PDF online lesen

0316
mittendrin
Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde Allschwil-Schönenbuch
wachsen
Unser Dorf
Wenn in Allschwil oder Schönenbuch
das Thema Wachstum zur Sprache kommt,
endet die Diskussion unweigerlich beim
Flugverkehr oder beim verdichteten Bauen.
In differenzierteren Gesprächen wird der Fokus dann noch auf den Innovationspark und
die Actelion gelenkt. Flughafengegner und
Flughafenbefürworter diskutieren hitzig um
Dezibel, Flugrouten und Mindestanzahl von
Rotationen, damit für Easyjet das Geschäft
weiterhin rentabel ist. Verdichtetes Bauen
finden grundsätzlich alle gut, sei es aufgrund
landschaftsschützerischer, gesamtwirtschaftlicher oder finanzieller Überlegungen. Sobald aber die Bagger im schönen Garten des
Nachbarn auffahren, bekommt die eigene innere kritische Stimme rasant Auftrieb. Auch
Innovation finden alle gut. Wie der dadurch
verursachte «gordische Verkehrsknoten» in
Allschwil gelöst werden soll, darüber scheiden sich die Geister.
An dieser Stelle soll jetzt aber keine sorgfältig austarierte Diskussion von Pro und
Contras zum Wachstum in Allschwil und
Schönenbuch in «Blei» gegossen werden.
Vielmehr wird das Wort den Karten der
Schweizerischen Landestopographie übergeben, die mit ihren über die Jahrhunderte von
Kartographen sorgfältig nachgeführten Linien, Rechtecken, Schraffuren und sonstigen
1916, Allschwil vor 100 Jahren. Copyright: Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft
mittendrin032016
Signaturen ein Bild derjenigen Entwicklung
nachzeichnen, die zu den heutigen Diskussionen führte.
Auf dieser und der folgenden Seite kann
selbstredend nur ein kleiner Ausschnitt des
verfügbaren Kartenmaterials wiedergegeben
werden. Es lohnt sich auf jeden Fall, die Internetseite der Landestopographie aufzurufen (map.geo.admin.ch) und dort mit den
tausend Möglichkeiten zu spielen. So können beispielsweise alte und neue Karten übereinandergelegt werden oder auch «Zeitreisen»
abgespielt werden. Und dies für das gesamte
Gebiet der Schweiz. Viel Vergnügen! •
Markus Jäggi
RUBRIKTITEL
wachsen
EDITORIAL
Liebe Leserin, lieber Leser,
«Wachsen» ist in unserer heutigen Zeit
ein Imperativ. Besonders in der Wirtschaft
scheint nur das gut zu sein, was wächst. Das
ist nicht von Natur aus schlecht, denn auch
die Natur funktioniert vor allem durch
Wachsen. Alles, was lebt, wird geboren und
wächst heran. Pflanzen wachsen immer
weiter, können sich vermehren und andere
Lebewesen ernähren. Tiere und Menschen
erreichen irgendwann ihre maximale äussere Grösse und wachsen dann nach innen
weiter. Sie wachsen an Lebenserfahrung
und vermehrtem Weltwissen, hoffentlich
aber auch an Weisheit, Glaube und Liebe.
Es kommt also vor allem darauf an, in welche Richtung etwas wächst.
«Wachsen» wird in dieser Ausgabe des
Mittendrins aus den unterschiedlichsten
Perspektiven beleuchtet. Das Wachstum
des Dorfes Allschwil erschliesst sich gut aus
Landkarten. Wo die Grenzen dieses Wachstums sein sollen, sorgt hingegen immer wieder für politischen Sprengstoff.
Bei allem Streben nach Wachstum tun
wir gut daran, hin und wieder über seine
Konsequenzen und möglichen Grenzen
nachzudenken. Im gesellschaftlichen Leben
ist die Grenze meiner Freiheit dort, wo andere unter meinem Tun zu leiden beginnen.
Im Inneren kann diese Grenze auch Gott
sein, der seine Rolle als Gegenüber wahrnimmt. Er kann mir hin und wieder auf
sanfte Art und Weise zeigen, dass ich so,
wie ich bin, gut bin, auch wenn ich mich
zurzeit nur ausruhe und nicht weiterwachse.
Solche Momente können sich gut auf einem
Spaziergang in Richtung Allschwiler Wald
einstellen. Deshalb sollen auch die Natur
und ihre Schönheit in dieser Ausgabe eine
Stimme erhalten. •
Für das Redaktionsteam: Marc Burger
1941, 1966 und 2013. Allschwil vor 75, 50 und 3 Jahren. Copyright: Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft.
mittendrin032016
wachsen
Glauben ist wie ein Gang auf dem Wasser
Mit Vertrauen auf Gott durchs Leben
zu gehen, ist wie ein Gang auf dem
Wasser: eine Gratwanderung zwischen
Sensation und gnadenlosem Scheitern.
Dabei hilft das Vertrauen, dass mein
Glaube gerade auch im Scheitern wachsen kann.
Unter «Glauben» verstehen nach wie vor
viele Menschen ein Für-wahr-Halten von religiösen Grundsätzen, die man nicht beweisen kann. Doch das greift zu kurz. Glaube
und Vertrauen sind im biblischen Sprachgebrauch dasselbe Wort. Ich kann nicht an
Gott glauben, ohne ihm zu vertrauen und
aus diesem Vertrauen heraus mein Leben zu
gestalten.
Mit dem Vertrauen ist es aber so eine Sache. Ich kann es nur lernen, indem ich es tue
und damit gute Erfahrungen sammle. Wie
aber soll ich Gott vertrauen, wenn ich ihn
noch nicht kenne und wenn ich auch generell kein Vertrauen im Leben habe? Es bleibt
mir nichts anderes, als ein Sprung ins Wasser.
Ich muss hineinspringen um herauszufinden,
wie es sich anfühlt. Nur so lerne ich, wie ich
mit diesem neuen Element umgehen muss.
Die Bibel hilft
In Bezug auf das Vertrauen in Gott birgt
die Bibel grosse Schätze, die mir helfen, mich
auf den Sprung vorzubereiten oder im Nachhinein mein Schwimmen im Wasser besser
zu verstehen. Eine meiner Lieblingsgeschichten ist der Gang des Apostels Petrus auf dem
Wasser (Mt 14). Während einer Nacht auf
dem See Genezeret wurde das Wetter stürmisch und die Jünger fürchteten, dass das
Boot untergehen könnte. Da kam ihnen Jesus über den See entgegen und beruhigte sie.
Petrus war so verblüfft über diese Erscheinung, dass er sofort Jesus entgegengehen
wollte. Dieser freute sich über so viel Enthusiasmus und rief ihn zu sich. Petrus verliess das Boot und machte erfolgreich einige
Schritte auf Jesus zu. Dann aber spürte er
den Wind im Gesicht und realisierte, was er
gerade tat. Das erfüllte ihn mit Angst - und
mittendrin032016
Schwupps war der Zauber vorbei und er sank
ins Wasser. Jesus holte ihn raus und schimpfte mit ihm, dass er so wenig Vertrauen hatte
und zweifelte.
gen: in den Bereich, in dem sich göttliches
und menschliches Handeln überschneiden
und zusammenwirken. In diesen Bereich
vollsten Vertrauens ist er für einen kurzen
Moment eingetaucht und hat erlebt, wie es
sich dort anfühlt. Das ist sein grosser GeAngst und Zweifel
Genaugenommen nennt ihn Jesus einen winn.
«Kleingläubigen», einen, «der wenig Glauben hat». Im Moment des Einsinkens hatte Vertrauen reifen lassen
Dass er anschliessend in dieser neuen
Petrus wohl akut nicht wenig, sondern gar
keinen Glauben mehr. Angst hatte sich in Spähre gescheitert ist, gehört zu unserem
ihm ausgebreitet und Zweifel ausgelöst. Das Menschsein, denn wir sind noch nicht ganz
zerstörte sein ganzes Vertrauen in die Situati- und gar Gott. Das ist auch nicht schlimm,
on. Durch dieses Scheitern könnte das ganze denn wenn ich in diesen Zwischenbereich
Erlebnis zu einer schlechten Erfahrung wer- eingetaucht bin und dort Vertrauen in Gott
den, die sein Vertrauen in Gott nachhaltig gefunden habe, dann habe ich etwas vom
beeinträchtigt. Das Erlebnis kann aber auch Wichtigsten gefunden, was ich im Leben
zu einer guten Erfahrung werden, die das überhaupt finden kann. Von jetzt an kann
Vertrauen in Gott nachhaltig stärkt. Denn ich dieses Vertrauen nur noch reifen lassen,
Petrus hat auf Gott vertraut und auf diese indem ich es stärke und vertiefe. Dass ich
auf diesem Weg immer wieder auch scheiWeise Schritte auf dem Wasser geschafft.
Damit letzteres geschieht und sein Ver- tern werde, gehört zum Reifungsprozess,
trauen wachsen kann, ist es wichtig, dass ganz im Vertrauen darauf, dass ich nicht
Petrus nicht das Scheitern in Erinnerung nur scheitere, sondern im selben Augenblick
behält, sondern den Anteil, der gelungen ist. auch wachsen kann und in dieser Not trotz
Mit seinen Schritten auf dem Wasser ist er allem von Gott getragen bin. •
in eine neue Sphäre des Lebens vorgedrun
Marc Burger
Hält oft nur für einen ganz kurzen Moment: der Gang auf dem Wasser im Konflager Uerikon 2016.
Bild: Raphael Niederer / www.nightwalks.ch
wachsen
Über Einschaltquoten und Einflussnahme
Was treibt einen privaten Fernsehmacher an? Welchem Druck von aussen ist
er ausgesetzt und wie nimmt das Fernsehen selbst Einfluss auf die Zuschauenden? Werner Marti im Gespräch mit
Willi Surbeck.
Werner Marti (W.M.): Wachstum im quantitativen Sinn ist der zentrale Begriff der
Industriegesellschaft. Eine Firma, will sie
wirtschaftlich überleben, muss wachsen,
muss mehr produzieren, mehr Umsatz machen, mehr Gewinn. Das gilt auch für ein
privates Medienunternehmen, wenn auch
hier mehr von Einschaltquoten und Hörerreichweite gesprochen wird. Wie wichtig
sind Einschaltquoten für ein Medienhaus
wirklich?
Willi Surbeck (W.S.): Einschaltquoten
sind wichtig, sie treiben den Preis für Werbung hoch. Aber diese Zahlen können auch
dem uneingestandenen Irrglauben Vorschub
leisten, was die meisten glauben, sei die
Wahrheit. Unsere Gesellschaft weiss nicht,
worauf sie sich ausrichten soll. Wir haben ein
spirituelles Wertevakuum. Anstelle der biblischen Werte, die unsere Gesellschaft noch
heute mehr prägen, als manchen bewusst ist,
sind Zahlen getreten. Zahlen kann man messen, sie geben Sicherheit und Orientierung.
Ganz schön kann man das am Beispiel des
Sportes sehen: Derjenige, der 1/100 Sekunde schneller ist als der andere, ist besser. Zahlen als Kult.
Christoph Blocher, ein anderes Beispiel, sucht
Präsenz in der Öffentlichkeit, sucht Zugang
zur professionellen Meinungsbildungsszene.
(W.M.) Welches waren für Sie die
Hauptfaktoren?
W.S. Da gilt es zuerst die ökonomischen
Rahmenbedingungen zu nennen. Ich kann
nur produzieren, was ich mir finanziell
leisten kann. Dann mache ich das, was die
Menschen interessiert, und dazu brauche ich
auch Zugang zu den richtigen Quellen, zu
Menschen, die in der Öffentlichkeit und in
(W.M.) Quoten sind also wichtig. Aber wel- Wirtschaft oder Politik Gewicht haben.
che anderen Faktoren sind von Bedeutung
(W.M.) Auf der aktuellen Homepage von
für einen Fernsehmacher?
(W.S.) Das kommt auf die Besitzerschaft Telebasel steht der Satz. Telebasel sendet
des Mediums an. R.T.L. oder die Tageszei- «alles was man wissen muss aus News, Lifetung BLICK zum Beispiel wollen vor allem style, Kino…». Wer bestimmt, was man
Geld verdienen. Eine politische Ausrichtung wissen muss? Anders gefragt, wie entsteht
oder Nichtausrichtung spielt dabei weniger öffentliche Meinung? Wer steuert mehr, die
eine Rolle, sie sind nur Mittel zum Zweck. Medien oder die Medienkonsumenten?
mittendrin032016
wachsen
(W.S.) Was man wissen muss, entscheidet jeder selbst. Das können Medien nicht.
Medien haben zwar eine gewisse Wirkung.
Die entfaltet sich aber erst aufgrund einer
Basis, die schon da ist. Es müssen also Gedankenmuster, Gefühle, Verzweiflung usw.
vorhanden sein, auf denen die Medien
aufbauen können. Erfolgreiche Journalisten spüren das. Dann haben Medien einen
katalysatorischen Effekt. Sie können einen
Prozess beschleunigen oder verlangsamen.
Aus nichts etwas machen geht nicht. Sehr
gutes Beispiel dafür ist die UNO-Beitrittsabstimmung in den achtziger Jahren des
vergangenen Jahrhunderts. Alle wichtigen
Meinungsmacher von Bundesrat, SRG,
NZZ und Tages-Anzeiger bis Blick haben
den Beitritt aus allen Rohren befürwortet und beschworen. Was folgte, war eine
krasse Verwerfung des UNO-Beitritts an
der Urne. Am gelben Kioskaushang hiess es:
«UNO bachab – und wie!»
gewinnt in der Regel, wer sich am TV besser als die Konkurrenz in Szene setzen kann.
Das gab es in den letzten 20 Jahren mehrfach bei Telebasel. Doch es gibt noch eine
ganz andere wichtige Aufgabe der Medien:
Politiker, Manager und Promotoren im öffentlichen Meinungswettbewerb überlegen
sich zweimal, was sie sagen und machen,
wenn sie wissen, dass das am nächsten Tag
in den News gesendet werden könnte. Die
Medien üben im positiven Sinn ein präventives Wächteramt aus.
(W.S.) Die Werte, die uns Jesus Christus vorgelebt hat, sind bis heute für mich
Massstab eines sinnvollen Lebens. Innovation, Liebe und Vergebung. Allerdings habe
ich auch gesehen, dass es den Kirchen zusehends schwer fällt, die Glaubensinhalte zu
vermitteln. Gott ist einfach invisibel. Schon
früh hat mich die Frage umgetrieben, wie
man den Menschen Glaubensinhalte näherbringen kann. Allgemeiner formuliert: Wie
kommt spannende Kommunikation, die
auf gegenseitiger Achtung beruht, zustande? Zwar stand diese Grundfrage einmal
am Anfang meines Einstiegs in die Medienbranche. Allerdings merkte ich, dass
Medien nicht Glauben vermitteln sollten,
sondern nachprüfbare Fakten, welche eine
Emanzipation der Zuschauer oder Leserschaft bewirken. Hilfreich ist für mich die
Kulturdefinition des Europarates: «Kultur
ist alles, was dem Individuum erlaubt, sich
gegenüber der Welt, der Gesellschaft und
auch gegenüber dem heimatlichen Erbgut
zurechtzufinden; alles, was dazu führt, dass
der Mensch seine Lage besser begreift, um
sie unter Umständen verändern zu können.»
(W.M.) Zurück zu den Quoten: Senden was
gefragt ist, was die Menschen interessiert,
haben Sie gesagt. Was für Sendungen kommen dabei zu kurz und wären doch auch
wichtig?
(W.S.) Komplexe Zusammenhänge,
Langzeitbetrachtungen und Kausalitäten.
Gerade das ist im TV schwierig zu vermitteln. Die Menschen wollen primär unterhalten werden. Was sie sehen, muss immer auch
(W.M.) Das TV kann also die öffentliche einen Teil Unterhaltung haben.
Meinung nicht machen, beeinflussen aber
(W.M.) Eine letzte Frage: Sie sind in einem
schon.
(W.S.) Das stimmt. Das gilt vor allem pietistischen Elternhaus aufgewachsen. Inbei Patt-Situationen, wo der Ausgang einer wiefern hat Sie die eng an der Bibel orien(W.M.) Herr Surbeck, vielen Dank für
Volksabstimmung unbestimmt ist. Im Patt tierte Lebensweise ihrer Eltern geprägt?
das Gespräch. •
Willi Surbeck (1955) ist Direktor der Biennale Pratteln, Publizist für Print, Web, TV und Video, Musiker und Dipl. Maschinenmechaniker BMS. Aufgewachsen ist er in Zürich und Oberhallau (SH), seit 1984 lebt er in Allschwil. Willi Surbeck ist mit Heidi Basler
verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.
Stationen aus dem Lebenslauf:
1984 - 1988 Freier Journalist
1988 - 1993 Reporter bei Blick
1993 - 1996 Chefreporter, Redaktor und Fotograf beim Doppelstab
1996 - 1998 Redaktor Stadtkanal Basel-Stadt
1999 - 2008 Geschäftsführung von Telebasel
1999 - 2014 Programmleitung von Telebasel
2008 - 2014 Telebasel Service Public-Auftrag des „BAKOM“
2015 - Initiierung der grössten wöchentlichen Jam Session der Nordwestschweiz
2016 - Direktion Biennale Pratteln
IMPRESSUM
Zeitschrift der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Allschwil-Schönenbuch
Erscheint vierteljährlich · Auflage: 4’000 Exemplare · Herausgeberin: Kirchenpflege
Redaktion: Marc Burger, Markus Jäggi, Vreni Mühlemann
Bilder: wo nicht anders vermerkt, zur Verfügung gestellt
Gestaltungskonzept: typoallee, Michelle Kiener-Buess, Allschwil · Druck: Kurt Fankhauser AG, Basel
Zuschriften: «mittendrin», Reformierte Kirchgemeinde, Baslerstrasse 226, 4123 Allschwil · [email protected]
mittendrin032016
KONTAKT
Reformierte Kirchgemeinde Allschwil-Schönenbuch
Baslerstrasse 226 · 4123 Allschwil
Telefon 061 481 30 11
[email protected]
[email protected]
www.refallschwil.ch
wachsen
Nachhaltigkeit als Perspektive
des qualitativen Wachstums
Das Bruttoinlandsprodukt misst nur das
quantitative Wirtschaftswachstum einer
Volkswirtschaft und ist damit nur eingeschränkt geeignet, um als Messlatte für
die Wohlstandsentwicklung eines Landes zu dienen. Vielmehr müssen zur Beurteilung des qualitativen Wachstums
alle Komponenten des nachhaltigen
Wirtschaftens berücksichtig werden.
Nachhaltigkeit bedeutet grundsätzlich,
dass Ressourcen so bewirtschaftet werden
müssen, dass das Kapital erhalten bleibt und
nur die Zinsen entnommen werden. Nur was
nachwächst, und nur so viel, wie nachwächst,
darf dem Produktionssystem entzogen werden. Sachlich passend ist der Vergleich mit
der Holzwirtschaft in einem Wald, in dem
nur so viel Holz geschlagen werden darf, wie
zwischen den Eingriffen der Holzfäller auch
nachwachsen kann. Tatsächlich wurde der
Grundsatz der Nachhaltigkeit in der Forstwirtschaft entwickelt und zwar im frühen
18. Jahrhundert. Das Nachhaltigkeitsprinzip
war eine Reaktion auf die Übernutzung des
Waldes, vor allem durch die Köhlerei, mit
der eine starke Nachfrage nach Kohle für die
Metallverhüttung befriedigt werden sollte.
Messgrössen qualitativen Wachstums
In modernen Gesellschaften stellt sich
die Frage, was Nachhaltigkeit bedeutet,
nicht in so einfachen Begriffen. Die Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio
de Janeiro 1992 (der so genannte «Erdgipfel») hat Nachhaltigkeit so definiert, dass
neben einer ökologischen auch eine soziale
und eine wirtschaftliche Komponente zu ihrem Recht kommt. Nachhaltigkeit ist mehr
als «Naturschutz», berücksichtigt aber auch
diesen. Nachhaltigkeit in einem erweiterten
Sinne bezieht auch andere Werte mit ein,
insbesondere die soziale Verantwortung und
Tragfähigkeit der Gesellschaft sowie eine
zukunftsfähige wirtschaftliche Entwicklung.
Nachhaltigkeit wird so zu einer Perspektive
«qualitativen Wachstums».
Die Verständigung über Messgrössen
qualitativen Wachstums ist eine ausserordentlich komplexe Aufgabe. Synthetische
Indikatoren für qualitatives Wachstum sind
daher zu entwickeln. Diese kommen zwar
ohne Näherungen und Vergröberungen
nicht aus, aber sie bieten eine weitaus sachgerechtere Grundlage für die Bemessung
von Wohlstandsgewinnen oder –verlusten
als etwa das seit Jahrzehnten stark kritisierte Bruttoinlandsprodukt (BIP). Zwar ist die
Debatte über die begrenzte Aussagefähigkeit
des BIP bereits über dreissig Jahre alt. Sie hat
aber in der jüngsten Vergangenheit aufgrund
mehrerer Studien, auch von kirchlicher Seite,
neuen Auftrieb erhalten.
Auch der Ökumenische Rat der Kirchen
fordert in seiner Stellungnahme zur Finanzund Wirtschaftskrise explizit die Entwicklung
neuer Fortschrittsindikatoren, die Auskunft
geben über Lebensqualität und Lebensgewohnheiten, gute Regierungsführung, Bildung, Gesundheit, ökologische Belastbarkeit,
kulturelle Vielfalt, Vitalität des Gemeinwesens, ausgewogenes Zeitmanagement sowie
geistiges und geistliches Wohlbefinden.
Unsichtbare Arbeit sichtbar machen
Seitens der nichtkirchlichen Akteure hat
im September 2009 eine hochkarätige Kommission zur Messung der Wirtschaftsleistung
und des sozialen Fortschritts (unter dem
Vorsitz von Ökonom und Nobelpreisträger
Joseph Stiglitz und unter Beteiligung des
Nobelpreisträgers und Ökonomen Amartya Sen sowie des französischen Ökonomen
Jean-Paul Fitoussi) ihren Bericht vorgelegt.
Auf den 292 Seiten wird die Erstellung neuer
Indikatoren für das gesellschaftliche Wohlergehen gefordert. Ziel dieser Messziffern sei es,
das individuelle Wohlergehen des Menschen,
die Umweltverträglichkeit des wirtschaftlichen Wachstums sowie ehrenamtliche Arbeit
und haushaltsnahe Dienstleistungen insbesondere aus der Sorgeökonomie oder Care
Ökonomie in den Indikator aufzunehmen.
Auch wenn in der Care Ökonomie wesentlich mehr Arbeitsstunden verrichtet werden
als bezahlte Arbeitsstunden in der offiziell
ausgewiesenen Wirtschaftstätigkeit einer
Volkswirtschaft, bleibt die unbezahlte Care
Arbeit in offiziellen Statistiken unsichtbar.
Dabei werden mehr als drei Viertel dieser
gesellschaftlich notwendigen Arbeit (Kinder
betreuen, Erwachsene pflegen, Kochen, Reinigen, Haushalten) unbezahlt von Frauen
geleistet.
Nationaler Wohlfahrtsindex
Im November 2008 haben der Ökonom
Hans Diefenbacher von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in
Heidelberg und der Verwaltungswissenschaftler Roland Zieschank von der Forschungsstelle für Umweltpolitik an der Freien Universität
Berlin im Auftrag des Bundesumweltamtes in
Deutschland einen Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI) entwickelt, mit dem Leistungen,
die in offiziellen Statistiken nicht erscheinen,
in die volkswirtschaftlichen Berechnungen
miteinbezogen werden. Ähnlich wie beim BIP
ist die Basis des NWI der private Verbrauch.
Dieser wird im NWI jedoch mit einem Verteilungsindex gewichtet. Ziel ist es aufzuzeigen, dass, wenn alle mehr konsumieren, dies
den Wohlstand einer Nation mehr steigert, als
wenn nur eine kleine Gruppe in hohem Umfang konsumiert. Ein weiteres neues Element
ist, dass der Wert der unbezahlten Hausarbeit
und der ehrenamtlichen Tätigkeiten hinzugezählt, hingegen die Kosten von Umweltschäden und der Verbrauch nicht erneuerbarer Wohlstand neu orientieren
In die gleiche Richtung argumentieren
Ressourcen von den Bilanzierungen abgezoauch der evangelische Theologe John Cobb
gen werden.
mittendrin032016
wachsen
und der Ökonom Herman Daly in den
USA. Bereits Ende der 80er Jahre legten sie
ein Buch vor, mit dem ein ganzheitlicheres
Bild der Wirtschaft entstehen sollte, das die
menschliche Lebenswirklichkeit, die Gemeinschaft und die Umwelt angemessen mit
einbezieht. Das Buch enthält einen Entwurf
für einen neuen Wohlstandsindikator, der
das Bruttoinlandsprodukt als Messlatte für
den Wohlstand eines Landes ablösen sollte.
Der Index of Sustainable Economic Welfare
und dessen Weiterentwicklung, der Genuine
Progress Indicator, sollen eine realistischere
Einschätzung der Leistung von Volkswirtschaften ermöglichen. Offene und verdeckte
Folgen des Wirtschaftens wie Umweltschäden, Kriminalität, Zufriedenheit und Gesundheit der Bevölkerung finden Eingang
in die Messung. Die nachhaltige Qualität
des Wirtschaftswachstums und dessen Folgen werden berücksichtigt. Der Geldwert
ist nicht mehr der einzige Indikator für den
Wohlstand einer Volkswirtschaft. In verschiedenen Ländern wurde aufgrund dieses Nachhaltigkeitsindexes bereits der Wohlstand neu
berechnet und – anders als bei der traditionellen Messung mit Hilfe des BIP – ein stetig
sinkender Wert festgestellt. •
Hella Hoppe und Otto Schäfer
Der vorliegende Text beruht auf der SEK-Studie «Gerechtes Haushalten und faires Spiel. Die jüngsten Finanz- und
Wirtschaftskrisen aus evangelischer Sicht» (Bern 2010). Der
Kirchenbund hat diese Überlegungen auch in die nationalen
Konferenzen «Haushalten und Wirtschaften» der Stiftung Zukunftsrat Schweiz eingebracht.
Wir danken dem Autorenteam für die freundliche Erlaubnis,
diesen Text abdrucken zu dürfen.
Die Messung der Wohlstandsentwicklung ist eine ausserordentlich komplexe Aufgabe.
mittendrin032016
Dr. rer. pol. Hella Hoppe ist seit Juni
2016 Geschäftsleiterin des Evangelischen Kirchenbundes. Vorher war sie
Beauftragte für Ökonomie des SEK.
Pfr. Dr. sc. agr. Otto Schäfer ist seit
2006 Beauftragter für Theologie und
Ethik beim Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund.
PERSÖNLICH
Freude an Blumen
AZB
4123 Allschwil 1
Christine und Jürg Vogt auf ihrem Hof in den Mülibachmatten in Allschwil.
Viele Leute meinten, der Ort sei nicht optimal.
Christine und Jürg Vogt verfolgten ihre Idee aber
weiter und der Funke sprang. Heute ist das liebevoll gepflegte Blumenfeld beim Spitzwald nicht
mehr wegzudenken, erfreut Kundschaft, Passanten und Produzentenfamilie gleichermassen.
Der Hof der Familie Vogt steht unmittelbar vor dem
«Staudamm» im Mülitäli. Die Leute, die vor den Toren
Allschwils Erholung suchten, hatten für die vorbeifahrenden Güllenfässer je länger je weniger Verständnis
und auch für den Landwirt wurden die Fahrten zum
«Spiessrutenlauf». Als dann die Tierschutznormen wieder änderten, gab man die Schweinehaltung auf und
richtete den Betrieb neu aus.
Im eigenen Garten hegte und pflegte Christine Vogt
schon immer viele Blumen. Über die Zeit sammelte
sich so ein beachtliches Know-how. «Die Freude an den
Blumen gab den Ausschlag zum Versuch, mit Kürbissen und Sonnenblumen neue Kundschaft zu gewinnen»
sagt Christine Vogt. Und siehe da: die Kundschaft war
da und Familie Vogt realisierte, dass im Modell des
Blumenfeldes Potential steckte. Christine Vogt bestellte
kurzerhand 3‘000 Tulpenzwiebeln und bald schon verzauberten die ersten Farbtupfer Joggerinnen, Spaziergänger und Velofahrende auf ihren Runden durch das
stadtnahe Grün.
Die Freude an den Blumen und nicht etwa ein ausgeklügelter Geschäftsplan steuerte auch das weitere
Wachstum. Christine Vogt experimentierte mit immer
neuen Blumen, zauberte ein wahres Blütenmeer auf die
Felder beim Spitzwald. Seit acht Jahren ist das Blumenfeld nun aber gleich gross. Jürg Vogt ist wichtig, dass die
Blumen möglichst gesund wachsen können ohne den
Einsatz vieler Hilfsstoffe. So werden die Blumen nicht
jedes Jahr am selben Ort angepflanzt und dies auf einer
relativ grossen Fläche. So kann auch das Gras dazwischen genutzt werden.
Zu Sorgen und Freuden befragt, müssen die beiden
nicht lange überlegen. Als Christine Vogt im August
2004 eines Nachmittags zum Spätdienst ins Bruderholzspital fuhr, zogen dicke schwarze Wolken am Himmel auf. Um die Abendessenszeit war dann klar, dass
ein Unwetter mit Hagel eine Spur der Verwüstung über
den Spitzwald gezogen hat. Die noch weichen Kürbisse
verfaulten alle, die in voller Blütenpracht stehenden Blumen trieben nach drei bis vier Wochen glücklicherweise
wieder aus. Christine Vogt erinnert sich noch gut: «Das
Bild der völligen Zerstörung tat mir weh und wirkte
noch lange nach».
Nach dem mit viel Aufwand verbundenen Setzen der
Pflanzen im Frühling folgt die Zeit anfangs Sommer, in
der noch wenig blüht. «An diese Durststrecke gewöhnt
man sich zwar» meint Jürg Vogt, aber es ist doch immer
wieder ein speziell schönes Erlebnis, im Sommer dann
den Reichtum der Blumen und die erfreute Kundschaft
zu sehen. Natürlich wachsen die Blumen nicht immer
gleich gut. In diesem Jahr waren beispielsweise die Gladiolen wegen des feuchten Frühlings nicht so schön, wie
in anderen Jahren. Darob darf man aber nicht verzweifeln. Man muss grundsätzlich Vertrauen in die Natur
haben, dass es im nächsten Jahr wieder gut kommt.
Dem Wachstum setzt aber nicht nur die Natur
Grenzen. Auch die eigenen Grenzen müssen respektiert werden. So produzieren Christine und Jürg Vogt
seit letztem Jahr keine Kürbisse mehr. Der Bedarf der
Kundschaft ist gedeckt und man hätte neue, aufwendige Wege gehen müssen, beispielsweise Events anbieten.
Das schwarz-weiss Denken bei Diskussionen zum
Thema Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft ärgert Jürg Vogt. Für ihn ist Wachstum nicht einfach gut
oder schlecht. «Wachstum ist Wandel» sagt Jürg Vogt.
Alles wächst, Natur und Mensch, und wandelt sich
dabei. Wachstum und Wandel braucht es, um sich anzupassen und Neues zu schaffen. Sowohl die Natur als
auch der Mensch sind aber verschwenderisch, produzieren bei guten Bedingungen viel mehr, als für den Arterhalt nötig wäre. •
Markus Jäggi
mittendrin032016