Der speckige Holzgriff an der Kurbel der Zeit

WernfriedHübschmann
DERSPECKIGEHOLZGRIFFANDERKURBELDERZEIT
Räder,RänderundderBlickzurück
(Geschriebenzum200.Geburtstagder„AltenScheune“
inSchopfheim,Hauptstraße151)
ManmusssichOrtenvondenRändernnähern.VonKürnberg
herunter den Hügel oder über Eichen ins Zentrum hinein.
Schön sind auch die Wege am Entegast jenseits der Wiese,
wenn der Wanderer stehenbleibt und mit ihm die Zeit. Eine
Zeit der Wanderschaften, der freiwilligen Exile und
unfreiwilligen Asyle, einer Körper- und Seelenmigration
ungeheuren Ausmaßes, einer Entwurzelungsepidemie. Die
RäderderGeschichtemahlenlangsam,aberunerbittlich.Der
SpaziergeherschließtdieAugen,umklarersehenundbesser
erkennenzukönnen.DeralteHolzgriffanderKurbelderZeit
liegtgutundglattinderHand.
Der Wanderer an Schopfheims entzündeten Rändern ist nun
kein Spaziergeher mehr, vielmehr ein Spaziersteher, ein
Schauender,einRückschauHaltender,einVergegenwärtiger.
ErimaginiertsicheineandereStadt,eineveränderteStadtim
Rückbau und nimmt die hässlichen Hallen am Ortsrand
Richtung Lörrach aus dem Bild heraus. Er radiert, wie früher
im Schulheft, auf seiner inneren Karte die B 317, die dem
Waren- und Personenverkehr dient und doch die Landschaft
auftrennt wie einen alten Pullover. Die Wiese sollte doch die
einzige Lebensader sein zwischen Feldberg und Rhein, so
denkter,sodachteer.EinpaarbefestigteWegevielleicht.Ein
beruhigtes,verlangsamtesLeben.
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DannnimmterleichthändigdieStrommastenbeiseite,hängt
die schwarzen Leitungen ab und die Satellitenschüsseln, die
aussehen wie ein auf dem Vordach vergessener Wok. Durch
den Äther nähert sich dürftige Nahrung. Er retuschiert die
billigen Neubauten, die Wohnsilos und Flüchtlingscontainer,
entfernt auf seiner Leinwand Computer und Handys und all
die tauben Automobile, die grellen Leuchtreklamen und die
elektronischen Kassensysteme. Der Film beginnt zu flirren
und zu flackern. Vor seinem inneren Auge stehen die
geschleiften Tempel von Palmyra wieder auf, die Gärten von
Ninivesindzurück,DubrovnikerstrahltimfrüherenGlanz.Die
Zwillingstürme von Mana-hattan richten sich wieder auf, das
„Land der vielen Hügel“ erblüht. Alle Jahrzehnte seiner
eigenen Lebenszeit laufen leise schnurrend rückwärts, die
Spule in seiner Hand wird leichter und leichter. Eine Nacht
kommtundverwandeltdasTal.
DerWanderer,derjetzteinZeitenwandererist,siehtvergilbte
Gardinen, entdeckt da und dort rumpelnde Busse wie
freundlicheDinos,hörtdiePopsongsdersiebzigerJahre,sieht
denMannimMondimNeuschneederFernsehbilderausdem
All, vernimmt die Schlager der sechziger Jahre, kauft im
Kolonialwarenladenein(KONSUM),siehtKennedyundKing
und nochmals Kennedy an sich vorbeiziehen und rutscht an
seiner Kinderzeit und der eigenen Geburt vorbei in die Zeit
nach dem großen Krieg, lässt alle Geflohenen und
Vertriebenen zurückkehren an ihre Sehnsuchtsorte, alle
GefallenentretenaufrechtinsLebenzurück.DieWundender
Menschen und Städte schließen sich stumm. Die
Katastrophen heben sich auf. Die Furie des Verschwindens,
diesmalistsiewillkommen.EinbrüchigerFriedeistbesserals
jederKrieg.
NunsiehterPferdefuhrwerkeundfreutsichüberdieGerüche.
Überhaupt Pferde, dieses Klappern der Hufe auf dem
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Katzenkopfpflaster, die Pferdeäpfel, eigesammelt von den
KindernalsDüngerfürdieBeeteindenVorgärten.DasViehin
den Ställen, die alten Schwarzwaldhöfe, wo still gearbeitet
wird, wo das Brot nach Rauch schmeckt und das Bier nach
Brot. Die Männer tragen jetzt wieder Hüte, die Frauen
feiertags ihre besondere Tracht, die Feste werden pünktlich
begangen, der Alltag im Rausch überwölbt. Das einfache
Leben,dasschrecklicheLeben,dasimmergefährdeteLeben:
Kindbettfieber, Masern, Tuberkulose, Missernten, die große
Inflation, das Jahr 23, in dem seine Mutter geboren ist. Die
Räderrollenrückwärts,hineinindenerstenJahrhundertkrieg,
ins Jahr an der Somme, nach Verdun, 1916 ... Verdun ...
(warumklingtihmdasimmerwieein„Werda?“...underweiß
keine Parole!), das ferne Grollen über dem Ärmelkanal,
Explosionen und Pulverdampf. Tannenberg auch,
LudendorffsStunde, Getümmel,GeschreiundGemetzel.Die
knirschende Stimme des Kaisers. Vierzehn – Achtzehn, nur
nichtpassen...EsistdieZeitderfuriosenUntergänge.Finde
siècle also: Habsburgerreich, Zarenreich, Kaiserreich,
Osmanisches Reich, alles dahin und hinunter. Geschichte ist
einAlbtraum,ausdemichzuerwachenversuche,sagtStephen
Daedalus,derProtagonistim„Ulysses“.
Dann rollt die Spule noch schneller. Er dreht an der Kurbel.
Der Griff ist ziemlich speckig. Das Bismarckreich blitzt auf.
Haubitzen, Pickelhauben, eine Flotte wird gebaut, es wird
marschiert und krauses Zeug gesungen. Die Glühbirne wird
erfundenzurErleuchtungderWelt–kolossal!Überhauptviel
Tatkraft und enorme Maschinen, Webereien und
Bergwerksfron auch im Wiesental. Ungerechtigkeiten,
Prügelstrafe,Kinderarbeit,harteJahre,harteSteine.Industria
heißt „Fleiß“! Es gibt noch ein „Zuchthaus“. Nein, auch das
Tal der Wiese ist nicht das Tal der Weisen! Aber die
Landschaftlieblich,dieMenschenmitsichundihrenGeräten
und Gärten verbunden. Man erträgt die großen und die
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kleinenKriege.EsgibtauchKirchen,diedasLebenordnen...
und lass uns ruhig schlafen / und unsern kranken Nachbarn
auch. Der Mond geht auf und wieder unter, die Sonne tönt
nachalterWeise.
Der 66er-Krieg findet noch einmal nicht statt, die 48erRevolution ereignet sich nur auf Papier, Hecker und seine
Leute: ein Schachspiel, ein Schattenspiel, eine MarktplatzMoritat. Frau Herwegh bleibt sittsam und lüpft die Röcke
nicht. Selbst Henry Heine kommt wieder zurück aus seinem
Pariser Exil ... rückwärts rast jetzt die Spule und schnurrt ...
Goethe lebt, ist ein sich verjüngender Greis, der sich vorm
Sterben fürchtet. Was soll er, anno 1823, in Marienbad vom
Wiedersehen hoffen, von jenes Tages noch geschloss’ner
Blüthe?
Und der Prälat Hebel ist noch einmal, ein letztes Mal, zu
Besuch im südlichen Markgräflerland, im Tal der Wiese. Wir
sindimJahr1816angekommen.Vielleichtwarer1814zuletzt
in der Heimat, aber wir wollen ihm und Hausen diese letzte
Begegnunggönnen.EinebeschwerlicheKutschfahrtalsoüber
vier Tage aus Karlsruhe her. Er hat es nicht eilig, er schaut
nochinLörrachvorbei.DasCollegiumversammeltsichinder
Aula des Lyceums, ein Volkslied erklingt. Man grüßt und
begrüßt, ist scheu oder allzu redselig wie der alte Kaulbach.
Hebel schüttelt Hände, hält eine kurze, launige Rede, aus
seinen Augenwinkeln blitzt der Schalk. Dann geht es weiter,
dieKutschewartet.InBrombacherkundigtersichbeimVogt
nach den Geschäften. Kommt gegen Sonnenuntergang
endlich nach Hausen, den Ort seiner Kindheit. Atmet tief ein
undnochtieferaus.WillzunächsteinStückalleinespazieren.
Trinkt am Abend im „Adler“ noch manches Schöppli. Die
einfachenLeut’tunihmgut.AbererbrauchtmehrSchlafals
früher.UndderMagenmachtihmzuschaffen.DochdieTage
inHausensinderquicklich.Erarbeitetviel,schreibtBriefemit
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demkratzendenFederkiel,stopftvieleMaleseinPfifli,grüßt
hierhinunddorthin,ermahntundgibtRat,schlichtetgarden
GrenzstreitzweierNachbarnamMaiberg.EinGottesdienstzu
seinen Ehren findet statt, die Leute stehen in den
Seitengängen in ihren schwarzen Gewändern. Hebel weiß,
dass ihm das geliebte und oft vermaledeite Kalenderprojekt
gerade entgleitet, er kann’s nicht hindern. Es regnet viel in
jenen Tagen. Seingrauer Rock wird kaum nochtrocken. Ihm
istesgleich.
Und in Schopfheim wird die neue Scheune geweiht, am
Ortsrand,kurzvorFahrnau.EinländlichesFestfindetstatt.Er
hörtdasScheppernderKapelleunddasWummernderPauke
summt ihm im Ohr. Die Spule trudelt langsam aus. Das Jahr
ohneSommeristmitNotundMühenüberstanden.Esgabviel
Hunger und Elend und in Baden vierhundert Tote. Die
Scheune ist ein stattlicher Bau nah bei der Wiese und doch
sicher vor der Frühjahrsüberschwemmung. Vier Jahre haben
dreiFamiliendrangewerkeltundgeschafft.Siesollvorallem
dasKorntrockenhalten,nachdemdergroßeSchopfjenseits
der Wiese abgebrannt ist. Ob’s Brandstiftung war oder der
Blitz, keiner weiß es so genau. Es ist ein heißer August. Die
Weltpolitik ist anderswo zuhaus, in Wien beim Kanzler
Metternich und in Rom natürlich, und vielleicht ein wenig in
München. Und auf St. Helena nimmt der korsische Kaiser
gradeUrlaubfürimmerundstricktanseinerLegende.Täglich
erhältderPostilloneinBündelversiegelterBriefe,dasZielist
Paris.InSchopfheimhingegengehtderAlltagseinenTrott.In
diesem Jahr kommen die Kriegswerber nicht, dem Herrn sei
Dank! Die Burschen tanzen wieder besonders wild und die
MädchenhabennochrötereBacken.WährenddieMütterim
Hintergrund ihre Köpfe wiegen und milde lächeln. Drei Tage
wirdgefeiert.DannmussderWeizenhereingeschafftwerden.
Sonstwird’seingarzuharterWinter,1816auf17.
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Der Wanderer öffnet die Augen. Er lässt die Kurbel
erschrocken los und blickt auf. Ein schrilles Geräusch hat ihn
geweckt.EsisteinMartinshorn,dasmitverzerrtemKlangnun
leiserwird.Ergehtlangsamweiterundsteigtlinkshinauf,um
dasTalbesserzuüberblicken.ErsiehtamRandevonFahrnau
die Menschenbehälter neben der Gießerei, zwischen
Sportplatz und Friedhof. Treibgut am Ufer der Zeit. Das
WeltgebäudequietschtundistausdenFugen.Kinderspielen
auf dem Schottergelände vor den blassen Containern und
rennen dem Ball hinterher. Ein paar Männer stehen
beisammen und rauchen. Fahrräder liegen übereinander und
ineinanderverkeilt,SkulpturderOrientierungslosigkeit.
Vielleicht kommen im nächsten Winter die Bergfinken, diese
Migranten der Lüfte, wieder nach Eichen oder Hasel für ihr
rauschendes Schauspiel. Oder ziehen weiter auf der Suche
nach Nahrung. Dem Wanderer wird ein wenig kühl vom
StehenundStaunen.ErwendetdenBlicknachOstenhinüber.
Das Zeller Bergland verschwindet im Nebel. Der grüne
Kirchturm von Hausen schimmert in der Abendsonne. Dann
eilt der Wanderer als ein Läufer, als ein Bote (denn er hat ja
ein Geburtstagspäckchen dabei) den Hügel hinunter und zur
Scheune hinüber, die jetzt, nach zweihundert Jahren, wieder
aufgebaut und bewohnt und belebt, mit gutem Recht und
respektvoll Alte Scheune genannt werden darf und wo
freundlicheMenschenihngeduldigerwarten.
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©2016by
WernfriedHübschmann
www.wernfried-huebschmann.de
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