Geschichten über den Ursprung – Genesis Versöhnt (1. Mose 33,1-16) Lesung: „Dann sah Jakob in einiger Entfernung Esau mit 400 Mann herankommen. Er verteilte seine Kinder auf Lea und Rahel und auf die beiden Sklavinnen. Dann stellte er die Sklavinnen mit ihren Kindern ganz vorne auf, dahinter Lea mit ihren Kindern und zuletzt Rahel und Josef. Er selbst ging vor ihnen her. Bis er zu seinem Bruder kam, verneigte er sich siebenmal tief. Esau rannte ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Beide weinten. Esau sah die Frauen und Kinder und fragte: »Wer ist das?« »Herr, das sind die Kinder, die Gott mir so zahlreich geschenkt hat«, antwortete Jakob. Da traten die Sklavinnen mit ihren Kindern vor und verneigten sich tief vor Esau. Dasselbe machte Lea mit ihren Kindern und zuletzt Rahel und Josef. »Und was hast du mit den vielen Herden beabsichtigt, die mir auf dem Weg hierher entgegenkamen?«, fragte Esau. Jakob antwortete: »Es sind Geschenke, mein Herr, damit du mich freundlich empfängst.« »Bruder, ich habe genug«, entgegnete Esau. »Behalte sie doch.« »Nein, bitte nimm meine Geschenke an, wenn du mir gewogen bist«, sagte Jakob. »Du hast mich so freundlich aufgenommen! Als ich dich sah, war mir, als ob ich Gott selbst sehen würde! Bitte, nimm meine Geschenke an, die dir überbracht wurden, denn Gott hat mich überreich beschenkt. Ich habe mehr als genug.« Jakob drängte Esau so lange, bis er die Geschenke schließlich annahm. »Lass uns nun aufbrechen«, sagte Esau. »Ich werde dir voranziehen.« Aber Jakob entgegnete: »Mein Herr, du siehst, dass ich kleine Kinder, säugende Schafe, Ziegen und Kühe bei mir habe. Wenn die Tiere zu sehr getrieben werden, könnten sie sterben. Geh du voraus. Wir folgen dir in unserem eigenen langsameren Tempo und treffen dich dann in Seïr.« »Gut«, meinte Esau, »aber ich will wenigstens ein paar meiner Männer mit dir ziehen lassen.« »Das ist nicht nötig. Sei mir nur wohlgesinnt, mein Herr«, meinte Jakob. Esau zog noch am gleichen Tag nach Seïr zurück.“ Für Jakob war jetzt der Moment gekommen, vor dem er sich am Meisten gefürchtet hatte: seine Vergangenheit hatte ihn eingeholt. Sein großer Bruder Esau war gekommen und er zog ihm mit 400 Mann (einer kleinen Armee) entgegen. Esau der Jäger, der damals geschworen hatte, Jakob zu töten. Jakob hatte ihm seinerzeit mit zwei Tricks zuerst das Erstgeburtsrecht und dann den Segen des Vaters geklaut, und sich damit selbst zum Haupterben und Nachfolger seines Vaters gemacht. Diese Begegnung war die größte Hürde auf dem Weg in das Leben, dass Gott für ihn vorbereitet hatte. Jakob hatte sich selbst auf diese Begegnung vorbereitet, indem er dem ihm entgegenziehenden Esau in Abständen Geschenke geschickt hatte. Und er war von Gott auf die Begegnung vorbereitet worden. Gott hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er mit ihm war. Er hatte ihn an sein Versprechen erinnert, ihn wieder heil zu seiner Familie zurück zu bringen. Und er hatte eine Nacht lang mit ihm gerungen und ihm einen neuen Namen gegeben: Israel. (V1-3) Jetzt teilte er seine Familie in kleinere Gruppen auf, geht ihnen aber zumindest voran. Als sein Bruder in Sichtweite kommt, verneigt er sich vor ihm sieben Mal zur Erde. Damit passiert das Gegenteil von dem, wofür Jakob mit seinen Mitteln gekämpft hatte. In dem väterliche Segen, den er seinem Bruder gestohlen hatte, hatte es ja geheißen: „Du sollst über deine Brüder herrschen. Deiner Mutter Söhne sollen sich respektvoll vor dir verneigen.“ (27,29). Jakob war es an diesem Punkt wichtiger, sein Überleben zu sichern, als in der Rangordnung über seinem Bruder zu stehen. (V4) Was dann passierte, hatte er mit Sicherheit nicht erwartet: Esau kam ihm entgegengelaufen, schloss ihn in die Arme, küsste ihn und weinte vor Freude. ...und wird durch seine Großherzigkeit und Vergebungsbereitschaft zum Held dieser Episode! Er verkörpert wunderbar, was Vergebung bedeutet: den anderen so zu behandeln, als wäre nichts passiert, obwohl beide wissen, was passiert ist. Er weigerte sich, die Vergangenheit zwischen ihnen stehen zu lassen. (V5-7) Neugierig erkundigt Esau sich und lässt sich die Familie vorstellen. (V8-11) Dann folgt ein typisch orientalisches Gespräch über die Geschenke. Jakob hatte ja kleinere Herden vorausgeschickt, um Esaus vermeintlichen Zorn langsam abzubauen. Esau will sie nicht annehmen: Ich habe selber genug, danke! Aber Jakob besteht darauf: Ich habe auch genug! Am Ende durfte Esau die Geschenke natürlich nicht ablehnen. Zusammen wurde durch das Schenken als auch das Annehmen der Geschenke die Versöhnung und Freundschaft der beiden besiegelt. Da beide inzwischen wohlhabend waren, waren diese Geschenke für beide wahrscheinlich rein symbolischer Natur. (V12-16) Esau hatte sich vorgestellt, dass sie von nun an zusammen unterwegs sein würden. Jakob hatte jedoch ein eigenes Ziel. Er tut so, als würde er nachkommen wollen, zieht aber am Ende in die andere Richtung weiter. Dass er zurück nach Bethel wollte, war die richtige Entscheidung, aber ein weiteres Mal täuschte er seinen Bruder. Und das in einem Moment, wo die Beziehung zwischen ihnen noch sehr zerbrechlich war. Jakobs Verhalten hier ist nur ein Vorgeschmack auf das, was in den nächsten Kapiteln noch folgt. Jakob hat die Verheißung Gottes, er hatte intensivste Gotteserfahrungen – aber das machte ihn nicht zum besseren oderen gar perfekten Menschen oder Glaubensmann! Die meisten halten das eigene Team für die besseren Menschen. Auch viele Christen denken wahrscheinlich so: wir sind die netteren, besseren Leute – Nichtchristen sind die schlechteren, schlimmeren Leute. Aber das ist Unsinn! Der Hauptunterschied zwischen Esau und Jakob hier war die Verheißung und unverdiente Treue Gottes. Diese vielleicht eindrücklichste Erzählung über die Versöhnung von zwei Menschen im Alten Testament ist natürlich aus christlicher Sicht ein Vorschatten für die große Versöhnung zwischen Gott und den Menschen. Für das Evangelium. Beim letzten Mal habe ich ein Zitat von dem Bibelkommentator Derek Kidner vorgelesen: „Der Heide naht sich seiner Gottheit wie Jakob sich Esau naht – er rechnet damit, dass „Das Geschenk des Menschen ihm Raum schafft und ihn zu den großen Herren bringt“ (Sprüche 18,16). Aber im AltenTestament ist das Geschenk, welches der Mensch Gott bringt, immer zuerst ein Geschenk Gottes an den Menschen gewesen. Wie Jakob bald feststellen würde ist Gnade, und nicht das Verhandeln, das Einzige, was von Schuld befreit.“ Genau so funktioniert Religion/Religiösität: Ich opfere, um Gunst zu empfangen, um nicht bestraft oder zerstört zu werden. Viele denken, das Christentum würde auch so funktionieren. Auch viele Christen sehen Gottes Gnade nur als Ausgangspunkt: du hast eine zweite Chance gehabt – mach jetzt nicht mehr zu viele Fehler! Der Apostel Paulus spricht diese Denke in seinem Brief an die Galater an: „Ach ihr unverständigen Galater! In wessen Bann seid ihr nur geraten? Jesus Christus, der Gekreuzigte, wurde euch doch mit aller Deutlichkeit vor Augen gestellt! Lasst mich nur das eine wissen: Habt ihr den Geist ´Gottes` bekommen, weil ihr die Vorschriften des Gesetzes befolgt habt, oder habt ihr ihn bekommen, weil ihr die Botschaft, die euch verkündet wurde, im Glauben angenommen habt? In der Kraft des Heiligen Geistes habt ihr begonnen, und jetzt wollt ihr aus eigener Kraft das Ziel erreichen? Seid ihr wirklich so unverständig? Ihr habt so große Dinge erlebt! War das alles umsonst – wirklich und wahrhaftig umsonst? Überlegt doch einmal: Wieso gibt Gott euch seinen Geist? Wieso lässt er Wunder bei euch geschehen? Tut er das, weil ihr die Vorschriften des Gesetzes befolgt, oder tut er es, weil ihr der Botschaft glaubt, die euch verkündet wurde?“ (3,1-6) Er versucht, die Galater zum Denken anzuregen, indem er ihnen Fragen stellt. Sie sollten überlegen und reflektieren. Was ist die Grundlage dafür gewesen, dass ihr Christen geworden seid? Auf welcher Grundlage hat Gott in euren Leben, in eurer Gemeinde gewirkt? Hat er es gemacht, weil ihr so tolle, gute Menschen seid? Nein – sondern weil ihr ihm geglaubt habt. Ihr habt dem Evangelium vertraut. Gnade ist nicht nur die Grundlage für das christliche Leben, sie ist das ganze Haus. Nicht nur der Startschuss, sondern der ganze Weg. Wir brauchen nicht zu versuchen, uns von unserer Vergangenheit freizukaufen. Wir müssen nicht erst unser Leben in Ordnung bringen, um Christ sein zu können. Christen sind die Leute, die ihre hoffnungslose Unordnung vor Gott und der Gemeinde zugeben und gemeinsam Hilfe suchen! Wir alle haben einen Esau in unserem Leben. Etwas oder jemanden in unserem Leben, der für uns „wie Gott“ (10) ist. Dessen Gunst wir suchen, dessen Missgunst wir fürchten. Für den/das wir etwas opfern. Das kann die berufliche Zukunft sein oder gesellschaftliche Akzeptanz, für die wir Zeit und Geld opfern. Das kann der Partner sein, den wir haben oder noch nicht haben, für den wir unsere Prinzipien opfern. Meistens gute Dinge, die aber einen zu hohen Platz in unserem Leben einnehmen. Gleichzeitig zeigen Jakobs kultische Sprache und sein Verhalten hier, wie groß die Last auf seinem Leben gewesen sein muss, und wie sehr er sich wünschte, davon frei zu sein. Seine Beziehung mit Esau musste geklärt werden, damit er weiterziehen und weitermachen konnte. Kidner schreibt: „Die Begegnung ist ein Klassiker der Versöhnung. Der Strom an Geschenken und die ernste Familienprozession – die, wie sich herausstellt, auf fast komische Weise überorganisiert ist – geben eine Vorstellung von der Last, die auf Jakobs Gewissen gelegen haben muss, aber auch von der reinen Gnade, mit der Esau antwortete. Schuld und Vergebung sind in jeder Bewegung der Annäherung so mächtig präsent, dass unser Herr kein besseres Vorbild für den Vater im Gleichnis vom Verlorenen Sohn finden konnte als Esau.“ (Kidner) Hier findet sich eine sehr spannende Parallele, und zwar zwischen Esau und dem Vater im sogenannten „Gleichnis vom verlorenen Sohn“. In dieser Geschichte, erzählt von Jesus, hatte ein Mann zwei Söhne. Der jüngere wollte ausbrechen, suchte Freiheit und Selbstverwirklichung. Das Vaterhaus war für ihn ein Gefängnis, aus dem er ausbrechen wollte. Deswegen ließ er sich das Erbe auszahlen und zog los. Nachdem er alles verprasst und verloren hatte, kehrte er reumütig zurück. Er hatte nichts, um es zu opfern oder vorneweg zu schicken. Er kam nur selbst, abgebrannt und entehrt, nach Hause. Ihm blieb nichts anderes, als die Rückkehr. Das Vaterhaus war ihm auf einmal nicht mehr Gefängnis, sondern Zufluchts- und Sehnsuchtsort. Der Vater hätte ihn verstoßen haben können, aber der Sohn setzte alles auf eine Karte. „So machte er sich auf den Weg zu seinem Vater. Dieser sah ihn schon von weitem kommen; voller Mitleid lief er ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“ (Lukas 15,20) Der Vater war nicht an „etwas“ interessiert, sondern an seinem Sohn. Die Beziehung war ihm wichtiger als irgendein finanzieller Verlust oder seine verletzte Familienehre. Deswegen brachte er selbst das Opfer, indem er sich demütigte (vor der Dorfgemeinschaft), indem er dem Sohn entgegenrannte und ihn in die Arme schloss. Er bezahlte selbst den Preis, trug den finanziellen Schaden – denn der Sohn hatte sein Erbe ja bereits verheizt, wurde aber wieder als einer der Erben eingesetzt. Eine Sache, die den älteren Bruder, der ganz auf Verdienst gesetzt hatte, tierisch aufregte. Esau handelt hier ähnlich wie der Vater: denn wer vergibt, trägt den entstandenen Schaden und Schmerz selbst. Annahme statt Vorwürfe. Er nimmt die Geschenke zwar an, weil es der Brauch verlangt – aber man bekommt hier nicht den Eindruck, als ob sie für ihn tatsächlich Bedingung für die Versöhnung gewesen wären. Offensichtlich hatte er alles in sich aufgenommen, hatte die Hürde des Geschehenen in sich überwunden und konnte deswegen jetzt auch die Trennmauer zwischen ihm und seinem Bruder einreißen. Die Versöhnung geht von ihm aus. Er ist die Quelle für Versöhnung, aus der Jakob trinkt und frei ist. Damit wird er zum Bild für Gott selbst. Gott wird im Neuen Testament „der Vater der Erbarmungen“ genannt. „Gott ist Liebe“ schreibt Johannes in seinem ersten Brief. Er liebt, weil er Liebe ist. Deswegen macht er sich selbst zum Stellvertreter, zum Sündenbock und Schuldträger. Das hat er einmal in der Geschichte getan – als er in Jesus Mensch wurde, litt und starb. Was Esau hier für Jakob ist, ist Jesus für uns! Vergebung ist nur kostbar, wenn uns wirklich klar ist, wie nötig wir sie haben. Deswegen ist es so wichtig, dass uns klar ist, dass wir wie Jakob gegenüber Esau, wie der jüngere Sohn gegenüber dem Vater gehandelt haben. Wir wollten den Segen für uns, wollten uns loslösen. Wenn Gott uns jetzt begegnet wie Esau seinem Bruder oder wie der Vater seinem jüngeren Sohn, dann ist das ein völlig unverdientes Geschenk. Genau genommen ist Esau deswegen natürlich nicht die Quelle der Versöhnung, sondern ein Kanal. Gott selbst ist die Quelle. Wenn wir wollen, das Versöhnung durch uns zu anderen fließen kann, müssen wir selber aus der Quelle trinken. Nur wenn du verstehst, wieviel es Gott gekostet hat, dir zu vergeben, du ihm aber so wichtig bist, dass er diesen Weg gerne gegangen ist – nur dann kannst du dich mit Menschen versöhnen, die gegen dich gesündigt haben. Und das muss nicht die eine große Geschichte sein. Vielleicht gibt es in deinem Leben nicht die eine Person, die dich mißhandelt oder mißbraucht oder gemobbt oder sonstwie tief verletzt hat. Aber für uns alle ist es eine tägliche Erfahrung. Die kleinen Dinge, die sich im Laufe der Tage oder Jahre aufhäufen und zu einem großen Berg, einer großen Hürde werden. Wo wir vielleicht erst relativ spät merken, dass wir da jemandem vergeben, uns mit ihm/ihr aussöhnen müssen. Solange wir denken, dass die Vergebung von uns ausgehen muss, werden wir uns überfordert fühlen. Aber sie geht ja nicht von uns aus – sie kann aber durch uns fließen. Aus dieser Perspektive betrachtet geht es dann vor Allem darum, sie nicht aufzuhalten. Dass sich nicht bei mir ein Pool der Vergebung bildet, für meine persönliche Erfrischung. Denn dieses Wasser kippt dann irgendwann. Vergebung, die zur Versöhnung führt muss im Fluss bleiben. Eine tägliche Übung. Man kann an diesem Punkt zwei Fehler begehen: versuchen, die Vergebung für sich zu behalten, oder versuchen, selber zur Quelle zu werden, indem man sich nicht regelmäßig bei Gott aus der Quelle der Vergebung trinkt. „In zweifacher Hinsicht hat mein Volk gegen mich unrecht gehandelt: Mich, die Quelle des lebendigen Wassers, verlassen sie und graben sich stattdessen undichte Brunnen, die das Wasser nicht halten können.“ (Jeremia 2,13) Möge Gott uns helfen, keinen dieser Fehler zu begehen!
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