- Deutsche Mittelstands Nachrichten

Ausgabe 37
23. September 2016
Deutsche
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Mittelstand
Studie: Digitalisierung wirkt positiv auf Arbeitsmarkt
Bis 2019 werden 1,4 Millionen neue Industrieroboter weltweit ihre Arbeit aufnehmen
D
In der Studie werden erstie Digitalisierung schreitet
weiter voran und Deutschmals langfristige Effekte der
land ist mit Europa ganz vorn
Digitalisierung untersucht. Die
dabei. Die Furcht vor dem masWissenschaftler prüften die Aussiven Verlust von Arbeitskräften
wirkungen des technologischen
besteht noch immer. Eine aktuelWandels zwischen 1999 und
le Studie zeigt nun, dass sich die
2010 auf die Arbeitsnachfrage
Digitalisierung der vergangenen
im gleichen Zeitraum. 238 unJahre jedoch durchaus positiv auf
terschiedliche europäische Regiden Arbeitsmarkt ausgewirkt hat.
onen in 27 EU-Ländern wurden
dabei genauer betrachtet.
Industrie 4.0 steht für InnoTatsächlich stellte sich hevation, Fortschritt und gleichzeitig für die Angst vor dem
raus, dass der technologische
Jobverlust oder Hackerangriffen
Wandel durchaus positive Effekte
Zwischen 1999 und 2010 haben Maschinen zwar menschliche Arbeit
ersetzt,
allerdings
hat
die
gestiegene
Produktin
einem
noch
größeren
auf Unternehmen. Im Bereich
auf die Nachfrage nach ArbeitsUmfang die Arbeitsnachfrage erhöht.
Grafik: ZEW
der Automation in der Produkkräften hatte. Die Digitalisierung
führte vermehrt zu sinkenden
tion gehört die EU immer noch
zu den Vorreitern. Wie der neue „World um sich greifende Vernetzung der Ma- Produktionskosten und sinkenden AngeRobotics Report 2016“ zeigt, befinden schinen muss aber nicht, wie häufig pos- botspreisen. Das wiederum hatte zu einer
sich 65 Prozent der Länder, die eine über- tuliert, dazu führen, dass keine Arbeits- erhöhten Produktnachfrage geführt, die
durchschnittlich hohe Anzahl an Indus- kräfte mehr benötigt werden. Tatsächlich gleichsam auf Seiten der Unternehmen
trierobotern pro 10.000 Angestellten bringt die Digitalisierung auch Chancen zu einem Anstieg der Arbeitsnachfrage
haben, in der EU. Etwa 14 EU-Länder zäh- für den Arbeitsmarkt mit sich, wie eine führte, so die Wissenschaftler:
„Zwar haben Maschinen menschlilen dazu – genauso wie die Schweiz, vier Studie des Mannheimer Zentrums für
asiatische Länder, die USA, Kanada und Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) che Arbeit ersetzt und die Arbeitsnachzusammen mit der Universität Utrecht frage reduziert, allerdings hat die gestieAustralien.
Die Zahl der neuen Roboter und die zeigt.
gene Produktnachfrage in einem noch
Analyse
EZB senkt Rezessionsrisiko in Deutschland
Das Rezessionsrisiko für die deutsche
Wirtschaft hat weiter abgenommen. Der
entsprechende Indikator des Instituts
für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung
sank von 20,9 Prozent auf 19,7 Prozent.
Damit zeigt der IMK-Indikator für September bis Ende November eine „mittlere Rezessionswahrscheinlichkeit“. Erst ab
einem Wert von 30 Prozent besteht eine
Rezessionsgefahr.“ Unter einer Rezession
wird in diesem Zusammenhang ein nennenswerter Rückgang der Industrieproduktion verstanden“, so das IMK.
Das Spektrum möglicher Rezessionen reiche dabei von einem tiefen Ein-
bruch der Produktion um mindestens
1 Prozent für fünf Monate bis zu einem
deutlich schwächeren Rückgang von 0,5
Prozent, der dann aber zehn Monate anhalten muss.
So haben sich zwar aktuell die Stimmungsindikatoren eingetrübt und die
Inlandsaufträge sind zurückgegangen,
doch die Aufträge aus dem Ausland sind
dem IMK-Experten Peter Hohlfeld zufolge gestiegen. Darüber hinaus sank die
Zinsdifferenz zwischen den deutschen
Staatsanleihen und den Unternehmensanleihen.
Diese Annäherung wird als eine Aufhellung der Finanzierungsmöglichkeiten
für Unternehmen gewertet. Allerdings
ist dies vor allem auf die Geldpolitik der
EZB zurückzuführen. Diese kauft seit Juni
vermehrt Unternehmensanleihen am
Markt. Insgesamt sollen bis mindestens
März noch 80 weitere Milliarden Euro in
Staats- und Unternehmensanleihen von
Seiten der EZB investiert werden.
In ihrer aktuellen Prognose rechnet
das Institut für Makroökonomie und
Konjunkturforschung (IMK) der HansBöckler-Stiftung mit einem BIP-Wachstum von 1,6 Prozent in diesem Jahr und
1,3 Prozent im kommenden Jahr. Außerdem wird ein Anstieg der Arbeitslosenquote auf 7,9 Prozent erwartet.
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größeren Umfang die Arbeitsnachfrage
erhöht. Wie groß die positiven Arbeitsnachfrageeffekte der Automatisierung
ausfallen, hängt jedoch zentral von der
Gewinnverteilung des technologischen
Wandels ab.“
Bei der Annahme, dass alle Einkommensarten in der regionalen Wirtschaft
in den Konsum geflossen sind, ist ein Arbeitsnachfrageeffekt von 11,6 Millionen
Jobs in dem genannten Zeitraum auf-
getreten. Geht man von einer niedrigeren Annahme aus, nämlich, dass nur die
Lohneinkommen lokal für den Konsum
und die übrigen Einkommensarten außerhalb der EU ausgegeben wurden, hätte sich ein Arbeitsnachfrageeffekt von 1,9
Millionen Jobs ergeben.
„Aufgrund kurz- oder mittelfristiger
Anpassungskosten infolge von Verschiebungen zwischen Berufen, Sektoren oder
Regionen lassen sich die Effekte nicht
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eins-zu-eins in die Anzahl neuer Arbeitsplätze übersetzen“, sagt Ulrich Zierahn,
Wissenschaftler am ZEW und Mitautor
der Studie. Vielmehr lassen die Ergebnisse erahnen, dass Ängste über mögliche
technologische Arbeitslosigkeit in der
langen Frist möglicherweise überschätzt
werden. „Für die betrachteten europäischen Länder und den betrachteten Zeitraum rennt der Mensch vielmehr mit anstatt gegen die Maschine.“
Mittelstand
Industrie 4.0: Sicherheitslücke 3D-Drucker
Autos, Häuser und auch Lebensmittel aus dem 3D-Drucker. Die Technologie ist heute nicht mehr wegzudenken.
B
struieren. Selbst bei komplexen Modellen
sei Xu zufolge eine Genauigkeit von mehr
als 90 Prozent möglich. „Viele Firmen setzen auf den 3D-Druck, um ihren Betrieb zu
revolutionieren“, so Wenyao. Aber es gebe
immer noch viele offene sicherheitstechnische Fragen hinsichtlich sensibler Daten
und des geistigen Eigentums. Je weiter man
das Smartphone von dem Drucker entfernt,
umso geringer wird die Genauigkeit.
Entsprechend können Unternehmen
sich vor Spionage schützen, wenn sie keine
Smartphones in unmittelbarer Nähe zum
Drucker erlauben. Eine weitere Möglichkeit,
seinen Daten zu schützen, sei eine Erhöhung der Druckgeschwindigkeit, so die Wissenschaftler. Akkustische Schilde oder eine
Firewall könnten ebenfalls in Zukunft mehr
Sicherheit bieten.
Nur noch in den Ofen schieben – dann ist die Pizza
aus dem 3D-Drucker fertig.
Foto: BeeHex
Einem Forscher der Universität in Buffalo ist es gelungen, mit einem herkömmlichen Smartphone zu spionieren. Anhand
der Geräusche des 3D-Druckers konnten
ganze Produkte repliziert werden. Der Wissenschaftler Wenyao Xu hat dafür die im
Smartphone eingebauten Sensoren umprogrammiert. Legt man das Smartphone
neben den 3D-Drucker (bis zu 20cm Anstand möglich), können die Sensoren des
Smartphones während des Druckvorgangs
die Schallwellen und die elektromagnetische Strahlung messen. Anhand dieser Daten lassen sich dann die Bewegungen der
Düsen rekonstruieren.
Damit war es dem Wissenschaftler
beispielsweise gelungen, einen von einem
3D-Drucker produzierten Türstopper mit
eine Genauigkeit von 94 Prozent zu rekon-
nehmen mit einem speziellen 3D-Drucker
in nur fünf Minuten eine fertige Pizza
backen. Im kommenden Jahr sollen die
ersten Drucker Pizzen in Einkaufszentren
und Fußgängerzonen verkaufen.
Das BeeHex-Beispiel zeigt, wie rasant sich die 3D-Drucktechnologie in den
vergangenen fünf Jahren verändert hat.
Davon profitieren vor allem Industrieunternehmen. Zulieferer genauso wie Bauunternehmen, Möbeldesigner und Drohnenhersteller etc. Selbst beim Bau von
Schmuck-Rohlingen kommen die Geräte
bereits zum Einsatz. Doch die faszinierende Technologie kann, wenn nicht vorsichtig gearbeitet wird, eine Sicherheitsrisiko
darstellen.
Akkustische Signale und elektromagnetische Impulse reichen zur Spionage aus.
Foto: Wenyao Xu/University of Buffallo
ereits 2013 hatte der Ingenieur Anjan
Contractor mit einem 3D-Drucker Lebensmittel gedruckt und daraufhin für die
NASA den ersten 3D-Lebensmittel-Drucker
entwickelt. Zusammen mit drei Bekannten
gründete Contractor im vergangenen Jahr
die Firma BeeHex. Nun kann das Unter-
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Innovation
Telefonate: Zeigefinger macht Kopfhörer überflüssig
Mit dem Handy am Ohr telefonieren immer weniger. Viele schalten den Lautsprecher ein oder nutzen ein Headset
D
ie Art, wie wir telefonieren, hat sich
seit der Entwicklung des Handys
stark verändert. Nachdem ein schnurloses
Telefon uns nicht mehr auf den Hocker im
Flur gefesselt hat, erlaubte uns das Handy,
auch überall auf der Straße, in Fußgängerzonen, auf Hoher See und in den Bergen zu
telefonieren. Nun könnte sich die Art, wie
wir Anrufer hören, ändern. SGNl heißt ein
neues Armband, das Headsets und Handys
am Ohr verschwinden lassen will.
Dank der sogenannten Body Conduction Unit, soll zukünftig der Zeigefinger
am Ohr zum Telefonieren genügen. Dieses System verwandelt Audiosignal in Vibrationen und gibt diese über eine runde
Gummifläche an den Zeigefingerknochen ab. Liegt der Zeigefinger am Ohrknochen, fungiert dieser dank der neuen
Technik wie ein Lautsprecher.
Erhält der Besitzer einen Anruf
oder eine SMS, sendet das Smartphone
via Bluetooth ein Vibrationssignal. Mit
einem einfachen Fingertipp kann das
Telefonat dann angenommen werden.
Lästiges Handysuchen oder Kopfhörer
werden überflüssig. Selbst in sehr lauten
Umgebungen soll das System funktionieren. Dem koreanischen Unternehmen
zufolge werden durch SGNl nicht nur die
Mit einem einfachen Fingertipp können Gespräche angenommen werden.
Stimmen übertragen, es werden auch
Hintergrundgeräusche herausgefiltert.
Dadurch, dass die Stimme über den
Zeigefinger nur im eigenen Ohr zu hören ist, können Gespräche von anderen
im Raum nicht mitgehört werden. 7 Tage
Standby-Zeit und 4-Stunden-Gespräche
soll der Akku ermöglichen. Über ein USBKabel wird das Armband innerhalb einer
Foto: SGNl
Stunde vollgeladen. SGNl kann mit und
ohne Uhr getragen werden.
Um das Wearable produzieren zu
können, wurde eigens eine KickstarterKampagne gestartet. Die gewünschten
50.000 Dollar hat das Unternehmen bereits vor Ablauf der Kampagne erreicht.
17 Tage läuft diese noch. Bisher wurden
mehr als 929.000 Dollar eingesammelt.
Innovation
Springer steigt in Bankenbranche ein
Mit der Kooperation wollen das Geldhaus und der Verlag schneller Wachstumsfirmen auswählen, entwickeln und finanzieren
M
it Axel Springer Plug and Play haben wir den richtigen Partner, um in
ganz Europa die besten digitalen Start-ups
zu finden“, sagt Markus Pertlwieser, Digitalchef (Chief Digital Officer, CDO) im Unternehmensbereich Privat-, Vermögensund Firmenkunden der Deutschen Bank.
„Für uns ist das ein strategischer Schritt,
um unser Kerngeschäft schneller zu digitalisieren und in neue digitale Geschäftsmodelle zu investieren.“ Axel Springer betonte, mit dem Institut gewinne der Verlag
neue Expertise und Förderkraft.
„Der Fin- und InsurTech-Bereich ent-
wickelt sich rasant“, sagte Jörg Rheinboldt,
Geschäftsführer von Axel Springer Plug
and Play. Innovative Start-ups wüchsen
stark und veränderten damit das Nutzerverhalten nachhaltig. „Unser AcceleratorProgramm hat bewiesen, dass wir auch
in diesen Segmenten in der Lage sind, erfolgreiche Gründerteams und Geschäftsmodelle frühzeitig zu erkennen und bei
ihrem Wachstum zu unterstützen. Mit der
Deutschen Bank als Partner gewinnen wir
zusätzliche Expertise und Förderkraft, um
darauf zielgerichtet aufzubauen. Wir freuen uns sehr darüber, Start-ups in Zukunft
gemeinsam noch besser unterstützen zu
können.“
Die Deutsche Bank ist bereits Partner
von Axel Springer Plug and Play, einem
Gemeinschaftsunternehmen des Berliner
Verlags mit dem Plug and Play Tech Center, einer Start-up-Plattform in Kalifornien. Nun erhält das Geldhaus Sitz und
Stimme im Auswahlgremium des Startup-Förderers und begleitet ausgewählte
Firmen zusammen mit Axel Springer. Die
Start-ups erhalten je 25.000 Euro Startkapital.
Mit der Digitalisierung stehen beide
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Mit der Digitalisierung stehen beide Konzerne unter Druck, neue Geschäftsfelder zu erschließen.
Foto: Flickr/O‘Reilly Conferences/CC by nc 2.0
Konzerne unter Druck, neue Geschäftsfelder zu erschließen. So entstehen in der
Finanzwelt immer mehr Start-ups, die mit
digitalen Anwendungen Banken Konkurrenz machen. Geldhäuser verbünden sich
daher zunehmend mit Wachstumsfirmen
oder fördern solche selbst. Verlage müssen ferner neue Wege gehen, um abseits
gedruckter Medien Geld zu verdienen.
Axel Springer investiert deshalb seit Jahren in Online-Geschäfte, etwa in Karriereund Vergleichsportale. Axel Springer Plug
and Play hat bereits in 86 Wachstumsfirmen investiert.
Viele Firmen, die innovative Finanzdienstleistungen anbieten, sind in den
vergangenen Jahren in der Schweiz entstanden. Dies geht aus einer kürzlich
23. September 2016
veröffentlichten Studie des Instituts für
Finanzdienstleistungen Zug hervor. Demnach hat sich die Zahl sogenannter „FinTechs“ – also Firmen, welche Finanzdienstleistungen über digitale Kanäle wie Apps
anbieten – seit 2010 von 24 auf 162 erhöht.
Hinter dieser Zahl stehen neu gegründete
Start-ups ebenso wie Banken und Technologieunternehmen, die dem Trend zum
digitalen Banking folgen.
Auch etablierte Schweizer Geldhäuser
haben deshalb Interesse an dem neuen
Trend angemeldet. Im März hatte die UBS
eine App zur digitalen Kontoführung vorgestellt, bei der sich der Kunde mit seinem
Berater über einen Videochat austauscht.
Zuvor hatte auch die Bank Valiant in Zusammenarbeit mit der Swisscom ein Pilotprojekt lanciert.
Europas Großbanken sind im ersten
Halbjahr 2016 beim Gewinn weiter hinter
ihre US-Konkurrenz zurückgefallen. Einer
Studie des Beratungshauses EY zufolge
sank der Nettogewinn der zehn nach der
Bilanzsumme größten europäischen Banken im Vergleich zum Vorjahreszeitraum
um ein Viertel auf 22,1 Milliarden Euro,
während der Gewinn der amerikanischen
Großbanken um 20 Prozent auf umgerechnet 47 Milliarden Euro zurückging.
Handel
Publizist: CETA ist genauso gefährlich wie TTIP
Werner Rügemer sieht hinter Handelsabkommen vor allem die Interessen der Eliten des globalen Finanzkapitalismus
Deutsche Mittelstands Nachrichten: Vor
kurzem hat die chinesische Maschinenbaufirma Midea die deutsche Roboterfirma Kuka übernommen. Die Bundesregierung mit Kanzleramt, Wirtschafts- und
auch Außenministerium sowie die Europäische Kommission suchten verzweifelt
nach einem europäischen Investor, um
den Technologie-Abfluss nach China zu
verhindern. Können Sie diese Sorge nachvollziehen?
Werner Rügemer: Nein. Die Europäische
Kommission und die Bundesregierung
sind eingeschnürt in den Freihandelsabkommen, die gegenwärtig verhandelt
werden und teilweise vor der Ratifizierung
stehen – so bekanntlich das CETA-Abkommen der EU mit Kanada, das TTIP mit den
USA und das internationale Dienstleistungsabkommen TISA. Damit sollen die
Kapitalinteressen der westlichen Welt erstens noch stärker untereinander vernetzt
werden. Zweitens sollen sie gegen die Konkurrenten und erklärten Feinde wie China,
Russland, Indien, Brasilien und die linksregierten lateinamerikanischen Staaten wie
Kuba und Venezuela in Stellung gebracht
werden.
Unverantwortlich ist der Verhinderungsversuch, wenn man jenseits dieser verzweifelten Machtpolitik die Interessen der
betroffenen Unternehmen, der Beschäftigten und der Volkswirtschaft zugrunde
legt. Die Kuka-Geschäftsführung hat sich
für den chinesischen Investor eingesetzt.
Er öffnet den größten Absatzmarkt für Roboter. Der Vorstand in Deutschland bleibt
selbständig. Die Industriegewerkschaft
Metall hat die langfristige Sicherung der
12.300 Arbeitsplätze bis 2023 erreicht –
auch nur entfernt Vergleichbares gibt es
nicht bei Übernahmen etwa durch USInvestoren.
Die politische Aufregung über diese relativ kleine Firmenübernahme steht übrigens in aufschlussreichem Kontrast dazu,
dass US-Investoren wie Blackrock, Templeton, Vanguard, Blackstone und KKR sich
seit anderthalb Jahrzehnten systematisch
in die großen und auch technologisch
führenden Unternehmen in Deutschland
und in der EU einkaufen. Warum regt sich
niemand auf, dass die Eigentumsmehrheit fast aller 30 DAX-Konzerne und der
meisten führenden Mittelstandsfirmen
gar nicht mehr in deutscher Hand ist?
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Die Verhandlungen zu TTIP sind zäh, das
Misstrauen in der Bevölkerung ist groß.
Hingegen preist Wirtschaftsminister Gabriel das CETA-Abkommen: Zu Recht?
23. September 2016
Rohstoffexport ausgedehnt, bei Kanada
sind es Öl und Gas, Mineralien und Holz.
Kanada hat deshalb ein ständiges Handelsdefizit, muss Maschinen und Elektronik
importieren.
Die privaten Schiedsgerichte haben dazu
Nein. CETA ist genauso gefährlich wie TTIP.
geführt, dass Kanada zum meistverklagCETA könnte notfalls TTIP ersetzen, denn
es ist so etwas wie TTIP durch die kanaditen Staat wurde und vor allem an US-Ölsche Hintertür.
konzerne, die sich gegen Umweltauflagen
Die USA haben ja den neuen Typ von Freibeim Fracking wehrten, schon erheblichen
Schadenersatz zahlen musste; mehrere
handelsabkommen zunächst mithilfe von
Verfahren mit MilliardenfordeKanada entwickelt. Das erste
derartige Abkommen zwischen
rungen sind noch anhängig.
den USA und Kanada wurde
Auch für die abhängig Beschäf1988 abgeschlossen, 1994 wurtigten brachte NAFTA Nachteile.
Die konservative Zentralregiede es durch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen
rung unter Ministerpräsident
NAFTA auf Mexiko ausgedehnt.
Stephen Harper und einzelne
Seitdem geht es wesentlich gar
Provinzregierungen haben im
nicht mehr um das klassische
Interesse der Investoren wähFreihandelsthema, nämlich um
rend des letzten Jahrzehnts so
die von den Staaten erhobenen
viele Anti-Streik-Gesetze und
Zölle auf transnational gehanAnti-Lohnerhöhungs-Gesetze
durchgesetzt wie in keinem
delte Waren. Seitdem geht es
anderen Staat. Kanada hat den
vor allem um die Bedingungen
ausgedehntesten Niedriglohnund Rechte für private Investoren. Es geht auch um Privasektor im Westen und behantisierungen, um Patent- und
delt migrantische Arbeiter am
Markenrechte. Dafür werden
rechtlosesten. Die sieben der
die Rechte der Investoren ganz
zehn größten Unternehmen
genau festgeschrieben, wähsind Banken und Finanzinvesrend die Rechte etwa von Artoren, die Kapital nach Europa
und Asien und in alle wichtigen
beitnehmern nur kurz, bewusst
Werner Rügemer ist Publizist und Mitbegründer von Gemeingut in BürgerInFinanzoasen exportieren. Ein
ungenau und ohne Sanktionsnenhand und Aktion gegen Arbeitsunrecht.
großer Teil des Unternehmensmöglichkeit in den Verträgen
Foto: Flickr/JOCHEN Mabuse /CC by sa 2.0.
vorkommen. Deshalb sind die
eigentums am Standort Kanada
privaten Schiedsgerichte hier so
ist in Briefkastenfirmen Luxemwichtig. Arbeitnehmer und ihre Vertreter NAFTA 2014 haben Gewerkschaften, Wis- burgs, der Niederlande und der Cayman
können vor den Schiedsgerichten auch gar senschaftler und Bürgerinitiativen aus den Islands versteckt.
nicht klagen.
drei NAFTA-Staaten Bilanz gezogen. Grob Außerdem ist Kanada nicht nur weiter in
Das „C“ in CETA steht für „comprehensi- zusammengefasst lautet das Ergebnis: NAFTA eingebunden, sondern ist mit den
ve“, also für umfassend. Das bedeutet, wie In keinem der wichtigen westlichen und USA auch Vertragspartner des transpazifischon gesagt: Es geht nur nebenbei um der G8-Staaten ist die Wirtschaft so weit- schen Abkommens TPP. Alle diese Interesdie klassische Freihandelsfrage der Zölle, gehend in der Hand ausländischer Inves- sen, Praktiken und vertraglichen Bindunvielmehr geht es umfassend und vor allem toren wie in Kanada. Der Handel hat sich gen würden neben und mithilfe von CETA
um Investitionen mit allen dazugehöri- verdreifacht, aber vor allem industrielle auf die EU einwirken.
gen Bedingungen, auch um den Zugang Arbeitsplätze gingen verloren. Die Ausdehzu bisher öffentlichen Dienstleistungen nung des Handels hat auch damit zu tun, Welche Großinvestoren agieren schon
wie Bildung und Renten. Ein verschämter dass viele Vor- und Halbprodukte hin- und jetzt beiderseits des Atlantiks und welche
Anklang findet sich in der Abkürzung TTIP, hergeschickt werden, bevor sie in einen der konkreten zusätzlichen Vorteile hätten
wo das „I“ für Investment steht. Der Begriff drei Staaten zur Endmontage kommen. sie durch die Ratifizierung von CETA und
„Freihandel“ ist ein Täuschungsbegriff.
Die wichtigste Industrie Kanadas besteht TTIP?
aus Zuliefer- und Montagebetrieben für
Sie haben die Bedeutung von NAFTA für Ka- US-amerikanische und japanische Auto- Die USA mit Kanada und die EU sind die
am intensivsten durch Privatkapital vernada herausgestellt. Lassen sich daraus Vor- konzerne.
In allen NAFTA-Staaten wurde dagegen der flochtenen Regionen der Erde, wobei Inhersagen zu CETA, TTIP und TISA machen?
Kanada ist seit Ende des 19. Jahrhunderts
die privilegierte US-Kolonie. „Wenn nicht
diese elenden Yankees wären, hätte unser
Land eine große Zukunft“, beklagte schon
Kanadas erster Premierminister John McDonald. „Wirtschaftliche Entscheidungen
fallen weniger in Ottawa als in Washington,
New York oder Detroit“, bilanzierte schon
1968 Der Spiegel. NAFTA hat das noch weiter vertieft.
Aus Anlass des 20. Jahres-Jubiläums von
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vestoren aus den USA und Kanada etwa
50 Prozent mehr in der EU investiert haben als andersherum. Das begann nach
dem 1. Weltkrieg. Aber ganz massiv haben
die USA nach dem 2. Weltkrieg in Westeuropa und vor allem in den NATO-Staaten
investiert, übrigens auch in der Schweiz.
Seit den 1980er Jahren betreiben alle großen deutschen Banken, Pharma- und Autokonzerne Niederlassungen in den USA,
inzwischen auch jeder gutgehende deutsche Mittelständler.
Seit Beginn der 2000er Jahre und verstärkt nach der „Finanzkrise“ kaufen sich
Private Equity-Investoren wie Blackstone,
KKR, Permira, CVC in mittelständische
Weltmarktführer in der EU ein. Große
Finanzinvestoren wie Blackrock, Vanguard, Fidelity, Templeton, J.P. Morgan und
Goldman Sachs kaufen sich in die großen
Aktiengesellschaften ein und haben beispielsweise in den meisten der 30 „deutschen“ DAX-Konzerne die Mehrheit. Die
jahrzehntelang bestehende „Deutschland AG“ – also die enge Eigentums- und
Kredit-Verflechtung zwischen deutschen
Großbanken und Versicherungen und
den Konzernen wie Siemens, Daimler und
Mannesmann – besteht nicht mehr. So
ähnlich sieht es in den anderen EU-Mitgliedsstaaten aus.
Bekanntlich wurde diese Entwicklung
in Deutschland seit 1998 durch die SPDGrüne-Regierung unter Kanzler Gerhard
Schröder weiter begünstigt, gleichzeitig
mit New Labour unter Tony Blair in Großbritannien. Inzwischen liegen wichtige
Kompetenzen bei der Europäischen Kommission, der das Verhandlungsmandat für
alle internationalen Verträge wie CETA,
TTIP und TISA übertragen wurde.
Dabei haben die Investoren schon jetzt
ziemlich freie Hand, beim Abbau von Arbeitsplätzen, bei der Nutzung von Finanzoasen und beim Abgreifen von Staatsgeldern etwa bei der Rettung von maroden
Banken, an denen Blackrock & Co direkt
oder indirekt beteiligt sind. CETA, TTIP
und TISA würden dem nochmal einen
weiteren Schub geben.
Wenn aber zum Beispiel Blackrock doch
jetzt Hauptaktionär der Deutschen Bank
ist, wird dieser Miteigentümer dann nicht
aus eigenem Interesse die Bank aufwerten?
Das strategische Interesse von Blackrock
und der anderen US-Miteigentümer der
Deutschen Bank ist ein anderes. Blackrock
ist ja gleichzeitig Hauptaktionär von vier
der fünf größten Banken in den USA und
ebenso in europäischen Banken, neben
der Deutschen Bank sind dies die niederländische ING, die größte britische Bank
HSBC und die spanische Banco Bilbao.
Blackrock ist auch der zweitgrößte Eigentümer in der französischen BNP Paribas
und den italienischen Banken Unicredit,
Intesa San Paolo und Monte dei Paschi di
Siena.
Blackrock & Co wollen die Deutsche Bank
und die anderen profitabler machen. Eine
bewährte Methode ist die Fusion mit einer anderen Bank und die einhergehende
„Verschlankung“. Deshalb haben Blackrock
& Co die Absicht, die Deutsche Bank mit
der Commerzbank zu fusionieren, in der
Blackrock übrigens – nach dem deutschen
Staat – als zweitgrößter Eigentümer agiert.
Wir beobachten zur Zeit immer mehr
Großfusionen. Im Moment bemüht sich
Bayer um die Übernahme von Monsanto.
Glauben Sie, dass nach der Ratifizierung
von TTIP der Markt für Gentechnikprodukte wachsen wird?
Nein. Erstens sind solche Fusionen auch
ohne TTIP möglich. Zweitens wächst
durch Fusionen der Markt eher nicht. Für
die Großaktionäre der fusionierten Unternehmen geht es vor allem um die vielfältige Gewinnsteigerung.
Bei Bayer und Monsanto ist es so wie bei
Deutsche Bank und Commerzbank: Großaktionäre bei Bayer sind Blackrock, Sun
Life Financial, Capital World, Vanguard.
Die Großaktionäre von Monsanto sind
ebenfalls Blackrock, Sun Life Financial,
Capital World und Vanguard. Die treiben
im öffentlichen Schauspiel der „feindlichen Übernahme“ die beiden Vorstände
an, um die Fusion lukrativ zu gestalten.
Dabei geht es für Vorstände, Aufsichtsräte
und Topmanagement auch um Kopf und
Kragen.
Diese Investoren ziehen bei solchen Übernahmen oder Fusionen ihre Gewinne aus
dem Verkauf von Teilen beider Unternehmen – durch Personalabbau, durch Auslagerungen von Aufgaben und Personal an
Billiganbieter, durch Bereitstellung des
23. September 2016
Übernahme-Kaufpreises und durch anschließende monopolistische Preissteigerungen.
Solche Fusionen tragen übrigens dazu
bei, dass die westlichen Volkswirtschaften
stagnieren, die Privateigentümer noch
reicher werden und gleichzeitig Niedriglöhnerei und Verarmung um sich greifen.
TTIP und CETA würden das eher noch erleichtern.
Bundeskanzlerin Merkel und US-Präsident
Obama wollen TTIP unbedingt durchsetzen. In den USA aber äußern sich die
Präsidentschaftskandidaten Trump und
Clinton skeptisch – das erscheint doch
aufgrund ihres Interessenhintergrundes
unglaubwürdig?
Beide Kandidaten vertreten die Interessen von großen, asozialen Finanzinvestoren. Der kleine Unterschied besteht darin,
dass Trump die zweite Etage vertritt, man
könnte auch sagen: das milliardenschwere Lumpenproletariat des Finanzstandortes USA. Zu seinen Beratern gehören z.B.
der Chef des erfolgreichsten Hedgefonds,
John Paulson; Steve Feinberg vom Private
Equity Fonds Cerberus (Waffenindustrie);
Steven Roth (größter Eigentümer von
Gewerbeimmobilien in New York); Steven Mnuchin (Spezialist für WohnungsZwangsversteigerungen,
unterstützte
schon den republikanischen Kandidaten
Mitt Romney); Howard Lorber (HotdogKette Nathan’s); David Malpass (Beratungsfirma Encima Global, Ex-Berater von
Präsident George H.W. Bush) und Harold
Hamm (Fracking-Unternehmen Continental Resources).
Frau Clinton dagegen ist mit der ersten
Etage der Wall Street verschwistert und
verschwägert, mit Goldman Sachs und
Blackrock & Co, die ungleich mehr als die
Trump-Truppe global agieren und beste
Kontakte nicht nur zum Washingtoner Establishment haben, sondern auch zu den
wichtigsten Regierungen in der EU und
etwa zu den finanzstarken Golfdynastien
in Saudi-Arabien und Katar.
Gerade aber im Wahlkampf können und
dürfen beide nicht als Vertreter dieser Interessen auftreten, sondern müssen Stimmen im Volk fangen. Beide versuchen sich
auf ihre typische Weise als gewiefte, demagogische Populisten. Der Republikaner
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Trump appelliert an lumpenproletarische,
nationalistische und Anti-EstablishmentGefühle, Clinton zieht wie vorher Obama
die typische Karte der Demokraten; sie
faselt von Menschenrechten, verwandelt
sich chamäleonartig als Vorkämpferin
für Arbeiterinteressen und übernimmt
rhetorisch große Teile des sozialdemokratischen Programms ihres unterlegenen
Partei-Konkurrenten Sanders.
Können Sie die Prognosen aus Politik und
Wirtschaft, TTIP und CETA würden zu
mehr Wachstum und Wohlstand führen,
nachvollziehen?
Nicht nur das Vorbild NAFTA und das
Schicksal Kanadas, sondern auch die bisherige Praxis der TTIP- und CETA-Lobbyisten zeigen das Gegenteil: Wachstum wird
nur auf der Seite der Finanzinvestoren
generiert. Der Handel und der privat angeeignete Reichtum wachsen. Die Operationen über Finanzoasen nehmen zu. Die
industrielle Basis wird spekulativ ausgezehrt. Transnationale Unternehmensfusionen und Privatisierungen von öffentlichen Unternehmen führen zum Abbau
von Arbeitsplätzen und neuen preistreibenden Monopolen. Es wachsen die Niedriglohnsektoren und die Armut.
Und nicht zu vergessen: TTIP und CETA
würden die Entwicklung zu autoritären
Regimes in den bisherigen Kapitaldemokratien westlichen Musters weiter verstärken. Die Paralleljustiz der privaten
Schiedsgerichte mit dem exklusiven Klagerecht privater Investoren ist ja schon
von vielen Menschen als eine solche Gefahr erkannt worden. In großen Teilen der
Bevölkerungen in der EU und in Nordamerika rumort schon lange eine wachsende
Unzufriedenheit. Der primäre Populismus der herrschenden Politik gebiert den
sekundären Populismus der expliziten
nationalistischen,
fremdenfeindlichen
Rechten. Dass allerdings auch schlummernde demokratische Potentiale belebt
werden können, zeigt der „überraschende“ Erfolg des Wahlkämpfers Sanders – davon konnten nur die überrascht sein, die
demokratische Bewegungen routinemäßig niederhalten.
Würde die EU durch die Ratifizierung von
TTIP und CETA gegenüber den USA an Gewicht verlieren? Wäre sie aufgrund dessen
– wenn man noch die NATO hinzurechnet
– vielleicht sogar entbehrlich?
Nein. Für die hinter diesen Verträgen stehenden Akteure diesseits und jenseits des
Atlantiks ist es unverzichtbar, dass die Europäische Union mit ihren Institutionen
und Gremien die Durchführung absichert.
Und Regierungen und politische Parteien
in den EU-Mitgliedsstaaten sollen für das
Mitmachen oder zumindest das Erdulden
sorgen. Die Profiteure wissen viel genauer, als sie öffentlich zugeben, über die politisch brüchige Situation Bescheid. Der
Brexit war nur ein kleiner, verquerer und
beherrschbarer Ausbruch von tiefer Unzufriedenheit und Instabilität.
TTIP und CETA sind, wie schon erwähnt,
Instrumente der gewählten und vor allem
der ungewählten Eliten des transatlantischen Kapitalismus. Diese Instrumente
richten sich gegen Konkurrenten und
Feinde. Durch TPP und TISA sollen und
23. September 2016
wollen auch die Eliten der westfreundlichen Staaten der pazifischen Region einbezogen werden.
Zum Instrumentarium gehört leider auch
die geleitzugartige Expansion der EU und
der NATO nach Osteuropa. Letztlich geht
es dabei um die Beherrschung Russlands,
aber auch um ultimative Sicherheiten im
Falle politischer Destabilisierungen, d.h.
gegen mögliche demokratische Aufstände
und nationale – nicht nationalistische –
Selbstbestimmung. Dass nationalistische
und extrem reaktionäre Politiken mit
der westlichen Strategie sehr gut vereinbar sind bzw. gefördert werden, zeigt sich
massiv gegenwärtig etwa in der Ukraine.
Alternativen sind möglich: Transnationale Handelsbeziehungen und Investitionen
dürfen nicht militärisch begleitet werden,
sonst lauert der Krieg. Die Freihandelsverträge der 11 südamerikanischen Staaten
der Bolivarianischen Allianz für Amerika
– Handelsvertrag der Völker (Venezuela,
Kuba, Bolivien, Ecuador, Nicaragua und 6
weitere karibische Staaten) enthalten das
Verbot, im jeweils anderen Staat militärisch präsent zu sein. China expandiert in
der EU und auf allen Kontinenten, ohne
militärische Präsenzen einzurichten – das
halte ich für vorbildlich.
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Dr. Werner Rügemer ist Publizist und
Mitbegründer von Gemeingut in BürgerInnenhand und Aktion gegen Arbeitsunrecht. Letzte Buchveröffentlichung: Bis
diese Freiheit die Welt erleuchtet: Transatlantische Sittenbilder aus Politik und
Wirtschaft, Geschichte und Kultur (Neue
Kleine Bibliothek)
Politik
EuGH: Bürger können von EU-Kommission Schadenersatz fordern
Im Fall der Bankenrettung von Zypern haben sich die EU-Kommission und die EZB jedoch rechtskonform verhalten
M
ehrere Kläger aus Zypern sind mit
Beschwerden um die Bankenrettung in der Euro-Krise vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gescheitert.
Ihre Einlagen hatten bei der Umstrukturierung des zyprischen Finanzsektors im
Jahr 2013 erheblich an Wert verloren, daher waren sie gegen die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank
(EZB) vor Gericht gezogen. Unter anderem
forderten sie Schadenersatz.
Die Kommission habe mit ihrem Vorgehen im Sinne des Gemeinwohls der EU
gehandelt, entschied der EuGH in Luxemburg. Es sei um die Stabilität des Bankensystems im Euro-Raum gegangen.
Die Kommission hatte für den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM zusam-
men mit Zypern ein Protokoll unterzeichnet. Dies schrieb die Reformen fest, die
Zypern umsetzen sollte, um Finanzhilfen
zu erhalten. In Zypern waren in der Folge
Einlagen ab 100.000 Euro zur Rettung
des wackelnden Bankensystems herangezogen worden.
Die Klagen waren bereits in erster Instanz vor dem EU-Gericht gescheitert, die
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Kläger legten Rechtsmittel ein. Der EuGH
hob nun zwar die Entscheidungen des
Gerichts zum Teil auf – im konkreten Fall
hilft das den Klägern allerdings nicht. Die
Richter argumentierten, dass Schadenersatzforderungen gegen EU-Kommission
oder EZB im Prinzip möglich wären, wenn
sich die Behörden falsch verhalten hätten.
Das sei hier aber nicht der Fall gewesen.
Der entscheidende Punkt im Falle
Zyperns ist die Tatsache, dass die EUKommission die Bankenstabilität als das
höhere Gut eingestuft habe. Außerdem
müssen Kläger einen kausalen Zusammenhang zwischen einer rechtswidrigen
Entscheidung und ihrer Enteignung nachweisen. Dieser Nachweis dürfte einem Geschädigten schwerfallen, zumal, wenn ein
Kollaps des Finanzsystems als Gegenargument ins Treffen geführt wird.
Die Mitteilung des EuGH im Wortlaut:
In den ersten Monaten des Jahres
2012 gerieten mehrere in Zypern ansässige Banken, darunter die Cyprus Popular
Bank (Laïki) und die Trapeza Kyprou Dimosia Etaireia (Bank of Cyprus oder BoC),
in finanzielle Schwierigkeiten. Die zyprische Regierung bat deshalb die aus den
Finanzministern der Mitgliedstaaten des
Euro-Währungsgebiets bestehende EuroGruppe um finanzielle Unterstützung.
Die Euro-Gruppe antwortete darauf, dass
die gewünschte finanzielle Unterstützung
vom ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) im Rahmen eines makroökonomischen Anpassungsprogramms gewährt
werde, das in einem Memorandum of Understanding (MoU) zu konkretisieren sei.
Die Verhandlungen über dieses Protokoll
wurden von der Kommission zusammen
mit der Europäischen Zentralbank (EZB)
und dem Internationalen Währungsfonds
(IWF) auf der einen und den zyprischen
Behörden auf der anderen Seite geführt.
In einer Erklärung vom 25. März 2013
gab die Euro-Gruppe bekannt, dass die
Verhandlungen zu einem Entwurf eines
MoU über die Umstrukturierung der BoC
und der Laïki geführt hätten. Das MoU
wurde daraufhin von der Kommission (im
Namen des ESM) und Zypern unterzeichnet, und der ESM gewährte Zypern eine
finanzielle Unterstützung.
Mehrere zyprische Einzelpersonen
sowie eine Gesellschaft mit Sitz in Zypern
waren Inhaber von Einlagen bei der BoC
oder der Laïki. Die Durchführung der mit
den zyprischen Behörden vereinbarten
Maßnahmen führte zu einem erheblichen Wertverlust dieser Einlagen. Daraufhin erhoben die betroffenen Einzelpersonen und die genannte Gesellschaft
beim Gericht der Europäischen Union
Klagen u. a. auf Ersatz des Wertverlustes,
den ihre Einlagen durch den Abschluss
des MoU erlitten haben sollen, und auf
Nichtigerklärung der einschlägigen Punkte dieses MoU. Außerdem erhoben sieben
zyprische Einzelpersonen Klagen beim
Gericht auf Nichtigerklärung der Erklärung der Euro-Gruppe vom 25. März 2013
zur Umstrukturierung des zyprischen
Bankensektors.
Mit fünf Beschlüssen vom 16. Oktober
2014 wies das Gericht zum einen die gegen
die Erklärung vom 25. März 2013 gerichteten Nichtigkeitsklagen als unzulässig ab.
Es entschied, dass der ESM nicht zu den
Unionsorganen gehöre und dass die Erklärung der Euro-Gruppe weder der Kommission und der EZB zugerechnet werden
noch Rechtswirkungen gegenüber Dritten
erzeugen könne. Mit drei Beschlüssen
vom 10. November 2014 wies das Gericht
zum anderen die Nichtigkeits- und Schadensersatzklagen im Zusammenhang mit
dem Abschluss des MoU mit der
Begründung ab, dass sie teilweise
unzulässig und teilweise unbegründet
seien. Das Gericht stellte fest, dass die
Kommission das MoU nur im Namen des
ESM unterzeichne und dass die von der
Kommission und der EZB im Rahmen des
ESM ausgeübten Tätigkeiten nur diesen
verpflichte. Auch hätten die Personen,
die diese Klagen erhoben hätten, nicht
mit Sicherheit nachgewiesen, dass der
von ihnen geltend gemachte Schaden tatsächlich durch eine Untätigkeit der Kommission verursacht worden sei. Daraufhin
haben die Einzelpersonen und die Gesellschaft beim Gerichtshof die Aufhebung
der Beschlüsse des Gerichts beantragt.
In seinen heutigen Urteilen bestätigt
der Gerichtshof die Beschlüsse vom 16.
Oktober 2014 über die Nichtigkeitsklagen gegen die Erklärung der Euro-Gruppe
vom 25. März 2013. Hingegen hebt er die
Beschlüsse vom 10. November 2014 über
die Schadensersatzklagen auf, gibt diesen
Klagen jedoch in der Sache nicht statt.
23. September 2016
In Bezug auf die Rechtsmittel, die
die gegen die Erklärung der Euro-Gruppe
vom 25. März 2013 gerichteten Nichtigkeitsklagen betreffen (verbundene
Rechtssachen C-105/15 P bis C-109/15 P),
ist der Gerichtshof der Auffassung, dass
das Gericht zutreffend entschieden hat,
dass die Erklärung der Euro-Gruppe nicht
als ein gemeinsamer Beschluss der Kommission und der EZB angesehen werden
kann. Die der Kommission und der EZB
im Rahmen des ESM-Vertrags übertragenen Funktionen umfassen nämlich keine
Entscheidungsbefugnis im eigentlichen
Sinne, zumal die Tätigkeiten dieser beiden
Organe im Rahmen des ESM-Vertrags nur
den ESM verpflichten. Der Umstand, dass
die Kommission und die EZB an den Sitzungen der Euro-Gruppe teilnehmen, ändert nichts an der Natur der Erklärungen
der Euro-Gruppe, sodass ihre Erklärung
vom März 2013 nicht als Ausdruck einer
Entscheidungsbefugnis dieser beiden
Unionsorgane angesehen werden kann.
Schließlich stellt der Gerichtshof fest,
dass nicht davon ausgegangen werden
kann, dass den zyprischen Behörden der
Erlass des für die Umstrukturierung der
Kreditinstitute erforderlichen rechtlichen
Rahmens durch einen vermeintlichen gemeinsamen Beschluss der Kommission
und der EZB, der in der Erklärung der Euro-Gruppe vom März 2013 verkörpert sein
soll, vorgeschrieben worden wäre. Der
Gerichtshof weist daher die Rechtsmittel
zurück und bestätigt die Beschlüsse des
Gerichts vom 16. Oktober 2014.
In Bezug auf die Rechtsmittel, die die
Schadensersatzklagen betreffen (verbundene Rechtssachen C-8/15 P bis C-10/15 P),
ist der Gerichtshof der Auffassung, dass
der Umstand, dass die der Kommission
und der EZB im Rahmen des ESM-Vertrags
übertragenen Funktionen keine Entscheidungsbefugnis im eigentlichen Sinne umfassen und nur den ESM verpflichten, es
nicht ausschließt, von der Kommission
und der EZB Schadensersatz wegen ihres
vermeintlich rechtswidrigen Verhaltens
beim Abschluss eines MoU im Namen des
ESM zu fordern. Die der Kommission und
der EZB im Rahmen des ESM übertragenen Aufgaben verfälschen nämlich nicht
die Befugnisse, die ihnen der EU-Vertrag
und der AEU-Vertrag übertragen. Somit
behält die Kommission im Rahmen des
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Neue Entscheidungen von Juncker könnten die EU-Kommission zukünftig einiges kosten.
ESM-Vertrags ihre Rolle als Hüterin der
Verträge, wie sie sich aus Art. 17 Abs. 1 EUV
ergibt, sodass sie davon Abstand nehmen
muss, ein MoU zu unterzeichnen, dessen
Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht sie
bezweifelt. Der Gerichtshof schließt daraus, dass das Gericht rechtsfehlerhaft festgestellt hat, dass es nicht befugt sei, die
auf die Rechtswidrigkeit einiger Bestimmungen des MoU gestützten Schadensersatzklagen zu prüfen. Er hebt daher die
Beschlüsse vom 10. November 2014 auf.
Da die Rechtssachen entscheidungsreif sind, beschließt der Gerichtshof,
selbst über die Schadensersatzklagen zu
entscheiden. Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass die außervertragliche
Haftung der Union vom Vorliegen einer
Reihe von Voraussetzungen abhängt,
und zwar erstens der Rechtswidrigkeit
des dem Unionsorgan vorgeworfenen
Verhaltens, zweitens dem tatsächlichen
Bestehen des Schadens und drittens der
Existenz eines Kausalzusammenhangs
zwischen diesem Verhalten und dem gel-
tend gemachten Schaden. Was die erste
Voraussetzung anbelangt, muss ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine
Rechtsnorm nachgewiesen werden, die
dem Einzelnen Rechte verleihen soll. Der
Gerichtshof stellt fest, dass diese Rechtsnorm im vorliegenden Fall Art. 17 Abs. 1
der Charta der Grundrechte der EU ist, in
dem es heißt, dass jede Person das Recht
hat, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum
zu besitzen. Zwar führen die Mitgliedstaaten im Rahmen des ESM-Vertrags nicht
das Unionsrecht durch, sodass die Charta
in diesem Rahmen nicht für sie gilt. Für
die Unionsorgane gilt die Charta jedoch
auch dann, wenn sie außerhalb des EURechtsrahmens handeln. Die Kommission muss sich daher vergewissern, dass
ein solches MoU mit den in der Charta
verbürgten Grundrechten vereinbar ist.
Gleichwohl ist die erste Voraussetzung für
die Begründung der außervertraglichen
Haftung der Union im vorliegenden Fall
nicht erfüllt:
Die Annahme des fraglichen MoU
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Redaktion: Anika Schwalbe, Nicolas Dvorak. Sales Director:
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23. September 2016
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entspricht nämlich einem dem Gemeinwohl dienenden Ziel der Union, und zwar
dem, die Stabilität des Bankensystems der
Euro Währungsgebiets insgesamt sicherzustellen. Unter Berücksichtigung dieses
Ziels und der Art der geprüften Maßnahmen und in Anbetracht der den Einlegern bei den beiden betroffenen Banken
im Fall von deren Zahlungsunfähigkeit
unmittelbar drohenden Gefahr finanzieller Verluste stellen diese Maßnahmen
keinen unverhältnismäßigen und nicht
tragbaren Eingriff dar, der das durch Art.
17 Abs. 1 der Charta gewährleistete Eigentumsrecht der Einleger in seinem Wesensgehalt antastet. Sie können daher nicht als
ungerechtfertigte Beschränkungen dieses
Rechts angesehen werden. Die Kommission hat demnach nicht zu einer Verletzung
des Eigentumsrechts der Personen, die die
Klagen erhoben haben, beigetragen. Da
die erste Voraussetzung für die Begründung der außervertraglichen Haftung der
Union nicht erfüllt ist, weist der Gerichtshof die Schadensersatzklagen ab.
Kaas-Lutsberg. Herausgeber: Dr. Michael Maier (V.i.S.d. §§ 55 II RStV).
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