Die Belohnung ist eine verkleidete Strafe

Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature
Die Belohnung ist eine verkleidete Strafe
Über den niederländischen Schriftsteller Arnon Grünberg
Autor: Thomas Böhm
Redaktion: Tina Klopp
Produktion: DLF 2016
Erstsendung: Freitag, 23.09.2016, 20:10 Uhr
Besetzungsbüro
Regie: Claudia Kattanek
Technik I
Technik II
Ansager
Sprecherin: Claudia Mischke
Sprecher: Robert Dölle
Sprecher 2: Marc Fischer
Urheberrechtlicher Hinweis
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©
- unkorrigiertes Exemplar -
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Atmosphäre: Café Einstein
1. O-Ton Arnon Grünberg
Also für mich die erste Reise, das war alles. Ich hatte das Gefühl, die Welt kannte ich
gar nicht. Es war zum ersten Mal mit einer Armee mit. Es war Sommer. Unheimlich
heiß in Afghanistan. Das erste Mal, dass ich in einem Kriegsgebiet ein militärisches
Lager betrat. Also... ich hatte keine Ahnung.
4. O-Ton Arnon Grünberg
Damals gab es noch jeden Abend diese Angriffe mit kleinen Raketen. Und der erste
Angriff, das war am ersten Abend schon, das war für mich schon ein wichtiges, ein
sehr wichtiges Moment. Denn nicht nur weil man konfrontiert wird mit die eigene
Sterblichkeit, aber auch weil man – zu meiner eigenen Überraschung – ein
Riesensglücksgefühl nachdem ich das überlebt hatte... es war reiner Zufall, aber das
Glück war so unheimlich groß... das hat mich dann irgendwie doch erschüttert...
5. Ansager
Die Belohnung ist eine verkleidete Strafe
Über den niederländischen Schriftsteller Arnon Grünberg
von Thomas Böhm
6. Atmosphäre: Café Einstein
7. Arnon Grünberg
Es würde uns schon gesagt, also die Mitreisen, wir waren zu zweit, es kann ein
Angriff kommen, dann muss man in die Bunker gehen.... die Sonne ging unter um
sechs, halb sieben, und grade wegen die Angriffe war alles dunkel. Und ich hatte
keine Ahnung wo ich hingehen sollte. Ich hab nur mein eigene Zelt wiedergefunden.
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8. Sprecher
Berlin, Café Einstein. Arnon Grünberg erzählt von den Erfahrungen bei seinem
ersten „Embedded-Projekt“. Seit 2006 unterbricht er jedes Jahr im Sommer die Arbeit
an seinen literarischen Texten, um – wie er es nennt - seine „Berührungsangst mit
der Wirklichkeit“ zu überwinden.
9. Arnon Grünberg
Und dann kam die Presseoffizier und die war... nicht böse, aber die war doch... die
fand dass geht nicht so und man sollte in die Bunker gehen aber es war keine Zeit
mehr und dann hat die sich wirklich so auf mich gelegt. Um mich zu schützen, ich
glaub auch, es war ja auch schlechte Werbung für die Armee und die ganze Mission,
dass ein Journalist tot zurückgeschickt würde ... aber ich musste innerlich lachen,
das war mich völlig surreell, und zur gleichen Zeit... ich hab auch die Rakete gehört
und man hat uns auch gesagt: Wenn man das hört, dann ist das Gefahr schon
vorbei... und ich hörte das und dachte: aha... ich bin jetzt sicher... und auch ein
Freude, dass man noch lebt, die mich wirklich überrascht hat. Irgendwie noch immer,
wenn ich daran zurückdenke, noch immer nicht ganz versteh. Denn so... Ich bin nicht
tot... aber so toll ist das Leben auch wieder nicht. Also es war etwas Tierisches... es
war etwas, was nicht mehr mit Sprache oder Gedanken zu tun hat. Es kam von
irgendwo anders her... von ein Angst, die .... die größer ist als man denkt...
10. Sprecher
Grünberg folgte dem Rat, den der Schriftsteller Maxim Gorki einst seinem jungen,
jüdisch-russischen Kollegen Isaak Babel gab, als dieser ihn fragte, wie er ein
besserer Schriftsteller werden könne. Gorki antwortete: „Gehe unter die Menschen.“
Daraufhin trieb sich Babel sieben Jahre herum und meldete sich schließlich freiwillig
zum Dienst in der Roten Armee.
11. Atmosphäre: Cafe Einstein
12. Arnon Grünberg
Ich kam dann nach einer Woche wieder, das war so ein militärisches Lager in
Eindhoven, im südlichen Teil von Holland. Meine Freundin hat mich abgeholt und hat
gesagt: „Du siehst aus, als ob Du unüberwindig bist. Du kommst heraus wie ein
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Sieger.“ Und ich schämte mich, dass sie das sah, weil: so fühlte mich auch. So ist
das nie mehr zurückgekommen. Es war nicht nur, was die Soldaten mich erzählen,
was ich da alles gehört und gesehen habe... Aber auch, was es mit mir gemacht hat.
Das war für mich schon ein Grund, um das weiterzumachen, um das weiter zu
erforschen.
13. O-Ton Grünberg
Und ich hab immer schon – weil ich wollte auch zuhause in Amsterdam nie so
bleiben bei meine Eltern – alleine in einem Café gesessen, um was zu lesen oder
einfach, um irgendwo anders zu sein. Also für mich war ein Café schon immer etwas,
wo ich mich gern zuhause fühlte, und dieses „Einstein“ war so etwas... ich dachte:
„Hier fängt das Leben an!“ So habe ich das gemeint. Und dann habe ich mich hier
hingesetzt und gewartet. Und es ist nichts passiert....
14. Sprecher
Grünbergs bekanntestes embedded-Projekt, veröffentlicht in vielen internationalen
Zeitungen, ist sein Bericht von einer Reise namens „A foreign affair“ – eine
sogenannte „Romantic Tour“: Amerikanische Junggesellen sollen dort eine Braut
finden. Oder zumindest Sex haben. Reiseziel: Die Ukraine.
15. Atmosphäre Einstein
16. Grünberg
Stell Dich vor so ein Café wie dieses... aber dann in Odessa... Odessa ist ja eine
ziemlich schöne Stadt... oder eine ziemlich traurige Stadt wie Mikolajiv, wo es
aussieht als ob es noch 52 ist und Stalin noch lebt... und da sitzen da nur Frauen aus
den Ukraine an Tischen und dann sind die Männer, die warten draußen, und an
einem gewissen Punkt sagt der Gruppenführer: „Jungs, jetzt geht es los! Findet die
Frau Eurer Träume!“ Und dann gehen die Türen auf... und dann gehen die rein... und
es ist skurril... aber die haben dafür gezahlt...
und die sind auch... der eine ist
nervös, der andere weniger... weil es so abgründig ist: 150 Frauen und 18 Männer...
Die traurigste Geschichte war ein ganz offensichtliche Homosexueller aus Queens,
der von seiner Mutter schon dien siebten Mal auf so eine Tour geschickt, der hat
dann erzählt, seine Mutter hat gesagt: Wenn Du jetzt nicht mit eine Frau
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zurückkommst, kommst du nicht mehr bei mir in das Haus. Andere Schlüssel – du
bleibst weg.
Und das Fremde war... dass die anderen Herren, die haben sich nicht darüber lustig
gemacht ... jeder hat eine Geschichte... und die anderen haben noch versucht zu tun,
als wenn sie sehr erfolgreich sind.
17. Sprecher
Immer wieder kommen in Grünbergs Geschichten Menschen zu Wort, die sich eine
Nische in der Welt geschaffen haben, wie klein diese auch immer sein mag. Als er
als Kellner bei der Schweizer Bundesbahn arbeitete, entdeckte er, dass ein Kollege
selbstgemachtes Essen mitbrachte und an die Gäste im Speisewagen verkaufte.
18. Atmosphäre Café Einstein
19.O-Ton Grünberg
Das war auf die Strecke von Zürich - München. Und das hat er auch immer gemacht,
der hat auch Nachtzüge gehabt. Und auf diese Strecke hat er anscheinend feste
Kunden gehabt. Und die kannten das ganze Menü. Und er war Italiener und der hat
dann seine eigene Wurst aus Italien mitgenommen und seine Vitello Tonato gemacht
– und das hat er dann verkauft. Und das Essen war gar nicht schlecht... mit Aufwand
und Courgette (= Zucchini) und das hat ihm auch wirklich Freude gemacht. Für ihn
war das so eine Art Stolz. Aber es war ja auch absurd. Ein eigenes Betrieb innerhalb
des ganz großen Betriebs der Schweizer Bundesbahn gemacht. Und dann wusste er
auch genau, wer davon wusste und wer nicht. Das war auch so ein Geheimtipp. Bei
ihm konnte man auch die italienischen Spezialitäten bestellen, das wurde dann unter
dem Tisch abgerechnet...
Es geht ja auch wieder um Vertrauen.... Man ist dabei. Und man macht mit. Wenn ich
gesagt hätte: „Aber das darfst Du doch nicht!“, dann hätte er auch nicht weitererzählt.
Ich hab zwar eine Moral, aber es ist unwichtig, was ich davon halte oder was ich
davon denke... ich höre zu....
20. Atmosphäre: Kühlraum Gut Hesterberg
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21. O-Ton: Grünberg spricht mit Betriebsleiter Steineke, Gut Hesterberg
Grünberg: Können Sie noch mal kurz sagen: Sie sind hier der Betriebsleiter?
Jan-Peer Steineke: Mein Name ist Jan-Peer Steineke. Ich bin der Betriebsleiter von
Gut Hesterberg und bin jetzt seit acht Jahren im Gut Hesterberg tätig.
Grünberg: Und wo sind wir jetzt? Können Sie das mal erklären?
Jan-Peer Steineke: Ja, wir befinden uns hier jetzt in unserer Zerlegung. In unserer
gekühlten Zerlegung, damit wir damit wir sicherstellen können, dass die Kühlkette
der Tiere, die nach der Schlachtung in die Kühlung verbracht werden, nicht
unterbrochen wird.
22. Sprecher
In diesem Sommer wollte sich Arnon Grünberg ursprünglich einem Zirkus
anschließen und mit ihm herumreisen. Doch die Zirkusleute wollten ihn nicht.
Stattdessen arbeitet er nun als Schlachter: zum einen in dieser großen, industriellen
Schlachterei in den Niederlanden, und dann noch auf Gut Hesterberg, in einem
kleinen Betrieb, in dem die Tiere artgerecht gehalten werden.
23. O-Ton: Grünberg spricht mit Betriebsleiter Steineke, Gut Hesterberg
Grünberg: Und wann ist dieses Rind geschlachtet worden?
Jan-Peer Steineke: Das ist letzte Woche Freitag geschlachtet worden. Das sieht man
noch hier, wir haben eine Chargennummer an den Rindern. Da erkennen Sie das
Jahr, das ist die 16, dann gibt es die Woche, das ist die 23 und die 1 steht dafür,
dass das Rind an erster Stelle geschlachtet wurde.
Grünberg: Und 376? Was bedeutet das?
Jan-Peer Steineke: Das ist das Schlachtgewicht.
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Grünberg: Und von wo aus wo wir jetzt sind – wo genau wird geschlachtet? Können
wir da auch hingehen?
Jan-Peer Steineke: Ja.
Grünberg: Wollen wir das machen?
Jan-Peer Steineke: Sehr gerne.
24. Sprecher
Grünberg, Mitte 40, wurde ausgezeichnet mit allen bedeutenden niederländischen
Literaturpreisen, übersetzt in 30 Sprachen, von Autorenkollegen wie Daniel
Kehlmann und Literaturnobelpreisträger John M. Coetzee gepriesen für seinen „Witz
und seine sardonische Intelligenz“. Er lebt abwechselnd in New York und
Amsterdam. Und in Berlin, dem Geburtsort seiner Mutter. In der Nähe von Berlin ist
er auch auf das Gut Hesterberg bei Neuruppin gestoßen.
25. Atmo: Außen, Gut Hesterberg
26. O-Ton Gerald Weber / Grünberg
Die sind wirklich 365 Tage im Jahr draußen im Freien. Es passiert alles wie in der
Natur: Die leben im Herdenverband zusammen. Die werden auf der Weide gezeugt,
geboren gesäugt und bleiben zusammen und bleiben bei der Herde – zuerst bei der
Mutterkuh und dann bei der Herde. Die brauchen auch kein Tierarzt.
27. Sprecher
Gerald Weber, Geschäftsführer des Guts und Lebensgefährte der Besitzerin, deutet
auf die grasenden Galloway-Rinder. Auf Weiden, die so weitläufig sind, dass man
eher an eine Ranch als an einen Bauernhof denkt.
28. O-Ton Gerald Weber / Grünberg
Weber: Der Tierarzt hat am meisten zu tun, wenn die Kälbersaison beginnt, wenn die
Kälber kommen. Das geht manchmal schon im Februar los – wenn es dann schon
richtig kalt ist und der Boden noch gefroren ist. Dann wird es gefährlich... wir haben
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jetzt zwei solche Fälle – die haben wir jetzt drüben im Streichelzoo. Eines... das
musste rausgezogen werden und irgendwie hat die Mutter dann irgendwie den
Instinkt nicht, auf dieses kleine Kälbchen aufzupassen. Und ist draufgetreten, und hat
ihm das Bein gebrochen. Im Normalfall wäre das, ja, das Todesurteil gewesen. Aber
unser Tierarzt hat das ganze wieder gradegerichtet, operiert, Gips dran, und dann ist
es da rumgehumpelt ein paar Wochen... man sieht es noch so ein bisschen, aber es
kann wieder laufen. Hat natürlich auch einen Namen gekriegt.... das wird auch nicht
geschlachtet. Das wird wahrscheinlich hier 15 Jahren bei den Pferden und beim Esel
mitlaufen. Also das werden dann Haustiere, solche Schwerkalber... das passiert, ein,
zwei, dreimal im Jahr passiert das, dass das Kälbchen von der Mutter nicht
angenommen wird, das sind dann unsere Streichelzootiere. Wenn es nur einmal
passiert haben wir natürlich das Problem... das sind Herdentiere, allein kann es nicht
bleiben... dann haben wir immer eine Herde von Ziegen und Schafen, die den
Herdenersatz abgeben, die sind aber sehr tolerant, die nehmen die Kälbchen dann
auf. Aber die Kälbchen lernen dann irgendwie mit diesen Ziegen zu leben und mit
den Schafen. Die halten sich dann ihr ganzes Leben lang für Ziegen.... also die
würden nicht mehr zu den Kühen zurückgehen, das ist immer irgendwie ganz lustig...
29. Atmosphäre Café Einstein
30. Sprecher
Berlin, Café Einstein. Grünberg schlägt vor, einen Spaziergang zu machen. Richtung
Düsseldorfer Straße. Dort, in der Nähe des Ku’damms ist Hannelore Grünberg-Klein
aufgewachsen, seine Mutter. Das war in den 1930er Jahren, in einer Familie, die auf
„Hofjuden“ zurückgeht, wie sie in ihren Lebenserinnerungen schreibt.
31. Atmosphäre Straße
32. O-Ton Grünberg / Böhm
Es war ja auch wichtig für sie, dass seit Generationen ihre Familie in Deutschland
gelebt hat. Und das waren nicht so Leute, die aus dem Osten kamen... sie sprach ja
auch kein Jiddisch, aber Hochdeutsch, sie kannte gar kein Jiddisch. Das waren
wichtige Sachen für meine Mutter.
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Sie hat auch danach viele Sprachen gelernt, sie auch nach dem Krieg in
verschiedene Orte... sie war in Frankreich Au pair, sie hat in Argentinien gelebt, wo
Teil von ihre Familie hingegangen ist, also Spanisch hat sie auch gekennt, aber
Deutsch war ihre erste Sprache... ein Muttersprache verliert man ja nicht.
Zum Beispiel mit meinem Vater hat meine Mutter oft auf Deutsch geredet aber auch
als sie dann krank war und mit diesem Mädchen aus den Philippinen gelebt hat und
dann wollte sie etwas sagen zu mir, was so ... das habe ich auch in dem Buch
verwendet, in meinem Roman: ... dann hat sie immer gesagt: „Ich sag es mal auf
Deutsch“.
Böhm: Was war es, was sie gesagt hat, was die Phillippino-Frau nicht hören sollte?
Grünberg: Sie hat sich dann beschwert über wie sie kochen oder wie viel Zeit sie
sich nehmen um das zu machen... oder... an sich war sie schon gewöhnt und es gab
auch eine gute Beziehung zwischen diesem Mädchen und meiner Mutter... aber es
ist ja auch schwierig, wenn man Tag und Nacht zusammenlebt, dann gibt es ja auch
immer wieder Spannungen. Und das musste meine Mutter irgendwie rauslassen.
Und dann hat sie mich angerufen und sich beschwert und hat dann oft gesagt: „Ich
sag es mal auf deutsch.“
33. Atmosphäre Café Einstein
34. O-Ton Arnon Grünberg
Ein Mann, der in ein Mine, der da sein ganzes Leben lang gearbeitet hat. Und
plötzlich die Mine hat zugemacht und er hat gesagt: Ich habe besondere Kräfte in die
Hände, in meine Hände... und für etwas Geld sitze ich da.... und das Wasser ist ja
auch heiß und wenn es im Herbst nicht mehr so warm ist, kann man da auch sitzen,
er hat auch ein Schild gemacht: „Ganz Jahr offen! Nur am Weihnachten und am 31.
Dezember zu.“ Das war sein Leben.
35. Sprecher
2010 arbeitete Grünberg in dem vergessenen rumänischen Kurort Bäile Herculane,
deutsch: „Herkulesbad“. Das Bad ist für die warmen Schwefelquellen bekannt, in
denen die Patienten massiert werden. Grünberg behauptete, er hätte einen
niederländischen
Abschluss
in
Entspannungmassage
und
suche
weitere
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Berufserfahrung. Ein Masseur, der sich „Nea Mitica“ – Onkel Mitika – nannte, nahm
sich seiner an.
36. O-Ton Arnon Grünberg
Und da hat er Kunden gehabt. Und dann hat er auch immer solche Sachen gesagt
wie: „Ich weiß nicht, wie ihr das macht in Holland, aber hier in Rumänien bevor wir
massieren machen wir immer ein Kreuz.... Und das Schöne: Wenn ich das erzähle,
kommt die Ironie raus... aber für ihn war das keine Ironie... für ihn war das ganz
seriös.... Und das macht so einen Mann auch wieder rührend... oder macht so einen
Mann auch wieder mehr als jemand wie wenn man sagt: „Er behauptet, er hat
besondere Kräfte, er ist ein Betrüger...“ Ich glaube es ist viel nuancierter. Er glaubt es
ja wirklich selbst. Um ein Betrüger zu sein, muss man denken: „Ich sage etwas, aber
ich weiß, dass es nicht so ist.“ Und ich glaube, dieser Mann der meint wirklich...
meine Hände... ich heile, ich mache Menschen wieder besser.
Ich fand es auch überraschend, wie schnell man so diese Bedenkungen, die man
hat.... also die Grenze: hier ist mein Körper, da ist dein Körper, und wenn wir keine
Beziehung haben, fassen wir einander nicht an, und wir sind ja nicht beim Arzt...
auch wie schnell Sache selbstständig werden... (...) Und es waren ja auch alles
ältere Leute, ich hatte auch das Gefühl – vielleicht hört sich das arrogant an – das
man wirklich etwas Gutes tut.... die Leute werden auch sonst, hatte ich das Gefühl,
nie mehr angefasst. Das war auch noch eine Art von Berührung, die glaube ich
wichtig ist für Menschen. Nicht nur für Babys. Das ist ja bekannt: wenn die nicht
berührt werden, sterben die auch. Ich glaube auch für jeden. Und ich dachte: „Naja
vielleicht tue ich auch wirklich...“ Weil die eine von diese Dame hat ja auch gesagt:
„Deine Hände sind Hände Gottes.“ Das kann auch Ironie sein. Aber... vielleicht ist es
auch Ironie. Vielleicht ja. Aber auch wieder nicht.
37. Atmosphäre Hofladen Hesterberg
38. O-Ton Gespräch Grünberg / Karoline Hesterberg
Grünberg: Und übers Schlachten, weil das interessiert mich ja sehr: Haben Sie auch
selber mal geschlachtet?
10
39. Sprecher
Gerald Weber hat Grünberg in den Hofladen von Gut Hesterberg eingeladen. Er hat
seine Lebensgefährtin Karoline Hesterberg dazu geholt. Ihr Vater hat das Gut vor 15
Jahren gegründet.
40. O-Ton Gespräch Grünberg / Karoline Hesterberg
Hesterberg: Also ich habe einen Jagdschein. Ich dürfte also auch eben töten... Ja,
das ist ein interessantes Thema. Ich habe es nicht selber getan. Ich habe noch kein
Rind selber getötet. Aber ich bin bewusst immer mal wieder dabei. Also mindestens
jedes halbe Jahr. Weil ich genau diesen Punkt bewusst nicht aussparen möchte.
Also das ist ja das, was wir in unserer Zivilisation jetzt gesagt haben: Das wird
outgesourced. Das machen irgendwelche Leute in Fabriken, wo wir nicht reingucken
können.... Ich sage nicht: wer Fleisch isst, muss diesen Moment erleben. Das finde
ich, ist zuviel. Weil: Es muss ja auch keiner seine Schuhe selber schustern. Das gibt
ja Leute, die das besser können. Aber trotzdem... Ich finde, dadurch dass wir uns
das zur Berufung oder zum Beruf gemacht haben, muss ich das immer auch wieder
mal sehen. Und mir ist es wichtig, dass unser Schlachter, also der, der es tut, jedem
Tier wirklich auch in die Augen guckt. Es ist ja bei uns nicht das Fließband. Wir
schlachten maximal sechs bis... absolute Maximalzahl acht Tiere am Tag, mehr
würden wir gar nicht schaffen. Normalerweise vier bis sechs. Das heißt er hat Zeit, er
kann auf das Tier eingehen. Er kann sich auch mal 10 bis 15 Minuten Zeit lassen, bis
das Tier richtig steht.
Grünberg: Das Schreckliche ist ja auch... das Transport. Ich habe das mal miterlebt
in Südamerika.... Hier gibt es ja keinen Transport, es wird geschlachtet auf dem Hof.
Und das macht es auch leichter für die Tieren, nehme ich an... Oder kann man das
nicht so sagen?
Hesterberg: Doch, unsere Tiere haben einen Transport. Sie müssen irgendwie ins
Schlachthaus. Aber das dauert dann eben zwei, drei Minuten, ne. Das ist wirklich
extrem kurz. Töten muss jeder, der Fleisch isst, also dieser Akt, den müssen wir tun,
Aber, ja klar: die Tiere sind ausgeruht, die kommen direkt von der Wiese, da ist jetzt
nichts Schreckliches vorher passiert. Ich denke... ich kenn das andere nicht,
deswegen...
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Grünberg: Glauben Sie, dass das Tier bewusst ist, wo er hingeht? Auch hier?
41. Atmosphäre Café Einstein
42. O-Ton Grünberg
Dadurch wird die Arbeit auch leichter, wenn man weiß, was man sagen soll zu den
Soldaten und wie man ein Gespräch führen soll mit Leuten, die denken: „Da ist so
ein intellektueller Typ, da scheiß ich drauf.“
43. Sprecher
2013 ließ Grünberg sich beim Schreiben eines Romans wochenlang an Sensoren
anschließen, die seine Hirntätigkeit aufzeichneten – um herauszubekommen, wie
Kreativität funktioniert. Wie Gespräche funktionieren, hat er bei seinen Projekten
gelernt, bei denen er die unterschiedlichsten Menschen traf.
44. Atmosphäre Café Einstein
45. O-Ton Grünberg
Ich glaube, das wichtigste ist, man soll nicht tun als ob man jemand anderes ist als
man ist. Aber man soll auch zeigen: Ich bin hier zu Gast. Was sind die Gebräuche
hier? Soll ich meine Schuhe ausziehen? Gerne mache ich das! Soll ich hier mit
meinen Helm aufsitzen? Ich tue mit und wenn ihr Witze über mich macht... macht
ruhig... ich finde sie nicht alle immer witzig... aber geht ruhig... ich bin hier... ich bin
jetzt hier bei Euch. Und es gibt immer ein oder zwei die gar nicht reden wollen aber
an sich kommt dann immer schnell ein Respekt, wenn man sich nicht vortut, als
wenn man etwas anderes ist, aber da ist und sagt: Jetzt bin ich hier, und ich geh
auch nicht weg. Ich bin hier noch eine Woche. Irgendwie sollen wir uns noch
miteinander abfinden. Und ich glaub das wirkt auch immer.
46. O-Ton Grünberg
Grünberg: Ich bin kein Vegetarier, ich esse nicht viel Fleisch. Aber ich war schon
einmal auf einen Schlachthaus. In Südamerika. Das war auch kein Fabrik, aber auch
nicht so klein wie hier. Aber es ist doch beeindruckend. Es geht um Leben und Tod.
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Und es ist nicht immer leicht. Auch nicht für diejenigen die... Also so hab ich es
miterlebt.
47. Sprecher:
Im Hofladen der Hesterbergs riecht es nach Wurst und Fleisch, auf eine angenehme,
aromatische Art. Mit seinen gediegenen Bauernmöbeln erinnert der Raum zudem
mehr an eine Gute Stube als an eine Metzgerei.
48. O-Ton Gespräch Grünberg / Hesterberg
Hesterberg: Ja, gottseidank ist es so. Also wenn es leicht wär, und man sich loslösen
würde von dem Thema wäre es ja fürchterlich. Also es soll ja so sein... muss ja
irgendwie...
Weber: Es ist ja auch so: Ich meine der Beruf des Fleischers oder Metzgers ist ja
nicht so, dass man da jetzt wahnsinnig überlaufen wird mit Bewerbungen von
Lehrlingen. Das ist schon schwierig. Zumal auf dem Land. Aber auch unter denen,
die Fleischer lernen – das Schlachten gehört ja dazu – aber das tatsächliche
Schlachten, das Tier töten, wollen die wenigsten. Wir haben dahinter 20 Fleischer.
Zwei, oder eigentlich einer, tötet die Tiere. Und alle anderen, die können das... sie
wissen auch alle... aber sie wollen es nicht machen. Also: da ist schon was dabei.
Unser Herr Studier, der das da macht, ja, hat „die Sanftmut eines Yogalehrers“, so ist
er mal beschrieben worden... Aber unser Landwirtschaftsmeister, unser Herr Ziehlke,
den wir auf dem Foto schon gesehen haben, der läuft hier auch rum.... Der die Tiere
ja auch immer anliefern muss... ja, er muss die ja mit rüberbringen von der Weide,
der hat letztens gesagt, irgendwie so nebenbei: Er wird im Jenseits mal die Quittung
dafür kriegen, dass er die Tiere zur Schlachtung geführt hat....
49. Sprecher
Das Gespräch mit den Gutsbetreibern schweift kurz ab. Ob es Grünberg denn
schwer falle, in seinen Büchern Figuren zu töten. Grünberg winkt ab. Da komme
zwar zuweilen eine gewisse Melancholie auf, wenn die Figuren in der langen
Schreibzeit fast so etwas wie Familienmitglieder geworden sind. Doch letztlich finde
das ja alles nur auf dem Papier statt.
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50. O-Ton Gespräch Grünberg / Hesterberg / Weber
Aber ich war ja auch im Kriegsgebiet und da geht es ja auch um Leben und Tod. Da
gibt es schon moralische Fragen. Auch, ja: Wie man darauf selbst reagiert. Ich war
da auch in Krankenhäusern, wie man einfach auf den Geruch von Blut... wie man
Schwerverwunderte...wie man sich... Steht man dabei?... Das fand ich auch nicht
ganz leicht. Ich kann mich noch gut erinnern, das war im Irak, und das war noch vor
dem Frühstück, und dann bin ich fast in Ohnmacht gefallen. Da hab ich mich auch
geschämt. Einfach den Geruch. Und das man plötzlich ein Schwerverwunderte sieht.
Mir ist schwindelig geworden. Und dann hat jemand von der Armee gesagt: Also du
kannst mitgucken, mitmachen, aber wir haben kein Zeit, ums auch noch um Dir zu
kümmern. Also wenn Du denkst, du fällst in Ohnmacht, dann kannst Du hier nicht
bleiben....
Hesterberg: Naja, man muss einfach nur mal auf die Weide gucken, in die Natur und
sehen, wie ein Fuchs ein Huhn tötet oder eine Gans. Und wenn er nicht ganz fertig
wird... oder erschrocken wird dabei, dann rennt er weg und die Gans liegt halbtot auf
der Weide... oder wir kennen alle die Bilder aus Afrika, wenn die Tiere sich da
zerfleischen... langsam... das ist ja die Natur...
Grünberg: Die Natur ist ziemlich grausam...
Weber: Zum Fuchs noch mal: der Fuchs, wenn man das mal gesehen hat... er bringt
nicht nur eine Gans um. Der kommt in einen richtigen Blutrausch. Und wir haben
das erlebt, dass der 15, 20 Gänse einfach nur... noch nicht mal tötet, sondern in den
Hals beißt, so dass die sich nicht mehr bewegen können, aber die Leben noch. Der
trifft dann irgendeinen Nervenstrang, das haben wir mal gesehen. Das ist richtig
brutal. Wo man sich fragt: Da ist kein Sinn. Auch in der Natur kein Sinn.
51. Atmosphäre Café Einstein
52. O-Ton Grünberg
Was auch wichtig ist: Wirkliche Neugier, also wenn man wirklich interessiert ist in die
Geschichte. Und das bin ich auch. Ob man jetzt auch mit Soldaten spricht oder mit
jemand anders, das finden Leute doch – und zu recht, glaube ich auch – wichtig.
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Denn man will auch seine Geschichte erzählen. Man will auch gehört werden. Und
man spürt glaube ich, ob jemand wirklich zuhört oder einfach da ist.
53. Sprecher
Sprecher: Manche von Grünbergs embedded-Projekten sind von nahezu provokanter
Alltäglichkeit, so als er in ein holländisches Neubauviertel einzog.
54. O-Ton Grünberg
ich würde sagen die Kinder. Weil die Kinder sagen... nicht immer die Wahrheit.. aber
die erzählen Sachen, durch die sich das ganze Bild einer Familie verschiebt. Da
denkt man: „Ach so geht das hier.“
Das war eine Familie, eigentlich ein ganz lustige Familie mit drei Kindern, ein Junge,
zwei Mädchen. Und dann haben die zusammen gegessen und ich hatte das Gefühl,
dass ist so eine glückliche.... hier: das Glück pur. Und dann hat das zweite Mädchen,
die war so 10, 11, gesagt, dass sie es eigentlich hier nicht mehr aushält. Dass sie
weg will. Dass sie auch schon einmal weggelaufen ist.
Aber nicht nur, wie sie das gesagt hat... wie drauf reagiert wurde... man kann ja da
ganz entspannt drauf reagieren: „Jedes Kind macht das...“
Aber die Eltern, die wollten eigentlich nicht, dass ich das hörte. Es wurde fasst
verneint. Und das, was gesagt wurde und die Reaktion der Eltern, dachte ich: „Aha,
da spielt etwas anderes.“ Denn sonst könnte man ja einfach sagen: „Jedes Kind will
mal weg. Oder lauft weg.“ Aber diese Angst, dass... und das macht mich nun wieder
unbequem. Denn ich bin ein Schriftsteller, ein Journalist, ich werde darüber
schreiben. Aber ich bin auch ein Gast. Ich trau mich vielleicht... ein anderer hätte
vielleicht gefragt: „Hörmal die Tochter, darf die vielleicht...“ Aber ich bin da so
unbequem, ich hab das gelassen.
55. Sprecher
Gast zu sein, hieß in Holland in Grünbergs Kindheit auch, strengen Regel
unterworfen zu sein. So wurden zum Beispiel angebotene Kekse dazu benutzt um zu
signalisieren, wann ein Besuch als beendet empfunden wurde.
56. O-Ton Grünberg
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Man bekommt beim Tee oder Kaffee ein Keks. Und der zweite Keks ist dann so... ja
man kann sagen: „Es wird Zeit.“ Ich hab das immer so miterlebt als Gefühl, dass man
nicht wirklich willkommen ist. Man darf bei den Mitschülern spielen. Man bekommt
auch ein Keks. Aber dann ist halbfünf, fünf und dann: weg. In Angst vielleicht auch,
dass der Gast nicht wieder geht. Das er bleibt. Ich weiß es nicht. Als eine Art
Unbequemheit gesehen, ich weiß es nicht. Die Gast... Zuhause ist zuhause... und da
kommt jemand, und die sieht Sachen, die man eigentlich nicht sehen darf. Das ist
auch... Für mich hat das auch immer... wie ich das erinnere aus meiner Jugend... mit
Geheimnisse zu tun. Das man irgendwo ist ... es ist alles so nett und so sauber und
so ... Kekse, das stimmt. Aber das ist die calvinistische Teil von Holland, diese ... ein
Keks, dann hat man genug Genuss gehabt, und es soll nicht zuviel werden, denn
das ist ein Sünde. Das ist das Gegenteil von dem, was ich z.B. im Nahen Osten
erlebt habe, wo man sagt: „Ach, ich find Dein Uhr so schön.“ Und dann sagt jemand:
„Nimm es!“
Wo man auch immer auch das Gefühl hat: ich hab den Gast beleidigt, durch nicht
genug zu essen. Ich habe das immer auch... weil meine eigenen Eltern waren
anders. Mein Mutter war ja... hat ja... Kuchen gebacken. Wenn ich aus der Schule
kam, bekam ich Streuselkuchen oder Käsekuchen. Meine Freunde nicht. Für mich
war das auch merkwürdig. Ich wusste nicht: Was ist normal? Man denkt ja immer:
Die eigenen Eltern sind normal. Man hat ja keine anderen Erfahrungen.
57. Sprecher:
Langsam bricht die Nacht an in Charlottenburg, in den Seitenstraßen des Ku’damms
trifft man nur noch ein paar verloren wirkende Touristen.
58. O-Ton Grünberg / Böhm (Atmo Straße)
Böhm: Warte mal... Du hast doch gesagt: Uhland / Düsseldorfer...
Grünberg: Ich glaub, dass ist die andere Richtung.
Böhm: Das ist die andere Richtung, ich wollte grade sagen.
(...)
16
59. Sprecherin
Genau wie in Pariser Wohnhäusern hatten auch die besseren Berliner Wohnhäuser
Parterre beim Eingang eine Portierswohnung, die jeden, der eintrat kontrollierte.
60. Sprecher
Aus den Erinnerungen der Hannelore Grünberg-Klein
61. O-Ton Grünberg / Böhm (Atmo Straße)
Grünberg: Meine Eltern sind auch – es gab ja das Programm von der Stadt Berlin,
dass Juden, die dann vertrieben sind, wieder eingeladen worden sind. Meine Eltern
sind dann beide, als ich Kind war, nach Berlin gegangen und die haben da mit
Freude und so geschwärmt wie schön sie hier empfangen worden sind und wie
schön das war...
Böhm: Aber das heißt, als sie zurückgekommen sind, nach Holland, da waren sie
nicht bitter?
Grünberg: Das war so vier, fünf Tage... das war so eine Einladung von der
Bürgermeister oder wer das war... ich war so drei oder vier.... hier ist es... da.... Nein,
meine Eltern wollten nicht mehr in Deutschland leben... aber
sie konnten
Deutschland auch nicht loslassen... das war so eine Mischung... Sie lasen noch
deutsche Zeitungen, mein Vater hörte deutsches Radio, meine Mutter sah deutsches
Fernsehen als es ging... hat deutsche Kuchen gebacken... sie sind nie Holländer
geworden. Sie haben auch immer geschimpft auf die Holländer – sie sind kulturlose
Leute. So wie... Kultur war noch Deutschland. Auch nach dem Krieg. Das war ja das
Skurrile, oder das Fremde.
62. Sprecher 2
"Haben Sie öfter Suizidgedanken?"
Für einen Moment ist Gerstenfeld still. "Eigentlich nicht, der eine Abend war das
erste Mal. Ich war überrascht, ehrlich gesagt. Sie kamen so unvermittelt."
"Und seitdem sind die Gedanken nicht wiedergekommen?"
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63. Sprecher
Im Herbst 2016 erscheint Grünbergs Roman „Muttermale“. Die Hauptfigur ist ein
professioneller Zuhörer, Otto Kadoké. Kadoké ist Psychiater und arbeitet bei einem
mobilen Krankendienst. Sein Spezialgebiet ist die Suizidprävention. Kadokés
Aufgabe besteht darin, gemeinsam mit einem Kollegen Patienten zu begutachten. Zu
untersuchen, ob sie eine Gefahr wie für sich selbst sind – wie zum Beispiel ein Mann
namens Gerstenfeld.
64. Sprecher 2
"Wie schlafen Sie?"
"Gut." Gerstenfeld nimmt den Zahnstocher aus dem Mund und wirft einen Blick
darauf. "Ich habe immer gut geschlafen. Ich bin kein Langschläfer, in meinem Beruf
ging das auch nicht. Aber ich schlafe sehr gut. Ich kann überall schlafen, ich brauche
kein Bett. Ich schlaf auch auf einem Stuhl oder auf dem Boden."
"Haben Sie Kinder?"
"Nein."
"Und Sie sind sich ganz sicher, dass die Selbstmordgedanken, die Sie zu diesem
Brief getrieben haben, nicht wiedergekehrt sind?"
"Ja, da bin ich mir sicher, sonst würde ich jetzt hier nicht so sitzen - so gut gelaunt.
Wenn ich richtig darüber nachdenke, bin ich ein heiterer Mensch."
"Haben Sie das Gefühl, dass diese Gedanken latent vielleicht doch noch anwesend
sind? Dass die Schwermut gewissermaßen nur darauf lauert, erneut zuzuschlagen?
Wann genau haben Sie den Brief geschrieben?"
Der freundliche, verständnisvolle Mann untersucht den Zahnstocher, als sei die
Antwort auf diese Frage vielleicht darauf zu finden.
"Vor zwei Wochen ungefähr. Und nein, in meinem Kopf lauert nichts. Ich versteh
nicht, was mich dem Abend geritten hat. Ich hätte mich nicht so gehen lassen dürfen,
meine Freunde nicht in meine plötzliche Schwermut hineinziehen. Das haben sie
nicht verdient. Und wie gesagt, normalerweise bin ich kein schwermütiger Mensch.
Ich liebe das Leben. Was soll man sonst lieben?"
Gerstenfeld schaut Kadoké an. Als erwarte er die Zustimmung des Psychiaters: Man
kann nichts lieben außer das Leben selbst.
"Wenn diese Gedanken doch wiederkehren sollten, glauben Sie, Sie werden sich
dann Hilfe suchen?"
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65. Atmosphäre Café Einstein
66. O-Ton Grünberg
Ich würde sagen, bei der Frau, bei dem wir in Prag waren, das war für mich auch so
ein Moment, da spürte ich... wenn man spürt, dass es auch tragisch ist, wenn man
spürt, dass es nicht nur das Lustige, Ironische... naja, ihr seid hier zu Gast aber
auch nicht wirklich oder doch... wir wissen, ihr geht wieder und wir mögen das. Aber
bei dieser Frau war es auch so etwas Existentielles: Sie hat gesagt: Ich will nicht
mehr in ein Café gehen, um Leute kennenzulernen, ich mach das Couchsurfing,
dann kommen die Leute zu mir...
67. Sprecher
2014 war Grünberg als Couchsurfer in Osteuropa unterwegs; als jemand, der das
Angebot von Privatleuten annimmt, bei Ihnen zu übernachten.
68. Grünberg
Sie hat auch unheimlich viel getrunken, immer Bananensaft mit Rum. Und sie hat
eigentlich aus ihrem Haus eine Art Dauerkneipe gemacht. Aber es war komisch und
zur gleichen Zeit auch tieftragisch. Das war eigentlich auch erschütternd. Und das
war für mich auch so ein Moment, dass man denkt: Naja, man geht hier hinein, man
geht wieder weg... aber man will auch nicht wirklich zugucken. Denn dann wird es
eigentlich zu schmerzhaft. Oder was dann wirklich gesagt wird, dann lacht man lieber
drüber. Denn wenn man nicht lacht, dann muss man sich fragen: Wie reagiere ich
drauf? Oder was macht man, was soll man sagen, was ist meine Verantwortlichkeit?
69. Sprecher
Ein Rezensent schreibt über Grünbergs Romane, sie machen: „das Absurde, das
hintergründig Falsche, den allgegenwärtigen Alltagszynismus sichtbar“.
70. Grünberg
Was ich nie vorher gesagt hätte, aber manchmal habe ich dann auch das Gefühl:
Wirklich: das Leben ist Leiden. Und die Leute suchen jemand, um... nicht Mitleid zu
bekommen, aber jemanden, zumindest jemanden, der das Leiden sehen will. Oder
nicht verneinen will, oder zu zuhören will. Und vielleicht hat es auch damit zu tun...
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man kann nach einem Therapeut gehen, aber das machen viele auch nicht.... dass
es so wenig Möglichkeiten gibt, wo man das noch teilen kann. Es gibt auch keine
Religion mehr... wo kann man ... also nicht einem Café... wo man kann man das
noch? Ohne sich zu schämen.... Es gibt ja auch diesen Erfolgsdruck. Und wenn man
leidet, wenn man Schmerz hat, ist entweder/oder. Wenn man Erfolg hat, hat man
keinen Schmerz.
71. Sprecher
Im Frühjahr 2007 besuchte Grünberg mit einigen Journalistenkollegen das USGefangenenlager Guantanamo auf Kuba.
72. Atmosphäre: Cafe Einstein
73. O-Ton Grünberg
Was ich mich davon erinnere... Wir haben ja auch viel mit Ärzte gesprochen... Es
gab damals noch viele Hungerstreiks... einige kluge Leute, Ärzte, haben dann
behauptet: Diese Gefangenen, die in Hungerstreik sind, fragen selbst nach diese
Forced Feeding... wie sagt man auf Deutsch? Zwangsernährung... da hab ich
gesagt: „Das nehme ich Ihnen nicht ab. Wenn man in Hungerstreik ist, will man nicht
essen. Das ist schmerzhaft. Das kann auch gefährlich sein. Man kann daran sterben.
Ich kann mich nicht vorstellen, dass jemand fragt um Zwangsernährung...“
Aber das ist für eine Armee... die dürfen da nicht sterben. Es gab kein Zukunft für
die, aber sterben dürfen die auch nicht. Einige Amerikaner haben gesagt: „Hier dürfst
du nicht sterben Du musst leben. Du kommst nicht raus. Aber du musst leben.“ Also
die einzige Revolte war noch der Tod. Für eine Armee, der ja gemacht ist, um Leute
zu töten, ist das eine schwierige Aufgabe: Plötzlich muss man Leute am Leben
erhalten... Von einer psychologischen Perspektive kann man sich das einfach nicht
vorstellen. Aber das ging ja soweit, dass sie auch diese Drähte, die in die Nase
gemacht werden, dass wir das einfassen dürften, das wir das sahen: das ist ganz
weiches Material, das tut keinem weh. Also die gingen wirklich weit um zu sagen:
Unsere Zwangsernährung ist 5 Sterne.
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74. O-Ton Grünberg /Böhm
Böhm. Und wo genau ist das jetzt?
Grünberg: Ich glaub es war... Hier diese Ecke. Es ist ja alles bombardiert worden. Es
ist ja alles neu ... Hier hat das Haus von meiner Mutter gestanden. Wo jetzt „Ick koof
bei Lehmann“ ist. Das letzte Mal, dass ich hier war, gab’s hier noch ein Drogerie.
75. Sprecherin
Unsere Portiersfrau war bestimmt nicht judenfreundlich gesinnt. Das fühlte sogar ich,
so klein ich war. Wenn ich aber Weihnachten in ihre Portierswohnung kam mit einem
Geschenk von meinen Eltern spielten sie Leisetreter und ich musste ihren
Weihnachtsbaum bewundern. Das war meine einzige Erfahrung in den Jahren des
unterdrückten oder offenen Judenhasses, in den ich sonst keinerlei Kontakt zu
Nichtjuden hatte.
76. Sprecher
Hannelore Grünberg-Klein schrieb in den 1990er Jahren ihre Lebenserinnerungen für
ihre Kinder auf. In durchweg sachlichen Ton berichtet sie von der Kindheit in Berlin,
der Flucht der Eltern vor den Nazis in die Niederlande. Von dort hofft die Familie,
nach Kuba auswandern zu können, doch das Schiff, schon im Hafen von Havanna
liegend, wird zurück nach Europa geschickt, weil ein paar kubanische Politiker das
Gefühl haben, nicht genug mit den Flüchtlingen verdienen zu können.
77. O-Ton Grünberg / Böhm
Grünberg: Aber an sich, wie das auch erinnere oder was meine Mutter auch
aufschreibt in ihrem Buch, war das hier eine glückliche, glückliche Zeit. ... Ja...
Böhm: Aber sie schreibt gar nicht so viel darüber...
Grünberg: Ne... ne... stimmt... Das kann man fragen warum nicht... Weil meine
Mutter hat ein unheimlich gutes Gedächtnis gehabt. Also... hat sie nicht alles
aufschreiben wollen... oder was? Ich glaub, mein Mutter hat auch nicht alles gesagt
und erzählt. Meine beide Eltern... Vor allem mein Vater... Er ist ja auch früh
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gestorben. Aber meine beide Eltern, die haben viele Geheimnisse mitgenommen in
ihren Grab. Oder „Geheimnisse“, das hört sich so groß an, aber... einfach viele
Sachen nie erzählt. Und ich wollte meine Mutter noch danach fragen, aber ich hatte
auch immer das Gefühl, dass ... man will auch nicht jemand quälen ... und ich hab
auch nicht... dass ist gut so.
78. Sprecher
Die Grünbergs kommen zurück nach Amsterdam, leben zunächst in einem zur
Unterbringung von Flüchtlingen umfunktionierten Hotel, dann – nach Besetzung der
Niederlande durch die Nazis – in einem Lager in Drenthe. 1943 werden sie nach
Theresienstadt gebracht. Dort erlebt Hannelore, wie ihr Vater in einen Zug nach
Auschwitz steigen muss, wo er im September 1944 ermordet wird. Im Oktober
werden dann auch Hannelore und ihre Mutter nach Auschwitz deportiert, an der
Rampe getrennt.
Hannelore
wird
schließlich
zum
Arbeitsdienst
kommandiert
und
in
eine
Flugzeugfabrik ins sächsische Freiberg gebracht. Dort bekommen die jungen Frauen
trotz härtester körperlicher Arbeit kleinste Essensrationen, so dass Hannelore
schließlich kollabiert. Der Wehrmachtssoldat – „Meister“ genannt –, der ihre Gruppe
beaufsichtigte, lässt ihr daraufhin ab und an eine Butterstulle zukommen.
79. Sprecherin
In der Pause holte ich so unauffällig wie möglich die Butterstulle heraus und genoss
davon. Dieses Ereignis wiederholte sich noch einige Male. Ich ging mit dem
Butterbrotpapier zu Bett, das herrlich roch. Als Folge davon bekam ich Nachtträume,
die aus Ideen bestanden wie: Haushaltshilfe werden beim Meister. So stellte ich mir
die Zukunft in den für mich damals denkbar rosigsten Farben vor. (...) Mein
Vertrauen in Gott und die Menschheit wurden durch Ereignisse wie die geschenkte
Butterstulle verstärkt.
Ich sagte zu Frau Levy (...) aus innerer Überzeugung: „Der Mensch ist nicht
schlecht.“
80. O-Ton Grünberg / Böhm (Atmosphäre Straße)
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Grünberg: Ich war mich bewusst von die Geschichte meiner Eltern und irgendwie
glaube ich, fühlt man sich verantwortlich, ist das eine andere Beziehung zu die
eigene Eltern. ... Es hat mich geprägt, aber ich habe auch mein eigenes Leben
gestaltet. Ich bin nicht nur das Produkt meiner Eltern, ich bin nicht nur die
Fortsetzung von Traumen anderer Leute... Ich hab etwas daraus gemacht ... und:
das Ungewöhnliche kann einen auch stärker machen. Und meine Mutter war auch
viel mehr als nur ihre Kriegserfahrung. Sie war eine sehr humorvolle, manchmal auch
sehr schwierige, aber originelle Frau.
Ich erinnere mich noch ziemlich gut, dass wir in den Park gegangen sind, um dort
Rosen zu klauen. Und ich hab mich geschämt für meine Mutter, die da Rosen klaut.
Und ich kann mich gut erinnern, so alt war ich nicht, hab ich gesagt: „Ja so arm sind
wir auch wieder nicht. Wir können doch in ein Blumengeschäft gehen...“ Sagt meine
Mutter: „Ich könnte ja nie so Sachen machen, die man nicht machen darf. Und das
muss ich jetzt nachholen.“ So hat sie sich das erklärt, dass sie im Geheimen Rosen
abschneidet in einem Park, um die weiterzugeben an andere Leute. Und das fand ich
typisch für mich und meine Beziehung zu meine Eltern. Einerseits habe ich mich
geschämt für meine Eltern. Ich dachte: So etwas macht man nicht, man klaut keine
Rosen... Man geht einfach ins Blumengeschäft. Und anderseits hab ich mich
geschämt für die Scham. Und ich hab auch, glaube ich eingesehen, dass meine
Mutter wieder besonders war oder anders als andere Leute und dass das nicht nur
ein Grund für Scham ist, aber auch für vielleicht für Stolz. Also das war so zwischen
Scham und Stolz ... hindurch...
Also, ich habe es mal so versucht zu beschreiben: Dass meine Mutter mich gelehrt
hat.... Sie konnte ganz schnell Intimität aufsuchen, nicht nur mit ihre eigenen Kindern
ich glaub auch mit andere Leute. Aber sie konnte sich auch ganz schnell wieder
zurückziehen. Und was ich gelernt habe: Dass ich das auch kann. Ich kann mich
ganz schnell wohlfühlen in einer Situation, aber ich kann auch ganz schnell wieder
da raus. (...)
81. Atmosphäre Schlachthaus
82. O-Ton Grünberg / Herr Studier (Schlachter Guthof Hesterberg)
Grünberg: Wir haben grade den Schlachtraum gesehen. Sie sind derjenige, der das
Tür tötet...
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Schlachter: Betäubt.
Grünberg: Betäubt. Können Sie etwas darüber erzählen, wie sie das machen, wie
das geht? Ein Rind kommt in Raum. Und dann wartet sie etwas. Und dann...
Schlachter: Dass es zur Ruhe kommt, das Tier. Und denn verstecke ich mich. Dass
es mich nicht sieht. Ich schaue von oben drauf auf das Rind. Auf den Kopf. Setze an
der Blesse an und schieß. Kommt der Bolzen, 12 cm, und ist dann in dem Moment
betäubt.
Grünberg: Stehen Sie auf ein Leiter, oder?
Schlachter: Ich schaue auf das Tier drauf. Das sieht mich nicht. Ist auch nicht
nervös... usw...
Grünberg: Sind Sie nervös noch?
Schlachter: Nein.... Wenn man über 1000 hat... denn...
Grünberg: Dann weiß man, wie man das macht.... War es schwierig, um es zu
lernen?
Schlachter: Ja natürlich. Am Anfang ist es immer sehr... Man ist selber ängstlich,
man ist nervös... man will das Tier ja auch nicht wehtun... dann ist man immer ein
bisschen... aber mit der Zeit dann lernt man das alles. Man wird ruhiger. ... Ich kenn
die, die Rinder....
83. Atmosphäre: Straße
84. O-Ton Grünberg / Thomas Böhm
Böhm: Ich hab noch einen Satz aus „Muttermale“: „Auch merkwürdige Heilungen
sind Heilungen. Es geht um das Ergebnis. Der Weg dahin spielt keine Rolle.“
Grünberg: Ja. Ich glaub ja. Wenn man das Bedürfnis hat oder verführt ist von dem
Bedürfnis um jemanden zu helfen und effektiv zu helfen, dann geht es ja auch
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darum, dass man dann auch improvisiert. Und sagt: Wenn es so nicht geht, dann
versuch ich es mal so. Ich glaub, dass man da ziemlich offen sein muss und nicht zu
beschränkt denken darf. Heilung ist ja auch ein kompliziertes Konzept.
Ich glaube, ich würde jetzt sagen, mit 45: Die beste Heilung ist die unkonventionelle
Heilung...
Böhm: Was wäre denn das, eine unkonventionelle Heilung?
Grünberg: Naja, wenn ich an mein eigenes Leben... ich würde nicht sagen, dass die
Literatur mich geheilt hat... aber das war doch... das habe ich auch einmal
geschrieben in einem Text für eine holländische Zeitung... aber es war doch eine Art
Rettung. Nicht nur lesen, sondern auch schreiben, beides. Und das war ja nicht sehr
konventionell. Denn der konventionelle Weg für mich war ja die Weg, die ausgedacht
worden ist für mich von meinen Eltern damals und meinen Lehrern und Lehrerinnen,
war das Gymnasium fertig zu machen und studieren, und vielleicht dann Anwalt zu
werden oder so etwas. Das war das Leben, das für mich ausgedacht worden war.
Und ich glaube, dass – vielleicht hört sich das jetzt etwas übertrieben an, aber
damals hatte ich das Gefühl: das ist ein Leben, das mich krank macht. Das will ich
und kann ich nicht führen.
85. Absage
Die Belohnung ist eine verkleidete Strafe
Über den niederländischen Schriftsteller Arnon Grünberg
von Thomas Böhm
Es sprachen: Robert Dölle, Marc Fischer und Claudia Mischke
Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Angelika Brochhaus
Regie: Claudia Kattanek
Redaktion: Tina Klopp
Eine Produktion des Deutschlandfunks 2016.