mittendrin2014/01i - Reformierte Kirchgemeinde Allschwil

0114
mittendrin
Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde Allschwil-Schönenbuch
ARBEITSLOS
Nichts ist selbstverständlich
Rolf Mauti (60) hat eine schwere Zeit
hinter sich. 4 Jahre lang war er arbeitsund obdachlos. Heute ist er wieder auf
dem aufsteigenden Ast: Seit Kurzem hat
er ein Dach über dem Kopf und ein geregeltes Einkommen. Er ist einer von drei
Stadtführern, die unter dem Patronat des
Vereins Surprise Touren durch das soziale
Basel anbieten. Da erzählt er Interessierten sein Leben, zeigt ihnen die Plätze und
Institutionen, die ihm nach seinem sozialen Absturz zur Heimat geworden sind,
und macht damit auf eine Realität aufmerksam, von der viele Menschen keine
Ahnung haben. Seine neue Arbeit gefällt
ihm gut; er fühlt sich dabei auch ein bisschen als Vermittler zwischen zwei ganz
verschiedenen Welten. Wenn er erzählenderweise auf sein Leben zurückblickt,
dann merkt man ihm an, dass er durch
seine Erfahrungen als Randständiger ein
anderer Mensch geworden ist. «Ich weiss
heute, dass nichts selbstverständlich ist
im Leben», sagt er, und berichtet von der
Solidarität derer, die auf der Gasse leben
und ihm damals viele Tipps gegeben und
Institutionen gezeigt haben, die ihn weitergebracht haben.
Ein Unfall hat ihn damals aus der Bahn
geworfen. Operationen mit unbefriedigenden Resultaten folgten, von da an ging
es ganz schnell bergab. Von einer 20%igen
SUVA-Rente konnte er nicht leben, zum
Sozialamt gehen mochte er nicht, weil er
sein eigener Herr und Meister und frei sein
wollte, also machte er sich selbstständig.
Er nahm Geld auf, das er nicht zurückmittendrin012014
zahlen konnte, seine Ehe ging in Brüche,
bald konnte er sich auch keine Wohnung
mehr leisten. Aber Rolf Mauti ist ein zäher
Mann. Er machte Gelegenheitsjobs, lernte im Job-Shop neue Fertigkeiten, packte
überall an, wo es etwas zu tun gab, war
zuverlässig und murrte nicht. «Ich habe
immer an mich geglaubt», meint er. Das
war vielleicht sein wichtigstes Kapital.
Und er hat Menschen getroffen, die ihm
eine Chance gegeben haben. Das hat ihn
dankbar gemacht. Rolf Mauti weiss heute
besser als früher, wie wichtig es ist, dass
man Menschen um sich hat, die für einen
da sind: «Unser Dasein ist ein Geschenk.
Wir sollten es so einsetzen, dass das Leben
auch für andere lebenswert wird.»
Er weiss aber auch um die Grenzen der
Solidarität. Heute gehört er nicht mehr zu
denen ganz unten. Das macht den Kontakt mit ihnen schwieriger. Nicht wenige
beneiden ihn darum, dass er es geschafft
hat, wieder in ein einigermassen normales Leben zurückzufinden. Sie begegnen ihm mit Argwohn und Groll. In der
«normalen» Welt aber zeigt man manchmal mit Fingern auf ihn und hält ihn
für einen Sozialschmarotzer. Rolf Mauti
weiss, dass er das nicht ist. Sein Weg ist
weit und schmerzlich gewesen und seine
Wiedereingliederung in die Gesellschaft
hat Kraft gekostet. Er ist darum nicht nur
dankbar für die Chancen, die man ihm
geboten hat, sondern auch stolz darauf,
dass er sich ihrer als würdig erwiesen hat.
Er ist mit seinem Leben zufrieden. Sein
Rat an alle, die ihre Arbeit verlieren, ist
klar: «Nehmt jede Gelegenheit zu arbeiten wahr! Wer bei Arbeitsintegrationsprogrammen mitmacht, auch wenn die vom
RAV finanziert sind, bekommt länger
Geld vom Arbeitsamt.» Arbeits- und obdachlos zu sein, das weiss Rolf Mauti, ist
kein Schleck und es kann jeden und jede
treffen. Gut, wenn man sich nicht unterkriegen lässt, sondern kämpft und offen
ist für Neues. Es gibt immer einen Weg. •
Markus Schütz, Interview
Vreni Mühlemann, Gesprächsaufzeichnung
RUBRIKTITEL
EDITORIAL
ARBEITSLOS
Arbeitslosigkeit in Zahlen
Liebe Leserin, lieber Leser,
Kirche findet nicht nur am Sonntag statt.
Oft ist es viel mehr der Alltag, der uns herausfordert, und mit ihm die Arbeitswelt
mit ihren Nöten. Umfragen zeigen immer
wieder, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit
auf vielen Menschen lastet. Kündigung der
Arbeitsstelle, erfolglose Arbeitssuche, Verlust eines geregelten Einkommens und entsprechende Existenzsorgen lasten auch in
unserer Gemeinde auf Menschen und ihren
Angehörigen. Ihre Not ist oft schwer zu entdecken, weil sich Betroffene zurückziehen.
Sie versuchen, nach aussen das Gesicht zu
wahren, um ihren Platz in der Gesellschaft
zu behalten. Sie sind dringend darauf angewiesen, dass es für sie ein verlässliches
Auffangnetz mit kompetenten Hilfs- und
Beratungsstellen gibt.
Unsere Kirche knüpft mit an einem solchen
Auffangnetz. Die vorliegende Ausgabe von
«mittendrin» gibt Ihnen Einblick in bestehende Einrichtungen und lässt Betroffene
und Betreuende zu Wort kommen.
Lassen Sie sich von den Geschichten berühren und überlegen Sie sich eigene Schritte:
Vielleicht wieder einmal ein «SurpriseHeft» vor dem Einkaufscenter kaufen, eine
tolerantere Haltung gegenüber schwierigen
Jugendlichen gewinnen oder eine der vorgestellten Institutionen mit einer Spende
unterstützen.
Nun wünschen wir Ihnen Zeit und Ruhe
zum Lesen und ein frohes und gesegnetes
Osterfest. •
Ende Februar 2014 waren in Allschwil 322 und in Schönenbuch 11 Personen ohne
Arbeit. Die Statistik wies in Allschwil eine Arbeitslosenquote von 3.3%, in Schönenbuch eine solche von 1.7% aus. Die Arbeitslosigkeit in der Gemeinde Allschwil bewegte
sich im vergangenen Jahr seitwärts und lag Ende Februar 2014 auf dem Niveau des
Jahresbeginns 2013. Dies gilt auch für den Kanton Basel-Landschaft insgesamt. In der
Gemeinde Schönenbuch reduzierte sich die Zahl der von Arbeitslosigkeit betroffenen
Personen im gleichen Zeitraum von 17 auf 11.
Arbeitslosenquote Ende Februar 2014. Die Prozentzahlen
zeigen das Verhältnis der arbeitslos gemeldeten Personen
zu den Erwerbspersonen.
Die gesamtschweizerische Statistik des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) zeigt
weitere Zahlen, welche auch für die Arbeitslosigkeit in Allschwil und Schönenbuch
gelten dürften: So übten 61% der Arbeitslosen vorher eine Fachfunktion aus, 30% eine
Hilfsfunktion, 5.3% eine Kaderfunktion und 3.7% übrige Funktionen. In den meisten Fällen ist die Dauer der Arbeitslosigkeit mit 1 bis 6 Monaten (64%) relativ kurz;
nur 21% der Arbeitslosen sind bereits seit 7 bis 12 Monaten ohne Job und 15% sind
über einem Jahr auf Stellensuche. Nicht mehr in der Statistik erscheinen diejenigen
Arbeitslosen, welche ausgesteurt werden und nicht mehr bei den Regionalen Arbeitsvermittlungsstellen registriert sind. Das sind monatlich gut 1% der Erwerbslosen, in
Allschwil und Schönenbuch also rund 3 Personen pro Monat. •
Markus Jäggi
Für das Redaktionsteam, Iren Herren-Heer
In Allschwil und Schönenbuch waren Ende Februar
2014 total 333 Personen arbeitslos. Die Grafik zeigt
die Aufteilung nach Altersklassen.
Quellen: KIGA Baselland, Staatssekretariat für Wirtschaft SECO
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ARBEITSLOS
Ein Arbeitstag im TATkraft
04.15 Uhr: Ab auf den Vita Parcours bis 5
Uhr! Das gibt mir die nötige Energie für den
Tag.
06.20 Uhr: Eintreffen im TATkraft.
Das TATkraft betreibt an der Hauptstrasse
38 in Binningen ein Café und einen Laden
mit rund 800 Bio- und regionalen Produkten. Das Café bietet von Montag bis Freitag
ein vegetarisches und ein nicht vegetarisches
Tagesmenü mit Suppe, Salat und Hauptspeise an. Ausserdem sind täglich frische Kuchen
und Sandwiches im Angebot. Am Samstag
kann man bei uns frühstücken.
Personen, die Sozialhilfe bekommen, leisten
Arbeitseinsätze in den Bereichen Detailhandel, Warenbewirtschaftung, Warenpräsentation, Dekoration, Küche, Service, Qualität.
Sie werden bei der Abklärung und Erweiterung ihrer beruflichen Fähigkeiten unterstützt und kompetent begleitet, wenn sie den
Schritt in den ersten Arbeitsmarkt machen.
Bei meiner Ankunft früh morgens im TATkraft sind die Frischprodukte schon geliefert,
und ich beginne sofort mit dem Auspacken
der Ware. Das sollte möglichst schnell gehen,
da die Kühlkette nicht unterbrochen werden
darf. Gleichzeitig erledige ich die Abschreibungen im Kühler. Das frische Gemüse wird
so gerüstet, dass es verkaufstauglich wird. Allerdings mache ich das nur selber, wenn wir
wenig Personal haben.
07.00 Uhr: Fertig mit Auspacken! Jetzt beschrifte ich die Aussentafeln mit dem aktuellen Menü. Das Geld im Tresor zähle ich
jeden Tag und es stimmt immer. Ich mache
die Kasse einsatzbereit und bringe sie in den
Laden.
Um 07.30 Uhr trifft die Köchin im Betrieb
ein. Nach einer kurzen Besprechung widmet
sie sich ihren Aufgaben. Die ersten telefonischen Reservationen für den Mittag erfolgen.
Danach hole ich das bestellte Brot und packe
es aus.
Um 08.30 Uhr treffen die Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen im TATkraft ein. Ich informiere sie über den Tagesablauf. Eine mitarbeitende Person ist in der Küche eingeteilt
und eine im Laden. Das Personal schulen wir
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gezielt im Detailhandel und im Gastronomiebereich. Die Schulung im Detailhandel
übernehme ich, die in der Küche verantwortet unsere Köchin.
Um 09.00 Uhr öffnet der Betrieb. Die ersten Kunden und Kundinnen warten schon
vor der Tür. Jetzt beginnt der Verkauf. Es ist
ein schönes Gefühl, wenn die Kundenschaft
schätzt, was wir machen. Dank vieler Gespräche kann ich ein Sortiment zusammenstellen, das auf sie abgestimmt ist.
Ich mache Bestellungen und erledige adminstrative Aufgaben.
Um 11.45 Uhr liefere ich die ersten Essen in
unserer Strasse aus.
Um 12.00 Uhr startet der Mittagsservice.
Das ist die hektischste Zeit des Tages. Ich
helfe in der Küche.
Nach der Mittagszeit kommt neues Personal
(Schichtbetrieb). Wieder wird es von mir eingewiesen. Für Konflikte und Gespräche mit
den Angestelltenl habe ich mir ein Zeitfenster von etwa einer Stunde pro Tag reserviert.
Mit meiner Chefin, der Geschäftsführerin,
versuche ich, täglich eine halbe Stunde lang
zu besprechen, was gerade ansteht – allerdings nur, wenn der Betrieb es erlaubt.
Am Abend rechne ich die Kasse ab und eine
mitarbeitende Person reinigt den Betrieb.
Mein Arbeitstag endet um 19.15 Uhr.
Das Beste an dieser Arbeit ist der tägliche
Kontakt mit den unterschiedlichsten Menschen. Die Bereitschaft, von den Kunden
und Kundinnen zu lernen und vernetzt
zu denken, machen aus meiner Sicht einen
guten Betriebsleiter aus. Es ist eine Herausforderung, einen Betrieb auf Erfolgskurs
zu bringen. Meine Chefin und ich gehen
sie voller Tatendrang an. Als Betriebsleiter
muss man sich bewusst sein, dass die Arbeit
nie aufhört. Wenn ich in ein Geschäft gehe,
denke ich unweigerlich an unseren Betrieb
und überlege, ob die Produkte hier möglicherweise auch für uns etwas wären.
Das Schönste von allem ist natürlich, wenn
eine mitarbeitende Person Fortschritte in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung macht. •
Patrick Wüthrich
Betriebsleiter Patrick Wüthrich im TATkraft in Binningen
ARBEITSLOS
Hat das Leben ohne
Arbeit noch einen Sinn?
um Hilfe bitten kann. Tragen mich meine
Familie und mein soziales Netz auch dann,
wenn ich nicht mehr das gewohnte Budget
und Prestige nach Hause bringe?
Ich habe den Eindruck, dass sich in der
Schweiz viele Menschen sehr stark über
ihre Arbeit definieren. Wir haben ein hohes Verantwortungsbewusstsein gegenüber
unserer Arbeit. Die Arbeit gut und zuverlässig zu verrichten ist bei uns eine grosse
Tugend und bringt uns viel Anerkennung
ein. Demensprechend stark hängt auch unser Selbstwert an dem, was wir leisten. Für
die wirtschaftliche Entwicklung des allseits
gelobten «Erfolgsmodelles Schweiz» ist dieser hohe Stellenwert von grosser Bedeutung.
Für die seelische Gesundheit der Arbeitnehmer birgt er aber ein nicht zu unterschätzendes Risiko.
Dass für Gott nicht der wirtschaftliche Faktor entscheidend ist, sondern der menschli-
che, zeigt die Geschichte von den Arbeitern
im Weinberg (Mt 20,1-16). Ein Gutsherr
stellt zu verschiedenen Zeiten des Tages
Taglöhner ein und vereinbart mit ihnen je
einen Lohn für ihre Arbeit. Am Schluss des
Tages stellt sich heraus, dass alle gleichviel
erhalten. Arbeiter damals wie heute empfinden dies als Ungerechtigkeit. Aber die Geschichte erinnert daran, dass vor Gott nicht
die Leistung zählt, sondern der gute Wille
der Arbeitssuchenden und die Güte des
Gutsherrn gegnüber den Benachteiligten.
Jeder Mensch hat denselben Wert, ob er eine
Arbeit hat oder nicht. Denn nicht die Leistung zählt, sondern das Menschliche und
Zwischenmenschliche. Oder mit anderen
Worten: dass ich mich und meine Nächsten
liebe und mit Respekt behandle und dass ich
auch in der Not für sie da bin. Oder gibt
es etwas im Leben, das mehr Erfüllung und
Sinn stiften kann? •
Marc Burger
Bild: blog.kvbern.ch
In unserer Gesellschaft hat die Arbeit einen
zentralen Stellenwert. Das ist nicht weiter
überraschend, denn die allermeisten Menschen sind auf Arbeit angewiesen, um ihre
Existenz zu sichern. Ohne Arbeit kein Geld,
ohne Geld keine Wohnung und kein Essen.
Für viele Menschen in unserem Land ist Arbeit aber mehr als nur Existenzsicherung. Sie
ist Mittel zum Zweck. Wenn ich mehr als
das Existenzminimum verdiene, ermöglicht
mir das, meine Träume zu erfüllen. Diese
Träume sind unendlich breit gefächert, vom
gesellschaftlichen Aufstieg, über das Eigenheim bis zur Weltreise. Die Erfüllung dieser Träume gibt meinem Leben Sinn und
die Arbeit ist der Weg dazu. Im allerbesten
Fall finde ich diesen Sinn sogar in meiner
Arbeit selbst. Dies geschieht, wenn ich in
meiner Arbeit meine Talente, meine «Berufung», entfalten kann. Das macht besonders
glücklich, weil ich bereits in der Arbeit Sinn
erlebe.
Wenn ich von einem Tag auf den anderen
meine Stelle verliere, stürzt mich das zuerst einmal in eine Existenzkrise. Angst
macht sich breit und raubt mir den Boden
unter den Füssen. Für eine kleine Existenzgrundlage kann in einer Mehrheit der Fälle
unser Sozialsystem aufkommen. Aber für
den Verlust des persönlichen Status und für
Sinn im Leben kann keine Institution aufkommen. Zu stark hängt mein Selbstwert
an dem, was ich leiste. So kommt es leider
bei Verlust der Arbeitsstelle immer wieder
zu tragischen Geschichten. Väter, die am
Morgen während der Arbeitszeit aus dem
Haus gehen, weil sie sich nicht getrauen, der
Familie zu sagen, dass sie ihren Job verloren
haben. Oder Menschen, die sich in dieser
Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gar
das Leben nehmen. Besonders schlimm finde ich diese Geschichten, weil das Schicksal
vielfach davon abhängt, ob ich in der Not
über meinen eigenen Schatten springen und
mittendrin012014
ARBEITSLOS
Pro und Contra
Am 18. Mai kommt die Eidgenössische Volksinitiative «Für den Schutz fairer Löhne» (Mindestlohn-Initiative) zur Abstimmung. Die Initiative verlangt einerseits, dass Bund und Kantone die
Löhne in der Schweiz schützen, indem sie die Festlegung von Mindestlöhnen in Gesamtarbeitsverträgen fördern. Andererseits soll der Bund einen nationalen gesetzlichen Mindestlohn von
22 Franken pro Stunde festlegen.
Wird die Arbeitslosigkeit in Allschwil
und Schönenbuch zunehmen?
Jean-Jacques Winter, Einwohnerrat und
Präsident SP Allschwil: Kaum! Die ortsansässigen Unternehmen berichten durchwegs, ihre Lohnzahlungen entsprächen
den genannten Forderungen. Die Arbeitnehmenden werden eher weniger zu einem
vermeintlich besseren Angebot wechseln,
was zu innerbetrieblicher Stabilität führt
und weniger Wechselkosten verursacht.
Roland Naef, Einwohnerrat und Mitglied
der reformierten Kirchenpflege: So direkt
wohl nicht. Höhere Mindestlöhne führen aber allgemein zu negativen Folgen
für niedrig qualifizierte Arbeitnehmende.
Denjenigen, die von den Mindestlöhnen
profitieren sollten, u.a. Jugendliche und
Ungelernte, schadet die Initiative mittel
bis langfristig, da die Anzahl Jobs, die eine
tiefere Qualifikation voraussetzen, sicherlich reduziert werden.
Es gibt Studien über Mindestlöhne die
aussagen, dass eine Erhöhung der Mindestlöhne um 10% die Beschäftigung der
Jugendlichen um bis zu 3 % reduziere.
Weiter ist nicht zu vernachlässigen, dass
mit Mindestlöhnen für den Einen oder
Anderen jeglicher Ansporn auf eine gute
Ausbildung wegfällt! «Was soll ich noch
zur Schule gehen? 4‘000 Franken bekommittendrin012014
Bild: Monika Flueckiger, freshfocus
Die Mindestlohn-Initiative fordert eine
faire Entschädigung für eine erbrachte
Leistung, ob im Handwerks- oder Dienstleistungsbetrieb. Arbeitsleistende sollen bei
einem Stundenlohn von 22 Franken finanzielle Sicherheit und grösstmögliche Unabhängigkeit von gemeinschaftsgetragenen
Unterstützungen erreichen.
Welche Folgen hätte die Annahme der
Initiative in Allschwil und Schönenbuch?
Roland Naef und Jean-Jacques Winter
nehmen Stellung.
Gewerkschaften reichen die Mindestlohn-Initiative im Januar 2012 bei der Bundeskanzlei in Bern ein.
me ich ja auf alle Fälle…» Entscheidend
für das spätere Einkommen ist doch immer noch die Ausbildung und diese ist zu
fördern.
Muss ich mit höheren Kosten für Handwerker, Einkäufe und Dienstleistungen
rechnen?
R. Naef: Sicherlich entstehen teilweise höhere Kosten für den Konsumenten. Branchen, die heute noch keinen Mindestlohn
von 4‘000 Franken im Monat kennen,
werden die für sie höheren Lohn- und Sozialkosten dem Konsumenten umgehend
weiterverrechnen. Geht dies nicht, kommt
es unweigerlich zu Betriebsschliessungen.
Gesamthaft betrifft dies nach Seco etwa
8% der Erwerbstätigen in der Schweiz.
Eine Festlegung des Mindestlohnes betrifft vor allem KMU-Betriebe mit weniger
als 50 Angestellten. Bei Unternehmen mit
weniger als fünf Beschäftigten erfasst die
Initiative etwa 20% aller Mitarbeitenden.
Am stärksten betroffen wären wohl die
Coiffeur- und Kosmetiksalons, die Gartenbauer und die Bekleidungsindustrie.
J.-J. Winter: Im Handwerk entsprechen
die heutigen Löhne der Initiative, gemäss
KMU-Vertretern. Hier stehen die Herausforderungen eher über die Landesgrenze an. Schlägt der Kaffee im Bistro um
10 Rappen auf und dieser Batzen ist für
Bedienung und Abwasch, so stimmt für
mich diese Rechnung. Überdurchschnittlich viele Frauen sind von tiefen Löhnen
betroffen: Unsere Partnerinnen als billige
Arbeitskraft?
Welche Auswirkungen hat die Initiative
auf unsere Einwohnergemeinden?
J.-J. Winter: Zu- oder Wegzug, kaum!
Menschen mit Mindestlöhnen haben mehr
zum Leben. Das schafft mehr Kaufkraft,
senkt Unterstützungsbeiträge und bringt
mehr Steuereinnahmen.
R. Naef: Da ich davon ausgehe, dass die
Gemeinden bereits heute Mindestlöhne
und hervorragende Sozialleistungen bezahlen, wird es da keine direkten Einflüsse
geben. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass
der eine oder andere KMU-Betrieb aufgeben muss.
ARBEITSLOS
Zukunftsperspektiven für junge Menschen
Lea* ist 21 Jahre alt, eine sympathische junge Frau mit langen braunen Haaren, gepflegt
und modisch gekleidet. Der erste Eindruck
lässt vermuten, dass sie, wie viele Frauen ihres Alters, nach einer Arbeitswoche am Wochenende mit Freundinnen shoppen geht,
abends im Ausgang Freunde trifft und unbeschwert in den Startlöchern fürs Leben steht.
Ich kenne Lea von der Arbeit her. Sie absolviert bei Overall, der Genossenschaft für integriertes Arbeiten in Basel, die zweijährige
berufliche Grundbildung zur Büroassistentin. Bei uns absolvieren viele junge Leute
in verschiedenen Betrieben eine zwei- oder
mehrjährige Lehre: Gastronomie, Bau, Detailhandel, Facility Service, Büro und Informatik. Die Lernenden hier haben ohne
Ausnahme einen schweren Rucksack zu tragen: erweiterte Lernschwierigkeiten, desolates soziales Umfeld, schwierige Lebensläufe,
Suchtproblematiken, physische oder psychische Beeinträchtigungen und vieles mehr.
Diese erschwerten Voraussetzungen verunmöglichen ihnen eine erfolgreiche Lehre in
der Wirtschaft, obschon alle jungen Leute
Fähigkeiten und Talente mitbringen. Sie sind
motiviert, einen Beruf zu erlernen, sie wollen
und können arbeiten. Aber unsere leistungsund gewinnorientierte Gesellschaft macht
es ihnen schwer. Und Ausbildungsplätze für
Menschen mit schwierigen Voraussetzungen
sind rar.
Mit intensivem individuellem Coaching
rund um Praxisausbildung, Theorie, Schule
und auch um Sorgen und Nöte im Privatleben sind die meisten unserer Lernenden,
fähig, eine Ausbildung abzuschliessen – regelmässig sogar mit Bestnoten im Rang! Es
erfüllt mich immer wieder mit Freude und
berührt mich, wenn die jungen Menschen
stolz von der Lehrabschlussfeier erzählen. Sie
dürfen mit Recht stolz sein: Trotz widriger
Umstände haben sie die Lehre geschafft und
können ihre berufliche Zukunft angehen.
Sie alle haben während ihrer Lehrzeit Enormes geleistet.
Eine nächste Hürde ist dann der Schritt
von der Lehre in die Erwerbsarbeit. Arbeitgebende entscheiden in Selektionsverfahren
oft nach klar eruierbaren Merkmalen wie
Alter, Berufserfahrung, Art und Zahl der
absolvierten Weiterbildungen. Trotz aktuellem Fachwissen haben die jungen Menschen
neben erfahreneren Mitbewerbenden oft geringe Chancen.
Vielen unserer Lernenden gelingt diesen risikoreiche Übergang trotzdem – mit einem
ganz individuellen Vermittlungsmodell. Die
Vermittlungsfachleute von Overall lernen
die Stellensuchenden samt ihren Fähigkeiten
und Talenten sehr gut kennen und vermitteln sie entweder exakt an die Stellen, die zu
den jungen Menschen passen, oder sie helfen
ihnen, eine Anschlusslösung wie beispielsweise eine Weiterbildung oder ein Praktikum zu finden.
mittendrin012014
ARBEITSLOS
Lea ist noch nicht so weit, sie arbeitet zurzeit
auf die Lehrabschlussprüfung hin. Auch sie
hat einen Rucksack zu tragen. Sie ist alleinerziehend. Ihr Kind ist knapp drei Jahre alt
und schläft noch nicht durch. Der Vater ist
aus allem raus, auch aus der Verantwortung.
Lea lebt in einem Haus mit anderen jungen
Frauen in der gleichen Situation. Sie hat dort
mit ihrem Kind ein Zimmer und eine Tagesstruktur. Sie kann sich austauschen, Rat
holen und sich stärken.
Lea ist Epileptikerin und bezieht eine IVRente. Nach einem Anfall erscheint sie jeweils bleich zur Arbeit, bewegt sich wie in
Zeitlupe und redet langsam. Sie ist dann
erschöpft und ohne Energie. Manchmal
ist ausserdem ihr Kind krank, braucht besondere Aufmerksamkeit, weint bis in die
frühen Morgenstunden. Leas Lebenssituation ist anspruchsvoll – privat wie beruflich.
Die Anforderungen an sie in der Lehre sind
hoch, und es gelingt Lea nicht konstant, sie
zu erfüllen, was sie hin und wieder entmutigt. Trotzdem erlebe ich Lea in der Zusammenarbeit als verbindlich und zuverlässig.
Ich weiss, wo Leas Grenzen sind und wo sie
engere Begleitung braucht als andere. Ihr
Coach und die Ausbildnerin stärken Lea,
und auch die anderen Lernenden nehmen
Anteil an ihrer Geschichte. Immer wieder
spüre ich, dass die jungen Menschen bei uns
einander mögen; sie tauschen sich aus, gehen
respektvoll miteinander um und lachen zusammen.
Mit der richtigen Unterstützung wird Lea
die Lehre erfolgreich beenden. Sie will unbedingt abschliessen, will Unabhängigkeit und
berufliche Perspektiven. Immer wieder gibt
sie, was sie kann, und leistet viel.
Wie würde die Zukunft von Lea und all
den anderen tollen jungen Menschen, die
ich über die Jahre bei meiner Arbeit kennengelernt habe, ohne Berufslehre aussehen?
Sie würden schon in ganz jungen Jahren zu
Langzeitarbeitslosen, ausgegrenzt, ohne gesellschaftliche Integration, ohne Wertschätzung, ohne Verantwortung für das eigene
Leben. Manchmal macht es mich traurig,
wenn ich sehe, dass viele Junge wie Lea den
Weg nicht schaffen, einfach, weil es zu wenig
passende Lehrstellen gibt. Manchmal macht
mich die Situation auch wütend, denn die
Jungen von heute machen die Gesellschaft
von morgen aus. Was für Perspektiven haben
sie, wenn wir ihnen heute nicht realistische
Chancen auf einen Platz in unserer Gesellschaft verschaffen? •
Regine Minio-Steigert
*Name geändert
OSTERN
Ostern
Sonntag, 20. April
Kein Stein bleibt auf dem andern. Ein neuer, nie da gewesener Morgen bricht an.
Alles – und gerade das Dunkle und Schwere
– kommt ins Licht, ins Auferstehungslicht
und da blüht Leben, kommen Hoffnung
und Freude auf. Wir feiern Ostern auf vielfältige Weise:
5.30 Uhr; Ökumenische Auferstehungsfeier
auf dem Friedhof Allschwil mit Osterfeuer
und feierlichem Tauferneuerungsritus
ab 6.45 Uhr: Ökumenisches Oster-Zmorge
im Saal von St. Peter und Paul
ab 9.30 Uhr: Oster-Zmorge für alle im Calvinhaus mit Osternestlisuchen für die Kinder
10.30 Uhr: Festgottesdienst mit Abendmahlsfeier in der Christuskirche mit Gospelchor und Kinderkirche
Die neue Osterkerze für das Kirchli, gestaltet von Claudia Handschin, Simonetta Imber und Susanne Jäggi
IMPRESSUM
Zeitschrift der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Allschwil-Schönenbuch
Erscheint vierteljährlich · Auflage: 4’000 Exemplare · Herausgeberin: Kirchenpflege
Redaktion: Marc Burger, Iren Herren, Markus Jäggi
Bilder: wo nicht anders vermerkt, zur Verfügung gestellt
Gestaltungskonzept: typoallee, Michelle Kiener, Allschwil · Druck: Kurt Fankhauser AG, Basel
Zuschriften bitte an: «mittendrin», Reformierte Kirchgemeinde, Baslerstr. 226, 4123 Allschwil
oder an [email protected]
mittendrin012014
Gewinnerinnen Kreuzworträtsel
Ausgabe 12/2013
Die richtigen Lösungsworte lauteten
«neu gestaltet». Folgende Personen
aus Allschwil haben je einen Suppentagbesuch im Calvinhaus gewonnen:
Ursula Mohler, Schützenweg 96; Mariette
Roggensinger, Steinbühlweg 18; Margrit
Wagner, Hegenheimermattweg 22. Wir
gratulieren den Gewinnerinnen herzlich
und danken allen Leserinnen und Lesern,
die mitgerätselt haben.
Die Redaktion
Es erwartet Sie ein lebendiger Ostermorgen.
Schön, wenn Sie ganz oder teilweise mit uns
feiern. •
Elke Hofheinz
KONTAKT
Reformierte Kirchgemeinde
Allschwil-Schönenbuch
Baslerstrasse 226 · 4123 Allschwil
Telefon 061 481 30 11
[email protected]
[email protected]
www.refallschwil.ch
PERSÖNLICH
Einfach helfen
Helene Dobmeier und Esra Sünbül im Gespräch vor der Christuskirche
AZB
4123 Allschwil 1
Wer in der Arbeitsgruppe «Versteckte Armut Allschwil-Schönenbuch» mittun will, muss Hilfsbereitschaft und ein offenes Ohr für Notleidene mitbringen. Helene Dobmeier, seit drei Jahren dabei, und
Esra Sünbül, seit vergangenem Jahr Mitglied der
Gruppe, erzählen über ihre Motivation und ihre Tätigkeit.
Die 27-jährige Esra Sünbül hat sich aufgrund eines
Aufrufs im Allschwiler Wochenblatt bei der «Versteckten Armut Allschwil-Schönenbuch» gemeldet.
Nach einem ersten Kennenlernen ist sie 2013 herzlich
als neues Mitglied aufgenommen worden. «Dass ich
eines der jüngeren Mitglieder bin und ausländische
Wurzeln habe, stört mich überhaupt nicht», sagt die
Mutter von zwei Kindern. Im Gegenteil: Es ist eine
Bereicherung für die Gruppe, denn Armut kennt keine Grenzen und vor allem kein Alter.
Dem kann Helene Dobmeier, sportliche Baslerin der
Vorkriegsgeneration, nur zustimmen. «Diese generationenübergreifende Bereitwilligkeit, für Benachteiligte
da zu sein, ihnen Zeit und Gehör zu schenken, sie zu
ermutigen, zu begleiten und zu unterstützen, hilft den
Menschen, die sich in Not befinden und keinen Ausweg mehr sehen.»
Probleme lösen
Nach dem Tod des Ehemannes vor einigen Jahren war
es für Helene Dobmeier selbstverständlich, ihre Sozialkompetenz für die von Armut betroffenen Menschen einzusetzen. Durch Pfarrerin Elke Hofheinz
liess sie sich für das Engagement in der «Versteckten
Armut Allschwil-Schönenbuch» begeistern. In der
Arbeitsgruppe und zusammen mit den Gesuchstellen-
den leistet sie seither einen Beitrag zur Lösung ihrer
Probleme. Sie unterstützt Personen bei Formalitäten
im Umgang mit Ämtern, Versicherungen und Institutionen, macht auf günstige Einkaufsmöglichkeiten
aufmerksam, führt mit jungen Müttern Gespräche in
ihrem Familiengarten oder zeigt einer alleinerziehenden Mutter ganz praktisch, wie sie selber Eistee zubereiten kann.
Dank Spenden können Esra Sünbül und Helene Dobmeier einer arbeitslosen Mutter mit Kleinkind mit
einem Zolli-Abo neuen Lebensmut geben, Fremdsprachigen mit einem Zustupf zum Deutschkurs bessere
Chancen auf dem Arbeitsmarkt bieten oder einem
jungen Mann in Ausbildung auch dank dem Entgegenkommen des Zahnarztes die Zähne sanieren.
Würde und Unabhängigkeit
«Bei allem Schwierigen, das wir zu sehen bekommen,
ist es besonders schön, wenn ich einem Menschen
durch mein Engagement ein Lächeln ins Gesicht zaubern kann», meint Helene Dobmeier zu ihrer Motivation. Esra Sünbül lebt, seit sie mit zwei Jahren in die
Schweiz eingereist ist, in Allschwil. Sie ist zwischen
zwei Kulturen aufgewachsen und kennt die damit
verbundenen Probleme. Schon in jungen Jahren sah
sie ihre berufliche Zukunft im Sozialbereich und will
sich heute speziell auch für die im Arbeitsmarkt Benachteiligten einsetzen. Denn nicht nur Armut ist für
Arbeitslose eine Gefahr, sondern auch die Änderung
in der gesellschaftlichen Stellung, welche zu Hilfsund Mutlosigkeit, Depressionen und mangelnder
Motivation führen kann. «Wenn jemand wieder ins
Erwerbsleben integriert werden kann», ist Esra Sünbül
überzeugt, «gibt das der betreffenden Person auch ein
Stück Würde und Unabhängigkeit zurück». •
Markus Jäggi, nach Notizen von
Helene Dobmeier und Esra Sünbül
Die Arbeitsgruppe «Versteckte Armut Allschwil-Schönenbuch» durfte am 5. Dezember 2013 in feierlichem
Rahmen den 1. Preis für Freiwilligenarbeit im Sozialbereich des Kantons Baselland entgegennehmen.
Die «Versteckte Armut Allschwil-Schönenbuch» wird
gemeinsam von den Kirchen in Allschwil und Schönenbuch getragen und durch Pfarrerin Elke Hofheinz
sowie den römisch-katholischen Theologen Gregor
Ettlin geleitet. Sie setzt sich freiwillig für Menschen
aus den beiden Gemeinden ein, die in soziale Not
geraten sind. Sie hilft schnell und unkompliziert, berät
und vermittelt vor allem in Übergangssituationen.
mittendrin012014