Ausgabe 37 23. September 2016 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Mittelstand Studie: Digitalisierung wirkt positiv auf Arbeitsmarkt Bis 2019 werden 1,4 Millionen neue Industrieroboter weltweit ihre Arbeit aufnehmen D In der Studie werden erstie Digitalisierung schreitet weiter voran und Deutschmals langfristige Effekte der land ist mit Europa ganz vorn Digitalisierung untersucht. Die dabei. Die Furcht vor dem masWissenschaftler prüften die Aussiven Verlust von Arbeitskräften wirkungen des technologischen besteht noch immer. Eine aktuelWandels zwischen 1999 und le Studie zeigt nun, dass sich die 2010 auf die Arbeitsnachfrage Digitalisierung der vergangenen im gleichen Zeitraum. 238 unJahre jedoch durchaus positiv auf terschiedliche europäische Regiden Arbeitsmarkt ausgewirkt hat. onen in 27 EU-Ländern wurden dabei genauer betrachtet. Industrie 4.0 steht für InnoTatsächlich stellte sich hevation, Fortschritt und gleichzeitig für die Angst vor dem raus, dass der technologische Jobverlust oder Hackerangriffen Wandel durchaus positive Effekte Zwischen 1999 und 2010 haben Maschinen zwar menschliche Arbeit ersetzt, allerdings hat die gestiegene Produktin einem noch größeren auf Unternehmen. Im Bereich auf die Nachfrage nach ArbeitsUmfang die Arbeitsnachfrage erhöht. Grafik: ZEW der Automation in der Produkkräften hatte. Die Digitalisierung führte vermehrt zu sinkenden tion gehört die EU immer noch zu den Vorreitern. Wie der neue „World um sich greifende Vernetzung der Ma- Produktionskosten und sinkenden AngeRobotics Report 2016“ zeigt, befinden schinen muss aber nicht, wie häufig pos- botspreisen. Das wiederum hatte zu einer sich 65 Prozent der Länder, die eine über- tuliert, dazu führen, dass keine Arbeits- erhöhten Produktnachfrage geführt, die durchschnittlich hohe Anzahl an Indus- kräfte mehr benötigt werden. Tatsächlich gleichsam auf Seiten der Unternehmen trierobotern pro 10.000 Angestellten bringt die Digitalisierung auch Chancen zu einem Anstieg der Arbeitsnachfrage haben, in der EU. Etwa 14 EU-Länder zäh- für den Arbeitsmarkt mit sich, wie eine führte, so die Wissenschaftler: „Zwar haben Maschinen menschlilen dazu – genauso wie die Schweiz, vier Studie des Mannheimer Zentrums für asiatische Länder, die USA, Kanada und Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) che Arbeit ersetzt und die Arbeitsnachzusammen mit der Universität Utrecht frage reduziert, allerdings hat die gestieAustralien. Die Zahl der neuen Roboter und die zeigt. gene Produktnachfrage in einem noch Analyse EZB senkt Rezessionsrisiko in Deutschland Das Rezessionsrisiko für die deutsche Wirtschaft hat weiter abgenommen. Der entsprechende Indikator des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung sank von 20,9 Prozent auf 19,7 Prozent. Damit zeigt der IMK-Indikator für September bis Ende November eine „mittlere Rezessionswahrscheinlichkeit“. Erst ab einem Wert von 30 Prozent besteht eine Rezessionsgefahr.“ Unter einer Rezession wird in diesem Zusammenhang ein nennenswerter Rückgang der Industrieproduktion verstanden“, so das IMK. Das Spektrum möglicher Rezessionen reiche dabei von einem tiefen Ein- bruch der Produktion um mindestens 1 Prozent für fünf Monate bis zu einem deutlich schwächeren Rückgang von 0,5 Prozent, der dann aber zehn Monate anhalten muss. So haben sich zwar aktuell die Stimmungsindikatoren eingetrübt und die Inlandsaufträge sind zurückgegangen, doch die Aufträge aus dem Ausland sind dem IMK-Experten Peter Hohlfeld zufolge gestiegen. Darüber hinaus sank die Zinsdifferenz zwischen den deutschen Staatsanleihen und den Unternehmensanleihen. Diese Annäherung wird als eine Aufhellung der Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen gewertet. Allerdings ist dies vor allem auf die Geldpolitik der EZB zurückzuführen. Diese kauft seit Juni vermehrt Unternehmensanleihen am Markt. Insgesamt sollen bis mindestens März noch 80 weitere Milliarden Euro in Staats- und Unternehmensanleihen von Seiten der EZB investiert werden. In ihrer aktuellen Prognose rechnet das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der HansBöckler-Stiftung mit einem BIP-Wachstum von 1,6 Prozent in diesem Jahr und 1,3 Prozent im kommenden Jahr. Außerdem wird ein Anstieg der Arbeitslosenquote auf 7,9 Prozent erwartet. 1 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |37/16 größeren Umfang die Arbeitsnachfrage erhöht. Wie groß die positiven Arbeitsnachfrageeffekte der Automatisierung ausfallen, hängt jedoch zentral von der Gewinnverteilung des technologischen Wandels ab.“ Bei der Annahme, dass alle Einkommensarten in der regionalen Wirtschaft in den Konsum geflossen sind, ist ein Arbeitsnachfrageeffekt von 11,6 Millionen Jobs in dem genannten Zeitraum auf- getreten. Geht man von einer niedrigeren Annahme aus, nämlich, dass nur die Lohneinkommen lokal für den Konsum und die übrigen Einkommensarten außerhalb der EU ausgegeben wurden, hätte sich ein Arbeitsnachfrageeffekt von 1,9 Millionen Jobs ergeben. „Aufgrund kurz- oder mittelfristiger Anpassungskosten infolge von Verschiebungen zwischen Berufen, Sektoren oder Regionen lassen sich die Effekte nicht 23. September 2016 eins-zu-eins in die Anzahl neuer Arbeitsplätze übersetzen“, sagt Ulrich Zierahn, Wissenschaftler am ZEW und Mitautor der Studie. Vielmehr lassen die Ergebnisse erahnen, dass Ängste über mögliche technologische Arbeitslosigkeit in der langen Frist möglicherweise überschätzt werden. „Für die betrachteten europäischen Länder und den betrachteten Zeitraum rennt der Mensch vielmehr mit anstatt gegen die Maschine.“ Mittelstand Industrie 4.0: Sicherheitslücke 3D-Drucker Autos, Häuser und auch Lebensmittel aus dem 3D-Drucker. Die Technologie ist heute nicht mehr wegzudenken. B struieren. Selbst bei komplexen Modellen sei Xu zufolge eine Genauigkeit von mehr als 90 Prozent möglich. „Viele Firmen setzen auf den 3D-Druck, um ihren Betrieb zu revolutionieren“, so Wenyao. Aber es gebe immer noch viele offene sicherheitstechnische Fragen hinsichtlich sensibler Daten und des geistigen Eigentums. Je weiter man das Smartphone von dem Drucker entfernt, umso geringer wird die Genauigkeit. Entsprechend können Unternehmen sich vor Spionage schützen, wenn sie keine Smartphones in unmittelbarer Nähe zum Drucker erlauben. Eine weitere Möglichkeit, seinen Daten zu schützen, sei eine Erhöhung der Druckgeschwindigkeit, so die Wissenschaftler. Akkustische Schilde oder eine Firewall könnten ebenfalls in Zukunft mehr Sicherheit bieten. Nur noch in den Ofen schieben – dann ist die Pizza aus dem 3D-Drucker fertig. Foto: BeeHex Einem Forscher der Universität in Buffalo ist es gelungen, mit einem herkömmlichen Smartphone zu spionieren. Anhand der Geräusche des 3D-Druckers konnten ganze Produkte repliziert werden. Der Wissenschaftler Wenyao Xu hat dafür die im Smartphone eingebauten Sensoren umprogrammiert. Legt man das Smartphone neben den 3D-Drucker (bis zu 20cm Anstand möglich), können die Sensoren des Smartphones während des Druckvorgangs die Schallwellen und die elektromagnetische Strahlung messen. Anhand dieser Daten lassen sich dann die Bewegungen der Düsen rekonstruieren. Damit war es dem Wissenschaftler beispielsweise gelungen, einen von einem 3D-Drucker produzierten Türstopper mit eine Genauigkeit von 94 Prozent zu rekon- nehmen mit einem speziellen 3D-Drucker in nur fünf Minuten eine fertige Pizza backen. Im kommenden Jahr sollen die ersten Drucker Pizzen in Einkaufszentren und Fußgängerzonen verkaufen. Das BeeHex-Beispiel zeigt, wie rasant sich die 3D-Drucktechnologie in den vergangenen fünf Jahren verändert hat. Davon profitieren vor allem Industrieunternehmen. Zulieferer genauso wie Bauunternehmen, Möbeldesigner und Drohnenhersteller etc. Selbst beim Bau von Schmuck-Rohlingen kommen die Geräte bereits zum Einsatz. Doch die faszinierende Technologie kann, wenn nicht vorsichtig gearbeitet wird, eine Sicherheitsrisiko darstellen. Akkustische Signale und elektromagnetische Impulse reichen zur Spionage aus. Foto: Wenyao Xu/University of Buffallo ereits 2013 hatte der Ingenieur Anjan Contractor mit einem 3D-Drucker Lebensmittel gedruckt und daraufhin für die NASA den ersten 3D-Lebensmittel-Drucker entwickelt. Zusammen mit drei Bekannten gründete Contractor im vergangenen Jahr die Firma BeeHex. Nun kann das Unter- 2 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |37/16 23. September 2016 Innovation Telefonate: Zeigefinger macht Kopfhörer überflüssig Mit dem Handy am Ohr telefonieren immer weniger. Viele schalten den Lautsprecher ein oder nutzen ein Headset D ie Art, wie wir telefonieren, hat sich seit der Entwicklung des Handys stark verändert. Nachdem ein schnurloses Telefon uns nicht mehr auf den Hocker im Flur gefesselt hat, erlaubte uns das Handy, auch überall auf der Straße, in Fußgängerzonen, auf Hoher See und in den Bergen zu telefonieren. Nun könnte sich die Art, wie wir Anrufer hören, ändern. SGNl heißt ein neues Armband, das Headsets und Handys am Ohr verschwinden lassen will. Dank der sogenannten Body Conduction Unit, soll zukünftig der Zeigefinger am Ohr zum Telefonieren genügen. Dieses System verwandelt Audiosignal in Vibrationen und gibt diese über eine runde Gummifläche an den Zeigefingerknochen ab. Liegt der Zeigefinger am Ohrknochen, fungiert dieser dank der neuen Technik wie ein Lautsprecher. Erhält der Besitzer einen Anruf oder eine SMS, sendet das Smartphone via Bluetooth ein Vibrationssignal. Mit einem einfachen Fingertipp kann das Telefonat dann angenommen werden. Lästiges Handysuchen oder Kopfhörer werden überflüssig. Selbst in sehr lauten Umgebungen soll das System funktionieren. Dem koreanischen Unternehmen zufolge werden durch SGNl nicht nur die Mit einem einfachen Fingertipp können Gespräche angenommen werden. Stimmen übertragen, es werden auch Hintergrundgeräusche herausgefiltert. Dadurch, dass die Stimme über den Zeigefinger nur im eigenen Ohr zu hören ist, können Gespräche von anderen im Raum nicht mitgehört werden. 7 Tage Standby-Zeit und 4-Stunden-Gespräche soll der Akku ermöglichen. Über ein USBKabel wird das Armband innerhalb einer Foto: SGNl Stunde vollgeladen. SGNl kann mit und ohne Uhr getragen werden. Um das Wearable produzieren zu können, wurde eigens eine KickstarterKampagne gestartet. Die gewünschten 50.000 Dollar hat das Unternehmen bereits vor Ablauf der Kampagne erreicht. 17 Tage läuft diese noch. Bisher wurden mehr als 929.000 Dollar eingesammelt. Innovation Springer steigt in Bankenbranche ein Mit der Kooperation wollen das Geldhaus und der Verlag schneller Wachstumsfirmen auswählen, entwickeln und finanzieren M it Axel Springer Plug and Play haben wir den richtigen Partner, um in ganz Europa die besten digitalen Start-ups zu finden“, sagt Markus Pertlwieser, Digitalchef (Chief Digital Officer, CDO) im Unternehmensbereich Privat-, Vermögensund Firmenkunden der Deutschen Bank. „Für uns ist das ein strategischer Schritt, um unser Kerngeschäft schneller zu digitalisieren und in neue digitale Geschäftsmodelle zu investieren.“ Axel Springer betonte, mit dem Institut gewinne der Verlag neue Expertise und Förderkraft. „Der Fin- und InsurTech-Bereich ent- wickelt sich rasant“, sagte Jörg Rheinboldt, Geschäftsführer von Axel Springer Plug and Play. Innovative Start-ups wüchsen stark und veränderten damit das Nutzerverhalten nachhaltig. „Unser AcceleratorProgramm hat bewiesen, dass wir auch in diesen Segmenten in der Lage sind, erfolgreiche Gründerteams und Geschäftsmodelle frühzeitig zu erkennen und bei ihrem Wachstum zu unterstützen. Mit der Deutschen Bank als Partner gewinnen wir zusätzliche Expertise und Förderkraft, um darauf zielgerichtet aufzubauen. Wir freuen uns sehr darüber, Start-ups in Zukunft gemeinsam noch besser unterstützen zu können.“ Die Deutsche Bank ist bereits Partner von Axel Springer Plug and Play, einem Gemeinschaftsunternehmen des Berliner Verlags mit dem Plug and Play Tech Center, einer Start-up-Plattform in Kalifornien. Nun erhält das Geldhaus Sitz und Stimme im Auswahlgremium des Startup-Förderers und begleitet ausgewählte Firmen zusammen mit Axel Springer. Die Start-ups erhalten je 25.000 Euro Startkapital. Mit der Digitalisierung stehen beide 3 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |37/16 Mit der Digitalisierung stehen beide Konzerne unter Druck, neue Geschäftsfelder zu erschließen. Foto: Flickr/O‘Reilly Conferences/CC by nc 2.0 Konzerne unter Druck, neue Geschäftsfelder zu erschließen. So entstehen in der Finanzwelt immer mehr Start-ups, die mit digitalen Anwendungen Banken Konkurrenz machen. Geldhäuser verbünden sich daher zunehmend mit Wachstumsfirmen oder fördern solche selbst. Verlage müssen ferner neue Wege gehen, um abseits gedruckter Medien Geld zu verdienen. Axel Springer investiert deshalb seit Jahren in Online-Geschäfte, etwa in Karriereund Vergleichsportale. Axel Springer Plug and Play hat bereits in 86 Wachstumsfirmen investiert. Viele Firmen, die innovative Finanzdienstleistungen anbieten, sind in den vergangenen Jahren in der Schweiz entstanden. Dies geht aus einer kürzlich 23. September 2016 veröffentlichten Studie des Instituts für Finanzdienstleistungen Zug hervor. Demnach hat sich die Zahl sogenannter „FinTechs“ – also Firmen, welche Finanzdienstleistungen über digitale Kanäle wie Apps anbieten – seit 2010 von 24 auf 162 erhöht. Hinter dieser Zahl stehen neu gegründete Start-ups ebenso wie Banken und Technologieunternehmen, die dem Trend zum digitalen Banking folgen. Auch etablierte Schweizer Geldhäuser haben deshalb Interesse an dem neuen Trend angemeldet. Im März hatte die UBS eine App zur digitalen Kontoführung vorgestellt, bei der sich der Kunde mit seinem Berater über einen Videochat austauscht. Zuvor hatte auch die Bank Valiant in Zusammenarbeit mit der Swisscom ein Pilotprojekt lanciert. Europas Großbanken sind im ersten Halbjahr 2016 beim Gewinn weiter hinter ihre US-Konkurrenz zurückgefallen. Einer Studie des Beratungshauses EY zufolge sank der Nettogewinn der zehn nach der Bilanzsumme größten europäischen Banken im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um ein Viertel auf 22,1 Milliarden Euro, während der Gewinn der amerikanischen Großbanken um 20 Prozent auf umgerechnet 47 Milliarden Euro zurückging. Handel Publizist: CETA ist genauso gefährlich wie TTIP Werner Rügemer sieht hinter Handelsabkommen vor allem die Interessen der Eliten des globalen Finanzkapitalismus Deutsche Mittelstands Nachrichten: Vor kurzem hat die chinesische Maschinenbaufirma Midea die deutsche Roboterfirma Kuka übernommen. Die Bundesregierung mit Kanzleramt, Wirtschafts- und auch Außenministerium sowie die Europäische Kommission suchten verzweifelt nach einem europäischen Investor, um den Technologie-Abfluss nach China zu verhindern. Können Sie diese Sorge nachvollziehen? Werner Rügemer: Nein. Die Europäische Kommission und die Bundesregierung sind eingeschnürt in den Freihandelsabkommen, die gegenwärtig verhandelt werden und teilweise vor der Ratifizierung stehen – so bekanntlich das CETA-Abkommen der EU mit Kanada, das TTIP mit den USA und das internationale Dienstleistungsabkommen TISA. Damit sollen die Kapitalinteressen der westlichen Welt erstens noch stärker untereinander vernetzt werden. Zweitens sollen sie gegen die Konkurrenten und erklärten Feinde wie China, Russland, Indien, Brasilien und die linksregierten lateinamerikanischen Staaten wie Kuba und Venezuela in Stellung gebracht werden. Unverantwortlich ist der Verhinderungsversuch, wenn man jenseits dieser verzweifelten Machtpolitik die Interessen der betroffenen Unternehmen, der Beschäftigten und der Volkswirtschaft zugrunde legt. Die Kuka-Geschäftsführung hat sich für den chinesischen Investor eingesetzt. Er öffnet den größten Absatzmarkt für Roboter. Der Vorstand in Deutschland bleibt selbständig. Die Industriegewerkschaft Metall hat die langfristige Sicherung der 12.300 Arbeitsplätze bis 2023 erreicht – auch nur entfernt Vergleichbares gibt es nicht bei Übernahmen etwa durch USInvestoren. Die politische Aufregung über diese relativ kleine Firmenübernahme steht übrigens in aufschlussreichem Kontrast dazu, dass US-Investoren wie Blackrock, Templeton, Vanguard, Blackstone und KKR sich seit anderthalb Jahrzehnten systematisch in die großen und auch technologisch führenden Unternehmen in Deutschland und in der EU einkaufen. Warum regt sich niemand auf, dass die Eigentumsmehrheit fast aller 30 DAX-Konzerne und der meisten führenden Mittelstandsfirmen gar nicht mehr in deutscher Hand ist? 4 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |37/16 Die Verhandlungen zu TTIP sind zäh, das Misstrauen in der Bevölkerung ist groß. Hingegen preist Wirtschaftsminister Gabriel das CETA-Abkommen: Zu Recht? 23. September 2016 Rohstoffexport ausgedehnt, bei Kanada sind es Öl und Gas, Mineralien und Holz. Kanada hat deshalb ein ständiges Handelsdefizit, muss Maschinen und Elektronik importieren. Die privaten Schiedsgerichte haben dazu Nein. CETA ist genauso gefährlich wie TTIP. geführt, dass Kanada zum meistverklagCETA könnte notfalls TTIP ersetzen, denn es ist so etwas wie TTIP durch die kanaditen Staat wurde und vor allem an US-Ölsche Hintertür. konzerne, die sich gegen Umweltauflagen Die USA haben ja den neuen Typ von Freibeim Fracking wehrten, schon erheblichen Schadenersatz zahlen musste; mehrere handelsabkommen zunächst mithilfe von Verfahren mit MilliardenfordeKanada entwickelt. Das erste derartige Abkommen zwischen rungen sind noch anhängig. den USA und Kanada wurde Auch für die abhängig Beschäf1988 abgeschlossen, 1994 wurtigten brachte NAFTA Nachteile. Die konservative Zentralregiede es durch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen rung unter Ministerpräsident NAFTA auf Mexiko ausgedehnt. Stephen Harper und einzelne Seitdem geht es wesentlich gar Provinzregierungen haben im nicht mehr um das klassische Interesse der Investoren wähFreihandelsthema, nämlich um rend des letzten Jahrzehnts so die von den Staaten erhobenen viele Anti-Streik-Gesetze und Zölle auf transnational gehanAnti-Lohnerhöhungs-Gesetze durchgesetzt wie in keinem delte Waren. Seitdem geht es anderen Staat. Kanada hat den vor allem um die Bedingungen ausgedehntesten Niedriglohnund Rechte für private Investoren. Es geht auch um Privasektor im Westen und behantisierungen, um Patent- und delt migrantische Arbeiter am Markenrechte. Dafür werden rechtlosesten. Die sieben der die Rechte der Investoren ganz zehn größten Unternehmen genau festgeschrieben, wähsind Banken und Finanzinvesrend die Rechte etwa von Artoren, die Kapital nach Europa und Asien und in alle wichtigen beitnehmern nur kurz, bewusst Werner Rügemer ist Publizist und Mitbegründer von Gemeingut in BürgerInFinanzoasen exportieren. Ein ungenau und ohne Sanktionsnenhand und Aktion gegen Arbeitsunrecht. großer Teil des Unternehmensmöglichkeit in den Verträgen Foto: Flickr/JOCHEN Mabuse /CC by sa 2.0. vorkommen. Deshalb sind die eigentums am Standort Kanada privaten Schiedsgerichte hier so ist in Briefkastenfirmen Luxemwichtig. Arbeitnehmer und ihre Vertreter NAFTA 2014 haben Gewerkschaften, Wis- burgs, der Niederlande und der Cayman können vor den Schiedsgerichten auch gar senschaftler und Bürgerinitiativen aus den Islands versteckt. nicht klagen. drei NAFTA-Staaten Bilanz gezogen. Grob Außerdem ist Kanada nicht nur weiter in Das „C“ in CETA steht für „comprehensi- zusammengefasst lautet das Ergebnis: NAFTA eingebunden, sondern ist mit den ve“, also für umfassend. Das bedeutet, wie In keinem der wichtigen westlichen und USA auch Vertragspartner des transpazifischon gesagt: Es geht nur nebenbei um der G8-Staaten ist die Wirtschaft so weit- schen Abkommens TPP. Alle diese Interesdie klassische Freihandelsfrage der Zölle, gehend in der Hand ausländischer Inves- sen, Praktiken und vertraglichen Bindunvielmehr geht es umfassend und vor allem toren wie in Kanada. Der Handel hat sich gen würden neben und mithilfe von CETA um Investitionen mit allen dazugehöri- verdreifacht, aber vor allem industrielle auf die EU einwirken. gen Bedingungen, auch um den Zugang Arbeitsplätze gingen verloren. Die Ausdehzu bisher öffentlichen Dienstleistungen nung des Handels hat auch damit zu tun, Welche Großinvestoren agieren schon wie Bildung und Renten. Ein verschämter dass viele Vor- und Halbprodukte hin- und jetzt beiderseits des Atlantiks und welche Anklang findet sich in der Abkürzung TTIP, hergeschickt werden, bevor sie in einen der konkreten zusätzlichen Vorteile hätten wo das „I“ für Investment steht. Der Begriff drei Staaten zur Endmontage kommen. sie durch die Ratifizierung von CETA und „Freihandel“ ist ein Täuschungsbegriff. Die wichtigste Industrie Kanadas besteht TTIP? aus Zuliefer- und Montagebetrieben für Sie haben die Bedeutung von NAFTA für Ka- US-amerikanische und japanische Auto- Die USA mit Kanada und die EU sind die am intensivsten durch Privatkapital vernada herausgestellt. Lassen sich daraus Vor- konzerne. In allen NAFTA-Staaten wurde dagegen der flochtenen Regionen der Erde, wobei Inhersagen zu CETA, TTIP und TISA machen? Kanada ist seit Ende des 19. Jahrhunderts die privilegierte US-Kolonie. „Wenn nicht diese elenden Yankees wären, hätte unser Land eine große Zukunft“, beklagte schon Kanadas erster Premierminister John McDonald. „Wirtschaftliche Entscheidungen fallen weniger in Ottawa als in Washington, New York oder Detroit“, bilanzierte schon 1968 Der Spiegel. NAFTA hat das noch weiter vertieft. Aus Anlass des 20. Jahres-Jubiläums von 5 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |37/16 vestoren aus den USA und Kanada etwa 50 Prozent mehr in der EU investiert haben als andersherum. Das begann nach dem 1. Weltkrieg. Aber ganz massiv haben die USA nach dem 2. Weltkrieg in Westeuropa und vor allem in den NATO-Staaten investiert, übrigens auch in der Schweiz. Seit den 1980er Jahren betreiben alle großen deutschen Banken, Pharma- und Autokonzerne Niederlassungen in den USA, inzwischen auch jeder gutgehende deutsche Mittelständler. Seit Beginn der 2000er Jahre und verstärkt nach der „Finanzkrise“ kaufen sich Private Equity-Investoren wie Blackstone, KKR, Permira, CVC in mittelständische Weltmarktführer in der EU ein. Große Finanzinvestoren wie Blackrock, Vanguard, Fidelity, Templeton, J.P. Morgan und Goldman Sachs kaufen sich in die großen Aktiengesellschaften ein und haben beispielsweise in den meisten der 30 „deutschen“ DAX-Konzerne die Mehrheit. Die jahrzehntelang bestehende „Deutschland AG“ – also die enge Eigentums- und Kredit-Verflechtung zwischen deutschen Großbanken und Versicherungen und den Konzernen wie Siemens, Daimler und Mannesmann – besteht nicht mehr. So ähnlich sieht es in den anderen EU-Mitgliedsstaaten aus. Bekanntlich wurde diese Entwicklung in Deutschland seit 1998 durch die SPDGrüne-Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder weiter begünstigt, gleichzeitig mit New Labour unter Tony Blair in Großbritannien. Inzwischen liegen wichtige Kompetenzen bei der Europäischen Kommission, der das Verhandlungsmandat für alle internationalen Verträge wie CETA, TTIP und TISA übertragen wurde. Dabei haben die Investoren schon jetzt ziemlich freie Hand, beim Abbau von Arbeitsplätzen, bei der Nutzung von Finanzoasen und beim Abgreifen von Staatsgeldern etwa bei der Rettung von maroden Banken, an denen Blackrock & Co direkt oder indirekt beteiligt sind. CETA, TTIP und TISA würden dem nochmal einen weiteren Schub geben. Wenn aber zum Beispiel Blackrock doch jetzt Hauptaktionär der Deutschen Bank ist, wird dieser Miteigentümer dann nicht aus eigenem Interesse die Bank aufwerten? Das strategische Interesse von Blackrock und der anderen US-Miteigentümer der Deutschen Bank ist ein anderes. Blackrock ist ja gleichzeitig Hauptaktionär von vier der fünf größten Banken in den USA und ebenso in europäischen Banken, neben der Deutschen Bank sind dies die niederländische ING, die größte britische Bank HSBC und die spanische Banco Bilbao. Blackrock ist auch der zweitgrößte Eigentümer in der französischen BNP Paribas und den italienischen Banken Unicredit, Intesa San Paolo und Monte dei Paschi di Siena. Blackrock & Co wollen die Deutsche Bank und die anderen profitabler machen. Eine bewährte Methode ist die Fusion mit einer anderen Bank und die einhergehende „Verschlankung“. Deshalb haben Blackrock & Co die Absicht, die Deutsche Bank mit der Commerzbank zu fusionieren, in der Blackrock übrigens – nach dem deutschen Staat – als zweitgrößter Eigentümer agiert. Wir beobachten zur Zeit immer mehr Großfusionen. Im Moment bemüht sich Bayer um die Übernahme von Monsanto. Glauben Sie, dass nach der Ratifizierung von TTIP der Markt für Gentechnikprodukte wachsen wird? Nein. Erstens sind solche Fusionen auch ohne TTIP möglich. Zweitens wächst durch Fusionen der Markt eher nicht. Für die Großaktionäre der fusionierten Unternehmen geht es vor allem um die vielfältige Gewinnsteigerung. Bei Bayer und Monsanto ist es so wie bei Deutsche Bank und Commerzbank: Großaktionäre bei Bayer sind Blackrock, Sun Life Financial, Capital World, Vanguard. Die Großaktionäre von Monsanto sind ebenfalls Blackrock, Sun Life Financial, Capital World und Vanguard. Die treiben im öffentlichen Schauspiel der „feindlichen Übernahme“ die beiden Vorstände an, um die Fusion lukrativ zu gestalten. Dabei geht es für Vorstände, Aufsichtsräte und Topmanagement auch um Kopf und Kragen. Diese Investoren ziehen bei solchen Übernahmen oder Fusionen ihre Gewinne aus dem Verkauf von Teilen beider Unternehmen – durch Personalabbau, durch Auslagerungen von Aufgaben und Personal an Billiganbieter, durch Bereitstellung des 23. September 2016 Übernahme-Kaufpreises und durch anschließende monopolistische Preissteigerungen. Solche Fusionen tragen übrigens dazu bei, dass die westlichen Volkswirtschaften stagnieren, die Privateigentümer noch reicher werden und gleichzeitig Niedriglöhnerei und Verarmung um sich greifen. TTIP und CETA würden das eher noch erleichtern. Bundeskanzlerin Merkel und US-Präsident Obama wollen TTIP unbedingt durchsetzen. In den USA aber äußern sich die Präsidentschaftskandidaten Trump und Clinton skeptisch – das erscheint doch aufgrund ihres Interessenhintergrundes unglaubwürdig? Beide Kandidaten vertreten die Interessen von großen, asozialen Finanzinvestoren. Der kleine Unterschied besteht darin, dass Trump die zweite Etage vertritt, man könnte auch sagen: das milliardenschwere Lumpenproletariat des Finanzstandortes USA. Zu seinen Beratern gehören z.B. der Chef des erfolgreichsten Hedgefonds, John Paulson; Steve Feinberg vom Private Equity Fonds Cerberus (Waffenindustrie); Steven Roth (größter Eigentümer von Gewerbeimmobilien in New York); Steven Mnuchin (Spezialist für WohnungsZwangsversteigerungen, unterstützte schon den republikanischen Kandidaten Mitt Romney); Howard Lorber (HotdogKette Nathan’s); David Malpass (Beratungsfirma Encima Global, Ex-Berater von Präsident George H.W. Bush) und Harold Hamm (Fracking-Unternehmen Continental Resources). Frau Clinton dagegen ist mit der ersten Etage der Wall Street verschwistert und verschwägert, mit Goldman Sachs und Blackrock & Co, die ungleich mehr als die Trump-Truppe global agieren und beste Kontakte nicht nur zum Washingtoner Establishment haben, sondern auch zu den wichtigsten Regierungen in der EU und etwa zu den finanzstarken Golfdynastien in Saudi-Arabien und Katar. Gerade aber im Wahlkampf können und dürfen beide nicht als Vertreter dieser Interessen auftreten, sondern müssen Stimmen im Volk fangen. Beide versuchen sich auf ihre typische Weise als gewiefte, demagogische Populisten. Der Republikaner 6 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |37/16 Trump appelliert an lumpenproletarische, nationalistische und Anti-EstablishmentGefühle, Clinton zieht wie vorher Obama die typische Karte der Demokraten; sie faselt von Menschenrechten, verwandelt sich chamäleonartig als Vorkämpferin für Arbeiterinteressen und übernimmt rhetorisch große Teile des sozialdemokratischen Programms ihres unterlegenen Partei-Konkurrenten Sanders. Können Sie die Prognosen aus Politik und Wirtschaft, TTIP und CETA würden zu mehr Wachstum und Wohlstand führen, nachvollziehen? Nicht nur das Vorbild NAFTA und das Schicksal Kanadas, sondern auch die bisherige Praxis der TTIP- und CETA-Lobbyisten zeigen das Gegenteil: Wachstum wird nur auf der Seite der Finanzinvestoren generiert. Der Handel und der privat angeeignete Reichtum wachsen. Die Operationen über Finanzoasen nehmen zu. Die industrielle Basis wird spekulativ ausgezehrt. Transnationale Unternehmensfusionen und Privatisierungen von öffentlichen Unternehmen führen zum Abbau von Arbeitsplätzen und neuen preistreibenden Monopolen. Es wachsen die Niedriglohnsektoren und die Armut. Und nicht zu vergessen: TTIP und CETA würden die Entwicklung zu autoritären Regimes in den bisherigen Kapitaldemokratien westlichen Musters weiter verstärken. Die Paralleljustiz der privaten Schiedsgerichte mit dem exklusiven Klagerecht privater Investoren ist ja schon von vielen Menschen als eine solche Gefahr erkannt worden. In großen Teilen der Bevölkerungen in der EU und in Nordamerika rumort schon lange eine wachsende Unzufriedenheit. Der primäre Populismus der herrschenden Politik gebiert den sekundären Populismus der expliziten nationalistischen, fremdenfeindlichen Rechten. Dass allerdings auch schlummernde demokratische Potentiale belebt werden können, zeigt der „überraschende“ Erfolg des Wahlkämpfers Sanders – davon konnten nur die überrascht sein, die demokratische Bewegungen routinemäßig niederhalten. Würde die EU durch die Ratifizierung von TTIP und CETA gegenüber den USA an Gewicht verlieren? Wäre sie aufgrund dessen – wenn man noch die NATO hinzurechnet – vielleicht sogar entbehrlich? Nein. Für die hinter diesen Verträgen stehenden Akteure diesseits und jenseits des Atlantiks ist es unverzichtbar, dass die Europäische Union mit ihren Institutionen und Gremien die Durchführung absichert. Und Regierungen und politische Parteien in den EU-Mitgliedsstaaten sollen für das Mitmachen oder zumindest das Erdulden sorgen. Die Profiteure wissen viel genauer, als sie öffentlich zugeben, über die politisch brüchige Situation Bescheid. Der Brexit war nur ein kleiner, verquerer und beherrschbarer Ausbruch von tiefer Unzufriedenheit und Instabilität. TTIP und CETA sind, wie schon erwähnt, Instrumente der gewählten und vor allem der ungewählten Eliten des transatlantischen Kapitalismus. Diese Instrumente richten sich gegen Konkurrenten und Feinde. Durch TPP und TISA sollen und 23. September 2016 wollen auch die Eliten der westfreundlichen Staaten der pazifischen Region einbezogen werden. Zum Instrumentarium gehört leider auch die geleitzugartige Expansion der EU und der NATO nach Osteuropa. Letztlich geht es dabei um die Beherrschung Russlands, aber auch um ultimative Sicherheiten im Falle politischer Destabilisierungen, d.h. gegen mögliche demokratische Aufstände und nationale – nicht nationalistische – Selbstbestimmung. Dass nationalistische und extrem reaktionäre Politiken mit der westlichen Strategie sehr gut vereinbar sind bzw. gefördert werden, zeigt sich massiv gegenwärtig etwa in der Ukraine. Alternativen sind möglich: Transnationale Handelsbeziehungen und Investitionen dürfen nicht militärisch begleitet werden, sonst lauert der Krieg. Die Freihandelsverträge der 11 südamerikanischen Staaten der Bolivarianischen Allianz für Amerika – Handelsvertrag der Völker (Venezuela, Kuba, Bolivien, Ecuador, Nicaragua und 6 weitere karibische Staaten) enthalten das Verbot, im jeweils anderen Staat militärisch präsent zu sein. China expandiert in der EU und auf allen Kontinenten, ohne militärische Präsenzen einzurichten – das halte ich für vorbildlich. ......................................................................................................... Dr. Werner Rügemer ist Publizist und Mitbegründer von Gemeingut in BürgerInnenhand und Aktion gegen Arbeitsunrecht. Letzte Buchveröffentlichung: Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet: Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur (Neue Kleine Bibliothek) Politik EuGH: Bürger können von EU-Kommission Schadenersatz fordern Im Fall der Bankenrettung von Zypern haben sich die EU-Kommission und die EZB jedoch rechtskonform verhalten M ehrere Kläger aus Zypern sind mit Beschwerden um die Bankenrettung in der Euro-Krise vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gescheitert. Ihre Einlagen hatten bei der Umstrukturierung des zyprischen Finanzsektors im Jahr 2013 erheblich an Wert verloren, daher waren sie gegen die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank (EZB) vor Gericht gezogen. Unter anderem forderten sie Schadenersatz. Die Kommission habe mit ihrem Vorgehen im Sinne des Gemeinwohls der EU gehandelt, entschied der EuGH in Luxemburg. Es sei um die Stabilität des Bankensystems im Euro-Raum gegangen. Die Kommission hatte für den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM zusam- men mit Zypern ein Protokoll unterzeichnet. Dies schrieb die Reformen fest, die Zypern umsetzen sollte, um Finanzhilfen zu erhalten. In Zypern waren in der Folge Einlagen ab 100.000 Euro zur Rettung des wackelnden Bankensystems herangezogen worden. Die Klagen waren bereits in erster Instanz vor dem EU-Gericht gescheitert, die 7 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |37/16 Kläger legten Rechtsmittel ein. Der EuGH hob nun zwar die Entscheidungen des Gerichts zum Teil auf – im konkreten Fall hilft das den Klägern allerdings nicht. Die Richter argumentierten, dass Schadenersatzforderungen gegen EU-Kommission oder EZB im Prinzip möglich wären, wenn sich die Behörden falsch verhalten hätten. Das sei hier aber nicht der Fall gewesen. Der entscheidende Punkt im Falle Zyperns ist die Tatsache, dass die EUKommission die Bankenstabilität als das höhere Gut eingestuft habe. Außerdem müssen Kläger einen kausalen Zusammenhang zwischen einer rechtswidrigen Entscheidung und ihrer Enteignung nachweisen. Dieser Nachweis dürfte einem Geschädigten schwerfallen, zumal, wenn ein Kollaps des Finanzsystems als Gegenargument ins Treffen geführt wird. Die Mitteilung des EuGH im Wortlaut: In den ersten Monaten des Jahres 2012 gerieten mehrere in Zypern ansässige Banken, darunter die Cyprus Popular Bank (Laïki) und die Trapeza Kyprou Dimosia Etaireia (Bank of Cyprus oder BoC), in finanzielle Schwierigkeiten. Die zyprische Regierung bat deshalb die aus den Finanzministern der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets bestehende EuroGruppe um finanzielle Unterstützung. Die Euro-Gruppe antwortete darauf, dass die gewünschte finanzielle Unterstützung vom ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) im Rahmen eines makroökonomischen Anpassungsprogramms gewährt werde, das in einem Memorandum of Understanding (MoU) zu konkretisieren sei. Die Verhandlungen über dieses Protokoll wurden von der Kommission zusammen mit der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) auf der einen und den zyprischen Behörden auf der anderen Seite geführt. In einer Erklärung vom 25. März 2013 gab die Euro-Gruppe bekannt, dass die Verhandlungen zu einem Entwurf eines MoU über die Umstrukturierung der BoC und der Laïki geführt hätten. Das MoU wurde daraufhin von der Kommission (im Namen des ESM) und Zypern unterzeichnet, und der ESM gewährte Zypern eine finanzielle Unterstützung. Mehrere zyprische Einzelpersonen sowie eine Gesellschaft mit Sitz in Zypern waren Inhaber von Einlagen bei der BoC oder der Laïki. Die Durchführung der mit den zyprischen Behörden vereinbarten Maßnahmen führte zu einem erheblichen Wertverlust dieser Einlagen. Daraufhin erhoben die betroffenen Einzelpersonen und die genannte Gesellschaft beim Gericht der Europäischen Union Klagen u. a. auf Ersatz des Wertverlustes, den ihre Einlagen durch den Abschluss des MoU erlitten haben sollen, und auf Nichtigerklärung der einschlägigen Punkte dieses MoU. Außerdem erhoben sieben zyprische Einzelpersonen Klagen beim Gericht auf Nichtigerklärung der Erklärung der Euro-Gruppe vom 25. März 2013 zur Umstrukturierung des zyprischen Bankensektors. Mit fünf Beschlüssen vom 16. Oktober 2014 wies das Gericht zum einen die gegen die Erklärung vom 25. März 2013 gerichteten Nichtigkeitsklagen als unzulässig ab. Es entschied, dass der ESM nicht zu den Unionsorganen gehöre und dass die Erklärung der Euro-Gruppe weder der Kommission und der EZB zugerechnet werden noch Rechtswirkungen gegenüber Dritten erzeugen könne. Mit drei Beschlüssen vom 10. November 2014 wies das Gericht zum anderen die Nichtigkeits- und Schadensersatzklagen im Zusammenhang mit dem Abschluss des MoU mit der Begründung ab, dass sie teilweise unzulässig und teilweise unbegründet seien. Das Gericht stellte fest, dass die Kommission das MoU nur im Namen des ESM unterzeichne und dass die von der Kommission und der EZB im Rahmen des ESM ausgeübten Tätigkeiten nur diesen verpflichte. Auch hätten die Personen, die diese Klagen erhoben hätten, nicht mit Sicherheit nachgewiesen, dass der von ihnen geltend gemachte Schaden tatsächlich durch eine Untätigkeit der Kommission verursacht worden sei. Daraufhin haben die Einzelpersonen und die Gesellschaft beim Gerichtshof die Aufhebung der Beschlüsse des Gerichts beantragt. In seinen heutigen Urteilen bestätigt der Gerichtshof die Beschlüsse vom 16. Oktober 2014 über die Nichtigkeitsklagen gegen die Erklärung der Euro-Gruppe vom 25. März 2013. Hingegen hebt er die Beschlüsse vom 10. November 2014 über die Schadensersatzklagen auf, gibt diesen Klagen jedoch in der Sache nicht statt. 23. September 2016 In Bezug auf die Rechtsmittel, die die gegen die Erklärung der Euro-Gruppe vom 25. März 2013 gerichteten Nichtigkeitsklagen betreffen (verbundene Rechtssachen C-105/15 P bis C-109/15 P), ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Gericht zutreffend entschieden hat, dass die Erklärung der Euro-Gruppe nicht als ein gemeinsamer Beschluss der Kommission und der EZB angesehen werden kann. Die der Kommission und der EZB im Rahmen des ESM-Vertrags übertragenen Funktionen umfassen nämlich keine Entscheidungsbefugnis im eigentlichen Sinne, zumal die Tätigkeiten dieser beiden Organe im Rahmen des ESM-Vertrags nur den ESM verpflichten. Der Umstand, dass die Kommission und die EZB an den Sitzungen der Euro-Gruppe teilnehmen, ändert nichts an der Natur der Erklärungen der Euro-Gruppe, sodass ihre Erklärung vom März 2013 nicht als Ausdruck einer Entscheidungsbefugnis dieser beiden Unionsorgane angesehen werden kann. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass den zyprischen Behörden der Erlass des für die Umstrukturierung der Kreditinstitute erforderlichen rechtlichen Rahmens durch einen vermeintlichen gemeinsamen Beschluss der Kommission und der EZB, der in der Erklärung der Euro-Gruppe vom März 2013 verkörpert sein soll, vorgeschrieben worden wäre. Der Gerichtshof weist daher die Rechtsmittel zurück und bestätigt die Beschlüsse des Gerichts vom 16. Oktober 2014. In Bezug auf die Rechtsmittel, die die Schadensersatzklagen betreffen (verbundene Rechtssachen C-8/15 P bis C-10/15 P), ist der Gerichtshof der Auffassung, dass der Umstand, dass die der Kommission und der EZB im Rahmen des ESM-Vertrags übertragenen Funktionen keine Entscheidungsbefugnis im eigentlichen Sinne umfassen und nur den ESM verpflichten, es nicht ausschließt, von der Kommission und der EZB Schadensersatz wegen ihres vermeintlich rechtswidrigen Verhaltens beim Abschluss eines MoU im Namen des ESM zu fordern. Die der Kommission und der EZB im Rahmen des ESM übertragenen Aufgaben verfälschen nämlich nicht die Befugnisse, die ihnen der EU-Vertrag und der AEU-Vertrag übertragen. Somit behält die Kommission im Rahmen des 8 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |37/16 Neue Entscheidungen von Juncker könnten die EU-Kommission zukünftig einiges kosten. ESM-Vertrags ihre Rolle als Hüterin der Verträge, wie sie sich aus Art. 17 Abs. 1 EUV ergibt, sodass sie davon Abstand nehmen muss, ein MoU zu unterzeichnen, dessen Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht sie bezweifelt. Der Gerichtshof schließt daraus, dass das Gericht rechtsfehlerhaft festgestellt hat, dass es nicht befugt sei, die auf die Rechtswidrigkeit einiger Bestimmungen des MoU gestützten Schadensersatzklagen zu prüfen. Er hebt daher die Beschlüsse vom 10. November 2014 auf. Da die Rechtssachen entscheidungsreif sind, beschließt der Gerichtshof, selbst über die Schadensersatzklagen zu entscheiden. Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass die außervertragliche Haftung der Union vom Vorliegen einer Reihe von Voraussetzungen abhängt, und zwar erstens der Rechtswidrigkeit des dem Unionsorgan vorgeworfenen Verhaltens, zweitens dem tatsächlichen Bestehen des Schadens und drittens der Existenz eines Kausalzusammenhangs zwischen diesem Verhalten und dem gel- tend gemachten Schaden. Was die erste Voraussetzung anbelangt, muss ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm nachgewiesen werden, die dem Einzelnen Rechte verleihen soll. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rechtsnorm im vorliegenden Fall Art. 17 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der EU ist, in dem es heißt, dass jede Person das Recht hat, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen. Zwar führen die Mitgliedstaaten im Rahmen des ESM-Vertrags nicht das Unionsrecht durch, sodass die Charta in diesem Rahmen nicht für sie gilt. Für die Unionsorgane gilt die Charta jedoch auch dann, wenn sie außerhalb des EURechtsrahmens handeln. Die Kommission muss sich daher vergewissern, dass ein solches MoU mit den in der Charta verbürgten Grundrechten vereinbar ist. Gleichwohl ist die erste Voraussetzung für die Begründung der außervertraglichen Haftung der Union im vorliegenden Fall nicht erfüllt: Die Annahme des fraglichen MoU Impressum Geschäftsführer: Christoph Hermann, Karmo Redaktion: Anika Schwalbe, Nicolas Dvorak. Sales Director: Kurfürstendamm 206, D-10719 Berlin. HR B 105467 B. Telefon: com. Erscheinungsweise wöchentliches Summary: 52 Mal pro www.deutsche-mittelstands-nachrichten.de 23. September 2016 Foto: Flickr/European Parliament/CC by nc nd 2.0 entspricht nämlich einem dem Gemeinwohl dienenden Ziel der Union, und zwar dem, die Stabilität des Bankensystems der Euro Währungsgebiets insgesamt sicherzustellen. Unter Berücksichtigung dieses Ziels und der Art der geprüften Maßnahmen und in Anbetracht der den Einlegern bei den beiden betroffenen Banken im Fall von deren Zahlungsunfähigkeit unmittelbar drohenden Gefahr finanzieller Verluste stellen diese Maßnahmen keinen unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff dar, der das durch Art. 17 Abs. 1 der Charta gewährleistete Eigentumsrecht der Einleger in seinem Wesensgehalt antastet. Sie können daher nicht als ungerechtfertigte Beschränkungen dieses Rechts angesehen werden. Die Kommission hat demnach nicht zu einer Verletzung des Eigentumsrechts der Personen, die die Klagen erhoben haben, beigetragen. Da die erste Voraussetzung für die Begründung der außervertraglichen Haftung der Union nicht erfüllt ist, weist der Gerichtshof die Schadensersatzklagen ab. Kaas-Lutsberg. Herausgeber: Dr. Michael Maier (V.i.S.d. §§ 55 II RStV). Philipp Schmidt. Layout: Nora Lorz. Copyright: Blogform Social Media GmbH, +49 (0) 30 / 81016030, Fax +49 (0) 30 / 81016033. Email: info@blogform-group. Jahr. Bezug: [email protected]. Mediadaten: [email protected]. 9
© Copyright 2024 ExpyDoc