S. Scheible: Melanchthon. Vermittler der Reformation - H-Soz-Kult

S. Scheible: Melanchthon. Vermittler der Reformation
Scheible, Heinz: Melanchthon. Vermittler der
Reformation. Eine Biographie. München: C.H.
Beck Verlag 2016. ISBN: 978-3-406-68673-3;
445 S.
Rezensiert
von:
Tobias
Jammerthal,
Evangelisch-theologische Fakultät, EberhardKarls-Universität Tübingen
Heinz Scheibles Biographie des Reformators
Philipp Melanchthon erschien erstmals 1997
im Hause C.H. Beck1 und behauptet seither ihren Platz als „maßgebliche Lebensbeschreibung“ (Albrecht Beutel) des Praeceptor
Germaniae. Dies hat seine Ursache nicht zuletzt in der Person des Verfassers: Von ihrer Gründung 1963 bis zu seinem Ruhestand
1997 Leiter der seit 1965 bei der Heidelberger Akademie der Wissenschaften verorteten
Melanchthon-Forschungsstelle und bis 2009
Herausgeber der Edition des Briefwechsels
Melanchthons (MBW),2 ist Scheible wie kaum
ein Anderer mit Leben und Wirken des Bretteners vertraut. Frucht dieser jahrzehntelangen und auch nach Eintritt in den Ruhestand fortgesetzten Beschäftigung mit Melanchthon sind neben dem umfangreichen Eintrag in der Theologischen Realenzyklopädie3
und der Biographie, deren Neuauflage im Folgenden zu besprechen ist, vor allem zahlreiche Aufsätze und Vorträge, die in derzeit drei
Bänden gesammelt sind.4
Wie die Erstauflage von 1997 profitiert
auch die überarbeitete Fassung von Scheibles Melanchthon-Biographie von dieser intimen Vertrautheit mit dem Briefwechsel des
Reformators. Mühelos gelingt es dem Verfasser, die komplexen historischen und religionspolitischen Zusammenhänge des 16. Jahrhunderts daraufhin zu konzentrieren, wie Melanchthon sie wahrnahm. Dies wiederum ermöglicht es Scheible, in gut lesbarer Weise zu entwickeln, in welchen Kontexten sich Melanchthon bewegte und wie er auf Impulse seiner Umgebung reagierte – oder selbst Impulse setzte. Das kommt insbesondere der Darstellung des Augsburger Reichstags von 1530
und der Auseinandersetzungen nach 1548 zugute: Hier stellt die Konzentration auf Melanchthons Wahrnehmung der Ereignisse einen
Schlüssel bereit, der dabei hilft, die überbordende Fülle sowohl der vorhandenen Origi-
2016-3-192
nalquellen wie auch der mit ihnen befassten
Literatur zu bewältigen. In beiden Fällen zeigt
Scheible zugleich, wie anders ein aus solider Quellenkenntnis entwickeltes Bild Magister Philipps sich im Vergleich zu den immer
noch landläufigen Vorurteilen des inhaltlich
profillosen Leisetreters und Kompromisslers
ausnimmt. Schon allein darin liegt bleibender Wert bereits der Erstauflage dieser Biographie.
Die Darstellung folgt weitestgehend der
Chronologie des Lebenslaufs Melanchthons.
Beginnend mit der in Südwestdeutschland
verbrachten Jugendzeit zeichnet Scheible ein
Bild von Melanchthons Tätigkeit in Wittenberg, um anschließend auf die durch zahlreiche Reisen gekennzeichnete zweite Lebenshälfte des Praeceptors einzugehen. Der chronologische Abriss wird angereichert durch
Kapitel, die sich mit besonders wichtigen Einzelaspekten befassen: seine „biblische Theologie“, sein Verhältnis zu Luther sowie seine
Tätigkeit als „Philosoph“. Insbesondere letzteres stellt ein weiteres Qualitätsmerkmal dieses Werks dar: Scheible trägt zwar der Tatsache Rechnung, dass ein bedeutender Teil
von Melanchthons Wirken dem theologischen
und religionspolitischen Bereich zugehört. Er
versäumt es jedoch nicht, Melanchthons Bedeutung als Vertreter der Artes Liberales gebührend zu berücksichtigen. Bereits in der
Erstauflage war die eigentliche biographische
Darstellung durch zwei programmatische Kapitel umschlossen. Diese werden im Wesentlichen unverändert beibehalten und geben einen zutreffenden Einblick in Scheibles Verständnis seiner Aufgabe als Biograph (siehe in
der Einleitung, S. 9–11) sowie eine abschließende Würdigung Melanchthons („Mensch
in der Geschichte“, S. 305–318). Abgerundet
1 Heinz Scheible, Melanchthon. Eine Biographie, 1. Aufl.,
München 1997.
2 Melanchthons
Briefwechsel. Kritische und Kommentierte Gesamtausgabe. Im Auftrag der Heidelberger
Akademie der Wissenschaften hrsg. von Heinz Scheible, Bände 1–12 und T1–T10, Stuttgart-Bad Cannstatt
1977–2009; ab Band T11 (Stuttgart-Bad Cannstatt 2010)
hrsg. von Christine Mundhenk. (Kurztitel: MBW)
3 Heinz Scheible, Art. Melanchthon, Philipp (1497–1560),
in: TRE, Bd. 22, Berlin 1992, S. 371–410.
4 Heinz Scheible, Melanchthon und die Reformation:
Forschungsbeiträge, Mainz 1996; ders., Aufsätze zu
Melanchthon, Tübingen 2012; ders., Beiträge zur Kirchengeschichte Südwestdeutschlands, Stuttgart 2012.
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wird die Neuauflage durch ein neu hinzugekommenes Nachwort (S. 323f.).
Der Vergleich mit der Erstauflage zeigt,
dass Scheible einerseits Ergebnisse seither
entstandener Forschungen durch Änderungen im Manuskript berücksichtigt (etwa zu
Melanchthons Tübinger Zeit, S. 24, vgl. 1997:
S. 20 oder zur Frage von Melanchthons Anteil an der Wittenberger Bibelübersetzung,
S. 180, vgl. 1997: S. 146). Andererseits zeichnet sich die Neuauflage durch die Beigabe etlichen zusätzlichen Materials aus: Der Text ist
nun durch zahlreiche Abbildungen aufgelockert, die vor allem Wirkungsstätten Melanchthons, aber auch einzelne Gesprächspartner und Schriften zeigen. Der Anhang bietet
einen guten Überblick über die neuere Literatur (S. 350–354), der Biographische Index
der Erstauflage findet sich als Personenregister mit biographischen Kurzangaben, wobei
auf die in MBW 11ff. gebotenen Biogramme verwiesen wird. Orientiert am Itinerar
der Briefwechsel-Edition5 ist die gegenüber
der Erstauflage neue Zeittafel, deren Gegenüberstellung von Melanchthons Tätigkeit und
zeitgenössischem Kontext so etwas wie das
daten- und faktenmäßige „Skelett“ des Manuskripts bildet.
Ebenfalls gänzlich neu gegenüber der Erstauflage ist der Anmerkungsteil unter dem
Titel „Nachweise“. Dessen Fehlen hatte die
wissenschaftliche Verwendung der Erstauflage erschwert.6 Gerade Scheibles beschriebene
Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge auf ihre Wahrnehmung durch Melanchthon zu konzentrieren, hätte seine Biographie durch entsprechende Nachweise noch mehr zum idealen Wegweiser in die Quellen machen können. Dass diesem Desiderat Abhilfe geschaffen würde, war von einer Neuauflage zu erhoffen. Irritierend ist freilich, dass eine numerische Zuweisung von Anmerkungen zum
Haupttext fehlt. Die Nachweise werden in
Gruppen geboten, die jeweils durch Überschrift auf mehrere Seiten des Haupttextes bezogen sind. Eine eindeutige Zuordnung ist
nicht vorhanden; der Leser darf selbst ermitteln, was womit nachgewiesen wird. Diese ungewöhnliche Realisierung des Anmerkungsteils entspricht nach Mitteilung des Verlags auf Anfrage dem Wunsch des Verfassers.
Sie bedarf einiger Gewöhnung; es ist zu be-
fürchten, dass sie zu einer mangelnden Berücksichtigung der an sich hilfreichen Nachweise und Literaturverweise führen wird.
Dies vermag indes das Gesamturteil nur
unwesentlich zu beeinflussen. Ein auf den aktuellen Forschungsstand gebrachter Haupttext und hilfreiche Beigaben sichern Scheibles Werk auch 2016 den Platz als maßgebliche Darstellung. Das nach Ausweis
des Briefwechsels über siebentausend Menschen umfassende Netzwerk Melanchthons
wird entschlüsselt und mit dem historischen Kontext ebenso wie mit der Lehr-,
Verhandlungs- und Publikationstätigkeit Melanchthons (auch wenn Scheible nur wenige Schriften eingehender bespricht, vgl.
S. 172–175 und S. 294–304) so ins Gespräch gebracht, dass ein überzeugendes und instruktives Bild von der Fruchtbarkeit und Vielseitigkeit dieser historischen Persönlichkeit entsteht. Als Maßstab setzt sich Scheible selbst
die Frage, „ob Fakten, Aufbau und Urteil [des
Biographen] so zur Deckung gebracht sind,
dass ein überzeugendes Bild entsteht“ (S. 10).
Dies ist auch für die vorliegende Neuausgabe
seiner Melanchthonbiographie zu attestieren.
HistLit 2016-3-192 / Tobias Jammerthal über
Scheible, Heinz: Melanchthon. Vermittler der
Reformation. Eine Biographie. München 2016,
in: H-Soz-Kult 22.09.2016.
5 MBW
10.
das 1997 im einleitenden Absatz zum Quellenund Literaturverzeichnis mit der erstrebten angenehmeren Lesbarkeit begründet und mit der leichten Erreichbarkeit der wissenschaftlichen Melanchthonstudien des Verfassers gerechtfertigt wurde (1997: S. 267),
so war dies insbesondere für den Leser, der eine erste
Orientierung und Wegweisung in die Quellen erhoffte,
kaum befriedigend.
6 Wenn
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