Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Die Grenzen des Erlaubten (Folge 8)
Umweltethik
Warum wir die Natur schützen wollen
Von Dirk Asendorpf
Sendung: Samstag, 17. September 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Detlef Clas
Regie: Günter Maurer
Produktion: SWR 2015
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MANUSKRIPT
Radio Akademie Intro:
Die Grenzen des Erlaubten
Ansage:
Umweltethik – Warum wir die Natur schützen wollen
Von Dirk Asendorpf
Cut 1: Begrüßung durch Hans Dieter Knapp
Ladies and Gentlemen, dear colleagues, it's a real pleasure for me to welcome you at
this Isle of Vilm at the International Academy of Nature Conservation, my name is
Hans Knapp ...
Sprecher:
Hans Dieter Knapp ist in seinem Element. Der groß gewachsene Biologe mit dem
rauschenden weißen Haar empfängt vietnamesische Gäste zu einer Führung durch
„sein“ Paradies. Seit der Gründung im Wendejahr 1990 leitet er die Internationale
Naturschutzakademie auf der kleinen Insel Vilm vor der Südostküste Rügens.
Cut 2: Gruppe läuft durch den Wald, Vögel zwitschern, vietnamesische
Stimmen
Sprecher:
300, 400 Jahre alte Baumriesen säumen den schmalen Pfad, der sich nah am Ufer
rund um die halbe Insel schlängelt. Äste die ab- und Stämme die umfallen bleiben im
Unterholz liegen. Seit 500 Jahren wird die Insel nicht mehr forstwirtschaftlich genutzt,
seit 1936 steht sie unter Naturschutz. Immer wieder geht der Blick vom Steilufer weit
hinaus über die Ostsee, davor dehnt sich ein einsamer Sandstrand. Die Insel Vilm –
zweieinhalb Kilometer lang und 600 Meter breit – ist einer der ganz wenigen Orte in
Deutschland, an denen Wildnis erlebt werden kann.
Cut 3: Hans Dieter Knapp
(Atmo Laubfrosch) – Mit Stille, das wird von Gästen aus Großstädten und
Ballungsräumen mit Erstaunen und Verwunderung wahrgenommen, dass es einen
Ort gibt, an dem nur natürliche Geräusche vorkommen. Und eine andere
Überraschung ist die Dunkelheit der Nacht, die Tiefe des Himmels und des Funkelns
der Sterne, was in Großstädten ja auch kaum mehr möglich ist.
Cut 4: Insel-Atmo bei Sonnenaufgang, Tiergeräusche
Sprecherin:
Wildnis war in der Menschheitsgeschichte über lange Zeit vor allem bedrohlich. Dort
musste mit gefährlichen Tieren, giftigen Pflanzen und plötzlichen Unwettern
gerechnet werden. Die positive Sicht auf ungezähmte Natur und der Wunsch nach
ihrem Schutz sind recht neu und eng mit der Verstädterung verbunden.
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Sprecherin:
Heute ist die Wildnis weitgehend verschwunden, und Umweltschutz ist weltweit zur
Modeforderung geworden. Doch umstritten ist, ob die Natur vor den Menschen oder
für die Menschen geschützt werden soll. Ist ihre Bewahrung ein Wert an sich oder
sollen Tiere, Pflanzen, Mikroben, Landschaften, Meere und Atmosphäre erhalten
bleiben, um als sogenannte Ökosystemdienstleistung nachhaltig, also möglichst
effizient von uns genutzt zu werden? Dürfen wir die Umwelt dafür mit moderner
Technik umfassend nach unseren Vorstellungen gestalten? Schon kursiert der
Begriff vom Anthropozän für die heutige Epoche der Erdgeschichte. Und wie passt
eigentlich unser persönliches Verhalten zu unserer Naturliebe?
Cut 5: Atmo Gruppe, Erläuterung von Hans Dieter Knapp
We have sea eagle as a predator.
How big are they?
Giant, uhhh
One of the largest ...
Sprecher:
Seeadler brüten am äußersten Ende der Insel Vilm, dort ist sie für Menschen
komplett gesperrt. Trotzdem handelt es sich bei der völlig in Ruhe gelassenen Natur
nicht um Wildnis im engeren Sinne. Der Kieler Philosoph und Umweltethiker Konrad
Ott:
Cut 6: Konrad Ott
Man muss unterscheiden zwischen primärer, absoluter Wildnis – das sind Gegenden,
da war noch nie ein Mensch. So etwas gibt es heute praktisch nicht mehr. Dann gibt
es Formen von relativer Wildnis, da waren schon mal Menschen, sie prägen das
Naturgeschehen in diesen Landschaftsräumen aber nicht entscheidend. Dann gibt es
aber natürlich auch sogenannte sekundäre Wildnis. Da zieht sich der Mensch aus
ehemals genutzten Gebieten zurück und überlässt das Gebiet der freien
Naturdynamik. Und dann stellt sich innerhalb Hundert oder 200 Jahren ein Zustand
ein, der dann als sekundäre Wildnis bezeichnet werden kann, obwohl der kundige
Ökologe immer noch Spuren menschlichen Einflusses nachweisen kann.
Sprecherin:
Derartige sekundäre Wildnis gibt es weltweit recht häufig – und nicht nur in
ausgewiesenen Schutzgebieten wie der Insel Vilm. Auch aufgelassene Bergalmen
gehören dazu, überwucherte Terrassenfelder in Südeuropa oder renaturierte Moore
in Nordeuropa. Und sekundäre Wildnis – das erscheint zunächst überraschend –
findet sich auch mitten im brasilianischen Regenwald.
Cut 7: Atmo Bootsmotor startet und tuckert los
Sprecher:
Eine Bootsfahrt auf dem Rio Guamá, einem Nebenfluss des Amazonas. Auf beiden
Seiten des braunen Wassers undurchdringliches Grün – absolute Wildnis, so scheint
es. Doch dann ragt plötzlich ein grob gezimmerter Bootssteg in den Fluss. Ein
Quilombo ist hier im Wald versteckt, eine kleine Siedlung. Ein Trampelpfad führt zu
strohgedeckten Holzhäusern, die sich unter das gewaltige Blätterdach ducken.
Daneben sprießen auf einer kleinen Lichtung üppig grüne Maniokpflanzen. Dünger
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ist nicht nötig, der Boden ist fruchtbar. Terra Preta – Schwarzerde – wird er genannt.
Grobe Schätzungen gehen davon aus, dass zehn Prozent Amazoniens mit dem
humusartigen Material bedeckt sind. Dabei handelt es sich um Hunderte Jahre alte
Überreste von Siedlungsabfällen.
[Die Biologin Dirse Kern leitet eine Wissenschaftlergruppe, die im
nordostbrasilianischen Belém die Zusammensetzung und Herkunft der Schwarzerde
untersucht.
Cut 8: Dirse Kern
Osos, cabelos ... e esteiras, de redes etc.
Übersetzerin:
Knochen, Tierhaare, verschiedene tierische Abfallprodukte, die dafür sorgen, dass
wir chemische Elemente finden wie Magnesium, Phosphor, Kalzium und Kalium. Zink
und Mangan, die auch in hohen Konzentrationen in der Schwarzerde enthalten sind,
stammen offenbar aus Pflanzenresten, von Palmen, Kokosnüssen, Samen, von
allem, was in die Siedlung hineingebracht wurde für die täglichen Aufgaben. Alles,
was bei der Zubereitung des Essens, beim Bau der Häuser, der Dächer, der Möbel,
beim Weben der Hängematten usw. angefallen ist.]
Sprecher:
Schon lange vor Ankunft der ersten Europäer muss die scheinbar so wilde Natur am
Amazonas also besiedelt gewesen sein. Der Agraringenieur Nestor Kämpf:
Cut 9: Nestor Kämpf
As evidencias mostra ... talvez maior do que isso.
Übersetzer:
Große Gebiete des amazonischen Regenwaldes sind offensichtlich gar kein Urwald.
Es ist ein von Menschen beeinflusster Wald, geprägt durch Jahrhunderte land- und
forstwirtschaftlicher Nutzung, die von den europäischen Eroberern jäh unterbrochen
wurde. Konservative Schätzungen gehen von rund sechs Millionen Bewohnern aus,
vielleicht sogar noch mehr.
Cut 10: Atmo Greenpeace-Reklamefilm „Save the Forest“
Wir Affen sind auf den Urwald angewiesen, ohne ihn sterben wir. (Motorsäge) ...,
Sprecherin:
Es gibt viele gute Gründe, den Regenwald zu schützen. Doch um primäre Wildnis,
einen Urwald, von dem auch dieser Reklamefilm einer Umweltorganisation spricht,
handelt es sich keineswegs.
Cut 10 wieder hoch:
Tiere können sich nicht gegen die Urwaldzerstörung wehren. Aber Sie! Unterstützen
Sie Greenpeace im Kampf gegen die Abholzung der letzten Urwälder.
Sprecherin:
Naturschutz ist eine recht neue Idee. Entstanden ist sie nicht etwa im dicht
besiedelten Europa, sondern in den USA. Altgriechische und römische Städte,
mittelalterliche Schlösser und Burgen, klassische Theater und Museen – all das gab
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es in dem noch im 19. Jahrhundert kaum erschlossenen amerikanischen Westen
nicht, wohl aber sehr viel Wildnis.
Cut 11: Konrad Ott
Das ist der Grand Canyon, das sind die Rocky Mountains, das sind die Prairies. Und
man hat eben versucht, Wilderness als ein Identifikationskonzept zu entwickeln und
hat dann auch folgerichtig die ersten National Parks schon Ende des 19.
Jahrhunderts in Yosemite und Yellowstone eingerichtet. Und weil internationale
Naturschutzvereinigungen sehr stark von diesem Wilderness-Gedanken geprägt
waren lange Zeit, hat man Wilderness Protection auch zu einer wesentlichen Leitlinie
des Naturschutzes erklärt und sie hat sich etabliert auch in Europa.
Sprecherin:
Inzwischen haben praktisch alle Staaten der Welt Naturschutzgesetze. Das UNUmweltprogramm UNEP führt seit 1961 eine Liste, darauf stehen derzeit über
200.000 Schutzgebiete in 193 Ländern und internationalen Meeresgebieten. Zwar ist
das Schutzniveau sehr unterschiedlich und wird oft auch nicht ausreichend
kontrolliert. Doch die Ausdehnung ist beeindruckend: über 30 Millionen
Quadratkilometer sind in irgendeiner Weise geschützt, das entspricht der dreifachen
Fläche Europas.
Cut 12: Atmo Demo gegen den Nationalpark Schwarzwald
Sprecher:
Eines der jüngsten Schutzgebiete auf der UNO-Liste ist der Nationalpark
Schwarzwald. Gegen seine Einrichtung zum 1. Januar 2014 gab es erbitterten
Protest. Die Opposition aus CDU und FDP stimmte im Landtag fast geschlossen
dagegen und eine Bürgerinitiative kämpfte unter dem Slogan. „Unsere Heimat darf
keine Wildnis werden“.
Cut 12: wieder hoch
Sprecher:
In dem Konflikt ging es nicht – wie manchmal andernorts – um Einschränkungen für
die Industrie und mögliche Arbeitsplatzverluste. Im Schwarzwald standen sich auf
beiden Seiten erklärte Freunde der Natur gegenüber. Wenn die Region so
schutzwürdig ist, so die Bürgerinitiative, dann haben die Schwarzwaldbewohner ihre
Umwelt ja offenbar über Generationen sehr pfleglich behandelt. Auf einer Anhörung
erklärte der Bad Wildbader Pfarrer Stefan Itzek:
Cut 13: Stefan Itzek
Auch die Gegner des Nationalparks sind Bewahrer der Schöpfung. Sie lieben ihren
Wald und wollen die Artenvielfalt. Die Menschen leben hier in einem beispielhaft
guten Einklang mit ihrem Kulturwald. Auch ein gepflegter und geliebter Kulturwald
trägt zur Bewahrung der Schöpfung bei. (Applaus)
Sprecherin:
Der Umweltethiker Konrad Ott kennt diese Konfliktlinie auch aus anderen
Auseinandersetzungen um Naturschutzgebiete:
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Cut 14: Konrad Ott
Man spricht da von einem Akzeptanzkrater: Also direkt im Gebiet und am Rande des
Gebietes ist der Protest groß, Grund dafür ist das Verbot der stofflichen Nutzung. Die
Leute haben Angst, dass sie keine Beeren mehr sammeln dürfen, dass sie keine
Pilze mehr sammeln dürfen, dass sie nicht mehr angeln dürfen, dass der Tourismus
reglementiert wird usw. usw. Dann sieht man aber auch: Je weiter man außen rum
geht, um so größer wird auch die Zustimmung. Nur direkt da, wo die
Einschränkungen auch spürbar sind, ist in der Regel mit Protest zu rechnen.
Sprecherin:
Wildnis ist nur dann wirklich schön, wenn man ihr nicht im Alltag ausgesetzt ist.
Anwohner von unter Schutz gestellten Mooren können ein Lied davon singen, was es
bedeutet, in direkter Nachbarschaft eines naturnahen Feuchtgebiets zu leben.
Cut 15: Konrad Ott
Man hat immer Angst vor nassen Kellern. Was vielleicht noch schlimmer ist:
Wiedervernässung heißt häufig auch Mückenplage. Und wenn die Leute dann sagen:
Wir können im Sommer nicht mehr auf der Terrasse sitzen, das ist unerträglich, und
dann bedeutet das einen Verlust an Lebensqualität, und dann fragen die Leute
natürlich auch: Warum machst Du da diese Moorwiedervernässung? Und auch der
Tourismus wird nicht gerade gefördert wenn es heißt, das ist im Sommer ein einziges
Mückengebiet. Da kann ich die Leute schon verstehen.
Sprecherin:
Natur Natur sein lassen – dieses Motto hat sich der Nationalpark Bayerischer Wald
gegeben, Deutschlands größtes Wildnisgebiet. Fachleute sprechen in diesem
Zusammenhang von Prozessschutz: Die Abläufe der Natur werden vor jedem
menschlichen Eingriff geschützt – egal, welche Konsequenzen das hat. Bricht eine
Borkenkäferplage aus, lässt man die Bäume sterben. Und wenn es brennt?
Cut 16: Atmo Waldbrand
Sprecherin:
Weltweit drei bis vier Millionen Quadratkilometer Wald und Buschland gehen jedes
Jahr in Flammen auf, das entspricht der zehnfachen Fläche Deutschlands. Oft haben
Menschen das Feuer absichtlich in Gang gesetzt, um mit Brandrodung neue Felder
zu gewinnen oder bestehende mit Asche zu düngen. Doch manchmal setzt auch ein
Blitz die Vegetation auf ganz natürliche Weise in Brand.
Cut 17: Johann Goldammer
Das Feuer hat seinen angestammten Platz auf der Erde. Mutter Erde ist ein
Feuerplanet, das dürfen wir nicht übersehen.
Sprecher:
Johann Goldammer leitet das Global Fire Monitoring Center, eine Datenbank mit Sitz
am Freiburger Flughafen. Im Auftrag der UNO sammelt sie weltweit alle
Informationen über Wildfeuer aus Gegenwart und Vergangenheit.
Cut 18: Johann Goldammer
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Wenn wir in der Evolution zurückschauen und finden beispielsweise in Kohleflözen
Nordamerikas eingebettete Holzkohle – das sind Überbleibsel von
Vegetationsbränden aus prähistorischer Zeit, das geht also bis zu 400 Millionen
Jahre zurück. Oder dann schauen wir in die Jahresringe von Bäumen rein, wo sich
auch Feuersignale eingebrannt haben. Dann wissen wir, dass es diese Brände
immer gegeben hat.
Sprecherin:
Ginge es streng nach den Regeln des Prozessschutzes, dürfte ein Waldbrand
folglich nicht gelöscht werden. Denn das wäre ja ein menschlicher Eingriff in die
natürlichen Abläufe. Doch was ist, wenn das Feuer zum Totalverlust des
Naturschutzgebietes führt? Oder sollte danach unterschieden werden, wie das Feuer
entstand?
Cut 19: Konrad Ott
Natürlich wäre es komisch zu sagen: Wenn der Blitz den Waldbrand verursacht,
dann lassen wir’s mal munter brennen, aber wenn’s ein Zigarettenstummel gewesen
ist, also anthropogen, dann laufen wir sofort und löschen. Das wäre auch irgendwie
kurios. Der Naturschutz ist nicht ohne Widersprüche. Und wenn man einen
Naturschützer eines Widerspruchs überführen will, dann wird man immer fündig. Und
wer möchte, dass es in der Umweltethik immer ganz glatt geht, der hat
wahrscheinlich die Umweltethik nicht wirklich verstanden. Es geht nie glatt auf.
Cut 20: Waldatmo, Vogelgezwitscher
Sprecherin:
Das gilt auch für die Biodiversität, also der Vielfalt der Lebensformen. Sie ist eine
zentrale Voraussetzung für das Überleben von Flora und Fauna in einer Welt, die
sich – derzeit noch zusätzlich angeheizt vom Klimawandel – schnell ändert. Weit
über tausend verschiedene Baumarten finden sich in den Regenwäldern der
Tropengürtel Südamerikas, Afrikas und Asiens, ihr Schutz bewahrt auch diesen
enormen Schatz an Biodiversität. Doch in Europa sinkt die Artenvielfalt, wenn die
Natur sich selbst überlassen bleibt.
Cut 20: Waldatmo kurz hoch
Sprecher:
Hier ist das besonders gut zu sehen. Der Hasbruch, ein Wald vor den Toren
Bremens, besteht aus zwei Teilen: einem bewirtschafteten Nutzwald und einem sich
selbst überlassenen Gehölz, dem sogenannten Urwald. Genau dazwischen liegt der
Hohenbrückner Weg, ein Lieblingsplatz des Revierförsters Jens Meier:
Cut 21: Jens Meier
Auf der rechten Seite haben wir hier den Urwald, seit 150 Jahren unbewirtschafteter
Wald. Und auf der anderen Seite haben wir unseren lichten Eichenwirtschaftswald.
Sprecher:
Eichen brauchen viel Licht. Ohne Unterstützung des Försters würden die bei
Naturfreunden so beliebten Bäume hier gar nicht überleben. [Das ist gut auf der
anderen Seite des Weges zu sehen.]
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Cut 22: Jens Meier
Im Naturwald sehen wir, dass die Eichen von Hainbuchen überwachsen werden und
wirklich umgebracht werden, sie sterben ab und es kommen auch keine neuen
Eichen nach. Man sieht nur Buchen, nur junge Buchen und keine einzige Eiche. D.h.,
wenn wir den Eichenwald erhalten wollen auf über 400 Hektar, müssen wir was tun.
Wir müssen der Eiche helfen, wir müssen Buche entnehmen, wir müssen Hainbuche
entnehmen und wir müssen auch Eiche nachpflanzen, weil von alleine kommt sie
nicht.
Sprecher:
Das Ergebnis der forstwirtschaftlichen Bemühungen ist ein lichter Mischwald, der
viele Vogel- und Insektenarten anzieht. Auch optisch entspricht er viel eher unserem
Idealbild eines schönen Waldes als das düstere Gestrüpp auf der anderen Seite des
Weges.
Cut 23: Atmo Harvester im Wald, Säge
Sprecherin:
Bevor die Menschen begonnen haben, den mitteleuropäischen Wald nach ihren
Bedürfnissen zu verändern, bestand er vor allem aus Buchen. Und in diesen Zustand
würde er ohne Bewirtschaftung nach einigen Hundert Jahren auch wieder
zurückfallen.
Cut 24: Konrad Ott
Wildnis bedeutet nicht automatisch höhere Biodiversität. Sie finden in vielen
Halbkulturformationen eine sehr viel höhere Artenanzahl. Wenn Sie Biodiversität
maximieren müssen, dann brauchen Sie Offenlandgebiete, dann dürfen Sie jetzt hier
nicht der Waldentwicklung alles geben.
Cut 25: Atmo Harvester, Baum fällt
Sprecher:
Das Konzept der Nachhaltigkeit stammt aus der Forstwirtschaft. Es bedeutet nicht,
den Wald in Ruhe wuchern zu lassen. Ein nachhaltig bewirtschafteter Wald ist einer,
aus dem viel Holz entnommen wird, aber immer nur so viel, dass er auf Dauer
erhalten bleibt. Viel Fachkenntnis ist dafür erforderlich. Wenn Jens Meier die roten
Markierungen an die Bäume bringt, die demnächst gefällt werden sollen, dann guckt
er dabei nicht nur nach oben.
Cut 26: Jens Meier
Da unten der Waldboden, das ist unser wichtigstes Gut. Die Humusschicht ist
wirklich superdünn, wenn wir hier einmal kratzen (Atmo), dann ist hier schon Ende
nach wirklich ein paar Zentimetern, und dann bin ich hier schon im gewachsenen
Boden drin. Da entnehme ich wirklich wenig und gucke zu, dass der Humus besser
wird, indem ich auch Laubbaumarten einbringe dort eben halt. Der Wald braucht ja
auch, um gesund zu sein, braucht er auch einen Totholzanteil im Wirtschaftswald,
den braucht er natürlich auch.
Cut 27: Waldatmo
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Sprecherin:
Die komplexen Kreisläufe der Natur sind die Grundlage für alles Leben auf der Erde.
Sie sorgen für den Sauerstoff in der Luft, stellen Nahrung, Medikamente und
Rohstoffe zur Verfügung. Ökonomen sprechen auch von Ökosystemdienstleistungen
und berechnen ihren Wert in Euro und Cent. Allein die Bestäubung von Nutzpflanzen
durch Bienen, Wespen, Fliegen und Käfer schlägt dabei mit 150 Milliarden Euro im
Jahr zu Buche. Der jährliche Gesamtwert aller Ökosystemdienstleistungen wird auf
über 50.000 Milliarden Dollar geschätzt – und damit auf etwa die gleiche Höhe wie
die gesamte globale Wirtschaftsleistung.
Cut 28: Atmo Trecker
Sprecherin:
Entsprechend groß ist die Sorge um den Verlust dieses von der Natur ja kostenlos
zur Verfügung gestellten Wertes. Seit dem ersten Weltgipfel für Umwelt und
Entwicklung, der 1992 in Rio de Janeiro stattfand, hat sich eine globale Sichtweise
auf die Erhaltung der irdischen Lebensgrundlagen durchgesetzt. Die Menschheit hat
die Erde inzwischen weitgehend geprägt, also ist sie jetzt auch für ihren Schutz
verantwortlich. Wir leben in der Epoche des Anthropozän.
Cut 28: Atmo Trecker kurz hoch
Sprecherin:
Erstes Ergebnis dieser globalen Sicht war das weltweite Verbot von
Fluorkohlenwasserstoffen. Tatsächlich schließt sich das damals von den Chemikalien
erzeugte Ozonloch langsam wieder. Mit ihrem Weltklimarat und den jährlichen
Klimagipfeln versucht die UNO diese Erfolgsgeschichte zu wiederholen. Doch die
Senkung der bei jeder Verbrennung fossiler Energie entstehenden
Treibhausgasemissionen ist weit schwieriger zu bewerkstelligen als das Verbot einer
relativ leicht zu ersetzenden Chemikalie.
Cut 29: Atmo Industriemaschine
Sprecherin:
Wenn die Emissionen unaufhaltsam steigen, dann muss die Erde eben auf andere
Art und Weise abgekühlt werden. Das ist die Idee des sogenannten Climate
Engineering. Ein erster Vorschlag dafür kam von Paul Crutzen, als Entdecker des
Ozonlochs mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Flugzeuge könnten große Mengen
Schwefelpartikel in der Stratosphäre verteilen und damit – in einer Art künstlichem
Vulkanausbruch – die Sonnenstrahlung abschirmen.
Cut 30: Atmo Climate Engineering Tagung
Sprecher:
Die weltweit erste große Konferenz zum Thema Climate Engineering fand im
Sommer 2014 statt. Über 350 Teilnehmer aus 40 Ländern waren dafür nach Berlin
gekommen, darunter Jesse Reynolds, Professor für internationales Umweltrecht an
der niederländischen Universität Tilburg:
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Cut 31: Jesse Reynolds
Climate change presents serious risks to the environment and especially to poor and
already vulnerable people. That’s what’s on the line. And if climate engineering in fact
holds a potential that modelling has shown so far, then it offers an additional tool, not
a replacement, not a solution, not a fix, but an additional tool to help to reduce risk.
Übersetzer:
Der Klimawandel bedeutet eine große Gefahr für die Umwelt und insbesondere für
arme und schutzlose Menschen. Darum geht es. Und wenn Climate Engineering
tatsächlich das Potenzial hat, das Modellrechnungen zeigen, dann stellt es ein
zusätzliches Mittel, keinen Ersatz, keine einfache Lösung, wohl aber ein zusätzliches
Werkzeug bereit, um die Gefahr zu verringern.
[Sprecher:
Mit dieser Überzeugung war Reynolds in Berlin allerdings ziemlich allein.]
Sprecherin:
Vor allem drei Gründe sprechen gegen Climate Engineering. Die Hoffnung auf eine
technische Lösung könnte die politischen Anstrengungen für die
Treibhausgasreduktion unterlaufen. Die Methoden der Klimaklempner könnten, wenn
sie denn im großen Maßstab angewendet würden, unbeherrschbare
Nebenwirkungen entfalten. Und sie müssten über Jahrhunderte zuverlässig
aufrechterhalten werden, denn ihr plötzliches Ende würde zu einem nicht mehr
verkraftbaren Temperatursprung führen.
Sprecher:
Schon erste kleine Experimente sind deshalb äußerst umstritten. Dieter-Wolf
Gladrow hat das persönlich erlebt. Der Bremerhavener Physiker war an zwei von drei
Forschungsprojekten beteiligt, mit denen deutsche Wissenschaftler bisher Climate
Engineering Techniken erprobt haben. Es ging um die Eisendüngung nährstoffarmer
Regionen des Ozeans mit dem Ziel, eine künstliche Algenblüte auszulösen. Der
Kohlenstoff, den die Pflanzen dabei aus der Atmosphäre aufnehmen, sollte langfristig
unter Wasser bleiben, wenn die Algen nach ihrem Absterben auf den Meeresboden
sinken. Doch die Experimente, und das ist der vierte Grund gegen Climate
Engineering, haben gezeigt, dass die kühne Phantasie und die nackte Realität weit
voneinander entfernt sind:
Cut 32: Dieter-Wolf Gladrow
Wenn man ganz optimistisch ist, dann kann man vielleicht maximal zehn Prozent der
jetzigen Emissionen mit der Eisendüngung abtransportieren. Das ist aber eine ganz
optimistische Rechnung. Realistisch ist ein kleinerer Teil davon, also einige Prozent
von den Emissionen. Und dafür müsste man aber riesige Gebiete düngen. Und das
zeigt schon, dass die Eisendüngung gegen die Emissionen, die wir jetzt haben, nicht
anarbeiten kann.
[Sprecher:
Ähnliches gilt auch für die anderen Vorschläge, die bisher für das Climate
Engineering diskutiert werden:
Cut 33: Dieter-Wolf Gladrow
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Viele der Methoden funktionieren entweder gar nicht oder sie haben ein geringeres
Potenzial als ursprünglich gedacht. Und darum halte ich auch diese Forschung für
wichtig, dass man einfach sieht: Was sind wirklich die Optionen? Ob man die dann
nachher anwendet oder nicht, das steht noch auf ner anderen Seite. Aber man sollte
erst mal die Optionen kennen und dabei kommt eben raus, dass man bestimmte
Optionen eben auch gar nicht hat, die einem suggeriert werden von bestimmten
Optimisten.]
Cut 30: Atmo Climate Engineering-Tagung, kurz hoch
Sprecherin:
Mit technischen Mitteln allein sind die globalen Umweltschäden nicht zu reparieren.
Diese Erkenntnis lenkt den Blick zurück auf unser eigenes Verhalten. Und das ist
häufig von einem merkwürdigen Widerspruch geprägt: Wir wissen was falsch ist –
und tun es trotzdem. Fliegen, Autofahren, Tiefkühlpizza aufbacken oder
Unkrautvernichtungsmittel spritzen: Mit moderner Technik führen wir ein bequemes
Leben auf Kosten der Natur. Schutzgebiete – auch das ist eine ihrer Aufgaben –
sollen uns zum Umdenken motivieren. Dafür müssen sie allerdings zugänglich
bleiben. In der Praxis bedeutet das eine schwierige Gratwanderung. Der
Umweltethiker Konrad Ott:
Cut 34: Konrad Ott
Die Natur ist ja per se, an sich, etwas Unreguliertes. Und wenn wir Naturschutz
betreiben, müssen wir Regelwerke einführen und müssen Menschen dazu bringen,
die Regeln zu befolgen. Man könnte sagen: Das ist ja auch so eine dialektische
Widersprüchlichkeit, die mit Naturschutz zusammenhängt. Warum darf ich gerade im
Nationalpark nicht den Weg verlassen, was ich in jedem anderen Waldgebiet darf.
Ich gehe gerne mal vom Wege ab, aber ausgerechnet dort, im Nationalpark, herrscht
Wegegebot, das ist wieder eine Regel.
Cut 35: Atmo Gruppe läuft durch den Wald, Vögel zwitschern, vietnamesische
Stimmen
Sprecher:
Auch auf der kleinen Insel Vilm gilt ein Wegegebot und die Zahl der Tagesbesucher
ist auf maximal 30 begrenzt. Dazu kommen die Gäste der Naturschutzakademie.
Eine davon ist Cam Nhung, Morgenmoderatorin im vietnamesischen
Staatsfernsehen. Ihre Inselerfahrung zeigt die erwünschte Wirkung – auch wenn
Nhungs goldene Stoffschühchen am Ende des Rundgangs durch den Naturwald
ruiniert sind:
Cut 36: Pham Cam Nhung
I really like this island. This is the first time I have seen such and old biosphere
reservation. And I wish that in the world there would be more and more nature
reservation like this. We can develop the economy but we should spare some profit
of the economic development to preserve this kind of nature.
Übersetzerin:
Ich bin wirklich begeistert von der Insel. Ich bin zum ersten Mal in so einem alten
Biosphärenreservat. Und ich wünsche mir, dass es immer mehr derartige
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Schutzgebiete auf der Welt gibt. Wir können die Wirtschaft weiterentwickeln, aber wir
sollten etwas von dem Profit dafür abzweigen, solche Natur zu bewahren.
Cut 37 Atmo: Schöffel-Reklame
„An alle High-Potentials und Key-Performer, Global Player und Opinion-Leader...“
Sprecher:
Windjacke anziehen, Rucksack aufsetzen und dem Sonnenuntergang entgegen
wandern. In der Reklame ist die Aussöhnung mit der Natur ganz einfach.
Cut 37: Atmo Schöffel Reklame wieder hoch
„... an all Euch Meilen-Millionäre: Macht erst mal ohne mich weiter.“
Sprecher:
In der Praxis ist die Sache komplizierter. Da geht es nicht um den schnellen radikalen
Ausstieg, sondern um die mühsame Veränderung unserer alltäglichen Lebensweise.
Doch auch das ist möglich. Davon ist der Umweltethiker Konrad Ott überzeugt:
Cut 38: Konrad Ott
Ich glaube, dass man mit intelligenten Verbindungen aus technologischen
Innovationen, moderaten Verhaltensveränderungen und richtigen Regulierungen
unserer Landnutzungssysteme sehr, sehr viel erreichen kann – und zwar so, dass
keiner sagen kann: Das überfordert mich jetzt definitiv.
Sprecherin:
Technik spielt eine wichtige Rolle, aber ohne Verhaltensänderungen ist eine
umweltverträgliche Lebensweise im Anthropozän unmöglich. Jeder kann einen
Beitrag dazu leisten:
Cut 39: Konrad Ott
Wenn 80 Prozent der Bevölkerung nur noch halb so viel Fleisch essen würden und
nur noch halb so viel fliegen würden, dann wäre das in jedem Fall besser als wenn
10 Prozent der Bevölkerung oder weniger versuchen, da individuelle
Verzichtsrekorde aufzustellen und zu zeigen: Es geht mit noch weniger. Jeder sollte
im Grunde einen Beitrag leisten und nicht nur ne kleine Minderheit – was dann auch
doof ist, weil diese kleine Minderheit, die fühlt sich dann manchmal auch als was
Besseres, die werden dann so selbsternannte Eliten, die auf die anderen nur noch
hinabblicken. Also: Alle ein bisschen – oder vielleicht auch manchmal ein bisschen
mehr!
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