Die Renten sind nicht sicher

24 wirtschaft
Schweiz am Sonntag
18. September 2016
«Die Renten sind nicht sicher»
In der zweiten Säule sollten gar keine fixen Renten versprochen werden, sagt Professor Heinz Zimmermann.
VON NIKLAUS VONTOBEL
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Leserfragen an den
Geldberater
Sämtliche Leserfragen werden
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Schreiben Sie Geldberater
François Bloch ein E-Mail an:
[email protected].
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Heinz Zimmermann, was halten Sie
von der AHVplus-Initiative?
Heinz Zimmermann: Sie nimmt eine
wichtige Frage auf, aber es ist der falsche
Weg. Es braucht nicht eine Erhöhung für alle. Milliardäre wie Christoph Blocher brauchen keine Erhöhung ihrer AHV-Rente.
Was halten Sie vom Titel Auris Medical (EARS), besteht hier noch Hoffnung auf Besserung? Und die Aktie
von Turtle Beach (HEAR) dümpelt in
den letzten Jahren bei einem Dollar
rum. Soll ich hier dennoch ein Engagement ins Auge fassen?
Ich würde von einem Engagement bei
beiden Firmen abraten. Die Risiken
überwiegen das Gewinnpotenzial
durchgehend. Mehr denn je sind Wertpapiere mit stabilen Gewinnaussichten
in der Gegenwart und nicht in der Zukunft gefragt.
Sind in der Schweiz die Renten sicher?
Nein, in der zweiten Säule, der beruflichen
Vorsorge, sind sie das leider nicht.
Wird den Versicherten heute zu viel
versprochen?
Das ist so. Was der Gesetzgeber heute vorgibt, können die Pensionskassen an den
Kapitalmärkten nicht erwirtschaften.
Also müssten die Rentenversprechen
runter – danach wäre die zweite Säule
im Gleichgewicht?
Wir erreichen das gesetzlich vorgegebene
Ziel dennoch nicht: Die zweite Säule soll
zusammen mit der ersten Säule rund 60
Prozent des letzten Lohnes abdecken.
Aber wir könnten vielleicht 50 Prozent
garantieren, und Erwerbstätige könnten heute mehr sparen.
Auch die 50 Prozent wären nicht garantiert. Wir müssen umdenken. Als die zweite Säule in den Achtzigerjahren aufgesetzt
wurde, dachte man noch, man könnte mit
Kapitaldeckung die Renten garantieren:
Die Pensionskassen investieren das Ersparte ihrer Versicherten, das Geld vermehrt
sich am Kapitalmarkt, und bei Erreichen
des Rentenalters wird die Rente ausgezahlt
– risikofrei. Das war ein Fehler.
Worin hat man sich geirrt?
Die Renditen an den Finanzmärkten
schwanken stärker als gedacht. Auf Staatsanleihen, die ja als risikofrei gelten, haben
wir heute negative Renditen. Und es
kommt noch etwas Entscheidendes dazu:
Die Renditen an den Finanzmärkten liegen
unter dem nominellen Wachstum der Löhne. Und das schon seit 2002.
Was bedeutet das?
Die zweite Säule hat in Zeiten extrem niedriger Zinsen ihren Zweck als Garant sicherer Leistungen nicht erfüllen können. Sie
hatte keine Existenzberechtigung.
Also könnte man sie abschaffen und
nur die erste Säule, die AHV, stärken?
Nein, ich würde die zweite Säule erhalten.
Aber lassen Sie mich das Problem erklären.
Bitte.
In der ersten Säule wird mir heute etwas
vom Lohn abgezwackt; dafür erhalte ich einen Anspruch auf die Lohneinzahlung der
künftigen Generation. Diesen löse ich ein,
Die Alten müssen sich um ihre Renten nicht sorgen – die Jungen schon.
Finanz-Theoretiker
Wenn schon Umverteilung,
dann bitte über die 1. Säule
– dafür plädiert der Finanzmarktprofessor Heinz
Zimmermann. Geboren
wurde Zimmermann 1958
in Bern. Seit 2002 lehrt er
Finanzmarkttheorie am
Wirtschaftswissenschaftlichen Zentrum der Universität Basel. Zimmermann hat
diverse Beratungs- und
Verwaltungsratsmandate
inne und gilt als liberaler
Geist.
wenn ich Rentner werde. Das ist das Umlageverfahren. Je schneller die Löhne wachsen, desto höher die Rente, die sich finanzieren liesse. Meine zweite Säule wird aus
meinen Ersparnissen finanziert, den Beiträgen des Arbeitgebers und aus den Erträgen am Finanzmarkt. Je mehr Rendite
mein Erspartes abwirft, desto mehr Rente
bekomme ich. Das ist die Kapitaldeckung.
Wenn nun aber die Rendite an den Kapitalmärkten tiefer liegt als das nominelle
Lohnwachstum, könnte mit dem Umlageverfahren eine höhere Rente finanziert
werden als mit der Kapitaldeckung. Risikofrei. Die Kapitaldeckung brauche ich nicht.
Das hat man nicht vorhergesehen?
Nein, und bis 2002 lief alles nach Plan: Die
Renditen an den Kapitalmärkten waren höher als das nominelle Lohnwachstum. Von
diesen Renditen sollten die Versicherten
profitieren. Das war einer der wichtigsten
Gründe für das Kapitaldeckungsverfahren.
Und der ist heute weg.
Warum wollen Sie die Kapitaldeckung
dennoch behalten?
Weil man mit Aktien und Immobilien im
Schnitt höhere Renditen als den risikolosen Zins erwirtschaften kann. Sofern man
mit den Schwankungen leben kann. Zudem sehe ich es als Vorteil, dass sich der
Arbeitgeber am Aufbau des Alterskapitals
beteiligt. Das sollten wir beibehalten.
Dass die Renditen an den Kapitalmärkten bald steigen, glauben Sie nicht?
Keystone/Ennio Leanza
Hoffen darf man. Ich gehe eher davon aus,
dass wir noch sehr lange tiefe Zinsen haben werden. Unser Kapitalstock ist, gemessen an der Wirtschaft, überdimensioniert.
Zu viel Geld jagt zu wenigen Investitionsgelegenheiten nach, vor allem wenn die angestrebte Sicherheit verlangt wird.
Was muss ändern an der zweiten Säule?
Sie kann eben keine Renten garantieren.
Also müssen wir die Renten-Versprechen
leider abschaffen.
Pensionierte bekämen von Jahr zu Jahr
unterschiedliche Renten?
Richtig, das ist besser, als etwas zu versprechen, was man nicht einhalten kann. Und
besser als das, was wir heute tun, nämlich
in der zweiten Säule auf Kosten der Jungen
die Renten der Alten finanzieren. Diese
Umverteilung ist heute schon riesig, wir
sprechen von mindestens fünf oder sechs
Milliarden Franken jährlich.
Würden Sie mit einem solch unsicheren Einkommen leben wollen?
Man wüsste wenigstens, woran man ist,
und könnte schon als Erwerbstätiger gegen
diese Risiken selbstständig vorsorgen.
Und wenn die Leute das nicht können?
Dann muss man Umverteilungspolitik betreiben. Dazu ist die Kapitaldeckung aber
eben ungeeignet. Wenn man umverteilen
will, dann über das Umlageverfahren, die
erste Säule: Sozialpolitik erfordert einen
ausdrücklichen politischen Konsens.
Das Thema «Artificial Intelligence»
(künstliche Intelligenz) wird immer
noch als «the next big thing» gepriesen. Welche Titel würden Sie in diesem Bereich empfehlen? Vor einiger
Zeit haben Sie den Titel Dr Pepper
Snapple Group empfohlen, der aber
seit einem Monat stark nachgelassen
hat. Würden Sie den Titel nach wie
vor zum Kauf empfehlen? Und: Was
halten Sie vom Titel der Clariant?
Das Thema war vor zehn Jahren schon
ein heisses Thema an der Börse, doch
viele dieser hoffnungsvollen Firmen
existieren heute nicht mehr. Ich würde
eher auf den Bereich «Internet of
Things» setzen. Ich denke hier etwa an
NXP Semiconductors (Börsensymbol:
NXPI US). Die Firma stellt Chips er, die
in selbstfahrenden Autos eingesetzt
werden. Anwendungen wie Antiauffahrtssysteme oder ein Lenkrad, das
über Vibrationen Signale gibt, sehen
wir schon heute bei der BMW-7er-Reihe. – Den kurzfristigen Rückschlag bei
Dr Pepper Snapple Group (Börsensymbol: DPS US) beunruhigt mich
überhaupt nicht: +19,45% beträgt die
Rendite über zwölf Monate, damit
wird der Index S&P 500 locker um fast
90% übertrumpft, ohne die Dividendenrendite von Dr Pepper Snapple
Group zu berücksichtigen. Eine Rendite von 37,04% auf das eingesetzte Eigenkapital ist eine Spitzenrendite. In
Sachen Clariant ist die Luft momentan
draussen: Die Konkurrenzsituation hat
sich zugespitzt, und damit geraten die
Margen wieder ins Wanken.