Guerilla votiert für den Frieden

faulheit & arbeit
Sonnabend/Sonntag,
24./25. September 2016, Nr. 224
n Drucksachen
n Schwarzer Kanal
n Reportage
n ABC-Waffen
Vernichtung ohne Grenzen. 1957 warnten
18 westdeutsche Wissenschaftler vor
atomarer Bewaffnung der Bundeswehr
Aus den Unterlagen. Ein FAZ-Korrespondent wettert gegen deutsche Politherumtreiber in Moskau. Von Arnold Schölzel
Eine antifaschistische Initiative zur Pflege
von Gräbern ehemaliger Spanienkämpfer in
Berlin. Fotos von Gabriele Senft
Vorwahlherbst am Wörthersee oder
Minoritäre Allianzen an der Macht.
Von Erwin Riess
INHUA/ZHONG XIAOFENG/DDP IMAGES
»Mehr Achtung vor den
Musikern wäre ein Fortschritt«
Gespräch n Mit Lior Shambadal. Über die Berliner Symphoniker, die schon
seit einigen Jahren keine finanziellen Zuschüsse des Landes mehr
erhalten, und über engagierte Musiker, die das nicht davon abhält, den
Klang der deutschen Hauptstadt in die ganze Welt zu tragen
D
ie Berliner Symphoniker
bestehen nun seit 50 Jahren. Sie wurden 1966 in
Berlin-West aus einem
Akt der Solidarität heraus als Hilfe
für arbeitslose Musiker gegründet.
Vor 13 Jahren wurde dem Orchester
ausgerechnet von einem Senat aus
SPD und dem Vorläufer der Partei Die Linke, PDS, die finanzielle
Grundlage weggezogen. Hätten Sie
sich so etwas jemals träumen lassen?
Die Berliner Symphoniker sind das städtische Sinfonieorchester Berlins. Sie sind
das kleinere Format im Vergleich zu den
Berliner Philharmonikern. Sie haben
Konzerte in den zwei wichtigsten Sälen
gespielt, in der Philharmonie und nach
1989 auch im Konzerthaus.
Das Orchester hatte zwei Aufgaben. Erstens hat es Arbeitsplätze geschaffen für
Siehe Seite 16
Musiker aus West und Ost. Zuerst waren
es Künstler aus Westberlin, die nach dem
Bau der Mauer 1961 nicht mehr in Ostberlin arbeiten konnten oder wollten. Nach
1989 hat es dann auch Musiker aufgefangen, deren Orchester im Osten aufgelöst
wurden, zum Beispiel das Große Rundfunkorchester, das man im Einigungsvertrag vergessen hat, schließlich auch Musi-
Lior Shambadal
… studierte Posaune, Bratsche, Dirigieren und Komposition in Tel Aviv, Salzburg, Wien und in Italien. Seit 1997 ist
er Chefdirigent der Berliner Symphoniker. Darüber hinaus hat er Dirigate und
leitet Meisterkurse in vielen Ländern
Europas und weltweit
ker, die in beiden Teilen der Stadt studiert
haben und eine Arbeit brauchten.
Zweitens haben wir Basisarbeit in den
Schulen geleistet. »Klingendes Klassenzimmer« nannten wir das. Wir haben eine
Art Musikerziehungspyramide gebaut. In
den Schulen haben wir Instrumente vorgeführt und Musikstücke erklärt. Dann
haben wir die Kinder zu Proben eingeladen, mit ihnen Workshops gemacht und
sie in unsere Konzerte geholt.
Nach dem Kahlschlag unter Kultursenator Thomas Flierl vom Linke-Vorläufer
PDS brachen uns von heute auf morgen
3,3 Millionen Euro Zuschüsse weg. Ein
Orchester, aber auch Opernhäuser und
Theater haben Künstlern gegenüber Verpflichtungen – und das über Jahre. Wie
kann man das einfach abbrechen? Vertragsbruch wird da zur Methode.
Welche Rolle hat der damalige Re-
gierende Bürgermeister, Klaus Wowereit, SPD, gespielt? Er hatte das
Orchester doch zuvor einmal gegen
den CDU-Senator Peter Radunski
verteidigt.
Klaus Wowereit war vorher als Abgeordneter unser Freund. Dann haben er und
Flierl die Berliner Symphoniker geopfert,
um eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zu gewinnen – eine Fehlkalkulation auf unsere Kosten. Ich kann
mein Gespräch mit Flierl nicht vergessen.
Drei Monate vorher hatte er uns noch versichert, dass alles so weiterlaufen würde
wie bisher. Und dann das. Ich habe ihn
einen Lügner genannt, bin aufgestanden
und habe gesagt, ich kann nicht mehr an
einem Tisch mit ihm sitzen. Die meisten
Politiker können nur aus Opportunismus
Acht Konzerte spielen
die Berliner Symphoniker
jedes Jahr in der Hauptstadt, weltweit sind es
deutlich mehr, wie hier in
der chinesischen Stadt
Meizhou
Mehr Achtung
Ein Gespräch mit dem Dirigenten Lior
Shambadai über die Arbeit der Berliner
Symphoniker, die seit Jahren vom Land
keine Zuschüsse mehr erhalten. Außerdem: Vorwahlherbst am Wörthersee oder
Minoritäre Allianzen an der Macht.
Von Erwin Riess
n Fortsetzung auf Seite zwei
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GEGRÜNDET 1947 · SA./SO., 24./25. SEPTEMBER 2016 · NR. 224 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT
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Jobvernichtung
Menschenjagd
Billigschulen
Kunstverachtung
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Bautzen: Flüchtlingshelfer und LinkePolitiker kritisieren scharf die
Polizei. Von Steve Hollasky
Die Bertelsmann-Stiftung wirbt vehe- Vorabdruck: Verhinderte Katharsis.
ment für Ganztagsunterricht. Um
Über die Schädlichkeit der
Qualität geht es ihr aber nicht
Filmzensur. Von Peter Weiss
Brüssel beendet Blockade
EU-Kommission billigt Kooperationsabkommen mit Kuba und hebt »Gemeinsamen
Standpunkt« gegen die Insel auf. Von Volker Hermsdorf
D
Aleppo. Nach dem Scheitern der Bemühungen um eine neue Waffenruhe in Syrien haben die syrische und
die russische Luftwaffe Angriffe
auf den von Aufständischen gehaltenen Ostteil von Aleppo geflogen.
Wie ein AFP-Reporter am Freitag
berichtete, gab es ununterbrochen
Luftangriffe auf Bezirke in Rebellenhand. Die oppositionsnahe
»Syrische Beobachtungsstelle für
Menschenrechte« mit Sitz in Großbritannien berichtete von mindestens sieben Toten und Dutzenden
Verletzten. Die syrische Armee
hatte am Donnerstag abend eine
Offensive zur Rückeroberung von
Ostaleppo angekündigt. Bewohner
sollten sich »von den Positionen
der terroristischen Gruppen« fernhalten. Zivilisten, die in den von
der Regierung gehaltenen Westteil
der Stadt übersiedeln wollten, würden nicht festgenommen. (AFP/jW)
REUTERS/ENRIQUE DE LA OSA
ie EU-Kommission hat die
letzten Hürden für eine Rahmenvereinbarung mit Kuba
beseitigt. Das Abkommen über politischen Dialog und Zusammenarbeit soll
innerhalb der nächsten Monate in Brüssel unterzeichnet werden, heißt es in
einer am Donnerstag abend veröffentlichten Mitteilung der Kommission.
Zugleich sei auf Vorschlag der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini
der »Gemeinsame Standpunkt« der EU
zu Kuba aus dem Jahr 1996 aufgehoben
worden. Mogherini informierte den kubanischen Außenminister Bruno Rodríguez am Rande der UN-Generalversammlung in New York über die Entscheidung und lud ihn zur feierlichen
Unterzeichnung der Dokumente nach
Brüssel ein. Die bevorstehende Unterzeichnung des Vertrages ist das Finale
mehrerer Verhandlungsrunden, die im
April 2014 in Havanna aufgenommen
worden waren und abwechselnd in der
kubanischen und der belgischen Hauptstadt stattfanden. Scheitern könnte das
Abkommen nur noch durch einen Einspruch aus dem Rat, der Versammlung
der Fachminister aus den EU-Staaten.
Das Abkommen mit Kuba markiere
einen Wendepunkt, betonte die EUChefdiplomatin. Für Kuba entscheidend ist, dass das Abkommen den
»Gemeinsamen Standpunkt« ersetzt.
Dieser war vor 20 Jahren auf Druck
des rechtskonservativen spanischen
Ministerpräsidenten José María Aznar
beschlossen worden und erklärte einen
Systemwechsel auf der sozialistischen
Karibikinsel zur Bedingung für normale Beziehungen. Das belastete bis
jetzt das Verhältnis zwischen Brüssel
und Havanna, obwohl viele EU-Mitgliedsstaaten längst bilaterale Verträge mit Kuba unterzeichnet haben. Die
Die Normalisierung der Beziehungen zwischen Kuba und der EU ist auch ein Schlag für die Blockadepolitik der USA
Bundesrepublik Deutschland gehörte
innerhalb der EU zu den Ländern, die
eine Normalisierung der Beziehungen
lange blockiert haben.
Vom Systemwechsel ist in dem neuen Dokument zwar keine Rede mehr,
doch ganz wollen die Europäer nicht
auf Dominanz gegenüber Kuba verzichten. Der Vertrag biete »einen Rahmen für die Unterstützung des Wandlungsprozesses in Kuba«, heißt es in
der Presseerklärung der Kommission.
An anderer Stelle ist von einer Förderung von »Demokratie und Menschenrechten« die Rede, wobei Brüssel vermutlich nicht den eigenen Kontinent,
sondern ausschließlich Kuba meint. In
Havanna nimmt man solche Rückfälle
in koloniale Attitüden jedoch hin und
wertet den Rahmenvertrag als Erfolg.
Kubas stellvertretender Außenminister
Abelardo Moreno Fernández hatte
schon im März nach der letzten Verhandlungsrunde in Havanna darauf hingewiesen, dass in der Präambel des Abkommens ausdrücklich »das Recht der
Völker zur freien Entscheidung über ihr
politisches, wirtschaftliches und soziales System« bestätigt werde. Die EU
und Kuba verpflichteten sich, die unterschiedlichen Systeme gegenseitig zu
respektieren, sich nicht in die inneren
Angelegenheiten einzumischen und
jegliche Aktivitäten gegen die Gebote
der Verfassung der Vertragspartner zu
unterlassen, so Moreno. Beim Thema
Menschenrechte habe man sich auf
eine Formulierung geeinigt, nach der
diese in ihrer Gesamtheit respektiert
und verteidigt werden müssten. Das
schließe sowohl die bürgerlichen und
politischen als auch die von Kuba als
entscheidend erachteten sozialen Menschenrechte wie Arbeitsbedingungen,
soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Verbraucherschutz sowie das
Recht aller Bürger auf Erziehung, Gesundheitsversorgung und Teilhabe am
kulturellen Leben ein. Bei diesen gibt
es vor allem in Europa noch großen
Nachholbedarf.
Guerilla votiert für den Frieden
Kolumbien: FARC-Kämpfer mit großer Mehrheit für Abgabe der Waffen und Gründung neuer Bewegung
A
m Ufer des Yarí im Süden Kolumbiens sollte am
Freitag (Ortszeit) mit der
Verlesung der Abschlusserklärung
die nationale Delegiertenkonferenz
der FARC-Guerilla zu Ende gehen.
Sprecher der Organisation bestätigten bereits, dass sich die Kämpfer der Revolutionären Streitkräfte
Kolumbiens mit großer Mehrheit
für den von ihren Unterhändlern
in Havanna mit der Regierung von
Staatschef Juan Manuel Santos ausgehandelten Friedensvertrag ausgesprochen haben. »Wir spüren eine
Syrien: Andauernder
Kampf um Aleppo
REUTERS/ABDALRHMAN ISMAIL
CETA beseitigt allein bis 2023 etwa
200.000 Arbeitsplätze in der EU.
Interview mit Roland Süß
sehr starke Unterstützung«, erklärte Iván Márquez, der die FARCDelegation bei den Verhandlungen
geleitet hatte. Allerdings äußerten
Delegierte die Sorge darüber, dass
Guerilleros nach Abgabe ihrer Waffen zum Ziel von Angriffen paramilitärischer Banden werden könnten.
In den vergangenen Tagen kam es
immer wieder zu Morden an linken
Aktivisten. Zuletzt wurde Ramiro
Culma Capera, ein Mitglied der Kolumbianischen Kommunistischen
Partei, in Coyaima ermordet, wie am
Mittwoch mitgeteilt wurde.
Joaquín Gómez, Mitglied des
FARC-Sekretariats, betonte, dass die
revolutionären Werte der bisherigen
Guerilla auch in der neuen politischen
Organisation Bestand haben werden,
die nach Abgabe der Waffen durch die
Guerilla gegründet werden soll. Zum
Namen der Nachfolgeorganisation
sollen aus den Strukturen der FARC
bereits mehr als 200 Vorschläge eingereicht worden sein. Die Aufständischen hoffen, dass sich auch andere
linke Organisationen am Aufbau der
neuen Bewegung beteiligen werden.
Die FARC verlangen allerdings
die Freilassung von rund 4.000 ihrer
Mitglieder aus den Gefängnissen Kolumbiens. Man danke zwar der Administration, dass sie einer Delegation
der politischen Gefangenen die Teilnahme an der Konferenz ermöglicht
habe. Ohne ein Amnestiegesetz werde
es jedoch keine Demobilisierung der
Guerilla geben, warnte Iván Márquez.
Die feierliche Unterzeichnung des
Friedensvertrages soll am Montag in
Cartagena stattfinden. Am 2. Oktober entscheiden die Kolumbianer in
einem Referendum über das Abkommen.
André Scheer
Galgenfrist für Kaiser’s
Tengelmann
Mülheim an der Ruhr. Die Zerschlagungspläne für Kaiser’s
Tengelmann sind nach einem
Krisengespräch zur Zukunft der
Supermärkte zunächst gestoppt
worden. Tengelmann-Chef KarlErivan Haub will in zwei Wochen
endgültig darüber entscheiden. Die
Beendigung des Vertrags zur Übernahme von Kaiser’s Tengelmann
durch Edeka werde für diesen
Zeitraum ausgesetzt, teilte das Unternehmen am Freitag nach einer
außerordentlichen Aufsichtsratssitzung in Mülheim mit.
Die Übernahme war vor zwei
Jahren vereinbart worden, liegt
aber wegen Klagen derzeit auf Eis.
Haub, Edeka-Chef Markus Mosa,
Rewe-Chef Alain Caparros und der
ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske
hatten sich am Donnerstag abend
zu einem letzten Versuch getroffen,
den Konflikt um die Übernahme
der Supermarktkette durch Edeka
beizulegen.
(dpa/AFP/jW)
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Genossen (Stand 20.9.2016)
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