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Zur kalten Progression und den
Verteilungswirkungen ihrer Abgeltung*
Stefan Humer und Mathias Moser
FI Economics of Inequality (INEQ), WU Wien
29. September 2016
Zusammenfassung
Die kalte Progression ist eine Veränderung des Durchschnittssteuersatzes, die durch
inflationsbedingte Einkommensänderungen in Steuertarifen mit nominell fixierten
Steuerstufen auftreten kann. In dieser Studie werden die Verteilungseffekte einer
Valorisierung der Tarifzonen des Einkommensteuertarifes mit einer durchschnittlichen Inflationsrate evaluiert. Dabei zeigt sich für den Zeitraum 2009-2015 unter
Berücksichtigung der heterogenen Warenkorbinflation nach Einkommenshöhe, dass
eine Anpassung der Tarifzonen mit der durchschnittlichen Inflationsrate zu einer
moderaten Umverteilung der Steuerlasten geführt hätte. Für geringe Einkommen
liegt die Entlastung unter der sie betreffenden kalten Progression, während für höhere Einkommen die kalte Progression überkompensiert wird. Zusätzlich ist der
budgetäre Steuerausfall in den drei betrachteten Szenarien um 2-7% höher, als es
eine reine Anpassung des Steuersatzes an die Kaufkraft erfordern würde.
JEL Codes: H30, H24, K34.
Keywords: Steuersimulationen, Kalte Progression, Heterogene Inflationsrate, Verteilungswirkungen.
*
Email: [email protected] & [email protected]
1
Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
1 Einleitung
Im Zuge der Steuerreform 2015/16 entwickelte sich eine angeregte Diskussion über das
Ausmaß und die Auswirkungen der sogenannten kalten Progression im Bereich der österreichischen Einkommensbesteuerung. Die kalte Progression bezeichnet dabei die implizite
Erhöhung der individuellen Steuerbelastung, die sich aus der reinen Inflationsanpassung
der nominalen Löhne und Gehälter ergibt. Dies ist die unmittelbare Konsequenz der direkt
progressiven Tarifgestaltung mit steigendem Grenzsteuersatz.1 Gerechtfertigt wird die
progressive Einkommensbesteuerung üblicherweise durch das Leistungsfähigkeitsprinzip,
das traditionell so interpretiert wird, dass — im Sinne einer verhältnismäßigen Gleichheit
— wirtschaftlich leistungsfähigere Steuerpflichtige mit einem höheren Steuersatz belegt
werden sollen als wirtschaftlich Schwächere (Musgrave u. a., 1975).
Das Phänomen der kalten Progression bzw. seine Anerkennung sind keineswegs neu.
In den vergangenen Jahrzehnten reagierte die Fiskalpolitik durch diskretionäre Steuersenkungen in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen (Lehner, 1981). Nahezu alle
umfangreicheren Steuerreformen der letzten Jahrzehnte adressierten in ihrer Umsetzung
zwar gleichzeitig mehrere wirtschaftspolitische Ziele, der Ausgangspunkt für die jeweiligen
Debatten war aber überwiegend die Forderung nach einer Abgeltung der kalten Progression.
In jüngerer Zeit mehren sich die Forderungen, den wiederkehrenden politischen Aushandlungsprozess über Umfang und Art der Kompensation der kalten Progression zugunsten einer regelgebundenen Abgeltungsautomatik aufzugeben. Begründet werden diese Forderungen durch wünschenswerte makroökonomische Effekte infolge der Glättung
des privaten Konsums und die Ausmerzung des demokratiepolitischen Mankos von nicht
explizit durch das Parlament abgesegneten, “heimlichen” Steuererhöhungen (Brandner,
2015). Andererseits geht eine solche Automatik auch mit einer gewissen Einschränkung
des fiskalpolitischen Handlungsspielraums und dem Verlust des budgetären “Polsters” für
die Konzeption größerer Steuerstrukturreformen einher (Budgetdienst des Parlaments,
2015; Doralt, 2016).
Blickt man in die Details der wissenschaftlichen Debatte, wird schnell klar, dass die
Thematik komplexer und vielschichtiger ist, als es vordergründig erscheint. Zur Frage der
Quantifizierung des Anteils der kalten Progression an der gesamten Steuerprogression seit
der letzten Steuerreform 2009 erschienen im Vorfeld der jüngsten Steuerreform 2015/16
1
In Österreich, das wie die meisten anderen Industrieländer einen Stufengrenzsatztarif anwendet, wird
die direkte Progression durch sprunghafte Erhöhungen des Grenzsteuersatzes in festgelegten Intervallen (Tarifzonen) bewirkt.
2
Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
eine ganze Reihe von Studien, deren Resultate sich teilweise signifikant unterscheiden. Der
Budgetdienst des Parlaments (2015) und Brandner (2015) kommen nach einem systematischen Vergleich der Arbeiten zu dem Schluss, dass die Unterschiede aus verschiedenen
Annahmen, Berechnungsmethoden und Datengrundlagen resultieren.
Rainer (2015) verwendet aggregierte Daten aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung um die kalte von der gesamten Steuerprogression abzuspalten. Die Methode besticht
durch ihre einfache Nachvollziehbarkeit, für systematische Änderungen der Beschäftigungsstruktur oder des Steuerrechts im Beobachtungszeitraum kann allerdings nicht eigens kontrolliert werden. Loretz (2015) sowie Christl und Kucsera (2015) simulieren auf
Basis von aggregierten Auswertungen der administrativen Steuerstatistiken die wesentlichen Elemente der Einkommensbesteuerung und vergleichen den status quo mit dem
alternativen Szenario einer jährlichen Anpassung der Tarifstufen um die durchschnittliche Inflationsrate. Steiner und Wakolbinger (2015) verwenden hingegen die Individualdaten des EU-SILC aus dem Jahr 2012 um mithilfe eines Mikrosimulationsmodells die
Steuerlast mit und ohne Inflationsanpassung des Steuersystems zu vergleichen. In ihrem
Modell werden neben den Tarifstufen auch (unter Annahme einer vollständigen Ausschöpfung) sämtliche Absetz- und Freibeträge und sowohl die Lohnsteuer- als auch die Einkommensteuerpflichtigen (wie z.B. Selbstständige) einbezogen. In Bezug auf die realitätsnahe
Quantifizierung der gesamten kalten Progression ist dies ein großer Vorteil, allerdings
werden die Einkommens- und Beschäftigungsverteilungen des Jahres 2012 als konstant
angenommen und für den Zeitraum 2009-2019 fortgeschrieben.
Eine weiterer Vorzug des Modells von Steiner und Wakolbinger (2015) ist jener, die
Verteilungswirkungen der kalten Progression analysieren zu können. Sie vergleichen dabei
die Abgabenanteile der Dezile am gesamten Steueraufkommen mit den ihnen zugeschriebenen Anteilen der kalten Progression und schlussfolgern, dass das zweite bis siebente
Dezil überproportional betroffen sind.
An dieser Betrachtung wollen wir anknüpfen und die Diskussion um einen Aspekt bereichern, dessen Implikationen in den bisherigen Studien keine Beachtung geschenkt wurde:
heterogene Inflationsraten. Diese basieren auf der Beobachtung, dass Warenkörbe und somit die Inflationsraten potentiell über verschiedene Bevölkerungsgruppen variieren. Wir
folgen damit den Empfehlungen der Stiglitz-Sen-Fitoussi Kommission, wonach der Verteilung von Einkommen, von Konsum und deren Abhängigkeiten bzw. Zusammenhängen
stärkere Beachtung zukommen sollte. Durchschnitts- oder Gesamtgrößen sind zur zielgerichteten Beurteilung von Lebensrealitäten und den sie beeinflussenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen oftmals nicht geeignet (Fitoussi u. a., 2010).
3
Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
Unsere Argumentation ist folgenderweise aufgebaut. Im nächsten Abschnitt legen wir
die verwendeten Definitionen, notwendigen Annahmen sowie die Daten und die Art der
Modellierung offen (siehe Kap. 2). Darauf aufbauend diskutieren wir die Ergebnisse unserer Simulationsrechnungen (siehe Kap. 3) und schließen mit einem Fazit (siehe Kap. 4).
2 Definitionen, Daten und Modellierung
2.1 Kalte Progression
Zunächst gilt es zu bemerken, dass in der einschlägigen Literatur teilweise voneinander
abweichende Definitionen von kalter Progression angewendet und unterschiedliche Tatbestände als Gründe für das Entstehen von kalter Progression identifiziert werden. Ganz
generell gilt:
“Sie [die kalte Progression, Anm.] entsteht dadurch, daß die Einkommensbesteuerung auf dem Nominalwertprinzip beruht und Einkommenszuwächse,
die bloß dem Ausgleich der Geldentwertung dienen, wie eine reale Erhöhung
der Einkommen besteuert werden.” (Lehner, 1981, S. 1)
Diese Definition liefert bereits zwei zentrale Ankerpunkte für die Eingrenzung von kalter Progression: (a) entsteht sie dann, wenn zwei gleiche Realeinkommen aufgrund von
Geldwerteffekten unterschiedlich besteuert werden, d.h. dass sich der Durchschnittssteuersatz unterscheidet, obwohl keine reale Kaufkraftänderung eingetreten ist; (b) kann dieser
Effekt nur durch solche Einkommenserhöhungen ausgelöst werden, die lediglich durch
Inflation bedingt sind. Eine Einkommenserhöhung aufgrund anderer Tatbestände (etwa
Produktivitätssteigerung), ist dementsprechend nicht hierunter zu klassifizieren, da diese
Einkommensgewinne bspw. durch eine erhöhte “Leistung” des/der EinkommensempfängerIn begründet sind – diese ist aber gemäß dem Leistungsfähigkeitsprinzip des Einkommensteuergesetzes auch höher zu besteuern.
Daraus lässt sich weiter folgern, dass es nicht eine kalte Progression gibt, sondern
sich deren Höhe je nach Inflationsabgeltung unterscheiden kann. Inwiefern Einkommen
genau mit der durchschnittlichen VPI-Inflation, darunter oder darüber abgegolten werden, unterliegt jedoch den (kollektivvertraglichen) Lohnverhandlungen. In diesen wird,
abhängig von einer Reihe an Faktoren, die effektive Lohnsteigerung nach Branchen vereinbart, welche sich unter anderem an Produktivitätswachstum, Verhandlungsmacht der
ArbeitnehmerInnen, Wirtschaftswachstum, zukünftige Erwartung und zum Teil auch an
der Inflationsrate orientieren. Somit unterscheiden sich nicht nur die Lohnabschlüsse nach
4
Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
Branchen, sondern eben auch die Effekte der kalten Progression für unterschiedliche Gruppen von ArbeitnehmerInnen. Somit ist es nicht adäquat den Einkommensteuertarif mit
einem Wert (etwa der durchschnittlichen Lohnerhöhung) zu valorisieren, da die realen
Lohnerhöhungen in der Regel von diesem Wert abweichen und einzelne Bevölkerungsgruppen strukturell bevor- bzw. benachteiligt würden.
An diesem Punkt drängt sich eine weitere Frage, nach der Kaufkraftentwicklung des
Einkommens, auf. Im Falle einer Lohnanpassung unter der Inflationsrate würde die reale
Kaufkraft des Einkommens sinken. Dies wäre auch der Fall, würde die kalte Progression im Einkommensteuertarif neutralisiert werden: Die Neutralisierung betrifft, wie oben
definiert, ja nur den inflationsbedingten Einkommenszuwachs. Ist dieser geringer als die
eigentliche Inflation, sinkt das Realeinkommen folglich trotz Kompensation für die kalte
Progression.
Dieser Effekt tritt nicht auf, passt man den Einkommensteuertarif, statt mit den inflationsbedingten Einkommenszuwächsen mit einem anderen Maß an, dass sich direkt an
der Warenkorbinflation orientiert. Mit der Anpassung anhand des Verbraucherpreisindex
(VPI) steht ein solcher Vorschlag derzeit im Zentrum der politischen Diskussion und wurde auch in mehreren Studien evaluiert (Christl und Kucsera, 2015; Loretz, 2015; Rainer,
2015; Steiner und Wakolbinger, 2015).
Hierbei muss jedoch beachtet werden, dass eine Vermischung von zwei Begriffen stattfindet: Der Warenkorbinflation einerseits, die zur Messung der realen Kaufkraft herangezogen wird, und der inflationsbedingten Einkommenssteigerung andererseits, die Ursache
für das Entstehen von kalter Progression ist. Die Verwendung von ersterem Konzept zur
Bereinigung des zweiten Problems ist nur dann zulässig, wenn die Warenkorbinflation
immer genau den (nicht produktivitätsbedingten) Lohnerhöhungen entspricht, diese also
aneinander gekoppelt sind.
Genau dies ist jedoch nicht der Fall, wie zuvor für den Fall der unterschiedlichen Lohnerhöhungen demonstriert wurde. Somit ist eine Anpassung des Einkommensteuertarifes
mit der Inflationsrate nur eine indirekte Maßnahme zur (teilweisen) Bereinigung von
kalter Progression. Bekommen unterschiedliche Bevölkerungsgruppen verschieden hohe
Inflationsabgeltungen durch die Lohnverhandlungen so wird für den Fall, dass die inflationsbedingte Lohnerhöhung über der durchschnittlichen Inflationsrate liegt (etwa weil
sich der Warenkorb einer Beschäftigungsgruppe unterschiedlich zusammensetzt) die kalte
Progression nicht (bzw. nur zum Teil) abgegolten. Für den anderen Fall, in dem die Einkommenserhöhung unter der Inflationsrate liegt, wird der Einkommensteuertarif zu stark
angepasst und die Durchschnittssteuersätze bleiben nicht konstant sondern sinken sogar.
5
Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
Es handelt sich dabei also um eine staatliche Stützung der Reallöhne.
Obwohl diese Maßnahme nur indirekt die kalte Progression (fallweise auch nur teilweise) abgilt, ist die Forderung nach einer Anpassung anhand der Inflationsrate statt
der Lohnerhöhungen grundsätzlich legitim. Es muss jedoch festgehalten werden, dass dieser Zugang einen anderen Fokus als die direkte Bekämpfung der kalten Progression hat,
nämlich der Stützung der Realeinkommen.
Die Grundlage der durchschnittlichen Inflationsrate, der VPI, basiert dabei auf einem
“repräsentativen” Warenkorb für die Bevölkerung. Dieser setzt sich aus bestimmten Anteilen von Gütern zusammen, deren gewichtete Preisentwicklung Grundlage für die Berechnung der durchschnittlichen Inflationsrate ist. Dieser Warenkorb ist jedoch, wie beschrieben, “repräsentativ” (für die Gesamtbevölkerung). Dies gilt jedoch nicht zwingend
für verschiedene Einkommensbereiche: Während die Warenkörbe von niedrigen Einkommen von Nahrungsmittel-, Wohn- und Energieausgaben dominiert werden, finden sich bei
hohen Einkommen deutlich öfter Mobilitäts-, Freizeit- sowie andere Ausgaben (Statistik
Austria, 2011). Variieren die Preissteigerungen für die einzelnen Gütergruppen, so variiert
auch die Warenkorbinflation für verschiedene Einkommensgruppen.
In diesem Fall ist die Annahme einer durchschnittlichen Inflationsrate für die Anpassung
des Steuertarifes speziell problematisch, da die Realeinkommen direkt von variierenden
Inflationsraten betroffen sind. Welche Effekte von dieser Approximierung ausgehen, soll
die nachfolgende Analyse skizzieren.
2.2 Datenquellen
Eine optimale Datenquelle zur Modellierung der kalten Progression für die gesamte Bevölkerung müsste mehrere Eigenschaften erfüllen. Die Grundlage wäre in jedem Fall ein
Längsschnittsdatensatz, der es erlaubt, die Einkommen der (un-)selbstständig Beschäftigten sowie der PensionistInnen über die Zeit hinweg zu verfolgen. Ein solcher Datensatz läge
mit der Vollerhebung der integrierten Lohn- und Einkommensteuerstatistik vor, in dem
sowohl die Einkünfte als auch die genannten Personen über die Zeit hinweg beobachtbar
wären. Diese Quelle ist der wissenschaftlichen Forschung derzeit aber nur eingeschränkt
zugänglich und kann daher für diese Studie nicht verwendet werden.
Als Alternative können die Stichproben der administrativen Steuerstatistik (Statistik
Austria, o.D.[a]) herangezogen werden. Diese enthalten für das jeweilige Jahr repräsentative Querschnittsdaten aus einem zufällig gezogenen 1% Sample der integrierten Lohn- und
Einkommensteuerstatistik. Diese Stichprobe weist eine sehr hohe Datenqualität auf und
zeigt nur am obersten Rand der Einkommensverteilung aufgrund verschiedener Anony-
6
Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
misierungsmaßnahmen Unschärfen in Bezug auf die Höchsteinkommen. Zusätzlich sind
verschiedene sozioökonomische Merkmale verfügbar, die die Berechnung der individuellen Steuerlast (zB. ArbeitnehmerInnenabsetzbetrag, PensionistInnenabsetzbetrag, etc.)
erleichtern.
Da es sich jedoch nicht um einen Paneldatensatz handelt, in dem reale Einkommenserhöhungen sowie deren Effekt auf die Besteuerung beobachtet werden können, muss die
Einkommensentwicklung zusätzlich auf Basis des VPI imputiert werden.
2.3 Modellierung
Im Folgenden werden Verteilungseffekte der kalten Progression für die Jahre 2009-2015 auf
Basis der Mikrodaten der integrierten Lohn- und Einkommensteuerstatistik für das Jahr
2009 modelliert. Diese Stichprobe umfasst 65.888 Personen. Dabei werden die Population
und die Einkommensstruktur auf dem Stand von 2009 eingefroren und die Realeinkommen
der Erwerbstätigen mit den jährlichen (Einkommens-)Steigerungen valorisiert. Gleichzeitig werden die Tarifzonen des Einkommensteuertarifes wie in der politischen Diskussion
vorgeschlagen mit der durchschnittlichen Inflationsrate angepasst.2 In unseren Berechnungen wird somit genauso wie in den ebenfalls mikrobasierten Ansätzen von Christl und
Kucsera (2015), Loretz (2015) und Steiner und Wakolbinger (2015) allen Steuerpflichtigen ein Effekt der kalten Progression zugeschrieben, auch wenn diese in Wirklichkeit nicht
davon betroffen waren (Brandner, 2015).
Hierbei werden ebenfalls keine Beschäftigungs- oder Struktureffekte modelliert, sodass
auch keine zuverlässigen Aussagen über die absoluten Aufkommenseffekte einer Tarifvalorisierung getroffen werden können. Ziel ist es vielmehr, die bisher nur am Rande beleuchteten Verteilungseffekte einer Tarifanpassung anhand der durchschnittlichen Inflationsrate
zu skizzieren.
2.4 Heterogene Inflationsraten
Ein zentraler Punkt, der in bisherigen Studien oftmals ausgeblendet wurde, ist die unterschiedliche Reallohnentwicklung einzelner Bevölkerungsgruppen. Dabei wurde sowohl
angenommen, dass die Einkommenssteigerungen als auch die Valorisierung des Tarifs mit
demselben Satz vollzogen wird (durchschnittlicher VPI). Wie zuvor gezeigt wurde, haben
2
Vollständigskeithalber muss angemerkt werden, dass hierbei implizit ein konstantes Produktivitätsniveau angenommen wird, obwohl dies für die Bemessung der kalten Progression letztlich unerheblich
ist (Lehner, 1981).
7
Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
Haushalte jedoch deutlich voneinander abweichende Warenkörbe und damit auch unterschiedliche (heterogene) Inflationsraten.
Die Konsumanteile verschiedener Ausgabenbereiche sind nicht konstant, sondern verändern sich mit der Höhe des Einkommens. Am unteren Ende der Verteilung werden mehr
als die Hälfte der gesamten Ausgaben für Nahrungsmittel und Wohnen & Energie aufgewandt. Das sind jene Bereiche (speziell die Subkategorie der Miet- und Betriebskosten) die
im Zeitraum von 2009-2015 durch überdurchschnittliche Preissteigerungen gekennzeichnet
waren. Über die Einkommensverteilung hinweg nimmt der Anteil der Konsumausgaben
für diese Bereiche ab, gleichzeitig erhöht sich gegenläufig die Bedeutung der Kategorien
Freizeit & Kultur bzw. Transport & Verkehr. Zwei Bereiche, deren Preissteigerungen seit
dem Jahr 2009 signifikant unter dem allgemeinen Durchschnitt erfolgt sind.
In Folge der unterschiedlichen Preisentwicklungen und der Gewichtung der Ausgaben
über die Einkommensverteilung ergeben sich somit auch unterschiedliche Inflationsraten.
Für niedrige Einkommen lagen die Inflationsraten zwischen 2009-2015 getrieben durch die
laufenden Kosten des Wohnens über dem Durchschnitt, während die größere Bedeutung
von Ausgaben für Freizeit und Mobilität die tatsächliche Inflation von höheren Einkommen unter den durchschnittlichen Wert gezogen haben.3
Zur Quantifizierung der kalten Progression ist dies essentiell, da hier in der Regel auf
die Entwicklung des Realeinkommens abgestellt wird. Fessler und Fritzer (2013) zeigen
für Österreich auf Basis der Konsumerhebung ebenfalls, dass die Durchschnittsinflationsrate keineswegs repräsentativ für die gesamte Verteilung ist. Im Jahr 2012 lag die durchschnittliche Inflationsrate bei 2,21%, die Inflationsraten von unterschiedlichen Haushalten
variierten aber im Bereich zwischen 1,27% und 3,12%, je nach Ausgabenstruktur. Generell
bekannt ist, dass diese Unterschiede in den Inflationsraten eng mit dem Einkommen und
den damit verbundenen Konsum- und Sparneigungen korreliert sind (Statistik Austria,
2011).
In den Mikrodaten der integrierten Lohn- und Einkommenssteuerstatistik sind jedoch
keine solchen individuellen Inflationsraten verfügbar um fiktive Realeinkommen zu simulieren. Eine Alternative ist die Imputation der Warenkorbinflation anhand verschiedener
Indikatoren, speziell des Einkommens. Laut Berechnungen von Statistik Austria stiegen
die Verbraucherpreise zwischen 2008 und dem Jahr 2014 im kumulierten Durchschnitt
um 12%. Die Preissteigerungsrate betrug im 1. Dezil nach Haushaltsausgaben hingegen
13,9%, während diese sich im Durchschnitt für das oberste Dezil unterproportional um
11,2% erhöht haben (Statistik Austria, 2014). Fessler und Fritzer (2013) zeigen Inflations3
Mit dem persönlichen Inflationsrechner der Statistik Austria können diese unterschiedlichen Inflationsraten nachgezeichnet werden (Statistik Austria, o.D.[b]).
8
Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
raten nach Einkommensdezilen und, dass die Inflationsraten ausgehend vom Median in
einem ähnlichen Ausmaß nach oben und unten hin streuen. Der Zusammenhang zwischen
Inflation und Einkommen kann dabei sehr gut durch eine lineare Funktion angenähert
werden. Die Spannweite der Inflationsraten an den Rändern der Einkommensverteilung
liegt in den Jahren 2010 bis 2012 zwischen ±5% bis ±25% über bzw. unter dem mittleren
Wert.
Basierend auf diesen unterschiedlichen Inflationsraten nach Einkommenshöhe werden
im Folgenden die Nominaleinkommen so fortgeschrieben, dass die Bruttorealeinkommen
konstant bleiben. Da wir die tatsächlichen individuellen Inflationsraten nicht kennen, werden die Bruttoeinkommen der jeweiligen Personen in drei unterschiedlichen Inflationsszenarien mit einer einkommensabhängigen imputierten Inflationsrate erhöht, um einen fiktiven Kaufkrafterhalt zu simulieren. Die Erhöhung orientiert sich dabei an den Ergebnissen
von (Fessler und Fritzer, 2013), sodass diese linear rund um die Durchschnittsinflation
variieren.
Tabelle 1: Szenarien für kumulierte heterogene Inflation nach Einkommensdezilen (2009-2015)
Szenario
∆π: ±5%
∆π: ±10%
∆π: ±15%
1
13,4%
13,9%
14,5%
2
13,3%
13,7%
14,2%
3
13,1%
13,5%
13,8%
4
13,0%
13,2%
13,4%
5
12,9%
12,9%
13,0%
6
12,7%
12,7%
12,6%
7
12,6%
12,4%
12,2%
8
12,5%
12,2%
11,9%
9
12,4%
11,9%
11,5%
10
12,2%
11,7%
11,1%
Dezil
Die Tabelle zeigt die kumulierten Inflationsraten nach Einkommensdezilen für das
Jahr 2015 in Bezug auf das Basisjahr 2009. Am Median entspricht sie jeweils
genau der Veränderung des offiziellen (durchschnittlichen) VPI (12,8%), über die
Einkommensverteilung hinweg wird in drei Szenarien jeweils ein linearer Rückgang
der Inflationsraten angenommen. Die Differenz der Inflationsraten an den
Rändern der Verteilung zum Median (∆π) beträgt je nach Szenario ±5%, ±10%
bzw. ±15%.
Quelle: Eigene Darstellung
9
Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
Im Folgenden werden auf Basis derselben Studie drei Szenarien unterstellt: Im konservativsten Fall variiert die kumulierte Inflationsrate um ±5% zwischen dem ärmsten und
reichsten Dezil. Darüberhinausgehend werden Variationen von ±10% und ±15% berechnet. Als Referenzszenario verwenden wir das mittlere Szenario mit einer Variation um
±10%, das im Vergleich zur maximal beobachteten Variation (±25%, vgl. Fessler und
Fritzer, 2013) immer noch eine eher konservativere Annahme ist. Tabelle 1 veranschaulicht die kumulierten Inflationsraten in den drei Szenarien nach Einkommensdezilen in
Bezug auf das Basisjahr 2009.
Parallel dazu wird für jedes Jahr, in dem dies geschieht, die Einkommensteuerschuld
gemäß Einkommensteuertarif in zwei Varianten berechnet. Erstens für ein theoretisches
Basisszenario, in dem die kalte Progression exakt abgegolten wird, wobei als Maßstab
hier der konstante Durchschnittssteuersatz gilt.4 In einer zweiten Variante wird diese
perfekte Bereinigung der kalten Progression einem System mit automatisch nach dem
VPI valorisierten Steuerstufen gegenüber gestellt.
3 Ergebnisse
Wenn sich der Anpassungsmechanismus an der durchschnittlichen Inflationsrate orientiert,
das Ausmaß der abzugeltenden kalten Progression jedoch nicht direkt an diese Maßzahl
gebunden ist, kann allein schon auf Basis theoretischer Überlegungen gefolgert werden,
dass bestimmte Personen über- bzw. unterentlastet werden könnten.
Abbildung 1(a) zeigt für diesen Fall eine Steuersimulation auf Basis der Stichprobe der
integrierten Lohn- und Einkommensteuerstatistik für den Zeitraum 2009-2015. Die rote
Linie zeigt die absolute Entlastung der Steuerpflichtigen im Jahr 2015 durch eine Anpassung, die sich ausschließlich am durchschnittlichen Anstieg des VPI orientiert. Die markantesten Sprünge treten an den drei Progressionsstufen auf, für Einkommen im obersten
Bereich beträgt die Entlastung ca. ¤1.300. Innerhalb der Progressionsstufen ist der Verlauf dabei konstant bzw. leicht rückläufig. Dies resultiert aus der inneren Regression, die
ein wesentliches Merkmal des in Österreich angewendeten Teilmengenstaffeltarifs ist. Im
Vergleich zu Formeltarifen wird somit das Ausmaß der kalten Progression bereits durch
den Tarif selbst abgemildert (Lehner, 1981). Unter der strikten Annahme einer homogenen Inflationsrate, dh. dass alle Steuerpflichtigen im selben Ausmaß von Veränderungen
4
Dieses Szenario ist insofern von theoretischer Natur, da der Tarif für Personen mit unterschiedlichen
Inflationsraten unterschiedliche stark angehoben werden muss. Somit würden sich die Stufen de facto
für jede Person individuell verschieben um einen konstanten Durchschnittssteuersatz für jede Person
zu erreichen.
10
Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
des Preisniveaus betroffen sind, würde die Maßnahme die (fiktive) kalte Progression exakt
abgelten.
Berücksichtigt man bei der Berechnung der kalten Progression jedoch die realistischere
Annahme von heterogenen Inflationsraten nach Einkommensdezilen, so ergeben sich die
unterbrochenen Linien. Die drei Szenarien beschreiben dabei unterschiedlich starke Verläufe der Änderung der Inflationsraten. Variiert die Inflationsrate für das oberste/unterste
Dezil nur um ±5% rund um den Median, liegt die wahre kalte Progression bereits deutlich unter jener die mit dem durchschnittlichen VPI berechnet wurde. Dieser Effekt ist
stärker, je höher die Abweichung zum Median ist (±10% bzw. ±15%).
Diese Effekte beginnen für Einkommen an der ersten Progressionsstufe sichtbar zu
werden. Obwohl die Negativsteuer ebenfalls ein Auslöser kalter Progression ist, sind die
Differenzen an bzw. unter der ersten Progressionsstufe nur gering. Für Einkommen ab der
zweiten Progressionsstufe (2009: ¤25.000) zeigt sich bereits ein deutlicher Unterschied
zwischen dem VPI-Konzept einer automatischen Anpassung und der Berücksichtigung
von heterogenen Inflationsraten. Dabei liegt die kalte Progression je nach Szenario um
etwa ¤100 unter jener, die mit dem VPI abgegolten werden würde. Diese Differenz steigt
nochmals ab dem obersten Progressionssprung. Für Einkommen um die ¤75.000 ergibt
sich beispielsweise eine Differenz von bis zu ¤200.
Die Darstellung in der Grafik anhand der steuerlichen Bemessungsgrundlage (x-Achse)
beinhaltet jedoch keine Information darüber, welche Bevölkerungsanteile in welchem Ausmaß von der kalten Progression betroffen sind. Wie in entwickelten Volkswirtschaften üblich, ist die Einkommensverteilung in Österreich rechtsschief. Das heißt, dass nach einer
starken Häufung von Personen mit niedrigem und mittleren Einkommen die Häufigkeiten bei höheren Einkommen rapide abnehmen und langsam auslaufen. Abbildung 1(b)
trägt dem Rechnung und zeigt das gleiche Bild, jedoch mit einer reskalierten x-Achse,
die nun nicht mehr die steuerliche Bemessungsgrundlage, sondern die relative Position in
der Einkommensverteilung angibt. Anhand dieser Darstellung zeigt sich deutlich, dass die
unteren 40% der Bevölkerung de facto nicht von kalter Progression betroffen ist. Die Einkommen liegen in diesem Bereich so niedrig, dass sie nicht vom Steuertarif erfasst werden,
gleichzeitig sind die Effekte der kalten Progression auf die Negativsteuer minimal. Erst
darüber wirken sich die Effekte der kalten Progression aus und erreichen ihr Maximum
für die obersten 5% der EinkommensbezieherInnen.
Ebenso sind die Verläufe der Abgeltung anhand des durchschnittlichem VPI und der
tatsächlichen kalten Progression im unteren Bereich der Verteilung und bis zum Median
hin kaum voneinander zu unterscheiden. Dies ändert sich in der oberen Verteilungshälfte.
11
Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
1000
Euro
Euro
1000
500
500
0
0
0
30
60
90
120
0
Steuerliche Bemessungsgrundlage (in 1000 EUR)
Abgeltung mit VPI
Szenario 5%
Szenario 10%
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
Quantile der Einkommensteuerpflichtigen
Szenario 15%
Abgeltung mit VPI
(a) Bemessungsgrundlage
Szenario 5%
Szenario 10%
Szenario 15%
(b) Einkommensverteilung
Abbildung 1: Kalte Progression und Abgeltung mittels VPI
Hier liegen die Inflationsraten unter dem Durchschnitt des VPI und somit liegt auch die
steuerliche Abgeltung über dem Ausmaß der tatsächlichen kalten Progression. Dies manifestiert sich speziell im obersten Prozent der Einkommensverteilung, wo die steuerliche
Entlastung zu einer Überkompensation der kalten Progression führt.
Dies bedeutet auch, dass durch die Maßnahme der automatischen Tarifanpassung anhand des VPI das eigentliche Ziel verfehlt wird – das Konstanthalten der Durchschnittssteuersätze gegenüber dem Realeinkommen.
Abbildung 2 zeigt obigen Sachverhalt nochmals unter Bezugnahme auf die Änderung
im Durchschnittssteuersatz. Ein Wert größer null bedeutet dabei, dass der Durchschnittssteuersatz nach Tarifanpassung immer noch höher liegt, als dies ohne kalte Progression
der Fall gewesen wäre (Unterkompensation). Im Umkehrschluss zeigen Werte kleiner null
eine Senkung des Steuersatzes über das ursprüngliche Niveau hinaus an (Überkompensation). Die schwarze Nulllinie entspricht damit einer (theoretischen) perfekten Abgeltung
der kalten Progression für jedes Quantil.
Es zeigt sich, dass die Durchschnittssteuersätze der Einkommen bis zum Median in der
Regel nicht konstant bleiben, sondern zu wenig sinken: Die sie betreffende tatsächliche
Inflation ist höher als die der Tarifanpassung zugrunde gelegte. Somit wird für diese
Gruppe die kalte Progression auch nicht vollständig abgegolten.
Der gegenteilige Effekt findet sich über dem Median: Hier sinken die Durchschnittssteuersätze stärker, als notwendig wäre um die kalte Progression auszugleichen. An der Grenze zum oberen Viertel der Einkommensverteilung (75. Perzentil) liegt der neue Durchschnittssteuersatz im mittleren Szenario um 0,1% unter dem Wert des Ausgangsjahres
(vor kalter Progression). Weiter oben steigt dieser Wert auf 0,15% Differenz und sinkt für
die obersten Einkommen im Durchschnitt leicht.
12
Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
0.3%
Unterkompensation
Veränderung des Durchschnittsteuersatzes
0.2%
0.1%
0.0%
−0.1%
−0.2%
Überkompensation
−0.3%
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
Quantile der Einkommensteuerpflichtigen
Abbildung 2: Kompensation der kalten Progression durch Anpassung mittels VPI
Diese Berechnungen erlauben es auch, die von Steiner und Wakolbinger (2015) analysierten Verteilungswirkungen der kalten Progression zu betrachten. Tabelle 2 zeigt die
Anteile der Einkommensdezile am gesamten Einkommen, am Steueraufkommen, an der
steuerlichen Mehrbelastung infolge der kalten Progression und an deren Kompensation
nach Dezilen. Aus den ersten beiden Spalten werden zwei Gegebenheiten deutlich sichtbar.
Einerseits die Konzentration der Einkommen, die dazu führt, dass die unteren sechs Dezile
einen geringeren Einkommensanteil aufweisen, als es ihrem Anteil an der Anzahl der Steuerpflichtigen entspräche. Vor allem im obersten Dezil steigt dieser Anteil deutlich auf über
34% an. Andererseits zeigt die zweite Spalte die progressive Wirkung der österreichischen
Einkommensbesteuerung. Die unteren vier Dezile erhalten nur geringe Einkommen und
liegen somit unter dem steuerlichen Grundfreibetrag (¤11.000 steuerpflichtiges Einkommen) wodurch keine Einkommensteuer fällig wird. Ihr Anteil liegt infolge der Auszahlung
der Negativsteuer sogar leicht im negativen Bereich. Bis zum 8. Dezil ist der Anteil am
Steueraufkommen generell geringer als der Einkommensanteil, im 9. Dezil liegt er leicht
und im 10. Dezil deutlich darüber. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass diese progressive Wirkung im Bereich der Einkommensteuer durch die indirekt regressive Wirkung
der Sozialversicherungsabgaben und die regressive Wirkung der meisten Verbrauchssteuern abgemildert wird (Rocha-Akis u. a., 2016).
Die dritte Spalte (∅π) in Tabelle 2 veranschaulicht den Anteil der Dezile an der steuerlichen Zusatzbelastung infolge der kalten Progression unter Annahme einer homogenen
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Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
Tabelle 2: Verteilungswirkung der kalten Progression und ihrer Abgeltung
Anteile an
Einkommen
Steueraufk.
1
0.3%
0.0%
2
1.8%
3
∅π
∆π±5%
∆π±10%
∆π±15%
Überkomp.
0.0%
0.0%
0.0%
0.0%
0.0%
-0.2%
0.1%
0.1%
0.1%
0.1%
0.0%
3.5%
-0.3%
0.4%
0.4%
0.4%
0.4%
-0.4%
4
5.4%
-0.3%
0.9%
1.0%
1.0%
1.1%
-0.2%
5
7.0%
0.5%
13.2%
13.6%
14.0%
14.4%
-1.8%
6
8.7%
3.5%
14.0%
14.3%
14.6%
14.9%
3.1%
7
10.4%
6.9%
14.0%
14.1%
14.2%
14.3%
9.2%
8
12.6%
11.1%
15.0%
15.0%
14.9%
14.9%
15.2%
9
16.1%
18.4%
19.0%
18.8%
18.6%
18.3%
29.1%
10
34.2%
60.5%
23.4%
22.9%
22.3%
21.7%
45.8%
Dezil
Die Tabelle zeigt die Anteile am zu versteuernden Einkommen, am gesamten
Steueraufkommen, der kalten Progression unter Annahme homogener (∅π) und heterogener
(∆π) Inflationsraten bzw. an der Überkompensation durch eine Anpassung des Tarifs mit der
durchschnittlichen Inflationsrate nach Dezilen der steuerlichen Bemessungsgrundlage.
Quelle: INEQ Berechnungen auf Basis hochgerechneter und fortgeschriebener Daten der
Integrierten Lohn- und Einkommensteuerstatistik 2009.
Inflationsrate. Wie in Steiner und Wakolbinger (2015) zeigt der Vergleich dieser Spalte
mit den Anteilen am Steueraufkommen, dass tendenziell die mittleren Einkommen bis
hinauf in das 8. Dezil überproportional durch die kalte Progression belastet werden. Im
neunten Dezil entsprechen sich die beiden Anteile annähernd, das oberste Dezil wird im
Verhältnis zum Anteil am Steueraufkommen unterproportional belastet.
Die Spalten ∆π±5% , ∆π±10% und ∆π±15% führen nun weiter aus, wie sich diese Betrachtung durch die Berücksichtigung heterogener Inflationsraten in den unterschiedlichen Szenarien verändern würde. Es wird deutlich, dass die relative Zusatzbelastung stärker im
Bereich um den Median, jenen Einkommen knapp über der ersten Progressionsstufe, konzentriert ist. Während der Anteil am Aufkommen der Einkommensteuer des 5. Dezils nur
0,5% ausmacht, kumuliert sich deren Betroffenheit auf 13,6% bis 14,4% des gesamten Volumens der kalten Progression. Im Vergleich zu den Berechnungen unter Annahme einer
homogenen Inflationsrate, steigt dieser Anteil je nach Szenario um 0,3 bis 1,1 Prozentpunkte an. In den folgenden Dezilen nähert sich dieses Ungleichgewicht an und kehrt sich
zwischen dem 8. und 9. Dezil um. Das 10. Dezil hätte auf Basis dieser Berechnungen nur
einen Anteil von 22,9% bis 21,7% an der gesamten steuerlichen Mehrbelastung durch die
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Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
kalte Progression. Zusammenfassend kann dadurch festgehalten werden, dass die Verteilungswirkungen der kalten Progression bisher tendenziell unterschätzt wurden. Wird die
Annahme einer homogenen Inflationsrate zugunsten einer realitätsnäheren Modellierung
von heterogenen Warenkorbinflationen aufgegeben, zeigt sich eine sichtbare Mehrbelastung der mittleren Einkommen die bis zur Spitze der Verteilung abfällt.
Die Berechnungen auf Basis der Mikrodaten von Statistik Austria ermöglichen es zusätzlich das Ausmaß der Unter- bzw. Überkompensation einer Tarifanpassung anhand
des VPI zu quantifizieren. Obwohl wir für das Szenario einer homogenen Inflationsrate
für das Jahr 2015 zu ähnlichen Aggregatsschätzern (¤2,6 Mrd.) für die kalte Progression
kommen wie Christl und Kucsera (2015) und Steiner und Wakolbinger (2015), wollen wir
diese Zahl aus den in Kapitel 2 angeführten Einschränkungen (u.a. konstante Erwerbspopulation) nicht gesondert interpretieren. Interessant ist für uns aber die Relation zu dem
Schätzwert im Szenario der heterogenen Inflationsraten. Dieser liegt für den Zeitraum
2009-2015 je nach Szenario zwischen 2% bis 7% unter dem Vergleichswert mit Annahme
einer homogenen Inflation. Das bedeutet gleichzeitig auch, dass die Anpassung des Einkommensteuertarifs mit der durchschnittlichen Inflationsrate einen um 2% bis 7% höheren
Aufkommensverlust verursacht hätte, als es eine reine Anpassung der Durchschnittssteuersätze an die tatsächliche Veränderung der Kaufkraft erfordern würde. Kumuliert über
die Beobachtungsperiode von 2009 bis 2015 hätte sich daraus ein überschießender Steuerausfall von ¤230 Mio. bis ¤690 Mio., im mittleren Szenario von ¤460 Mio., ergeben.
In der letzten Spalte von Tabelle 2 sind schließlich noch die Anteile der einzelnen Dezile
an dieser Unter- bzw. Überkompensation abgetragen. Wie auch schon bei der Diskussion
der Veränderung der Durchschnittssteuersätze (siehe Abbildung 2) ersichtlich war, werden die Dezile in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung nicht ausreichend für die
kalte Progression kompensiert, ihr Anteil an der Überkompensation ist negativ. Die Dezile überhalb des Medians würden hingegen von einem solchen Mechanismus profitieren.
Das Zusammenspiel der reduzierten Durchschnittsteuersätze mit der Konzentration der
Einkommen am oberen Rand führt zu einer Zunahme des relativen Anteils der überproportionalen Steuerentlastung bis zur Spitze der Einkommenshierarchie. Nahezu die Hälfte
des Volumens der gesamten Überkompensation fließt so alleine dem obersten Dezil zu.
4 Schlussbemerkungen
In dieser Arbeit hat sich gezeigt, dass die Abgeltung der kalten Progression im Steuertarif keine triviale Aufgabe ist. Speziell eine vereinfachte Vorgehensweise, in der der
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Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
Steuertarif lediglich mit der durchschnittlichen Inflationsrate laut VPI angepasst wird,
führt dabei ungewollterweise zu einer moderaten Umverteilung von Steuerlasten. Dieser
Effekt beruht auf der Verteilung der Warenkorbinflation, wobei niedrige Einkommen im
Zeitraum von 2009 bis 2015 stärker durch Inflation betroffen waren als solche am oberen Ende der Verteilung. Insgesamt hätte eine Anpassung der kalten Progression mit
der durchschnittlichen Inflationsrate nach oben hin umverteilend gewirkt, da die oberen
Einkommen überproportional entlastet worden wären. Obwohl dieser Effekt quantitativ
relativ gering ist, zeigt sich, dass eine Anpassung des Tarifs anhand der durchschnittlichen Steigerung des VPI keine neutrale Anpassung ist, sondern — je nach Entwicklung
der relativen Verbraucherpreise — wie eine (kleine) Tarifreform wirken kann.
Die Analyse der Effekte über die Einkommensdezile hinweg hat gezeigt, dass das quantitative Ausmaß der kalten Progression unter der Annahme einer homogenen Inflationsrate
bisher je nach Inflationsszenario um 2% bis 7% überschätzt, deren Verteilungswirkungen
aber unterschätzt wurden. Speziell gilt dies für die Steuerpflichtigen im 5. und 6. Dezil,
also jene Steuerpflichtigen, deren zu versteuernde Einkünfte knapp über der ersten Progressionsstufe liegen. Die Entlastung infolge eines Abgeltungsmechanismus der sich am
VPI orientiert hätte in diesem Bereich jedoch knapp nicht ausgereicht, um die tatsächlich
aufgetretene kalte Progression zu kompensieren. Obere Einkommensdezile hätten von einer solchen Maßnahme hingegen marginal profitiert. Knapp die Hälfte der steuerlichen
Überkompensation wäre alleine dem obersten Einkommensdezil zu Gute gekommen.
Die Ergebnisse dieser Studie beruhen auf der Beobachtung, dass sich die Preise einzelner Gütergruppen unterschiedlich entwickeln. Zwischen 2009 und 2015 stiegen sie stärker
in Ausgabenbereichen die am unteren Ende des Einkommensspektrums von besonderer
Bedeutung sind (Wohnen & Energie). Hingegen sind die Preise für die Bereiche Freizeit &
Mobilität in der gleichen Periode unter dem allgemeinen Durchschnitt gestiegen, wodurch
die tatsächlichen Inflationsraten am oberen Ende der Einkommensverteilung unter der
durchschnittlichen Inflationsrate lagen.
Diese relativen Preise können sich über im Zeitverlauf jedoch sehr dynamisch entwickeln, unsere Ergebnisse haben daher auch keine allgemeine Gültigkeit. Zur treffsicheren
Darstellung der Auswirkungen der Inflation im Bereich der Einkommensbesteuerung, sollte diese Analyse im jeweiligen zeitlichen Kontext wiederholt werden. Da die Inflation aber
auch in anderen Bereichen der öffentlichen Abgaben und monetären Transfers — teils gegenläufige — Effekte verursacht (Schratzenstaller, 2008; Budgetdienst des Parlaments,
2015) wäre eine detaillierte und möglichst umfassende Betrachtung dieser Zusammenhänge wünschenswert.
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Verteilungswirkungen der Abgeltung der kalten Progression
Alternative Vorschläge sehen die unterschiedliche Anpassung der einzelnen Progressionsstufen vor, sodass z.B. die unterste Stufe stärker angehoben wird als die darüber
liegenden. Hierzu sind zwei Punkte zu bemerken: Erstens ist dieser Vorschlag kaum als
“Automatik” implementierbar, da die differenzierte Anpassung der Stufen mit dem Ziel,
Umverteilungseffekte zu vermeiden, eine komplexe Aufgabe ist. Zweitens führt die Erhöhung der untersten Progressionsstufe (mit der Inflationsrate der niedrigen Einkommen)
ebenfalls bereits zu einer Entlastung aller darüber liegenden Einkommen. Je nach Verlauf der Inflationsrate könnte es sogar notwendig sein, die höheren Progressionsstufen
nach unten hin anzupassen, um eine proportionale Entlastung sicherzustellen. Mittel- bis
langfristig würde eine solche Anpassung zu einer Komprimierung des Steuertarifes führen.
Generell sollte hierbei auch die Definition von kalter Progression vermehrt berücksichtigt werden, die im strengen Sinne nur inflationsbedingte Einkommenserhöhungen aber
nicht zwingend Reallohneffekte berücksichtigt (Lehner, 1981). Eine solche Reallohndefinition ist speziell dann problematisch, wenn die Inflationsabgeltung der Löhne unter der
zur Anpassung des Tarifes verwendeten Inflationsrate liegt.
Erschwerend kommt hinzu, dass eine korrekte Abbildung und Abgeltung der kalten
Progression nicht möglich ist, da diese an individuelle Eigenschaften der SteuerzahlerInnen
anknüpft—je nach Definition, der persönlichen Warenkorbinflation oder Lohnerhöhung.
Dementsprechend müsste der Steuertarif individuell angepasst werden, was sicherlich keine
praktikable Alternative darstellt. Ein Abgeltungsmechanismus der sich ausschließlich an
der durchschnittlichen Inflationsrate orientiert würde jedoch streng genommen — und je
nach Entwicklung der relativen Preisniveaus — dem Leistungsfähigkeitsprinzip im Bereich
der österreichischen Einkommensbesteuerung entgegen wirken.
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Progression aus?“ In: WIFO-Monatsberichte 88 (5), S. 447–453. url: http://monatsberichte.
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