger, Versammlungsraum,) Nie hätte ich gedacht, dass
angeblich integere und gebildete Menschen sich auf ein derart primitives Niveau
zurückentwickeln können. Deren Argumentationen und Belehrungsattitüden
abstrahieren auf erbärmlichste Art und Weise ihre Weltfremdheit…usf. Kurz weiter
unter Autor
Autor:
Besorgte Bürger. Sie sehen entspannt aus. Unauffällig. Normal. Deshalb werden sie
gern übersehen. Aber ständig wird über sie geredet, in den Medien, im Netz, in der
Politik. Im gesellschaftlichen Raum. In der Familie. Es scheint, als gäbe es kaum
noch einen Bürger, der nicht besorgt ist.
Vor ein paar Tagen auf einer Wiese.
Proletarischer Kleinunternehmer, Party-Zeltverleih. Redet viel. Voller Bedenken.
Worüber? Eigentlich über alles. Das Wetter, Die Kunden, die Politik, die Merkel, das
Geld. Sind sie ein besorgter Bürger? Jaa! Sagt er selbstbewusst. - Ich suche Bürger
voller Sorgen! Sage ich.
Er:
Frag MICH! - Wunderbar, ich hole nur schnell mein Mikrofon! Er winkt ab.
Entschieden. Nein, auf gar keinen Fall. Dann schweigt er. Peinlich berührt. Stopft Zelt
und Sorgen in einen Sack, wirft alles auf den LKW und fährt davon. Besorgt.
Autor:
Nein, er redet nicht gern, der besorgte Bürger. Allein duckt er sich weg. Wer ihm
begegnen will, muss hinter den Busch. Ins Internet, in die sozialen Netze. Dort ist der
besorgte Bürger zu treffen. Massenhaft. Facebook, Gruppe „Besorgte Bürger“:
Zitatorin 1:
Wenn es nach der Bundesregierung geht, sollen Alleinerziehende künftig weniger
Geld vom Staat bekommen, wenn der andere Elternteil mal einen Tag aufs Kind
aufpasst...
Hauptsache andere bekommen auch weiterhin schön Geld in den Arsch gesteckt...
Zitatorin 2:
Fick dich Merkel diese Menschen brauchen mehr Geld um tagesmutter zu bezahlen
damit sie arbeiten können
Zitatorin 1:
Genau das wollen die verhindern! Es soll keine deutschen Kinder mehr geben oder
Frau muss sich alles gefallen lassen, damit sie noch überleben kann! wir werden
nicht auf den islamischen weg gebracht, sondern versucht uns zu zwingen
2
Zitatorin 2:
Das ist kein Versuch mehr sondern teil des Plans
Autor:
Facebook der Kummerkasten. Seit es die Netzwerke gibt, muss man für seine
Sorgen nicht mal mehr vom Stuhl hoch.
Zitatorin 1:
Ich kann diese schwarzen Hackfressen alle nicht mehr sehen.
Autor:
Und das ist nur eine kleine Sorge für zwischendurch! Originalton Gruppe „Besorgte
Bürger“. Unter diesem Label agieren viele Gruppen. In sich geschlossen. Sie alle eint
die Sorge um Deutschland, um die Zukunft. Oder so. Sie alle eint das Gefühl der
Abgeschlagenheit.
Das Gefühl war schon immer da. Auch die Abgeschlagenen. Aber noch nie war so
viel Sorge da. Weil sich Sorgen noch nie so leicht vervielfältigen ließen. Wer sie
lange genug im Netz studiert verfällt dem Wahn, die Sorgen der Bürger hätten sich
atomisiert. Verselbständigt. Losgelöst von den Bürgern führen die Sorgen eine
eigene Existenz. Jederzeit bereit, sich zu verlinken.
Autor:
Besorgte Bürger sind scheu. Es scheint, als träten sie nur in Gruppen auf. Oder nur
in geschlossenen Räumen.
Andreas K. ist einer, der sie oft erlebt, die besorgten Bürger. Auf dem Autositz. Krohn
ist Fahrlehrer in Berlin. Seit 45 Jahren sitzen die Sorgen neben ihm. Hermetisch
eingeschlossen. Warum sind alle so besorgt?
O-Ton Andreas K.:
Verstehe ich auch nicht. Bei mir im Haus ist zwei Mal eingebrochen. Einmal wohnt da
eine vietnamesische Familie und eine arabische Familie. Und bei denen haben sie
eingebrochen! Jetzt rüsten die anderen auf! Jetzt machen die Querriegelschlösser in
die Wohnungstüren rein…Und haben Sorgen.
Autor:
Andreas K. ist Dienstleister und verlangt Geld dafür. Und genau da, sagt er, beim
Geld, hört sich alles auf und fängt alles an, was ihn besorgt. Den Bürger.
O-Ton Andreas K.:
30 Jammern auf hohem Niveau, kann man sagen! Ansonsten, wenn man
einigermaßen normal mit seinen Finanzen umgeht, dann kommt man doch aus…Ich
frage mich immer, warum Leute Geld ausgeben, was sie gar nicht haben. Das geht ja
in der Fahrschule schon los! Nä? Dann melden sich die Leute an, und dann geht’s
los mit den Fahrstunden. – Ja aber kann ich nicht, ich kriege erst Ende des Monats
Geld. Also die haben einfach nicht gespart…und dann zieht sich das hin und dann
zieht sich das hin. Und dann wird auf Prüfung gedrängelt…dann haben sie das Geld
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nicht. Genau. Theorieprüfung gerade so geschafft, auch keine Zeit, weil zu Hause
dann alleinstehend mit Kind, oder der Mann und Schichtdienst und weiß ich, was
alles so zusammenhängt. Das ist ja nicht nur das Problem alleine die Fahrschule.
Sondern das ist ja das Problem, das ganze Leben in den Griff zu kriegen, ja?
Autor:
Steile These:
Die besorgten Bürger sind die, die kein System in ihr privates Leben kriegen und
dem System die Schuld dafür geben?
O-Ton Andreas K.:
Jenau so isset! Dann wollen sie den Führerschein haben, dann wollen sie auch ein
Auto haben,…haben, haben haben, das ist das, ja! Besitz! Besitz – wenn sie das
haben, sind sie was!
O-Ton Kristiane W.:
…Wir verschulden uns, wir brauchen zwei Autos, wir brauchen NOCH einen
größeren Flatscreen, WAS wir nicht alles brauchen – und darum sorgen wir uns.
Autor:
Kristiane W. ist eine besorgte Bürgerin. Frisch gekündigte Chefsekretärin, Mitte
vierzig, zwei Kinder, alleinerziehend. Ihre geräumige Maisonettwohnung strahlt
Gediegenheit aus, mit geborgtem Geld kaufte sie sich vor ein paar Jahren ein Haus
auf dem Land. Und doch: Ihr Grundton klingt besorgt. Nicht nur weil ihr eigener
Lebensstandard ständig zu wanken scheint, sondern auch weil sie inzwischen als
freiberufliche Lebensberaterin besorgte Bürger coacht. Sie sagt, all die Sorgen der
Bürger haben System.
O-Ton Kristiane W.:
Der besorgte Bürger ist für mich ein Produkt aus der Wirtschaft. Politik – auch eine
Folge von Wirtschaft, das sind alles Marionetten, der besorgte Bürger wird besorgt
gemacht…wird in den Medien suggeriert, du brauchst das, du brauchst das, du
brauchst das, du brauchst n guten Job, deine Frau muss da und die Kinder müssen
in die Musikschule und das muss alles sein um ein erfolgreicher Mensch zu sein, und
dadurch kriegen aber die Sorgen und die materielle Abhängigkeit in ihre Familie, in
ihr Privatleben rein gestülpt und kümmern sich nicht mehr darum, was draußen
eigentlich global los ist.
Autor:
Wie es scheint, gibt es für den besorgten Bürger immer ein Drinnen und ein
Draußen. Drin ist da wo Bürger und Sorgen sind, draußen ist Wirtschaft, Politik,
Medien. Die Dreifaltigkeit aller Besorgten. Die da oben. Drin ist vor allem da, wo man
vor lauter Sorgen nicht mehr zum Nachdenken kommt.
O-Ton Kristiane W.:
Sie haben die Sorge um ihren festen Arbeitsplatz. Sie sorgen sich um ihr
regelmäßiges Einkommen. Weil da können sie ihre regelmäßige Miete und ihre
regelmäßige Rate nicht mehr bezahlen. Sie sorgen sich ähm…(Umwelt?
Kinder?)…Wa? Umwelt? Kinder? Nee. Sie sorgen sich darum, ob ihnen morgen auf
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der Straße wieder einer ins Auto rein fährt, Scheiße, noch ne Reparatur. Oder darum,
wenn der Winter jetzt anbricht, Scheiße ich habe die Winterreifen noch nicht drauf.
Sie sorgen sich darum,…ob die Kinder den Abschluss nicht schaffen. Weil die ja
dann auch keinen guten Job und kein regelmäßiges Einkommen bekommen.
Autor:
Wirtschaftspsychologen sagen, dass die Mehrzahl der Bürger wie nie zuvor daran
gewöhnt wurde, dass ihre Bedürfnisse immer schneller und immer billiger befriedigt
wurden. Noch nie in der Geschichte haben so viele Bürger über Generationen
hinweg so hohe Wohlstandserwartungen aufgebaut. Noch nie waren die Bürger so
wenig verzichtsbereit wie heute. Parallel zum Besitz steige etwas an, das aus allen
Protesten, Demonstrationen und Parteiprogrammen der Besorgten herauszuhören
sei.
Es klingt wie das Hintergrundrauschen aller Besorgten-Bürger-Bewegungen:
Verlust-Aversion. Diese Aversion lenkt der besorgte Bürger um auf die anderen. Die
Fremden. Und hat sein Generalthema gefunden.
O-Ton Kristiane W.:
Ja. So was in der Art…sollen doch ruhig die Leute teilen…sollen doch die Doofen mit
denen teilen, die teilen wollen, ich will nicht teilen. Mich hat keiner gefragt, ob ich mit
denen teilen will. Mich hat auch keiner gefragt, ob die hier her kommen
wollen…Selber Schuld!... Bekloppt.
Autor:
Ist der besorgte Bürger eigentlich ein latent beleidigter Bürger?
Der besorgte Bürger redet nicht über die verdammte Schere zwischen arm und reich,
die langsam alles zu zerreißen scheint. Nicht über globale Herausforderungen. Der
besorgte Bürger hat wenig Geduld. Und redet selten von der eigenen Verantwortung.
Wenn das Wasser kälter wird schüttet er das Kind mit dem Bade aus. Das System
muss weg.
O-Ton Kristiane W.:
Was IST denn Demokratie? Also ich persönlich glaube nicht an Demokratie.
Unsere Politik wird gemacht von Leuten mit Geld. Zwischen der Wirtschaft und der
Politik ist der Lobbyismus und vergiss es!
O-Ton Tom Aslan:
(Aslan im Laden) …WOHLSTANDSVERWAHRLOSUNG…Wir müssen bestimmte
Dinge uns wieder antrainieren…Wir müssen wieder Lust bekommen!
Autor:
Tom Aslan, 35, sieht aus wie ein besorgter Bürger. Unauffällig. Normal. Hemd,
Pullunder, Seitenscheitel. Er lebt in Köthen, Sachsen-Anhalt. Ständig auf den
Beinen. Wer ihn sprechen will, muss im Sturmschritt neben ihm her laufen.
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O-Ton Tom Aslan:
(Aslan im Laden) Ich kann sagen warum mir die besorgten Bürger nicht so viel HALLO! Entschuldige…
Autor:
Aslan sorgt sich 24 Stunden am Tag um die Sorgen der besorgten Bürger. Die gibt
es hier reichlich. Sachsen Anhalt ist so etwas wie das Epizentrum der besorgten
Bürger Deutschlands. Hier regieren die Partei gewordenen Sorgen der Bürger
inzwischen im Landtag mit.
O-Ton Tom Aslan:
(Aslan im Laden) Also wenn ich sage: MEINE AfDler bin ich, glaube ich, einen Schritt
weiter. Als zu sagen: DIE AfDler. Mit meinen AfDlern…ist noch Option auf Einfluss.
Wenn es DIE sind, habe ich keinerlei Einfluss mehr.
Autor:
Köthen hat 26 000 Einwohner. Bürger Aslan scheint jeden zu kennen. Grüßt, redet,
telefoniert, mailt ständig in alle Richtungen. Aslan ist Franke mit türkischen Wurzeln,
ohne Religion, ohne Partei, ohne Amt. Seit neun Jahren in Köthen, Lokalpatriot und
bekannt wie ein bunter Hund. Sorgt sich. Um die Entwicklung.
O-Ton Tom Aslan:
(Aslan im Laden) Für mich ist Weiterentwicklung, wenn man die Grenze um ein paar
Zentimeter überschreitet…und dann wage ich nachts, zwei, drei Zentimeter mehr zu
wagen. Zumindest in der Planung. Und dann denke ich mir immer: Wie bringe ich
das den Leuten bei.
Autor:
Bürger Aslan hat in Köthen eine Werbefirma. Kommunikation und Marketing ist sein
Gebiet. Leute zusammenbringen, vernetzen, Grenzen verschieben. Als Netzaktivist
hat er sich schon immer gesorgt. Um das System und die Rettung der Welt. Kleiner
bekommt man es von ihm nicht. Seine geistige Heimat sind die linken Gruppierungen
im Internet, die unendlich vielen linken „Diskussionszusammenhänge“ die sich am
Kapitalismus abarbeiten. Doch da ist er längst rausgewachsen. Er sorgt sich nicht
mehr um die Wirklichkeit, er gestaltet sie.
O-Ton Aslan:
Aslan führt durch Villa
Hier ist die Kinderlounge, der Kinderwintergarten…also wenn das Wetter jetzt schön
wäre, würden hier 20 Kinder rum rennen…aus der Stadt, Leute, die hier aktiv sind…
Flüchtlingskinder, hier ist immer ganz viel mit Kindern…
Autor:
Wer seine vielen Aktivitäten bestaunen will, braucht Zeit. Aslan führt durch sein
Refugium in Köthen. Eine stattliche, denkmalgeschützte Gründerzeitvilla an der
Hauptstraße.
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O-Ton Tom Aslan:
So…Hier entsteht eine neue Online-Redaktion, die heißt Hayat. Hayat bedeutet
Leben auf arabisch, wird eine deutsch-arabische Online Plattform sein. Wo man
quasi die erste Einwanderergeneration über alles informiert was es gibt, und sie vor
allem begleitet.
Autor:
Doch keine Sorge, Bürger! Aslan ist nicht neureich. Im Gegenteil. Die Villa war zu
DDR-Zeiten Sitz der FDJ-Kreisleitung und stand zum Verkauf. Aslan suchte 2007 für
seine linke Denkfabrik „Global Chance Now“ mehr Bürofläche. Sorgte sich nicht,
sondern forschte nach den niedrigsten Immobilienpreisen in Deutschland und fand:
Köthen. Die Villa gabs für die Jahresmiete einer Dreiraumwohnung.
Und wurde zur Zentrale seiner Aktivitäten. Eine Mischung aus Kongresszentrum,
Partylocation, Kinderladen, Gästehaus, Lagerraum und Marketingagentur. Doch als
in Köthen plötzlich die Flüchtlinge auf der Agenda standen, setzte er neue
Prioritäten.
O-Ton Tom Aslan:
(Aslan beim Interview)…hier ist Sprachschule…hier finden jeden Tag Sprachkurse
statt von ehrenamtlichen Lehrern.
Autor:
Aslan ist ein Liebender. Er liebt Köthen. Bedingungslos.
O-Ton Tom Aslan:
(Aslan erklärt Flüchtlingsprojekt)…Das sind die Initiativräume von „Willkommen in
Köthen“.
Autor:
Als sich Sachsen Anhalt in den Wir-schaffen-das-Zeiten gereizt von den Flüchtlingen
ab und der deutsch alternativen Empörungspartei zuwandte, löste er geräuschlos die
Probleme, die Köthen besorgte.
O-Ton Tom Aslan:
(Aslan im Laden) Mittlerweile sind wir so eng verwoben mit allen städtischen
Institutionen, mit der Bevölkerung, vom Bürgermeister bis zu den Stadträten.
Autor:
Aslan bringt es fertig, für 500 Neubürger Einhundert Ehrenamtliche Helfer zu
mobilisieren.
O-Ton Tom Aslan:
(Aslan im Laden) Bunte Mischung, Querschnitt der Gesellschaft, von reich bis arm,
alle Parteien, alle sind vertreten.
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Autor:
Seine Villa ist inzwischen ein Sammellager für alles, was ausgebombte Neubürger
brauchen. Kleidung, Möbel, Hausrat, Spielzeug. Tonnenweise. Ist Herberge und
Rettungsstelle für alle Lebenslagen.
Tom Aslan wohnt mit Frau und Kindern nicht mehr hier.
Er brauchte Platz. Mietet einen Laden in der Innenstadt. Weil er zu allen immer sagt:
Ich brauche Dich. Weil eine Lösung ist, wo ein Aslan ist. Ehrensache Ehrenamt.
Irgendwo über dem Laden, zwischen all den Kindern, Flüchtlingen, Helfern und
Telefonen, lebt er. Wohnen wäre das falsche Wort, wohnen ist nicht sein Stil. Und
das Wort „Sorgen“ benutzt Tom Aslan eigentlich nie. Dabei hatten Besorgte in einer
kristallklaren Nacht die Scheiben seines Bürgerbüros zertrümmert.
O-Ton Tom Aslan:
(Aslan im Laden) Ja klar! Das sieht man doch da…Genau…Also seit einigen
Monaten ist hier nichts mehr passiert…hier war mal ein Briefkasten, hier war mal ein
Fenster…hier waren mal riesige Hakenkreuze…natürlich gibt’s das.
Autor:
Tom Aslan, der Vollzeitaktivist, regt sich nicht auf. Nie. Das wäre ihm viel zu
moralisch. Er redet in rasender Ruhe von Gemeinschaft und Gestaltung. Vom
gesellschaftlichen Raum, den er mit Ideen füllen will. Auch besorgte Bürger mit
Brechstange und Farbspray, die Räume demolieren, sorgen ihn nicht. Und sieht
dabei aus wie Nelson Mandela von Köthen.
O-Ton Tom Aslan:
(Aslan im Laden) Ich muss akzeptieren, dass wenn wir schon bei Tageszeit so was
nicht sehen, bedeutet das, dass wir am Tag in dieser Stadt Frieden haben und dass
Mitgestaltung möglich ist. Und in der Nacht gibt es so ein Zeitfenster, wo die
Wahnsinnigen sich austoben können. Und so lang die DA bleiben, sehe ich dem
Ganzen gelassen entgegen.
Autor:
Ob es sich um muslimische Einwanderer, Schwule oder gefüllten Saumagen handelt,
der deutsche Bürger weiß, wovor er sich fürchtet. Zitat Wolfram Siebeck. Tom Aslan
fürchtet sich nicht, niemals. Kann es sein, dass der Begriff Bürger auf ihn nicht
zutrifft? Oder dass die Besorgten den Begriff missbrauchen? Bürger. Historisch
gewachsen.
Seit der Antike eine politisch denkende, verantwortungsvolle Spezies.
Echte Bürger wissen:
Freiheitliche Kulturen leben nicht davon, dass der Staat alles regelt, sondern dass
die von ihnen profitierenden Bürger und Institutionen selbst wissen, dass Freiheit
auch eigene Verantwortung bedeutet. Und das kann Kraft und Zeit kosten.
Sorgen bereiten.
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O-Ton Tom Aslan:
(Aslan im Laden) Das ist nichts, was ich faktisch einfordern kann. Ich habe die
Erfahrung gemacht: Man kann es vorleben…Man kann mit Druck oder Sog arbeiten.
Autor:
Bürger Aslan, der Unauffällige, der Leise. Telefoniert ein paar Gleichgesinnte
zusammen und eilt zu einem Treffen mit den alternativen Deutschen. Nein, nicht zu
den AfDlern. Zu seinen AfDlern. Sog erzeugen.
Atmo:
Versammlung, Gemurmel – drunter raus
Autor:
Der Ort:
Ein Kirchenraum. Vorn links: CDU, SPD, ein Grüner. Und Aslan, der parteilose
Kümmerer. Rechts: Drei AfD-Männer aus dem Magdeburger Landtag. Man erkennt
sie an den schwarzen Sackos. In der Mitte der Gastgeber. Ein besorgter Pfarrer. Im
Saal: rechts ein Block besorgte Bürger, links die jüngeren Unbesorgten. Die Regeln:
Talkshow. Zuhören. Bitte Keine Zwischenrufe. Ein Brückenschlag soll gewagt
werden.
O-Ton Pfarrer:
(Pfarrer Begrüßung, Pilotprojekt)
Mit Mandatsträgern der AfD, das ist etwas Neues, dass eine Kirchengemeinde dazu
einlädt…eine Art Pilotprojekt…wir betreten Neuland…wo Gespräch vielfach nicht
mehr stattfindet…
Autor:
Und dann geht es ein bisschen um die Islamlüge, die Atomlüge, die Klimalüge, die
Dämmungslüge. Und um die Kreisumlage. Es geht ums Kommunale, es geht ums
Geld. Die Männer in Schwarz sorgen sich.
O-Ton AfD:
(AfD Kreisumlage)
Dass die Kreisumlage gesenkt wird. Die SPD und die CDU haben sich massiv
dagegen gewehrt…(drunter weiter)
Autor:
Es wirkt ein bisschen wie in den unsicheren Wendezeiten. Als an runden Tischen
noch Opposition geübt wurde. Und dann nimmt sich der Pfarrer ein Herz und stellt
die Gretchenfrage: Liebe AfD, welche Deutsche Epoche war die schönste? Lange
Pause. Dann die verblüffende Antwort: Die schönste deutsche Epoche war ein
Attentat.
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O-Ton AfD:
(Pfarrer an AfD, beste Zeiten Deutschlands)
…hin zum Nationalsozialismus, da haben wir die glückliche Wendung, dass es doch
ein paar aufrichtige Deutsche gab, die sich einfach diesem totalitären Staat und
diesem menschenverachtenden, ekelhaften Regime entgegengestellt haben, die
Deutsche waren und gekämpft haben…(drunter weiter)
Autor:
Allgemeine Ratlosigkeit, das Plenum schweigt, der Pfarrer grübelt, Tom Aslan guckt
wie immer. Entspannt. Aber dann. Im besorgten Block steht ein Mann auf.
Pastellfarbener Rentner. Drückt alle Gespräche weg und verliest ohne Vorwarnung
ein Pamphlet.
O-Ton:
Kampfvortrag besorgter Bürger
Ich frage mich, wie lange müssen wir uns diese Speichelleckerei von Politikern sowie
dem Gutmenschenkartell noch anhören. Wie lange noch wird verharmlost,
verschwiegen, geheuchelt, manipuliert und gelogen. Stattdessen bedient sich die
politische Klasse, einschließlich ihrer Deutungsmonopolisten, primitivster
Verleumdungskampagnen. Gegen besorgte Bürge, insbesondere der AfD. (Drunter
weiter)
Autor:
Minuten später. Unruhe kommt auf.
O-Ton:
Kampfvortrag besorgter Bürger
…erbärmlichste Art und Weise ihre Weltfremdheit (Zwischenrufe, Unruhe,
Rechtfertigungen) Es wird alles zurechtgelogen, bis es dem Deutungsadel passt.
Wenn gar nichts mehr geht, wird letztlich die Nazikeule herausgeholt….(Zwischenruf:
Schreib ne Mail!) Das deutsche Pressekartell… (Buuhhh!)…(…sie sprengen jetzt hier
die Veranstaltung! Beifall…(drunter weiter)
Autor:
Der besorgte Bürger ist schwer zu stoppen. Die AfD überlegt erkennbar, wie sie den
Attentäter finden soll. Kann es sein, dass nicht die AfD das Problem ist sondern ihre
Wähler? Die Veranstaltung kippt.
Und dann kommt Bürger Aslan. Und macht Sog.
O-Ton Tom Aslan:
(Kampfvortrag besorgter Bürger)
Ich will auf sie eingehen. Sehen sie, es sind hier Leute, mit denen ich lange arbeite.
Sie haben sich sicher gewünscht…dass ich hier rüberhüpfe, und einen anderen
Menschen als Gegner empfinde. Aber so ist es nicht. Und so, wie sie es
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beschreiben, ist eben AUCH nicht. Es gibt nicht DIE POLITIKER…Es gibt nicht DIE
MEDIEN. Es ist deutlich komplexer…Wir müssen uns mehr ANSTRENGEN…Ich bin
auch kein AfD-Fan! Ich will auch mit ihnen im Wettbewerb, im demokratischen
Diskurs demokratisch ringen. Aber das will ich auf einer Gentleman-Ebene…ohne
das wir die Leute gegenseitig aufstacheln, usw…Ich habe im letzten Jahr ganz viele
Menschen erlebt, die die Kastanien für die gesamte Stadt aus dem Feuer geholt
haben. Die als Gutmenschen zu beschimpfen, oder besorgte Bürger zu beschimpfen
– die sind AUCH viel komplexer als Schubladen. Was ich aber sagen will, wer die
AfD NICHT gern im Stadtrat hätte, nicht gern im Landtag hätte und nicht gern im
Bundestag hätte muss sich mehr engagieren. Muss politischer werden. Das gilt für
die Parteien, für die Vereine und für jeden Einzelnen hier…(Beifall)
Autor:
Der Attentäter schweigt, die besorgten Bürger klatschen, die Guten auch, die AfD
guckt verunsichert. Tom Aslan nimmt den Druck aus der Veranstaltung. Aslan redet
von Problemlösungen. Von Flüchtlingen um die er sich sorgt, damit nicht so viele
Sorgen in der Stadt die Runde machen. Und dann zieht er charmant die AfDMandatsträger auf seine Seite. Aslan der Sogmacher.
O-Ton Tom Aslan:
(Tom kennt den Landrat nicht)
Wir verstehen was von der Sache, weil wir da von Anbeginn dran arbeiten. Wenn sie
sagen: Ich möchte mich da engagieren - können sie sich vorstellen, dass wir uns da
zusammensetzen? (AfD: Natürlich!) Sie können auch gerne bei uns ehrenamtlich
mitmachen (AfD: Natürlich können wir uns da gern zusammen…) Gut! Machen wir!
Hand drauf! (Applaus) …
Autor:
Die Veranstaltung geht unentschieden aus. Keiner geht mit dem Gefühl, Recht
gehabt zu haben. Weil Aslan da war. Aber irgendwie sind noch viele Sorgen da,
hängen stumm in der Luft. Liegen in den Blicken, im Gang über den Boulevard mit
dem vielen Leerstand.
In der Fußgängerzone schieben Flüchtlinge Partytische zusammen. Eine endlose
Tafel entsteht. Der Verein „Willkommen in Köthen“ bittet zu Tisch. Besorgte Bürger
beklagen, dass die Nebenstraßen blockiert werden. Am Abend wird Köthen an einem
120 Meter langen, weiß gedeckten Tisch sitzen und sich gegenseitig bewirten.
Bürger, Flüchtlinge, Touristen, Politiker. Jeder tischt auf, was Kulturkreis und Küche
hergeben. Ein Bild von fast biblischer Schönheit. Abendmahl. Auf und ab, immer und
überall, in rasender Ruhe, Tom Aslan. Wenn Du mehr hast, als du brauchst, dann
bau längere Tische, nicht höhere Zäune. Das Motto des Abends kursiert seit einiger
Zeit im Netz. Manche hängen es sich an den Kühlschrank. Tom Aslan und der
Willkommensverein machen eine Performance daraus. Auch wenn am Ende ein
Gewitter reinplatzt. Ein starkes Fest. Gegen Wohlstandsverwahrlosung.
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