Tod im Muehlenkolk

Kurzkrimis mit lokalem Kolorit
Ortsgemeinschaften verfügen häufig über eine Fülle von Ereignissen und interessanten
Erzählern. Sie können von Vorfällen berichten, die es wert sind, weitergegeben zu werden.
Ein solcher Zeitgenosse war auch der Schuster Anton Woltering. Der, während er seine
Schusterarbeit erledigte, aus der Fülle seiner Informationen interessant zu berichten wusste.
Ihm verdankt der Autor manche Anregung und die Lust am Schreiben.
Die hier folgenden Kurzkrimis waren ursprünglich für die Veröffentlichung in einem anderen
Organ vorgesehen und sind nun hier gelandet. Ich wünsche dem Leser dieser Internetseite viel
Spaß beim Lesen der folgenden Geschichten.
Wer mag, kann mit dem Autor in Kontakt treten.
Tod im Mühlenkolk
von Reinhard Brahm
Am Montagmorgen kam Maria auf ihrem Weg vom Bäcker am Haus von Dorothea Sommer
vorbei, die gerade in ihrem Garten stand und die abgeschnittenen Buchsbaumzweige
aufsammelte.
„Was machste damit?“, deutete Maria auf das Buchsbaumbüschel in Dorotheas Hand.
„Misch ich meiner Schwiegermutter unter den Salat.“
„Schmeckt das denn?“
„Nein, aber wirken tut es!“
„Wirken?“, sah Maria sie fragend an.
„Wenn du deinen Alten loswerden möchtest? Es wirkt schnell. Einige Blättchen zerkleinern
und untermischen. Zuerst würgt er, kann nicht mehr sprechen, die Luft bleibt ihm weg und
dann ist es aus. Aber Spaß beiseite. Maria. Ich misch die Blätter meiner Schwiegermutter
natürlich nicht unter den Salat.“
„So gefährlich ist das Zeugs?“
„Das darfst du mir glauben.“
„Woher weißt du das alles, Dorothea?“
„Ich habe im Kloster gelernt. Die Nonne Apothekerin wusste alles über Pflanzen und wozu
sie gut sind. Im Guten wie im Bösen.“
Als die Glocken von Ss. Cornelius und Cyprianus läuteten, sagte Maria: „Mach`s gut. Ich
muss los. Hinnik kommt gleich nach Hause.“
„Ja, einen schönen Tag auch. Und vergiss das mit dem Buchs! Denk an was Schönes.“
Maria wohnte mit ihrem Mann Hinnik Wengen im ehemaligen Armenhaus vor dem Vitustor,
direkt an der Vechte. Ein schmaler Weg, den man gerade mit einer Schubkarre befahren
konnte, führte zwischen Vechte und dem Wohnhaus hindurch. Wer zur Mühle wollte, schob
seine Karre hier über den Pad.
Maria Wengen half regelmäßig im Hause des Kaufmanns Schröder, der einen Handel
vorwiegend mit Holland führte. Er mochte die fleißige Helferin. Sie war eine Perle. Ohne die
paar Kröten, die sie bekam, wären Maria und ihr Mann längst verhungert. Der Kaufmann
hatte ihr angeboten, das Gesindezimmer zu beziehen. Er kannte die Probleme, die sie mit
ihrem Mann hatte. Sie hatte vorsichtig abgelehnt: „Ich überlege es mir noch“.
Ihr Mann Hinnik, der als Tagelöhner mal hier, mal da half, auch in der Mühle, konnte die
Miete für eine Hinterhauswohnung im Ort nicht regelmäßig aufbringen. So war die Familie
im Armenhaus der Stadt gelandet. Das wenige Geld, das er bei Gelegenheitsarbeiten
verdiente, setzte er meist umgehend im Wirtshaus um. Dann und wann verprügelte er auch
mal seine Frau, meist wenn er angetrunken aus der Kneipe kam und sie zeterte, dass er die
paar Kröten, die er verdient hatte, sofort wieder in Schnaps umgesetzt hatte.
Als Hinnik zu Mittag zum Essen nach Hause kam, berichtete er stolz, dass der Müller ihm
hätte ausrichten lassen, es käme heute viel Korn an der Mühle an, da würde er ihn gut zum
Abladen brauchen können.
„Jau“, sagte Maria, „den halte dir mal warm, der zahlt immer gut. Ich geh` eben in den Garten
und hole ein bisschen Salat als Beilage zu den Bratkartoffeln.“
Im Vorbeigehen schnitt Maria zwei kleine Zweige Buchs ab. Nachher in der Küche zupfte sie
ein Paar Blätter vom Buchs, schnitt sie winzig klein und streute sie in die Tunke, ehe sie die
Salatblätter dazugab. Mal sehen, wie sie wirken, dachte sie bei sich. In der Pfanne dampften
die Bratkartoffeln. Sie kramte aus der hintersten Ecke des Schrankes ein Ei hervor und rührte
es unter die Kartoffeln.
„Mit Ei!“, freute sich Hinnik, als sie ihm den Teller mit dem dampfenden Essen auf den Tisch
stellte.
„Lass dir auch den Salat schmecken, ganz frisch aus dem Garten“, sagte Maria lächelnd.
Hinnik steckte eine Gabel voll Salat in den Mund und kaute mit offenem Mund.
„Der Salat schmeckt aber verdammt bitter“, rief Hinnik.
„Du säufst zu viel, das zerstört deine Geschmacksnerven“, rief Maria aus der Küche. Sie
steckte vorsichtig ihren Kopf durch die Tür und sah, wie er würgte. Sein Körper zuckte.
„Kotz aus dem Fenster, nicht auf den Fußboden“, schimpfte Maria. Sie sah, wie er das Fenster
aufriss und sich hinausbeugte.
Nach einer Weile rief sie: „Muss du nicht zur Mühle?“
Er hielt sich die Hand vor den Mund und stürzte aus dem Haus.
Maria wartete einen kurzen Moment. Dann blickte sie ihm durch die Tür nach. Sie sah, wie er
leicht torkelnd den Pad entlang ging. Eine Weile sah sie ihm noch nach.
„Der stolpert gleich noch in die Vechte“, sagte sie halblaut und lächelte dabei. Plötzlich
schlug er sich während des Gehens mit der Faust gegen die Oberschenkel.
„Aha“, sagte Maria. Sie zog die Tür hinter sich zu und ging wieder ins Haus.
Als Hinnik die Mühle erreichte, kam auch gerade der Müller auf dem Pferd angeritten.
„Gut, dass du schon kommst, Hinnik, da steht der Wagen vom Lohoff, fahr ihn näher an die
Rampe und lad schon mal die Kornsäcke ab.“
Der Müller setzte inzwischen das Mahlwerk in Gang. Als er durch die Tür blickte, bemerkte
er, dass Hinnik immer mal wieder eine kurze Pause einlegte und mit der Faust auf seine
Oberschenkel schlug. Er sagte aber nichts. Nach ein paar Minuten war Hinnik wieder der alte.
Er arbeitete schnell und unermüdlich. Mittlerweile waren zwei weitere Bauern mit ihrem
Korn angekommen. Der Müller war zufrieden. Das Mahlen klappte reibungslos.
„Nachher kannst du den Max noch durch den Kolk reiten, ihn säubern und anschließend
trocken reiben. Aber das kennst du ja. Der Max ist mein Kapital. Und schau nach, ob er genug
Stroh in der Box hat.“
An diesem Tag roch Hinnik nicht nach Schnaps als er am Nachmittag nach Hause kam.
„Mir tut alles weh“, klagte er seiner Frau.
„Trink eine Tasse Kaffee und iss ein Stück Kuchen. Leg dich dann ins Bett und ruh` dich
aus“, rief Maria aus der Küche. Klappt doch, dachte sie und grübelte vor sich hin.
„Geht nicht, ich muss noch einmal zur Mühle“, entgegnete er und dann war er auch schon aus
der Tür.
Die Zeit kann ich nutzen, dachte Maria, band sich ein Kopftuch um, steckte ein kräftiges
Band ein und ging los, Richtung Pastors Busch. Sie sammelte trockene Äste auf, brach sie
übers Knie passend zu recht und schnürte sie zu einem Bündel. Das legte sie sich über die
Schulter und machte sich auf den Heimweg.
Am Waldrand blieb sie plötzlich stehen: „Roter Fingerhut. Sieht gut in der Vase aus.“
Im Vorbeigehen riss sie eine Pflanze tief am Boden ab und steckte sie in das Holzbündel.
Dann ging sie quer über die vor dem Busch liegende Wiese zum Weg zurück. Es leuchtete
hell vor ihren Füßen auf.
„Champions“, sagte sie zu sich, „hatte ich lange nicht“.
Sie warf ihr Bündel ab und eilte von Pilz zu Pilz, steckte sie in die Schürzentasche. Plötzlich
verharrte sie kurz: „Das ist doch kein Champion, das ist ein…“. Sie riss den Pilz ab und
steckte ihn zu den Champions.
Am Morgen des folgenden Tages ließ der Müller ausrichten, Hinnik solle mittags kommen
und Mehl zu den Kunden ausfahren. Maria hatte pünktlich das Essen fertig. Sie schaute ihm
aufmerksam und verstohlen zu, wie er reagieren würde.
„Pilze! Hatten wir doch gestern.“
„Wir hatten noch Reste, kann ich doch nicht wegschmeißen. Habe sie frisch gebraten. Sie
schmecken noch vorzüglich, mir jedenfalls. Du hast immer was zu nörgeln.“
Hinnik stocherte im Essen herum, leerte aber doch seinen Teller. Als er sich vom Tisch erhob,
rief Maria: „Da liegen noch die Butterbrote für unterwegs.“ Sie deutete auf die Dose.
Als Hinnik die Mühle erreichte, war Max schon angespannt. Hinnik erhielt eine Liste mit den
Namen der Kunden, die Mehl erhielten. Er stellte sich die Säcke so hin, dass sie zu seiner
Route passten.
„In zwei Stunden kannst du zurück sein. Sollte ich nicht in der Mühle sein, kannst du den
Max schon mal durch den Kolk reiten. Er wird schmutzig sein von den staubigen Wegen. Und
nicht vergessen, ihn schön trocken zu rubbeln.“
Unterwegs musste Hinnik immer mal anhalten und runter vom Bock, er hatte heftigstes
Bauchgrimmen und ihm war kotzübel.
Der Müller hatte im Rathaus etwas zu erledigen gehabt. Als er zurückkam, band er sein Pferd
im Schatten an und ging zur Eingangstür der Mühle. Da hörte er Max neben der Remise
aufgeregt schnauben. Das Pferd war klitschnass und schüttelte sich heftig.
„Max, was machst du hier allein? Wo ist der verdammte Hinnik?“
Sein Blick fiel auf das Mühlenwehr. „Da treibt etwas im Wasser! Das ist doch ein Mensch!“
Der Müller holte eilig eine lange Stange mit einem Haken, mit der er für gewöhnlich Treibgut
vom Wehr wegfischte. Er zog die Person ans Ufer.
„Hinnik? Hinnik. Tatsächlich Hinnik.“
Der Müller lief den Weg rauf zum Mühlentor und pochte beim Nachbarn an die Tür: „Lauf
schnell zum Amt und hol den Gendarm. Er soll zur Mühle kommen. Wir haben hier einen
Toten.“
„Wer?“
„Frag nicht. Geh schon!“
Der Nachbar lief die Kirchstraße hoch und kam umgehend mit dem Dorfpolizisten zurück.
Mittlerweile waren weitere Nachbarn vor der Mühle eingetroffen, auch Dorothea Sommer.
Sie beteiligte sich nicht an den Mutmaßungen der Umstehenden, schien sehr nachdenklich.
„Tod durch Ertrinken. Keine Verletzungen“, sagte der Polizist, mehr zu sich als zu den
Umstehenden.
Auch der Arzt, der mittlerweile eingetroffen war, kam zu dem gleichen Urteil. Der Müller
berichtete auf die Fragen des Dorfpolizisten: „Hinnik war eigentlich ein umsichtiger Mann. Er
hat heute Mehl ausgefahren und sollte anschließend das Pferd durch den Kolk reiten und
trocken rubbeln. Ein Malheur muss dabei passiert sein. Aber was? Max war noch tropfnass,
als ich ankam.“
Der Dorfpolizist meldete der Witwe den Tod ihres Mannes. Sie brach nicht in Tränen aus. Sie
wischte sich mit der Schürze über die Augen, dann ließ sie den Polizisten stehen und ging in
die Küche. Der war etwas verdutzt, aber dann verließ er schnell das Haus und ging ins Amt
zurück, wo er seinen Bericht schrieb.
Inzwischen hatte der Bestatter die Leiche abgeholt und zu recht gemacht. Als er im
Standesamt den Sterbefall eintragen ließ, traf er den Dorfpolizisten und sagte: „Als ich Hinnik
den Mund reinigte, fand ich noch Essensreste darin. Er muss kurz vor seinem Tod erbrochen
haben. Es roch nicht gut, was da zum Vorschein kam und es waren einzelne rötliche
Blütenreste darin. Wollte ich nur mal sagen.“
Der Polizist wurde hellhörig. „Wo hast du die Reste?“
„Im Abfalleimer.“
„Nicht wegwerfen. Ich schau mir das an.“
Der Polizist hatte eine Idee. Er setzte seine Mütze auf, ging zum Bestatter und ließ sich die
Essensreste mit den Blüten geben. Dann suchte er Dorothea Sommer auf.
„Dorothea, du bist doch eine gute Pflanzenkennerin. Schau dir mal die Blütenreste an.“
„Das ist roter Fingerhut. Einwandfrei. Wir haben jetzt Anfang August. Da steht der Fingerhut
in Blüte.“
„Kommst du mit? Wir machen einen Besuch.“
Der Polizist ging zielstrebig zum Armenhaus. Als sie an die Haustüre von Maria Wengen
pochten, war die doch sehr überrascht. Der Dorfpolizist drängte gleich ins Haus und in die
Küche und schaute sich aufmerksam um. Maria wollte noch schnell mit einem Eimer, den sie
aus einer Ecke geholt hatte, nach draußen verschwinden. Der Polizist griff geistesgegenwärtig
zu.
„Halt. Was haben wir denn da? Interessant. Pflanzenreste. – Dorothea, schau mal, um was
handelt es sich hier?“
Dorothea wühlte mit einem Stab im Eimer herum: „Buchsbaumzweige, roter Fingerhut,
Championreste und – ja das hier, könnte der Rest von einem Stil eines Knollenblätterpilzes
sein.“
„Frau Wengen, Sie sind vorläufig festgenommen. Begleiten Sie mich zum Amt.“
Der Dorfpolizist deponierte die Pflanzenreste in seinem Dienstraum, dann führte er Maria
Wengen ins Spritzenhaus, wo er sie in die Arrestzelle einschloss.
„Ich hole Sie nachher zum Verhör ab“, sagte er kurz. Dann ginge er zum Amt, wo Dorothea
Sommer noch auf ihn wartete.
„Ich glaube nicht, dass Hinniks Tod ein Unfall war“, sagte Dorothea ganz unvermittelt.
Er sah sie fragend an.
„Als wir uns vor ein paar Tagen getroffen haben, erzählte ich ihr, dass Buchsbaumblätter
giftig seien. Sie wollte alles genau über die giftige Wirkung wissen.“
„Der Müller erzählte mir, dass sich ihr Mann am Tage eures Gesprächs ein wenig seltsam
benommen hätte.“
„Ja?“
„Zu Hause habe er sich übergeben müssen und an der Mühle habe er sich immer gegen die
Schenkel geschlagen. Kannst du das erklären?“
„Ja, das liegt am Verzehr von Buchsbaumblättern. Die Giftstoffe führen zum Erbrechen und
bewirken Lähmungserscheinungen.“
„Deswegen hat er sich gegen die Schenkel geklopft?“
„Ja, vermutlich. Er wird so eine Art Taubheit in den Schenkeln gespürt haben.“
„Und der Tod im Kolk?“
„Ich vermute, dass hier Blätter und Blüten des roten Fingerhuts eine Rolle gespielt haben.
Damit die Wirkung nicht unmittelbar und zu früh eintritt, wird sie ihm die Blüten in die
Wegzehrung eingedrückt haben. Das legt auch der Fund von Blütenstücken im Erbrochenen
nahe. “
„Wissen Sie etwas über die Wirkung der Inhaltsstoffe?“
„Ja, es reichen schon zwei Blüten, um die Wahrnehmung eines Menschen ganz erheblich zu
stören. Wenn Hinnik auf dem Pferd die Böschung runter in den Kolk geritten ist, könnte er ins
Schwanken geraten sein. Und beim Sturz ins Wasser hat die Atmung ausgesetzt und er ist
ertrunken.“
Der Gendarm stand auf und ging ein paar Schritte auf und ab, dann wandte er sich zu
Dorothea Sommer um: „Jetzt muss sie nur noch gestehen, dass sie ihm die Giftpflanzen
verabreicht hat.“
„Die Blüten vom roten Fingerhut im Erbrochenen sind der Beweis“, sagte Dorothea,
„Überraschen Sie sie damit, zeigen Sie ihr das Erbrochene und die Blüten darin. Dann bricht
sie zusammen und gesteht. Giftmörderinnen leben mit dem Optimismus, nicht erkannt zu
werden. Sie haben den Beweis in Händen. Das zerbricht sie, sie wird gestehen.“