27.09.2016, Flucht im Lkw - In der Hölle von Calais

Manuskript
Beitrag: Flucht im Lkw –
In der Hölle von Calais
Sendung vom 27. September 2016
von Anna Feist
Mitarbeit: Koumay Almelhem
Anmoderation:
Sie nennen es den Dschungel. Im französischen Calais, an der
Grenze zu Großbritannien, hausen Tausende Menschen im
Schmutz und in der Schande der europäischen Flüchtlingspolitik.
Gestern hat der französische Präsident zwar verkündet, er werde
das Camp auflösen. Nur wie? Und wohin mit all den Menschen,
die vor Bomben, Not und Zerstörung aus ihrer Heimat fliehen?
Unserer Reporterin Anna Feist fiel kürzlich folgende Nachricht
auf: „Acht Flüchtlinge bei Köln aus Kühltransporter gerettet“. Sie
recherchierte die Geschichte hinter dieser Meldung. Heraus kam
eine Reise – vom Autobahnrasthof Königsforst West bis in die
Hölle von Calais.
Text:
Raststätte Königsforst West auf der A 3 bei Köln. Es ist der 10.
September. Die Polizei hat acht irakische Flüchtlinge aus einem
Kühltransporter befreit: sechs Männer, eine Frau, ein Kind. Sie
hatten mit Klopfgeräuschen auf sich aufmerksam gemacht. Der
polnische Lkw-Fahrer, das wird die Polizei später ermitteln,
wusste von nichts. Und die Flüchtlinge, die sich im Laderaum
versteckt hatten, waren überrascht, wo sie gelandet sind. Sie
wollten gar nicht nach Deutschland, sondern nach
Großbritannien.
Polizeipressesprecher Richard Barz hatte an diesem Tag Dienst.
Für ihn ein Fall von vielen:
O-Ton Richard Barz, Pressesprecher Polizei RheinischBergischer Kreis:
Die Bundespolizei hat inzwischen eine Vielzahl von
Ermittlungsvorgängen, die sich mit dieser Schleusertätigkeit
insbesondere Richtung England beschäftigt. Die
Erkenntnisse zeigen inzwischen auf, dass die Flüchtlinge
versuchen, aus dem französischen Raum - hier insbesondere
aus dem Großraum Calais - Kühltransporter oder Transporter
zu besteigen, um dann die Route nach England zu wählen,
die ja sehr, sehr gut abgesichert.
Sieben Uhr morgens. Frank Merten kennt die Strecke über Calais
nach Großbritannien ganz genau. Zweimal die Woche fährt er sie,
seit 20 Jahren. Heute hat er Bentley-Karossen geladen. Die muss
er morgen abliefern. Der Zeitplan ist eng. Und seit einem Jahr gilt
die Strecke als gefährlich. Immer wieder laufen Flüchtlinge auf die
Fahrbahn und versuchen, auf die Laster zu springen.
O-Ton Frank Merten, Lkw-Fahrer Spedition Kottmeyer:
Die wollen unbedingt nach England, egal mit welchen Mitteln.
Und früher haben die sich ja mal reingeschnitten oder sind
mal reimgekrabbelt, da wurde die Tür aufgemacht, der
nächste hat sie zugemacht, und haben versucht, nach
England zu kommen. Aber die haben uns Fahrer in Ruhe
gelassen. Aber jetzt im Moment ist die Situation, dass die
Leute richtig aggressiv werden.
Elf Uhr. Kurz vor Antwerpen macht Frank Merten seinen letzten
Stopp. Auf den üblichen Kaffee verzichtet er lieber, denn bis
Calais kann er nicht mehr auf Toilette gehen. Anhalten vor dem
Eurotunnel, das kommt für ihn nicht mehr in Frage, besonders
nachts nicht.
O-Ton Frank Merten, Lkw-Fahrer Spedition Kottmeyer:
Einmal habe ich das mitgemacht bis jetzt.
O-Ton Frontal 21:
Was ist da genau passiert?
O-Ton Frank Merten, Lkw-Fahrer Spedition Kottmeyer:
So ungefähr wie da: Da laufen die dann rum und rennen um
den Lkw und zwingen dich zum Anhalten. Schmeißen Bäume
auf die Straße, brennende Reifen und alles, was sie so
finden. Wenn der mit dem Stamm in die Scheibe kloppt, dann
ist Feierabend. Dann steht man da.
14 Uhr. Frank Merten ist nervös. Die Grenze kommt näher, die
Zäune werden höher. Sie sollen Flüchtlinge davon abhalten, auf
die Autobahn zu laufen. Jetzt wird hier sogar eine vier Meter hohe
Mauer gebaut - direkt zwischen Hafenzufahrt und
Flüchtlingscamp. Das Fundament liegt schon.
Mindestens 8.000 Flüchtlinge hausen mittlerweile in Calais. Die
meisten sind illegal hier, warten auf die große Chance, nach
England zu kommen. Hilfsorganisationen gibt es hier kaum. Clare
Moseley ist eigentlich Buchhalterin. Jetzt versucht sie mit anderen
Freiwilligen, den Flüchtlingen Nahrung und Kleidung zu besorgen.
Im Dschungel, so wird das Camp genannt, fehlt es an allem.
O-Ton Clare Moseley, Gründerin Care4Calais:
Hier ist das offizielle Container-Camp der Regierung, vor
allem sind es Schlafsäle und umgebaute Container. Sie sind
einigermaßen sicher, aber nicht sonderlich freundlich. Da
drüben gibt es fast nur Zelte, da leben viele Sudanesen. Ein
großes Problem sind die Duschen. Die wurden eigentlich nur
für 300 Menschen eingerichtet. Duschen, Toiletten, sanitäre
Anlagen sind ein riesen Problem.
Sie führt uns zu Mosaab. Der 27-Jährige kommt aus dem Sudan,
wurde dort verfolgt. Geschützt fühlt er sich in Calais aber auch
nicht, im Gegenteil.
O-Ton Mosaab, Flüchtling aus dem Sudan:
Die Behörden hindern die Hilfsorganisation, uns zu
versorgen, uns Kleidung und Essen zu bringen. Die Polizei
wirft Tränengasbomben auf uns, mit der Ausrede, dass wir
sonst die Autobahn stürmen würden. Fast jeden Abend geht
das so.
Unter den Flüchtlingen im Camp herrscht das Faustrecht, sagt er.
Deswegen leben sie hier zu dritt zusammen, das sei sicherer. Mit
Planen und Wellblech haben sie sich eine Art Heim geschaffen.
Tea-Time im Dschungel.
O-Ton Mosaab, Flüchtling aus dem Sudan:
Ich bin überrascht von Europa. Ich dachte, das Leben hier ist
so fortschrittlich, aber es lebt sich sehr primitiv. Man schläft
auf der Straße, benutzt Holz, um ein Feuer zu machen und
um zu kochen. Irgendwie grotesk!
Zwei Zelte weiter lebt der 16-jährige Afghane Basir. Seit neun
Monaten ist er im Camp. Jede Nacht versucht er, auf irgendeinen
Lkw zu klettern, Richtung Großbritannien. Er würde dort gerne die
Schule besuchen, Arzt werden.
O-Ton Basir, Name geändert:
Wir laufen weit raus auf die Autobahn, eine Stunde von hier.
Wir versuchen die Fahrbahn zu blockieren. Es gibt Leute, die
Bäume abschlagen und die dann auf die Straße schmeißen.
Ich mag diese Methode nicht so, das ist sehr gefährlich. Ich
suche lieber nach Parkplätzen, wo ich in Lkws klettern kann.
Hinter der Fahrerkabine ist ein schmaler Spalt, da kann man
gut raufklettern und sich von oben in die Planen schneiden.
Bisher hat es aber nie geklappt. Aber ich werde nicht
aufgeben und auch wenn ich dabei drauf gehe, ich meine,
was soll denn hier aus mir werden?
An vielen Stellen im Camp haben Kriminelle die Kontrolle, wird
uns berichtet. Die verlangen 150 Euro für einen Platz in der
Baracke, 300 Euro für den Wohnwagen.
Geschäfte mit der Not, mit Menschen, die von einem besseren
Leben träumen. 80 Prozent der Camp-Bewohner wollen nach
England, schätzen Helfer. Viele haben dort Familie. Um zu ihnen
zu kommen, bezahlen diejenigen, die es sich leisten können,
Schlepper. Doch wer sind die Hintermänner? Und wie läuft das
ab? Wir geben uns als Interessenten aus, bekommen Angebote,
filmen mit versteckter Kamera.
O-Ton Gedächtnisprotokoll:
Für 3.000 bis 4.000 Euro wirst du im Lkw geschmuggelt, aber
ohne Garantie, also, ohne dass der Fahrer das weiß. Die
Schmuggler wissen aber, welche Lkw wo unterwegs sind,
sie kennen die Rastplätze und Tankstellen. Vielleicht klappt
es nicht beim ersten Mal. Dann werden sie es mit dir weiter
versuchen, bis es klappt. Es sind Ägypter, die das Geschäft
hier machen. Big Business, Bruder. Manche machen 10.000
Euro pro Monat, andere 100.000.
Der Syrer bringt uns zu einem Ägypter, eine Art Anbahner.
O-Ton Gedächtnisprotokoll:
Was kostet es nach England zu kommen - mit Garantie?
O-Ton Gedächtnisprotokoll:
Mit Garantie: 6.000 Euro. Das ist das Minimum. Du fährst mit
einem Engländer. Er versteckt dich in seinem Lkw. Der
Fahrer weiß alles und arbeitet mit uns.
O-Ton Gedächtnisprotokoll:
Und was transportiert der Lkw?
O-Ton Gedächtnisprotokoll:
Nein, nein, du wirst nicht hinten in dem Anhänger sitzen,
sondern hinter dem Sitz des Fahrers. Und du brauchst nur
eine Stunde!
Und dann kommt noch ein Mann, auch Ägypter, er ist der
Koordinator:
O-Ton Gedächtnisprotokoll:
Das Geschäft ist im Moment in Belgien. Alle arbeiten von
dort. Das heißt ein privater Pkw holt dich aus dem Dschungel
ab, bringt dich nach Belgien, dort steigst du dann in den
Lkw. Du lässt das Geld bei mir und wenn du in England bist,
gebe ich es zu den Kollegen und lasse etwa 100 Euro für
mich.
20 Uhr. Immer wenn die Sonne untergeht, strömen junge Männer
Richtung Autobahn. Für die Polizisten sind die Nächte lang,
überall Großaufgebot.
Nur wenige schaffen es über den Kanal. Joe ist Syrer. Er
schmuggelte sich auf der Achse eines Lkw per Fähre nach
England, bekam Asyl. Zuvor hat er Nacht für Nacht vergebens
versucht, von Calais nach England zukommen. Einmal wäre er
dabei fast gestorben.
O-Ton Joe, Flüchtling aus Syrien:
Ein Schlepper sagte mir, ich soll in den Tanker dort drüben
einsteigen. Als ich den Tanker sah, dachte ich, das ist mein
Grab.
Er steigt trotzdem ein. Im Tanker waren bereits 18 weitere
Flüchtlinge.
O-Ton Joe, Flüchtling aus Syrien:
Die Schlepper hatten nur einen minimalen Luftspalt
gelassen, ein Holzspan in die Klappe gelegt. Es gibt nicht viel
Sauerstoff in so einem Tanker. Die Öffnung war eng, die
anderen sagten, ich solle nicht probieren, das zu öffnen,
wenn die Öffnung zugeht, sind wir tot.
Joe und die 18 anderen wollen ihr Leben retten, hämmern gegen
die Tankerwand. Doch der Fahrer hält nicht an. Joe hat mit dem
Handy gefilmt. Schließlich wollen sie die Polizei rufen. Kein Netz.
Dann in Belgien kann der Tanker gestoppt werden, die
Flüchtlinge werden befreit. Drei von ihnen waren bereits
ohnmächtig.
Königsforst West. Die Flüchtlinge, in dem Kühllaster hatten Glück.
Bei ihnen war es nur eine leichte Unterkühlung. Aus ihrer
Unterkunft in Deutschland sind sie mittlerweile verschwunden.
Wahrscheinlich haben sie sich wieder auf den Weg gemacht - mit
dem Lkw nach England.
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