Quoten, Zahlen, Traumata

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Feature
Quoten, Zahlen, Traumata
Jesidische Flüchtlinge in Deutschland
Von Bettina Rühl
Sendung: Mittwoch, 28. September 2016
Redaktion: Wolfram Wessels
Regie: Karin Hutzler
Produktion: SWR/DLF 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
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Atmo: Abholen Sherko aus Kindergarten
Erzählerin:
Kinder sitzen zusammen und spielen, sie sprechen kurdisch und deutsch. Einer der
Jungen hat langes, blondes, lockiges Haar. Ein zartes, schüchternes Kind. Wenn er
spricht, ist er kaum zu verstehen. Der Junge redet so leise, als sollte ihn niemand
bemerken. Sherko, so heißt der Junge, ist fünf Jahre alt und seit Mitte November
2015 in Deutschland.
Atmo: Abholen Sherko aus Kindergarten, Frauenstimmen, Schritte, Tür,
Kinderstimmen
Erzählerin:
Seine Mutter, die ihn vom Kindergarten abholt, trägt schwarz: langer schwarzer
Rock, schwarzes T-Shirt, schwarze Strickjacke. Dabei ist der Himmel blau, die Sonne
scheint, es ist warm an diesem Julitag in Baden-Württemberg. Sherkos Mutter
Khudeda Ali scheint den Sommer nicht wahrzunehmen. Sie ist jung, erst Mitte
zwanzig, aber etwas in ihren Augen ist alt.
Musik
Sprecher:
Quoten, Zahlen, Traumata.
Jesidische Flüchtlinge in Deutschland
Feature von Bettina Rühl.
O-Ton Khudeda Ali,:
Übersetzerin 1:
In jeder Sekunde, in der ich meine Augen geschlossen habe, sehe ich vor mir, was
ich erlebt habe. Tag und Nacht. Am schwersten fühle ich mich, wenn meine Kinder
nach ihrem Vater fragen. Wenn sie von ihrem Vater geträumt haben, wach werden
und mich fragen, wo er ist. Und ich habe keine Antwort. Das liegt mir wie ein Stein
auf der Seele. Mir fehlen die Worte, um diese Last zu beschreiben. Ich bin für diese
Kinder Mutter und Vater zugleich, weil ihr Vater nicht da ist - heute nicht, morgen
nicht, nie.
Atmo: Abholen Sherko aus Kindergarten
Erzählerin:
Khudeda Ali und ihr Sohn gehen die paar hundert Meter vom Kindergarten zu ihrer
Unterkunft zurück, begleitet von einer Freundin der Mutter. Sherko erzählt den
beiden Frauen, dass er am Morgen schon wieder für ein Mädchen gehalten wurde.
Seine Mutter lacht. Vorsichtig, als spräche sie eine fremde Sprache, die sie erst
wieder lernen muss. Kann jemand mit ihrer Geschichte seine Erinnerungen je wieder
kontrollieren? Seit sieben Monaten lebt Khudeda Ali zwischen Fachwerkhäusern,
Fußgängerampeln, Zebrastreifen und anderen Flüchtlingen. Kann sie hier, in
Süddeutschland, den Krieg in ihrem Inneren vergessen und Frieden finden?
2
Und Hanan Qassm, die wie Khudeda Ali früher in dem Dorf Kocho lebte - kann sie in
Deutschland eine Zukunft finden? Nach allem, was im Nordirak mit ihr geschah?
O-Ton Hanan Qassm:
Übersetzerin 2:
Alles, was wir dort erlebt haben, war schlimm. Aber das Schlimmste war, dass wir
Frauen für sie da sein mussten. Dass die Männer uns genommen haben. Das kann
ich nicht vergessen.
Erzählerin:
In Kocho verübte die Terrormiliz Islamischer Staat im August 2014 eines der
schlimmsten Massaker im Nordirak. Die Milizionäre töteten fast alle männlichen
Bewohner des Dorfes, mehrere hundert Menschen. Sie teilten etwa 400 Frauen und
Mädchen, die das Massaker überlebt hatten, in Gruppen auf und verschleppten sie
nach Mossul. Einige behielten die Islamisten selbst, andere verkauften sie weiter.
Hanan Qassm wurde in dem Jahr ihrer Gefangenschaft etliche Male an andere ISKämpfer weiter gegeben, drei Mal an andere Peiniger weiterverkauft.
O-Ton Hanan Qassm:
Übersetzerin 2:
Jedes Mal, wenn ich wieder verkauft wurde, hätte ich mich am liebsten umgebracht.
Verkauft zu werden fand ich so schlimm, dass ich nicht mehr leben wollte.
Musik
Atmo: Büro Konsulat, Blättern, Tür auf, Geräusch Blätter zusammentackern,
blättern...
Erzählerin:
Im Oktober 2015 sind Hanan Qassm und Khudeda Ali noch nicht in BadenWürttemberg, sondern im Nordirak, an diesem Morgen nur zwei Zimmer voneinander
entfernt. In einem wartet Hanan Qassm auf ihr Gespräch mit einem Psychologen, der
aus Deutschland angereist ist. Nebenan sitzt Khudeda Ali. Beide Frauen heißen in
Wirklichkeit anders, die Anonymität bietet ihnen ein kleines bisschen Schutz. Die
Terrormiliz Islamischer Staat betrachtet sie bis heute als ihr Eigentum. Die
Milizionäre könnten die Frauen selbst in Deutschland zu töten versuchen, als Strafe
für ihre Flucht. Und sollte es eines Tages ein Verfahren wegen der Kriegsverbrechen
der islamistischen Miliz geben, wären die beiden mögliche Zeuginnen. Der IS könnte
deshalb versuchen, sie zum Schweigen zu bringen.
O-Ton Delegationsmitglied:
Ich spreche leider Ihre Sprache nicht, mein Name ist André, und das ist meine
Kollegin Bischkusch, die übersetzen wird.
Bischkusch übersetzt...., man hört auch manchmal die Stimme von Khudeda Ali,
die auf das Gesagte reagiert
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Erzählerin:
Auf dem Tisch steht ein Wimpel mit dem Wappen Baden-Württembergs. Alle Möbel
sind einfach, aber funktional, Büromöbel in einer Wohnung, die zurzeit eine
Außenstelle der Landesregierung von Baden-Württemberg ist. Aus dem Fenster geht
der Blick auf Wohnsilos, Türme in pastellgrün und rosa. Eine neu erbaute Siedlung in
Dohuk, Hauptstadt der autonomen kurdischen Region.
O-Ton Delegationsmitglied:
Ich werde ihr jetzt ein paar Informationen über Deutschland geben, was sie erwartet,
wenn sie nach Deutschland kommt, sie kann aber auch dazwischen gerne ein paar
Fragen stellen, wenn sie Fragen hat. Hat sie irgendwelche Vorstellungen schon von
Deutschland?
Erzählerin:
Die Landesregierung Baden-Württemberg hat im Frühjahr 2015 angekündigt, 1000
schwer traumatisierte Frauen und Kinder aus dem Nordirak aufzunehmen und sie –
auch psychologisch – zu betreuen.
O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
Ich bin natürlich sehr, sehr dankbar für das, was Deutschland für uns tut. Niemand
hat uns bisher so viel Unterstützung angeboten wie Ihr Land. Wir wissen das sehr zu
schätzen. Uns geht es nicht um ein eigenes Haus oder um ein gutes Leben. Ich
möchte nur, dass meine Kinder in Sicherheit sind. Dass sie eine Zukunft haben.
O-Ton Delegationsmitglied:
Das ist auch unser Ziel, dass Sie und Ihre Kinder ein neues Leben beginnen können
in Deutschland, und Ihre Kinder natürlich auch eine Zukunftsaussicht haben für ihr
Leben.
O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
Das hier ist unser Land, unsere Erde. Selbst wenn tausend Jahre vergehen, wollen
wir immer wieder hierher zurück – wenn wir hier leben können. Aber in den letzten
Monaten haben wir schreckliche Dinge erlebt, deshalb können wir nicht bleiben. Wir
wollen weg, weil wir an unsere Kinder denken. Ich war sechs Monate lang eine
Gefangene des so genannten Islamischen Staates in Mossul. Ich habe das
Schlimmste erlebt, auch Vergewaltigung. Sie haben unser Blut getrunken. Wie kann
man in einem Land leben, in dem Menschen Kinder töten, deren Fleisch kochen und
den Müttern zu Essen geben?
Atmo: Erfassung Tastatur
O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
Wir sind auch in Dohuk nicht zu Hause, aus unserer Heimat mussten wir fliehen. Ich
weiß, dass es in Deutschland schwer werden wird, aber das ist mir völlig egal. Ich
möchte nur irgendwo unterkommen, wo meine Kinder abends ruhig schlafen. Wo sie
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im Schlaf nicht weinen. Hier weint mein jüngerer Sohn Sherko jeden Abend, bevor er
ins Bett gehen muss. Er fragt mich immer wieder: „Wo sind wir? Wo ist unser zu
Hause?“ Meine Kinder haben Angst, sie fühlen sich hier nicht sicher.
Erzählerin:
Khudeda Ali hat es im Nordirak mit dem Mut der Verzweiflung geschafft, aus der
Gefangenschaft des Islamischen Staates zu fliehen. In ihren Erinnerungen bleibt sie
gefangen.
O-Ton Michael Blume:
Ja, das Leid der Flüchtlinge ist riesengroß. Wir haben allein in der Region Dohuk
über 900.000 Flüchtlinge, bei 1,3 Millionen Einwohnern. Da ist klar, dass jede
Entscheidung für eine Frau oder für eine Frau mit Kindern immer auch eine
Entscheidung gegen jemand anderen ist. Und selbstverständlich liegt man da auch
mal öfters mal nachts wach.
Erzählerin:
Im Oktober 2015 pendelt Michael Blume schon seit Monaten zwischen Stuttgart und
dem Nordirak hin und her. Trifft verstörte und verzweifelte Frauen, hört von immer
neuen Kriegsverbrechen. Blume leitet das Projekt zur Aufnahme der Frauen und
Kinder in Baden-Württemberg. Die meisten von ihnen werden Jesiden sein.
Atmo: Medienberichte über Sturm des IS auf das Sindjar-Gebirge im August 2014
Erzählerin:
Im August 2014 war der IS von Syrien aus mit schwer bewaffneten
Fahrzeugkolonnen in den Nordirak vorgedrungen und hatte auch Shingal erobert,
das angestammte Siedlungsgebiet der Jesiden. Anhängern einer monotheistischen
Religion, die sich nicht auf eine Heilige Schrift beruft. Vom IS werden sie deshalb
noch mehr verachtet als Christen und besonders grausam verfolgt.
Im August 2014 vertrieben die Islamisten Hunderttausende aus ihren Dörfern, töteten
Tausende, vor allem Jungen und Männer. Rund 5.000 Frauen und Mädchen wurden
verschleppt. Wurden gequält, vergewaltigt, versklavt, verkauft. Gesicherte Zahlen der
Verschleppten und der Toten gibt es bis heute nicht.
O-Ton Michael Blume:
Direkt nach dem Fall von Shingal im August 2014 kam eine Delegation des
Zentralrates der Jesiden zum Ministerpräsidenten Kretschmann und hat ihm unter
Tränen Fotos überreicht von den Gräueltaten, die hier geschehen, Hinrichtungen,
Kreuzigungen, Gewalt an Kindern. Die Terroristen hatten das gezielt aufgenommen,
und weiter geschickt, um die Angst zu steigern. Also als Terrorinstrumente. Und der
Ministerpräsident war außerordentlich schockiert und fragte eben: „Können wir nicht
irgendetwas tun“.
Atmo: Gänge provisorisches Konsulat
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Erzählerin:
Die Wohnung in der irakischen Hochhaussiedlung wird vorübergehend von einer
Delegation Baden-Württembergs genutzt. Beamte und Angestellte der
Landesregierung bereiten hier Visa für Deutschland vor. Eine aufwändige Prozedur.
Personalien müssen erfasst, Fingerabdrücke gespeichert werden. Viele der Frauen
und Kinder, die ein Visum bekommen werden, hatten noch nie in ihrem Leben einen
Personalausweis oder einen Reisepass. Viele haben nicht einmal eine
Geburtsurkunde, oder ihre Papiere gingen in den Wirren des Krieges verloren.
O-Ton Michael Blume:
Und es gibt eben im deutschen Recht die Möglichkeit, dass auch Bundesländer
solche Sonderkontingente humanitär im Einvernehmen mit dem Bund ausrufen
können. Wir haben ihm dann gesagt: „Ja, es ist möglich, es hat nur noch niemand
gemacht.“ Und er hat dann gesagt: „Dann lasst es uns doch versuchen. Wir können
nicht allen helfen, aber wir können vielen helfen.“
O-Ton Delegationsmitglied:
Noch ein paar Informationen. Sie bekommt, wenn sie nach Deutschland einreist,
zwei Jahre lang Aufenthaltsrecht, mit der Aussicht, dann auch bleiben zu können mit
ihren Kindern.
O-Ton Michael Blume:
Die Kostenschätzungen gehen auseinander. Das war von 60 bis 90 Millionen. Also
60.000 pro Person. Was wir jetzt sehen ist, dass wir deutlich darunter liegen werden.
Beispielsweise weil die meisten der Frauen und Kinder gar nicht direkt und unbedingt
eine therapeutische Behandlung wollen. Die wollen erstmal im Alltag ankommen.
Erzählerin:
Ein wichtiges Ziel des Projekts sollte gerade die psychologische Betreuung sein.
Nicht zuletzt Trauma-Experten sind skeptisch. Viele warnen, die Verpflanzung der
Frauen und Kinder in eine völlig andere Kultur sei keine Hilfe, sondern eher eine
zusätzliche Belastung. Andere bezweifeln, dass in Baden-Württemberg überhaupt so
vielen schwer traumatisierten Menschen auf einmal geholfen werden kann –
Dolmetscher und Therapieplätze seien zu knapp, die Betreuungsstrukturen ohnehin
überfordert. Zu den Kritikern gehört die Frauenärztin Monika Hauser. Die von ihr
gegründete Hilfsorganisation Medica Mondiale hilft traumatisierten Opfern sexueller
Gewalt in ihren Heimatländern.
O-Ton Monika Hauser:
Wir könnten es uns gar nicht leisten, Frauen aus all den Regionen, wo wir arbeiten,
und aus den künftigen Kriegsregionen, muss man sarkastischer Weise sagen, einige
wenige hierher nach Deutschland zu holen. Das finde ich per se den falschen
Ansatz, 90 Millionen Euro auszugeben für eine kleine Gruppe von Frauen. Mit
diesem Geld hätte man im Nordirak sehr viele Frauentherapiezentren aufbauen
können. Mit diesem Geld hätte man sehr viele Fachleute ausbilden können.
O-Ton Jan Ilhan Kizilhan:
Grundsätzlich ist es immer gut, wenn man vor Ort helfen kann und die Leute hier
bleiben und die Möglichkeiten haben.
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Atmo: Blättern, aus Beratung Kizilhan, Konsultation
Erzählerin:
Der Psychologe Jan Ilhan Kizilhan arbeitet während des Projektes für das
Staatsministerium Baden-Württemberg. Er trifft in Dohuk eine Vorausauswahl der
Frauen, die mit nach Deutschland kommen.
O-Ton Jan Ilhan Kizilhan:
Insofern ist dieses Sonderkontingent auch tatsächlich nur auf eine Zahl von tausend
Personen bezogen. Weil wir davon ausgehen: Wenn wir sie hier nicht holen, wird
eine größere Zahl sich umbringen. Wir haben schon einige Fälle. Und wir haben hier
kein Gesundheitsversorgungssystem, das in der Lage ist, diese Frauen so zu
betreuen, wie es notwendig ist. Die Psychotraumatologie hat hier noch nicht Fuß
gefasst. Wir haben in Dohuk ein oder zwei Psychotherapeuten, bei etwa fast jetzt,
wenn wir die Flüchtlinge mitberechnen, eine Million Menschen.
Erzählerin:
Am Ende entscheiden drei Menschen gemeinsam, wer mitfliegen darf: Der
Psychologe Kizilhan, Michael Blume als der Leiter der Delegation und eine
Mitarbeiterin der Visastelle.
Atmo: aus Beratung Kizilhan, Konsultation
Erzählerin:
Jan Ilhan Kizilhan ist Jeside, er spricht dieselbe Sprache wie die Frauen. In kurzen
Abständen nehmen sie vor ihm Platz, das geht von morgens bis abends. Erzählen
von Mord, Vergewaltigung, Sklaverei und anderen Verbrechen. Alle, die zu ihm
kommen, hoffen auf sein „Ja“. Auch Hanan Qassm hofft.
Atmo: aus Beratung Kizilhan, Konsultation, kurze Wechsel zwischen Fragen und
Antworten
O-Ton Jan Ilhan Kizilhan:
Also, Appetit ist gut, Wasser trinkt sie ausreichend. Sie hat Ein- und
Durchschlafstörung und Alpträume. Das sind vegetative Dinge, die ich frage.
Atmo: aus Beratung Kizilhan, Konsultation, Gespräch Kizilhan/ Hanan
O-Ton Jan Ilhan Kizilhan:
Keine Medikamente, kein Arztbesuch. Sie weine oft, grüble viel nach, denke oft nach,
was wohl mit ihren Eltern und ihren Geschwistern ist, die noch bei der IS sind. Sie
erinnere sich ständig an ihre eigenen Erlebnisse, die sie bei der IS erlebt habe. Sonst
versuche sie, im Alltag einigermaßen gut zurecht zu kommen.
Atmo: aus Beratung Kizilhan, Konsultation
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Erzählerin:
Hanan Qassm wirkt zerbrechlich, eine kleine schlanke Frau Anfang 30. Die Haare
unter dem braunen Kopftuch sind leicht rötlich. Die meiste Zeit starrt Hanan nach
unten, knibbelt an der Kante des Tisches.
O-Ton Hanan Qassm:
Übersetzerin 2:
Am 13. August. kam der IS mittags, etwa zur Essenszeit, nach Kocho. Die
Milizionäre sagten, wir sollten unsere Ausweise mitbringen, sie würden mit uns in die
Berge gehen. Sie gingen von Haus zu Haus, zerrten uns alle nach draußen.
Niemanden ließen sie zurück. Dann brachten sie uns alle in eine Schule, Männer und
Frauen. Die Frauen kamen in das oberste Stockwerk, die Männer in das untere.
Erzählerin:
Auch Khudeda Ali und ihr Mann waren dabei – alle Bewohner des Dorfes. Nur
Khudedas Söhne entkamen: zufällig waren die beiden Jungen an diesem Tag bei
einem Onkel in einem anderen Dorf.
O-Ton Hanan Qassm:
Übersetzerin 2:
Die Männer vom IS brachten eine Tasche und sagten: Tut alles da rein, was wertvoll
ist: Geld, Handys, Gold. Wagt bloß nicht, etwas für Euch zu behalten! Weil wir Angst
hatten, haben wir alles in die Tasche getan. Danach wurden die Männer
weggebracht. Was dann geschah, haben wir zwar nicht aus der Nähe gesehen, wir
haben ja nur aus den Fenstern der Schule geschaut. Aber wir sahen Waffen und
hörten Schüsse. Wir konnten uns denken, dass sie gerade unsere Männer
erschießen. Wir haben unsere Männer nicht wiedergesehen.
O-Ton Jan Ilhan Kizilhan:
Sie seien dann mit den anderen Frauen, Kindern und Jugendlichen nach Solagh
gebracht worden, wo sie dann dort aufgeteilt worden sind. In Gruppen: Kinder, ältere
Frauen, unverheiratete Frauen, und Frauen mit Kindern. Sie hat dann das Kind einer
ihrer Verwandten an sich gerissen.
Ja, das Mädchen heißt Amani, ist neun Jahre alt. Sie hat gesagt, das ist mein Kind,
ich bin verheiratet. Deswegen hat man sie nicht bei den unverheirateten Frauen
gebracht.
Erzählerin:
Zusammen mit Amani wird Hanan in den kommenden Monaten immer wieder in
andere Gefängnisse, andere Dörfer und Städte gebracht. Schließlich nach Raqqa in
Syrien, Hochburg des selbst ernannten Islamischen Staates.
O-Ton Jan Ilhan Kizilhan:
Sie wurde dann an einen dieser Männer verkauft, ihre Schwester war auch noch
dabei, und zwei andere junge Frauen und eine ältere Jesidin. Sie wurde dann von
einem Abu Ibrahim aus Jordanien verkauft, und der hat sie dann in der Zeit, sie blieb
etwa neun Monate bei ihm, jeden Tag vergewaltigt. Sie wurde immer wieder
geschlagen, geprügelt, und manchmal mehrere Tage, weil sie sich wehrte, gefesselt,
eingesperrt. Irgendwann sei er ihrer überdrüssig geworden und habe sie dann einem
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aus Saudi Arabien verkauft, der genau das Gleiche mit ihr gemacht hat. Und sie
später an einen Jemeniten verkaufte, bei dem sie auch zwei Monate blieb.
Atmo: aus Beratung Kizilhan, Konsultation, Kizilhan an Hanan, Hanan antwortet
Erzählerin:
Ein Jahr lang war Hanan in Gefangenschaft des IS oder anderer Peiniger, dann erst
konnte ein Onkel sie zurückkaufen, um sie so zu befreien.
O-Ton Jan Ilhan Kizilhan:
Sie hat immer wieder Suizidgedanken dort gehabt und wollte sich eigentlich
umbringen. Diejenige, die sie am Leben gehalten hat, war die neunjährige Amina,
weil sie hat sich gesagt, wenn ich mich umbringe ist niemand da, der sie schützen
kann. Das war der einzige Grund.
Atmo: aus Beratung Kizilhan, Konsultation, Kizilhan an Hanan, Hanan antwortet
O-Ton Jan Ilhan Kizilhan:
Aktuell keine Suizidalität. Sie macht mir auch den Eindruck, dass sie es nicht macht,
sonst müsste ich dementsprechend auch reagieren. Sie hat eine posttraumatische
Belastungsstörung. Sie ist jung und sie ist ausreichend introspektionsfähig, dass sie
auch tatsächlich von einer Behandlung in Deutschland profitieren würde. Also erfüllt
sie die Kriterien des Projektes und ich werde jetzt empfehlen, sie in das
Sonderkontingent aufzunehmen.
Musik
Erzählerin:
Für die Aufnahme in das Sonderkontingent gibt es drei Kriterien. Die ersten beiden:
Die Frauen oder Mädchen müssen in der Gefangenschaft des IS gewesen und
dadurch traumatisiert sein.
O-Ton Jan Ilhan Kizilhan:
Ich hab etwa über 830 Personen bisher gesehen, etwa 90% erfüllen die Kriterien
einer posttraumatischen Belastungsstörung, das heißt, sie haben auf jeden Fall
mindestens ein, wenn nicht mehr als ein Ereignis, das außerhalb ihrer normalen
Lebenserfahrung ist. Das ist IS- Haft, das ist Geiselhaft, das ist Folter, das ist
Vergewaltigung, das ist Beobachten von Hinrichtungen eigener Familienmitgliedern,
bis zu Drogeneinnahme und Flucht von mehreren Tagen und Wochen, barfuß, dass
sie blutende Füße haben. Das ist ein Ereignis oder Ereignisse, die außerhalb
jeglicher normalen, geistigen und physischen Erfahrungen sind. Das führt letztendlich
dazu, dass das Gedächtnis sich dann so sehr auf dieses Ereignis fixiert, dass es
nichts anderes erinnert, nichts anderes erlebt.
Erzählerin:
Viele leiden unter diffusen Ängsten, plötzlicher Panik. Und werden von ihren
Erinnerungen beherrscht. Plötzlich erleben sie die grauenhafte Situation so plastisch
wieder, als sei das Geschehen in diesem Moment nicht Erinnerung, sondern real.
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O-Ton Jan Ilhan Kizilhan:
Sie können ein arabisches Wort hören, plötzlich ist das Bild der Vergewaltigung da,
oder sie riechen Fleisch und riechen den Schweiß des Mannes, der sie gerade
vergewaltigt und brechen dann zusammen oder kriegen sogenannte dissoziative
Anfälle, indem sie, so sehr sie diese Erlebnisse in Bilder haben, dass sie das nicht
ertragen können und dann in Ohnmacht fallen. Und manchmal während dieser
Ohnmachtsanfälle, die bis zu einer halben Stunde, eine Stunde dauern können,
diese Vergewaltigung eins zu eins erleben. Das Gedächtnis macht keine
Unterscheidung zwischen träumen und nicht träumen.
Erzählerin:
Das dritte Kriterium dafür, ob die Frauen mit dem humanitären Sonderkontingent
nach Baden-Württemberg dürfen, ist nicht weniger wichtig, als die beiden ersten:
Ihnen muss in Deutschland voraussichtlich zu helfen sein. Unter anderem deshalb
werden vor allem junge Frauen aufgenommen: den älteren fiele es noch schwerer,
sich in der fremden Welt einzufinden, eine neue Sprache zu lernen. Ihnen wäre
voraussichtlich auch in Deutschland nicht zu helfen. Bei den jüngeren und vor allem
bei den Kindern gibt es eine Chance.
Musik
Atmo:
ttern im Arztbrief, Khudeda und Dolmetscherin reden, blättern, Ticken
einer Uhr
Erzählerin:
Wenige Wochen nach ihrer Ankunft in Baden-Württemberg muss Khudeda Ali ins
Krankenhaus. Sie hat eine schwere Bronchitis, verliert häufig das Bewusstsein.
O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
Ich habe eine Krankheit im Körper, da wird etwas mal dicker und mal dünner. Wenn
ich viel Stress habe und es nicht mehr aushalte, wird irgendetwas im Körper wie ein
Ball. Die Ärzte haben immer noch nicht rausgekriegt, wie sie das entfernen können.
Wenn ich aggressiv bin oder ein Gedanke in meinem Kopf sitzt, wird dieser Ball
jedes Mal dick. Von außen wird er immer rot.
Erzählerin:
Ihre beiden Söhne bleiben in den ersten Tagen bei einer Bekannten, dann kommen
ihre Schwägerin und ihre Schwester aus Norddeutschland, um Khudeda
beizustehen. Und um die Kinder zu betreuen.
O-Ton Ronak Ali:
Ich erzähle immer für meine Schwester: Du bist in Sicherheit, du musst keine Angst
haben - man merkt, hat sie immer noch Angst. Wenn Du richtig in die Augen guckst,
Du weißt das. Meine Schwester sagt bei mir: Du hast das nicht gesehen! Du kennst
das nicht. Du weißt nicht, was ist in mein Kopf. Wenn ich schlafe, wenn ich meine
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Augen zu – ich vergesse die Männer nicht. Ich vergesse die Frauen nicht. Ich
vergesse die Kinder, die toten Kinder nicht.
O-Ton Ronak Ali:
Manchmal sie ruft mich an um zwei Uhr nachts und sie weint und sie erzählt über
seinen Mann und sie erzählt über ihre Kinder und was hat sie selber gesehen. Sie
war acht Monate auch bei IS, das ist auch nicht einfach. Ich will auch meiner
Schwester etwas helfen, mit die beiden Kinder, die braucht mich, sie braucht auch
Therapie, aber wenn ich bin da, ich bin sicher, ich helfe besser als Therapie, auch.
Atmo: ruhige Straße, Vögel
O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
Als ich im Krankenhaus war, ging es mir sehr schlecht. Die Ärzte haben mitgekriegt,
dass ich gleich viel besser atmen konnte, als meine Schwester und meine
Schwägerin da waren. Die Ärzte wussten nicht mehr, was sie mit mir machen sollten.
Das einzige wirksame Medikament war meine Familie. Die Ärzte wollten mich noch
da behalten und weiter behandeln, aber wegen meiner Kinder konnte ich nicht
bleiben. Deshalb habe ich unterschrieben, dass sie mich auf meine eigene
Verantwortung entlassen sollen.
Atmo:
ßung, Autorin: Schön, sie zu sehen! Tür zu, Hallo... Stimmen kurdisch,
Kind Mami, Schritte, laufen, auch Mutter spricht, Fernseher läuft leise...
Erzählerin:
Etwas angespannt sitzt Khudeda Ali auf dem Sofa, sie ist in dieser Wohnung in einer
norddeutschen Kleinstadt zu Besuch.
Atmo weiter
Erzählerin:
Im Fernsehen läuft ein irakischer Sender, Kinder laufen hin und her: Khudedas
Söhne Sherko und Kamal mit ihren drei Cousins. Seit zehn Tagen ist Khudeda hier,
beim Bruder ihres Mannes und ihrer Schwägerin. In Süddeutschland hielt sie es nicht
mehr aus.
O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
Bevor ich nach Deutschland kam, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Entfernung
zu meiner Familie so groß ist. Von Anfang an wollte ich am liebsten bei ihnen sein,
damit man sich gegenseitig helfen kann. Damit ich wieder ein normales Leben führen
kann und nicht nur sage: Ich bin in Deutschland, aber ich kann hier nichts machen.
Atmo: Wohnzimmer irakisches Fernsehen; jemand saugt noch rasch, Fernseher
11
Erzählerin:
Khudedas Schwägerin Shirin Jaza saugt noch schnell durch, sie erwartet noch mehr
Besuch: Khudedas Schwester wird aus Oldenburg kommen. Dort gibt es seit Jahren
eine große jesidische Gemeinde. Khudedas Schwester und ihre Schwägerin wohnen
beide seit rund sechs Jahren in Deutschland.
O-Ton Shirin Jaza:
Übersetzerin 3:
Wir fühlen uns hier sehr wohl. Wir bekommen von den Deutschen sehr viel Hilfe.
Meine Kinder gehen zur Schule, damit sie die Sprache lernen und in ihrem Leben
etwas erreichen. In Deutschland gibt es Freiheit, auch wir haben unsere Freiheit. Das
haben wir als Jesiden nirgendwo anders. Seitdem ich hier bin, habe ich mit
niemandem ein Problem gehabt.
Atmo weiter
Erzählerin:
Sie kam, weil ihr Mann schwer krank war und im Irak nicht behandelt werden konnte.
Längst geht es ihm besser, er hat Arbeit. Ihre Wohnung sei nicht groß, sagt Shirin,
aber Khudeda sei mit ihren Kindern jederzeit willkommen. Sie sei schwer krank,
brauche sehr viel Hilfe.
O-Ton Shirin Jaza:
Übersetzerin 3:
Seit zwei Jahren kippt sie immer wieder um, dann ist sie lange ohnmächtig. In
anderen Momenten schlägt sie mit ihren Händen gegen die Wand, auf den Tisch.
Noch nicht einmal die Ärzte können ihr helfen. Sie war im Krankenhaus, da haben
das die Ärzte selbst miterlebt. Wenn niemand von uns da ist, gibt es keinen, der sie
versteht. Auch ihre Betreuerin kann sich nicht in sie reinversetzen. Sie braucht rund
um die Uhr jemanden in ihrer Nähe, nicht nur für drei oder vier Stunden am Tag.
O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
Wir sind ja hierher geflohen. Aber hier gibt es auch viele Situationen, in denen wir
uns sehr schlecht fühlen. Wenn ein Dolmetscher zum Beispiel mit mir Arabisch
spricht, halte ich das kaum aus. Weil das die Sprache der Männer ist, die mir das
alles angetan haben. Wenn ich Arabisch höre, kommt alles wieder hoch. Diese
Sprache hat mein Leben kaputt gemacht. Und wenn ich noch mal ins Krankenhaus
muss, wie neulich – wer passt dann auf meine Kinder auf? Diese Sorge macht mich
am meisten fertig. Wenn nachts etwas passiert – bei wem soll ich klopfen? Aber
wenn ich bei meinem Schwager und meiner Schwägerin wäre, könnte ich mich
langsam in Sicherheit fühlen, weil jemand da ist, der mir hilft. Was mache ich ohne
sie, wenn in Deutschland etwas passiert, was ich nicht hoffe? Wenn dieselben Leute,
die uns das im Irak angetan haben, hierher kommen und hier die gleichen
Verbrechen begehen? Wohin könnten wir dann noch fliehen?
Atmo: im Kinderzimmer, fängt an mit Khudeda, Spielgeräusche – Würfel auf
Brettspiel
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Erzählerin:
Im Kinderzimmer sitzen die fünf Jungen zusammen, beschäftigt mit einem
Würfelspiel, Autos liegen herum. Auf dem Boden ein großer Teppich mit Straßen,
Häusern, Verkehrsschildern – so lernen sie das Verhalten auf der Straße.
O-Ton Khudeda Ali,:
Übersetzerin 1:
Meine Kinder sind oft bis vier Uhr morgens wach. Sie fragen nach ihrem Vater, ihrem
Onkel, ihrer restlichen Familie und warum wir alleine sind. Warum sie nicht zu ihrem
Onkel können. Sie haben meistens Angst.
Atmo: Kinderzimmer
Erzählerin:
Seien Onkel, Tante und Cousins in der Nähe, gehe es ihnen besser. Deshalb hat
Khudeda die beiden bisher weder im Kindergarten, noch in der Schule angemeldet:
In Baden-Württemberg will sie auf keinen Fall bleiben und ihre Söhne erst in
Norddeutschland anmelden. Sie glaubt, ihre Bleibe für die nächsten Jahre noch nicht
gefunden zu haben. Deshalb hat sie auch noch keine Therapie angefangen. Selbst
ihre Betreuerinnen habe sie bisher kaum gesehen.
O-Ton Ronak Ali:
Ich will etwas machen, ob sie bei mir kommt. Sie ist krank, sie braucht mich,
meine Eltern sind in Irak, meine Mutter ruft mich auch jeden Tag: „Passt Du auf
Deine Schwester!“ Ich weiß, sie ist krank, sie hat Angst immer noch. Natürlich sie hat
mit Liebe geheiratet auch. Und sie weiß der Mann ist jetzt tot. Sie hat alles gesehen.
Sie vergisst nicht. Beispiel wenn jetzt meine Kinder sagen würden: „Wo ist mein
Papa?“ Sie weint einfach. Diese Punkt muss man immer beachten, immer von Liebe
so nicht viel erzählen. Ein Mal sie hat mir erzählt: „Manchmal ich überlege einfach, in
Bahnhof gehen und runter, vor den Zug. Ich will mich tot“ Aber manchmal sie sagt
mir: „Nur wegen meinen Kindern, ich lebe nur wegen meinen Kindern. Weil meine
Liebe ist weg. Alles weg.“
O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
In Deutschland geht es mir besser. Weil es so anders ist als der Irak. Aber wir haben
Angst in unserer Seele, wenn wir allein sind. Die Kinder und ich. Deutschland wird für
uns immer anders sein als der Irak, weil es hier Sicherheit gibt. Wenn ich hier noch
ebenso viel Angst hätte wie im Irak, hätte ich nicht kommen müssen.
Erzählerin:
Die Familie versucht alles, damit Khudeda mit ihren Söhnen zu ihrem Schwager
ziehen darf. Zwar lebt sie in Süddeutschland mit zwei Schwägerinnen zusammen,
aber das ist für sie nicht dasselbe. Die jesidische Kultur ist stark patriarchal, Khudeda
braucht offenbar einen männlichen Verwandten in ihrer Nähe, damit sie sich etwas
sicherer fühlt. Aber Khudeda darf ihren Wohnort nicht verlassen. Sie hat im Nordirak
unterschrieben, dass sie sich an eine Wohnsitzauflage hält, Bedingung für die
Aufnahme in das Sonderkontingent. Solange das Land für sie zahlt, muss sie
13
deshalb in Baden-Württemberg bleiben. Längstens drei Jahre, dann endet das
Projekt und damit die besondere Unterstützung.
O-Ton Michael Blume:
Es ist tatsächlich so, dass zwei unterschiedliche Modi der Regeln aufeinander treffen.
Wir haben im Irak eine Verhandlungsethik, das heißt man kann eigentlich über alles
sprechen und verhandeln und die geschriebenen Regeln haben nicht so eine große
Bedeutung, und in Deutschland haben wir eine Institutionenethik, wo die gleichen
Regeln für alle gelten. Mit jeder Ausnahme, die man macht, stehen dann natürlich
auch wieder fünf andere da und sagen: ja für die habt ihr eine Ausnahme gemacht,
jetzt will ich die auch.
Erzählerin:
Während viele Frauen aus dem Sonderkontingent näher zu ihren Familien wollen,
äußern nur wenige den Wunsch nach Psychotherapie. Warum das so ist, kann am
ehesten Jürgen Bengel in Freiburg beantworten, er leitet dort das psychologische
Institut der Universität.
O-Ton Jürgen Bengel:
Im Moment ist es so, dass von den ca. 80 Frauen, die in Freiburg sind, acht in
psychotherapeutischer Versorgung sind. Ich hätte gedacht, dass wir eher so mit 20,
25 Frauen, also rund einem Viertel, jetzt in psychotherapeutischem Kontakt sind,
sehe das aber auch so, dass zu Beginn, wenn die Frauen ankommen, andere Dinge
als die psychische Symptomatik im Vordergrund stehen. Also im Alltag sich zurecht
finden, zuerst einmal ankommen, sich orientieren.
Erzählerin:
Jürgen Bengel und seine Mitarbeiter betreuen schon lange viele Patienten aus
anderen Kulturen, Flüchtlinge und Migranten.
O-Ton Jürgen Bengel:
Einerseits haben wir uns mit der Kultur vertraut gemacht, da hat uns der Koordinator
des Projektes Herr Kizilhan geholfen, indem er vor Ort kam und uns in einem
Workshop allgemein, alle Akteure informiert hat, und dann haben wir noch
workshops speziell für die Psychotherapeuten gemacht. Sowohl im Bereich der
Kultur als auch im Bereich des kultursensiblen Vorgehens in der Psychotherapie.
Erzählerin:
Das Hauptproblem: Es gibt viel zu wenige Dolmetscher, die Kurdisch oder
Kumandschi sprechen, die Sprache der Jesiden. Und von den wenigen ist kaum
einer mit therapeutischer Arbeit vertraut.
O-Ton Jürgen Bengel:
Das muss man trainieren, nicht jeder Psychotherapeut kann das aufgrund seiner
Ausbildung. Man muss aber auch die Dolmetscherinnen trainieren, dass sie sich
wirklich als Dolmetscherinnen und nicht als aktiv im Therapieprozess begreifen.
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Erzählerin:
Dafür habe das Land ausreichend Geld und Unterstützung gegeben – sofern das
angesichts der äußerst knappen Zeit vor dem Beginn des Projekts überhaupt möglich
war.
O-Ton Jürgen Bengel:
Wenn die Frauen sagen: ja, das kann ich mir vorstellen, das versuchen wir, dann ist
die psychotherapeutische Versorgung auch nicht viel anders, als bei anderen
Patienten. Mit der Besonderheit, dass eine dritte Person anwesend ist, der
Dolmetscher oder die Dolmetscherin.
Musik
Atmo: auf dem Weg zur Wohngruppe, Vögel, etwas Verkehr
Erzählerin:
Mittlerweile ist es Frühling geworden. Die Obstbäume blühen, Hügelketten stehen in
weiß. Sonst sattes Grün, bis zum Horizont. In den Flüchtlingslagern rund um Dohuk
gab es nie Grün. Alles war braun oder grau, staubig. Weiß waren nur die Zelte in den
Lagern.
Atmo: Schritte Gang, Hanan schließt ihr Zimmer auf, Tür auf
Erzählerin:
In Hanan Qassms Zimmer stehen zwei Betten, beide bezogen, dabei wohnt Hanan
allein. Es gibt keine Bilder, keine persönlichen Gegenstände. Nur drei Stofftiere, die
auf der Fensterbank stehen: zwei Hunde, ein Elefant.
Unter den Betten liegen zwei Koffer, einer davon gehört ihrer Schwester. Die kam
etwas später als Hanan auch mit dem Sonderkontingent nach Deutschland, lebt aber
etwa achtzig Kilometer entfernt.
O-Ton Hanan Qassm:
Übersetzerin 2:
Ein Mal war sie hier, durfte aber nicht übernachten.
Die Trennung von ihr fällt mir sehr schwer. Ich war ja ein Jahr lang beim IS, sie war
neun Monate in Gefangenschaft. Wir waren dort nicht zusammen, aber wir kamen
ungefähr zur gleichen Zeit frei. Danach haben wir drei Monate zusammen gelebt,
bevor ich hierher kam. Seitdem habe ich sie nur ein Mal wiedergesehen. Wir würden
gerne zusammen wohnen, aber das ging leider nicht. Ich vermisse sie sehr.
O-Ton Andrea Müller:
Ich bin hier die Sozialbetreuerin im Haus und mache alles, was ansteht mit und für
die Familien.
Erzählerin:
Hanan wohnt mit hundert Frauen und Kindern zusammen. Auch ihrer Stiefmutter und
deren drei Kindern.
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O-Ton Andrea Müller:
Wir sind drei von der Sozialbetreuung, davon ist eine muttersprachlich, und dann
haben wir noch zwei Krankenschwestern hier im Team, die für das
Gesundheitswesen zuständig sind.
Atmo: Verteilen Essen im Zimmer
Erzählerin:
Im Zimmer von Hanans Stiefmutter gibt es einen Vorratsschrank, Teller, Töpfe und
Geschirr. Zum Essen geht Hanan zu ihrer Familie, auch abends sitzen sie häufig
zusammen. Aber immer wieder will Hanan allein sein. Dann geht sie in ihr Zimmer,
liegt auf dem Bett und grübelt.
O-Ton Hanan Qassm:
Übersetzerin 2:
Ich muss ständig daran denken, was der IS uns angetan hat. An die Angst, die wir
erlebt haben. Die Verwandten, die sie getötet haben. Die nicht mehr da sind. Wenn
es mir so geht, will ich nur alleine sein. Das tut mir dann gut. Wenn ich für mich bin
und weine.
O-Ton Andrea Müller:
Im Irak gibt es kaum Therapeuten. Hier gibt es Therapeuten, aber das ist wohl noch
ein langer Weg. Bis zum Verständnis der Frauen, was ne Therapie bewirken kann.
O-Ton Hanan Qassm:
Übersetzerin 2:
Zum Psychologen bin ich noch nicht gegangen. Ich will nicht darüber reden, was mit
mir passiert ist. Aber ich bin bei vielen anderen Ärzten gewesen.
O-Ton Andrea Müller:
Das Trauma bei den Frauen äußert sich durch den körperlichen Schmerz. Und der
soll behoben werden. Darum der Wunsch nach Arztterminen. Der Wunsch nach einer
Gesprächstherapie ist so gut wie gar nicht vorhanden. Nur bei ganz, ganz wenigen
Frauen, die das angefangen haben. Auch nicht nach ner Maltherapie oder was
Gestalterischem – es äußert sich über den körperlichen Schmerz, und: Arzt!
O-Ton Hanan Qassm:
Übersetzerin 2:
Im Irak sind noch mein Vater, meine Mutter, meine Brüder und meine Schwester.
Meine Schwester ist vor ein paar Tagen aus der Gefangenschaft des IS
freigekommen. Aber auf dem Weg nach Dohuk ist sie auf eine Landmine getreten,
die dann explodiert ist. Sie hat schlimme Verbrennungen, sie ist jetzt im
Krankenhaus. Im Gesicht ist sie ganz schlimm entstellt.
Erzählerin:
In der Wohngruppe tragen viele Frauen schwarz, sie trauern um ihren Mann oder
andere nahe Verwandte. Hanan ist nicht verheiratet, Hanan trägt braun: einen langen
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Rock, einen braunen Pullover mit einem schwarzen Muster, ein braunes Kopftuch.
Bunte Socken.
O-Ton Hanan Qassm:
Übersetzerin 2:
Das Problem ist, dass wir noch sehr viele Angehörige und Bekannte in
Gefangenschaft haben. Wir wissen ja noch, wie wir uns damals gefühlt haben und
fragen uns die ganze Zeit: Wie halten die das aus? Was machen sie jetzt? Wie
überstehen sie das Ganze?
Erzählerin:
Beim Reden arbeitet sie mit ihren Händen, die kräftig sind. Sie hat ein paar halb
vernarbte Wunden, eine kratzt sie beim Sprechen wieder auf. Erzählt die ganze
Geschichte ihrer Gefangenschaft noch einmal. Wie der IS am 13. August 2014 alle
Bewohner von Kocho aus den Häusern zerrte und in die Schule sperrte. Wie die
Männer herausgeholt und vor der Schule erschossen wurden. Wie dann auch die
Frauen weggebracht wurden, in eine andere Stadt. Hanans Hände werden immer
unruhiger, je tiefer sie mit ihrer Geschichte ins Gebiet des selbsternannten
Islamischen Staates kommt. Sie redet konzentriert, ohne auf Fragen zu warten. Man
spürt, dass sie alles wieder vor sich sieht. Sie weint nicht. Redet, als wäre sie vor
Gericht, wolle jedenfalls keinen Fehler machen und alles genau so berichten, wie es
sich zutrug. Wie sie es vor sich sieht.
O-Ton Hanan Qassm:
Übersetzerin 2:
Zuerst wurden die Mädchen ausgesondert. Ich blieb bei meiner Mutter, bei den etwas
älteren Frauen. Wir wussten nicht, wo die Mädchen hingebracht wurden. Wir konnten
einander nicht sehen. Das war ein ganz schlimmer Zustand, es war abends um acht,
wir hatten kein Wasser zum Trinken, es war sehr warm. Es war schrecklich. Bei uns
waren auch ganz kleine Kinder, manche erst zwei oder drei Tage alt. Viele sind
gestorben, weil es kein Essen gab und nichts zu trinken, keine medizinische
Versorgung und keine Möglichkeit sich zu waschen. Der Sohn von meinem Cousin
ist gestorben, und meine Nichte.
Erzählerin:
Hanan faltet die Bündchen von ihren Ärmeln zusammen, bis sie ganz eng am
Handgelenk liegen. Als wollte sie sicher gehen, dass nichts Äußeres hineinschlüpft,
in das Armloch kriecht, sich auf ihren Körper legt. Sie macht alles dicht, aber ihre
Worte sind offen.
O-Ton Hanan Qassm:
Übersetzer 2:
Am nächsten Morgen machten sie die dritte Selektion, sie nahmen die älteren Frauen
mit. Sie wussten nicht wo sie hingebracht werden. Viele haben geweint. Ich habe das
zwar nicht gehört, aber viele sagten, sie hätten wieder Schüsse gehört.
Erzählerin:
Nur in Details geht Hanan nicht, man versteht sie auch so. Die Frauen wurden
mitgenommen. Die Männer haben sich bedient. Viele Male wurden sie in andere
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Gebäude verschleppt. Immer wieder schildert sie qualvolle Enge, Hunger und Durst.
Nacktheit. Als hätten die Männer die Frauen wie Vieh in einem Pferch gehalten und
kamen bisweilen zur Fleischbeschau. Meistens nahmen sie mehrere mit. Manchmal
guckten sie nur und lachten, machten die Frauen zum Gespött. Das jüngste
Mädchen, von dem Hanan erzählt, dass es mitgenommen wurde, war 11.
O-Ton Hanan Qassm:
Übersetzerin 2:
Wir hatten immer Panik. Wir hätten uns am liebsten irgendwo verkrochen. Wir hatten
jeden Tag diese Angst.
Musik
O-Ton Andrea Müller:
Wir haben danach geschaut, dass die Kinder alle beschult werden, dass die Frauen
in Deutschkurse kommen, dass die Frauen eingekleidet werden, und die Kinder. Wir
haben eine Kleiderkammer im Haus und ein Heer von Ehrenamtlichen, die uns
zuspielen, die die Kinder auch mit in die Vereine nehmen, damit wir nicht nur in
unserem kleinen Mikrokosmos leben.
Atmo: Kochen, Stimmen, dann anbraten Zwiebeln, Stimme nah, etwas wird gehackt.
Erzählerin:
Aus dem Haus geht Hanan fast nie. Über die nächsten Discounter ist sie bisher kaum
hinausgekommen. Immer wieder versuchen die Sozialbetreuerinnen, die Frauen vor
die Tür und ins deutsche Leben zu locken.
O-Ton Andrea Müller:
Ja, das ist die Schwierigkeit, dass es von den Frauen oftmals gar nicht so gewünscht
ist, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Sie wollen hier sein, im geschützten
Bereich. Der Großteil des Lebens spielt sich hier im und ums Haus ab, und das ist
klar, da spielen wir dann auch eine große Rolle, weil wir hier vor Ort sind.
Atmo: Mittagessen, Essen auf Teller etc, Klappern Besteck
Erzählerin:
Hanan und ihre Stiefschwestern decken für das Mittagessen. Sie breiten die Speisen
auf einer Decke aus, die auf dem Boden liegt, so wie sie das zu Hause machen. Es
gibt Huhn und Reis, Auberginen und Zucchini, Weizengrütze, Fladenbrot. Die
Sozialbetreuerin kommt zufällig dazu, wird sofort zum Essen eingeladen.
Atmo: Essen mit Sozialbetreuerin
Schwäbische Stimme: Machst Du mir mal ein Stück Brot ab? Kurdische Stimme. Du
hast ja heute wieder gekocht! Wer hat denn gekocht? Antwort teils kurdisch... Aha...
nach der Schule? Reden durcheinander: Madrassa sehr, sehr gut, Schule.
Essgeräusche, kurdische Gespräche, Geräusch Löffeln aus Porzellan
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Erzählerin:
Hanans Augen leuchten auf, als sie die Sozialbetreuerin sieht. Auch ihre
Stiefschwestern strahlen, ebenso ihre Stiefmutter.
Atmo: Essen mit Sozialbetreuerin. Alle Lachen. Kurdisch, Sprachübungen
Wochentage
Erzählerin:
Die Betreuerin sei für sie wie Vater und Mutter. Dann erzählen sie, wie es im
Deutschkurs war, demonstrieren ein bisschen, was sie gelernt haben – zum Beispiel
die Wochentage. Auch Hanan lacht, ist gut gelaunt. Wirkt unbeschwert, zumindest
während dieser Minuten.
O-Ton Hanan Qassm:
Übersetzerin 2:
Solange wir hier sind, ist das unser Zuhause. Ein anderes haben wir nicht. Natürlich
bin ich hier fremd, aber ich fühle mich hier sehr aufgenommen. Die Sozialbetreuerin
und die Dolmetscherin und alle anderen sorgen sich sehr um mich, sie sind
sozusagen meine Familie. Trotzdem werden unsere Erinnerungen bleiben. Wir
werden immer darüber nachgrübeln, was sie mit uns gemacht haben. So lange es
den IS gibt, werden diese Gedanken nicht verschwinden.
Musik
Erzählerin:
Inzwischen sind alle Frauen aus dem Sonderkontingent in Deutschland – bei einigen
dauerte es etwas länger, etwa weil sie im Nordirak noch Krankheiten auskurieren
mussten.
O-Ton Michael Blume:
Die 1100 Frauen und Kinder sind in Baden-Württemberg angekommen. Und es ist
tatsächlich erfreulich zu sehen, dass alle leben, dass wir keine weiteren Selbstmorde
hatten, wie es sie im Irak häufig gegeben hat, sondern dass sie sich stabilisiert
haben.
Atmo: Ankunft Unterkunft, Türdrücker, Stimmen, Kinder
Erzählerin:
Etwa 50 Kilometer von Hanan Qassm entfernt wohnt jetzt Khudeda Ali. Im Juli 2016
ist sie schon seit einigen Monaten wieder in Baden-Württemberg, nicht mehr bei
ihrem Schwager und ihrer Schwägerin in Norddeutschland. Dort wäre sie zwar gerne
geblieben, hat aber schließlich eingesehen, dass sie zurück muss. Grund ist die so
genannte Wohnsitzauflage, die für Asylbewerber in Deutschland gilt. Und auch für
die traumatisierten Flüchtlinge aus dem Sonderkontingent.
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O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
Wenn ich bei meiner Familie sein könnte, wäre das besser für mich. Auch für meine
Kinder, sie hätten dann wenigstens ihren Onkel bei sich. Aber ich muss mich damit
abfinden, dass ich drei Jahre lang hier bleiben muss. Mein größtes Problem ist die
Wohnung. Wir haben viel zu wenig Platz.
Atmo: Bewohner im Flur Unterkunft
Erzählerin:
Khudeda Ali teilt sich die Wohnung mit vier Frauen und zehn Kindern. Sie zeigt den
Raum, in dem sie schläft. Ein großes Bett, das sie mit ihren Söhnen teilt, nimmt den
meisten Platz ein. Außer dem Bett ist Raum für Spinde, auf denen Koffer und Decken
liegen. An der Wand lehnen Matratzen, die gehören anderen Frauen. Nachts werden
sie in deren Zimmern auf den Boden gelegt.
O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
Es geht meiner Seele nicht besser. Unsere Betreuerinnen versuchen alles, damit wir
ein bisschen vergessen. Sie gehen mit uns in Cafés oder spazieren. Wir sind
dankbar für diese Versuche, aber wir können nicht vergessen, was wir erlebt haben.
Wir haben nicht nur ein oder zwei furchtbare Erlebnisse, sondern viele. Das ist
schwer für uns.
Erzählerin:
Khudeda Ali bemüht sich, Deutsch zu lernen, hat in der Woche mehrmals Unterricht.
Zu den Ämtern geht sie inzwischen alleine, schlägt sich durch.
Musik
O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
Die Betreuerinnen haben für mich mal einen Termin bei einem Therapeuten
gemacht, aber ich bin nicht hingegangen. Dann haben sie versucht, den
Therapeuten zu mir zu bringen, damit ich mit ihm rede. Jetzt habe ich zwei Mal in der
Woche Therapie, ein Mal in der Gruppe, ein Mal einzeln.
Musik
O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
Es geht mir auf keinen Fall besser. Aber die Ärztin gibt nicht auf. Sie fährt mit mir
zum Beispiel nach Stuttgart, damit ich mehr sehe und vergesse. Alle geben ihr
Bestes. Aber zu vergessen ist zu schwer. Was im Kopf gespeichert ist, geht da nicht
raus.
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Erzählerin:
Immerhin ist sie seit einigen Monaten nicht mehr in Ohnmacht gefallen. Ihr älterer
Sohn Kamal geht in die erste Klasse, der jüngere in den Kindergarten. Sie schlafen
immer noch häufig schlecht, weinen im Schlaf, haben Alpträume, fragen nach ihrem
Vater. Manchmal gehen sie nachmittags zu Freunden nach Hause. Eine Lehrerin
bringt sie dann hin.
O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
Sie denken nicht mehr die ganze Zeit an den Irak. Seitdem sie in die Schule und in
den Kindergarten gehen, sind sie mit der Hälfte ihrer Gedanken dort oder bei ihren
Freunden, mit der anderen Hälfte immer noch im Irak.
Erzählerin:
Seit neun Monaten sind sie in Deutschland. Sherko, der jüngere Sohn, versteht alle
Fragen, tut sich mit den Antworten schwer. Während er redet, spielt er nervös mit
einem Papierchen in seiner Hand.
O-Ton Sherko:
Martin und Niklas und Brug, und (überlegt) Laura ... ist alle deutsch.
Erzählerin:
Er zählt die Namen seiner Freunde auf: Martin, Niklas... Alle seien Deutsche.
Trotzdem gefalle ihm Deutschland nicht. Sherko sagt, er möchte in den Irak.
O-Ton Sherko:
Hmmmm, meine Oma hat gesagt: Nein! Du Kommen! Das – Nein! Nein! Nein!
Erzählerin:
Seine Oma hat offenbar gesagt, er solle in den Irak kommen, vielleicht zu Besuch.
Ihn scheint das zu beschäftigen, aus seiner neuen Umgebung zu reißen. Sein älterer
Bruder Kamal wird die Großeltern in Dohuk besuchen, wenn in Baden-Württemberg
Schulferien sind.
Der neunjährige Kamal hat für seine Zukunft schon einen Plan.
O-Ton Kamal:
Ich möchte deutsch bleiben, aber vor Schule fertig, ich gehe zu Irak. Meine Oma
Kopfschmerzen, und da Schmerzen, da Schmerzen.
Erzählerin:
Er will also in Deutschland bleiben, bis er mit der Schule fertig ist. Dann möchte er in
den Irak zurück, um seiner Oma zu helfen. Und nicht nur seiner Oma – Kamal
möchte Arzt werden.
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O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
Die Deutschen denken immer an unsere Zukunft. Ich denke auch daran: Wenn
meine Kinder eine haben, ist das auch meine Zukunft. Sie haben in neun Monaten
die Sprache gelernt. Darin liegt für mich Zukunft.
Erzählerin:
Michael Blume zieht eine erste Bilanz.
O-Ton Michael Blume:
Das bisherige System der Flüchtlingsaufnahme war: Wir nehmen diejenigen auf, die
stark genug sind, nach Deutschland zu kommen. Das sind dann entweder junge
Männer, oder es sind Familien, die ausreichend Geld haben, um Schlepper zu
bezahlen. Eine Frau mit mehreren Kindern, deren Mann getötet wurde, die vielleicht
traumatisierende Gewalt erfahren hat, die wird keine Chance haben, jemals auch nur
in die Türkei oder nach Europa zu kommen. Und die Frage muss schon erlaubt sein
– und das ist glaube ich etwas, was in Zukunft stärker diskutiert werden sollte – ist
das die richtige Form der Flüchtlingsaufnahme? Oder wäre es nicht besser,
tatsächlich in den Herkunftsländern zu helfen, zu stabilisieren, und in Einzelfällen
humanitäre Aufnahmen zum Beispiel durch Kontingente durchzuführen.
O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
Deutschland ist für mich heute meine Heimat. Aber was ich im Irak erlebt habe,
werde ich auch in tausend Jahren nicht vergessen. Ich bedanke mich bei den
Deutschen dafür, dass ich mich hier zu Hause fühle. Dass ich nicht allein gelassen
bin.
O-Ton Michael Blume:
Wir würden, glaube ich, aus heutiger Sicht nochmal stärker abfragen, was zum
Beispiel Familienverhältnisse sind, oder was Freundschafts-verhältnisse sind.
Schlicht und ergreifend unter Zeitdruck ist es zum Beispiel so, dass Frauen auch
vergessen haben uns zu sagen, ja da gibt es noch eine Tante, die hat auch überlebt
und wir dann erst später festgestellt haben, jetzt sitzen die 200 km voneinander
entfernt und sind in unterschiedlichen Gemeinden untergebracht.
O-Ton Khudeda Ali:
Übersetzerin 1:
Es ist für uns in Deutschland wirklich schwer. Aber hier sind wir frei, und unsere
Kinder haben eine Zukunft. Vor allem sind sie in Sicherheit.
Musik
Sprecher:
Quoten, Zahlen, Traumata.
Jesidische Flüchtlinge in Deutschland
Feature von Bettina Rühl.
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Es sprachen: Abak Safaei-Rad, Lena Drieschner, Sandra Gerling und Marthe Lola
Deutschmann
Ton und Technik:
Johanna Fegert und Andreas Völzing
Regie: Karin Hutzler
Redaktion: Wolfram Wessels
Sie hörten eine Produktion des Südwestrundfunks mit dem Deutschlandfunk 2016.
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