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Prolog
London 1888
Das Wimmern der Fremden riss Kenzie aus
ihren Gedanken.
Eisern umklammerte sie noch immer das Messer,
welches bis zum Schaft im Brustkorb des Namenlosen
steckte.
Namenlos. Nein, er hatte einen Namen. Sie
konnte sich nur nicht an ihn erinnern.
Wie war er gewesen?
Der Name, der Mensch, der ihn trug?
Wie hatte sein Gesicht ausgesehen? Sie
klammerte sich an den leblosen Körper, sein Blut
bedeckte sie, ihr Mantel saugte es auf. Immer noch
floss es langsam aus der Wunde.
Sie küsste sanft seine Stirn. Ihre Lippen
schmeckten nach Tod.
Der Rosenduft des Parks mischte sich mit dem
Kupfergeruch seines Blutes. Unter Tränen strich sie
eine Strähne aus dem Gesicht.
Wer war er?
Die Fremde wimmerte wieder. Versuchte sich
von ihren rauen Fesseln zu lösen.
Kenzie schaffte es nicht, aufzustehen. Schaffte es
nicht, den leblosen Körper auf die Erde gleiten zu
lassen. Ein Schrei löste sich aus ihrer Kehle. Es war
kein Entsetzen darin, nur Trauer.
1
Nürnberg 2016
Keuchend schlug Kenzie sich ihre Hand vor den
Mund und atmete tief durch.
Leise lauschte sie, doch kein Geräusch drang
durch die dunkle Wohnung. Wenn sie geschrien hatte,
hatte keiner es gehört.
Dieses Mal nicht.
Langsam senkte sie ihre Hand und wischte mit
einer nebensächlichen Bewegung ihre Decke auf den
Boden.
Das Laken klebte. Nassgeschwitzt von den
Träumen dieser Nacht.
Als Kenzies Füße den Boden berührten, hatte sie
für einen Moment das Gefühl zu schwanken. Sie hielt
inne, sammelte sich. Einen schweren Atemzug später
stand sie vor ihrer Balkontür.
Reiner Luxus. Sie war die einzige im ganzen
Haus, die einen so großen Balkon hatte oder besser
gesagt überhaupt einen Balkon. Die Tür war offen. Die
Nächte im Spätsommer waren lauwarm und wurden
nur hin und wieder von einem kalten Lufthauch
begleitet.
Sie ließ ihre Stirn gegen das kühle Glas sinken
und atmete tief durch: „Es war alles nur ein Traum.
Du bist wach, es ist vorbei.“ Sie schlang die Arme um
ihren Körper. Nassgeschwitzt wurde sogar die laue
Sommernacht kühl.
Ihr Blick wanderte zu den Sternen. Oder kam die
Kälte aus ihr?
Der gleiche Traum. Seit Jahren. Jedes mal
versuchte sie einen Blick auf das Gesicht des Fremden
zu erhaschen und jedes mal scheiterte sie.
Die Frau zu beschreiben war kein Problem, doch
den Mann, der die Fremde hatte töten wollen? „Er ist
tot. Selbst wenn es kein Traum war, ist er tot.“ Kenzie
schloss die Augen.
Egal was sie tat, sie konnte sich nicht daran
erinnern, wo dieser Traum seinen Ursprung hatte.
Warum sie ihn träumte.
Langsam trat sie auf ihren Balkon hinaus. Ihr
Tanktop klebte an ihr, wie es zuvor die Decke getan
hatte. Dennoch war sie mittlerweile froh, dass es nur
Schweiß war.
Wenn es Schweiß war, der da klebte, war es
schonmal kein Blut.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Wie jedes mal,
wenn sie aus diesem Traum erwachte, hatte sie das
Gefühl etwas Wichtiges verloren zu haben.
Jemanden verloren zu haben.
***
Amar zog seine Jacke enger um sich. Eigentlich
war noch Sommer, aber die Nacht war kalt. Nicht,
dass nicht jede Nacht kalt war seit diesem
schicksalhaften Tag, an dem er gestorben war.
Er folgte einer jungen Frau. Sie war hübsch.
Hatte gerade ihren Freund verlassen. Sie war allein.
Amar beobachtete sie bereits den ganzen Abend.
Sie war einfach perfekt.
„Was willst du?“ Ohne Vorwarnung drehte sie
sich um, sah ihm direkt in die Augen. Er lächelte. Ein
verführerisches Lächeln, harmlos.
„Entschuldige“, seine Stimme wie Samt: „Ich
hab dich vorhin aus der Bar stürmen sehen und ich
hasse es, wenn Frauen alleine unterwegs sind.
Irgendwie habe ich dann immer Angst, etwas
Schlimmes stößt ihnen zu.“
Sie entspannte sich sichtlich. Erwiderte sogar
sein Lächeln.
Warum war sie nur so unvorsichtig? „Und da
folgst du mir durch den dunklen Park wie ein
Perverser der mir sonst was antun will?“ Sie streckte
ihr Kinn frech nach vorn, sah ihn herausfordernd an.
Amar trat näher. Er konnte ihr Parfüm riechen.
Es ließ ihn seine Augen schließen. Das Parfüm
erinnerte ihn an Kenzies. Ein Parfüm, das sie seit
Jahrzehnten nicht mehr trug. „Ich dachte ich halte
genug Abstand, um dir keine Angst zu machen.“
Mit wenigen Schritten überbrückte sie die
Distanz zwischen ihnen, noch ehe sein Satz geendet
hatte. „Ich finde, du bist ganz schön nah.“ Sie hauchte
es nur. Ihre Lippen streiften sein Ohr. Er lächelte
traurig. Sie hatte das Bedürfnis begehrenswert zu sein
und sei es nur für einen Fremden im Park.
Sanft nahm er ihre Hand. Hob sie zu seinen
Lippen und hauchte einen Kuss darauf: „Ja, das bin
ich wohl.“
Spielerisch trat sie einen Schritt zurück, musterte
ihn. Die dunklen Locken fielen ihm in die Stirn, seine
Augen waren hellwach und auf sie gerichtet. „Ich
mache so etwas normal nicht.“ Ihr Mut schien sie auf
einen Schlag verlassen zu haben. „Ich bin nicht so ein
Mädchen.“
Er lächelte: „Es ist auch für mich das erste Mal.“
Einen Moment sah sie ihn abschätzend an, dann
zuckte sie mit den Schultern und zog ihn an sich.
Ihre Lippen trafen sich während ihr Körper sich
eng an ihn drängte. Amar löste sich wieder von ihr,
sah ihr in die Augen. „Es tut mir leid.“
Verständnislos sah sie ihn an. Ihre Hände
klammerten sich an seine Arme, als ihre Beine sie
nicht mehr tragen wollten. „Was hast du getan?“ Ihre
Stimme war mit Angst erfüllt. „Was ich gleich tun
werde, ist noch viel schlimmer…“, antwortete er leise,
ehe sie das Bewusstsein verlor.
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