Cybathlon-Schulprogramm 7. Oktober 2016: Dossier für Lehrpersonen Inhalt Was ist der Cybathlon? Warum organisiert die ETH Zürich diesen Wettkampf? In welchen Disziplinen treten die Athleten an? Gesprächspartner der Meet & Greet-Session Teams der ETH Zürich: Scewo und Varileg Ausstellung „Von Captain Hook zu Iron Man?“ Anregung: Mögliche Aufgaben für Schulklassen im Vorfeld Mögliche Leitfragen Behinderung und Gleichstellung: Worum geht’s genau? Weitere Informationen und Anregungen Anhang 2 2 2 4 5 6 7 7 8 10 11ff 1 Was ist der Cybathlon? Der Cybathlon ist der weltweit erste Wettkampf, bei dem Menschen mit körperlichen Behinderungen unterstützt durch neueste Robotertechnologie gegeneinander antreten. Im Gegensatz zu den paralympischen Spielen steht beim Cybathlon nicht die sportliche Höchstleistung, sondern die optimale Verbindung von alltagstauglichen robotischen Hilfsmitteln und deren Anwendern im Vordergrund. 74 Athleten aus 25 Ländern sind mit von der Partie. Der Cybathlon möchte den Zuschauern gute Unterhaltung bieten. Er möchte aber auch die Aufmerksamkeit auf die Alltagsprobleme von Menschen mit Behinderungen richten und zeigen wie sich diese dank modernsten und hochpräzisen technischen Hilfsmitteln besser bewältigen lassen. Der Cybathlon findet am Samstag, 8. Oktober 2016 in der Swiss Arena in Kloten statt und wird live vom Schweizer Radio und Fernsehen übertragen. Zum Rahmenprogramm gehört nebst einem wissenschaftlichen Symposium und weiteren Veranstaltungen auch das spezielle Programm für Schulklassen am Freitag, 7. Oktober. Warum organisiert die ETH Zürich diesen Wettkampf? Die ETH Zürich steht für Lehre und Forschung auf höchstem Niveau – verbunden mit dem Transfer ihres Wissens in Wirtschaft und Gesellschaft. Weil Innovation fast immer aus Konkurrenz entsteht, rief die ETH auf Initiative von Prof. Robert Riener den Cybathlon ins Leben. Ziel ist es, die Kommunikation zwischen Hochschulen und Industrie zu fördern, Technologieentwickler und Menschen mit Behinderungen zusammenzuführen sowie robotische Hilfsmittel besser zugänglich zu machen. Die ETH Zürich gehört zu den führenden Hochschulen im Bereich medizinische Robotik und Rehabilitation. Mit dem Cybathlon zeigt sie, wie sie ihr Wissen mit dem Dienst an der Gesellschaft verbindet. In welchen Disziplinen treten die Athleten an? Am Cybathlon gibt es sechs spannende Disziplinen, in denen jeweils 12–16 Teams gegeneinander antreten. Die Parcours sind bewusst so angelegt, dass sie Alltagsaktivitäten abbilden. Gemeinsam mit PluSport, der Dachorganisation des Schweizer Behindertensports, wurden zu allen sechs Cybathlon-Disziplinen Hands-on-Demos konzipiert. Diese Demos greifen die Problematik verschiedener beschwerlicher Alltagssituationen für Rollstuhlfahrende, Arm- oder Beinamputierte auf und machen sie für die Besucher des Cybathlon erlebbar. Der Besuch dieser interaktiven Stationen ist Teil des Schulprogramms. Virtuelles Rennen mit Gedankensteuerung (BCI) Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCIs) können Gedanken lesen! Genauer gesagt, können sie Hirnsignale erkennen, wodurch beispielsweise Menschen mit Tetraplegie einen Computer, einen Roboterarm oder einen Rollstuhl steuern können. In unserem Rennen steuern die Piloten künstliche Figuren (Avatare) in einem speziell entwickelten Computerspiel. Die Piloten müssen die entsprechenden Signale im richtigen Augenblick aussenden, damit ihre Avatare Hindernisse überspringen oder sich beschleunigen. Weitere Informationen und kurzer Film: www.cybathlon.ethz.ch/die-disziplinen/bci-race.html 2 Fahrradrennen mit elektrischer Muskelstimulation (FES) Die elektrische Muskelstimulation ist eine Technik, die es ermöglicht, gelähmte Muskeln wieder zu bewegen. Durch das Anbringen von Elektroden auf der Haut wird ein Stromimpuls zu den Muskeln geleitet, die sich dann zusammenziehen. Dadurch kann ein Pilot mit Rückenmarksverletzung, dessen Nervenbahnen zwischen Gehirn und Beinmuskeln unterbrochen sind, mithilfe eines intelligenten Steuergeräts eine Bewegung auslösen, z.B. ein Fahrradpedal treten. Weitere Informationen und kurzer Film: www.cybathlon.ethz.ch/die-disziplinen/Fahrradrennen-FES.html Geschicklichkeitsparcours mit Armprothesen Schon seit Jahrtausenden nutzen Menschen, die durch Krankheit oder einen Unfall Körperteile verloren haben, verschiedenste Methoden, um die Funktionen der verlorenen Gliedmassen zu ersetzten. In den letzten Jahrzehnten hat das Gebiet der Prothetik besonders grosse Fortschritte gemacht. So werden Lösungen entwickelt, die nicht mehr rein mechanisch sind, sondern Energie erzeugen, mit dem Benutzer kommunizieren und weniger schwer, dafür aber komfortabler sind. Weitere Informationen und kurzer Film: www.cybathlon.ethz.ch/die-disziplinen/Armprothesen-Parcours.html Hindernisparcours mit Beinprothesen Herkömmliche Beinprothesen erweisen sich oft als schwer, unbequem und somit wenig alltagstauglich. Aktive Beinprothesen ermöglichen es Personen nach einer Beinamputation, durch innovative Technologien, ohne Anstrengung Treppen zu steigen und ohne Stolpern auf unebenem Untergrund zu gehen. Weitere Informationen und kurzer Film: www.cybathlon.ethz.ch/die-disziplinen/Beinprothesen-Parcours.html Parcours mit robotischen Exoskeletten Aus Science-Fiction-Filmen längst bekannt, machen Exoskelette allmählich den Schritt aus der Fantasie und dem Labor in die Wirklichkeit. Diese robotischen Stützstrukturen werden von Krankenhäusern in der Physiotherapie bei Patienten eingesetzt, die sich nicht mehr selbständig fortbewegen können. Beispielsweise können Paraplegiker dank dieser neuartigen Vorrichtungen wieder gehen. Weitere Informationen und kurzer Film: www.cybathlon.ethz.ch/die-disziplinen/Exoskelett-Parcours.html Parcours mit motorisierten Rollstühlen Menschen, die sich regelmässig im Rollstuhl bewegen, können ein Lied davon singen: Gebäudeeingänge mit Schwellen, unebene Pflasterungen oder steile Rampen können ihnen das Leben erheblich erschweren. Der Cybathlon ermutigt die Teams, innovative Lösungen zu erarbeiten, um sich diesen Herausforderungen zu stellen. Zugelassen sind motorisierte Rollstühle, die per Joystick, Zungensteuerung, Touchpad oder mittels anderer Technologien gesteuert werden. Weitere Informationen und kurzer Film: www.cybathlon.ethz.ch/die-disziplinen/Rollstuhl-Parcours.html 3 Gesprächspartner der Meet & Greet-Session Jede Schulklasse kommt in den Genuss eines persönlichen Gesprächs mit einer dieser Personen, die als Experten oder Athleten am Cybathlon mitwirken und selber körperlich behindert sind. Die Meet & Greet-Session bietet die Gelegenheit, persönliche Eindrücke davon zu gewinnen, was es bedeutet, mit einer Behinderung zu leben. Damit die Session spannend und ergiebig ist, empfehlen wir, dass Sie Ihre Schüler bereits im Vorfeld auffordern, sich ein paar Fragen zu überlegen, oder dass Sie gemeinsam mit ihnen einen Fragenkatalog im Unterricht erarbeiten. Rüdiger Böhm ist Motivationstrainer, Redner, Coach und Buchautor. Er weiss, was es bedeutet, wenn sich im Leben binnen einer Sekunde alles verändert. Nach einem schweren Verkehrsunfall stand er 1997 plötzlich ohne Beine da. Der Mutmacher hat sich zurück gekämpft und im Mai 2016 das Buch „No legs, no limits“ über seine Geschichte veröffentlicht. http://ruedigerboehm.ch Claudia Breidbach ist Architektin und Fallschirmspringerin. Sie wurde mit einer Dysmelie geboren, das heisst ohne linke Hand und Unterarm. Von klein an hat sie gelernt, ihren Alltag mit nur einer Hand zu bewältigen. Sie trägt seit mehreren Jahren eine robotische VollhandProthese und trainiert Techniker und Anwender bei der Handhabung dieses Hilfsmittels. www.one-hand-skydiver.de Christian Lohr studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Konstanz. Er ist heute als Dozent und Publizist tätig und wirkt in den Entscheidungs-gremien verschiedener Behindertenorganisationen mit. Er ist Mitglied des Nationalrats in der CVP-Fraktion. Zuvor war er lange Jahre Mitglied des Grossen Rats des Kantons Thurgau (2008/2009 als Präsident) sowie des Gemeinderates Kreuzlingen. Als Betroffener des Wirkstoffs Thalidomid (ohne Arme und mit fehlgebildeten Beinen geboren) setzt sich Christian Lohr seit vielen Jahren auf politischer Ebene ganz besonders für die Anliegen von Menschen mit Beeinträchtigung ein. www.lohr.ch Simon Voit: Nach einem unverschuldeten Motorradunfall im Jahr 2000 musste dem damals 17 jährigen das linke Bein oberhalb des Knies amputiert werden. Als Sportler nahm er 2006 an den Winter Paralympics (Ski-Alpin) und 2008 an den Sommer Paralympics (Sportschiessen) teil. Als Maschinenbauingenieur entwickelte er Prothesen und arbeitet nun im Bereich Marketing. Ehrenamtlich engagiert als Nachwuchstrainer (Paralympics Future Team), sieht er den Cybathlon als grosses Bindeglied zwischen Ingenieurwissenschaften und Medizintechnik. 4 Teams der ETH Zürich Die ETH Zürich ist nicht nur Initiantin und Organisatorin des weltweit ersten Cybathlon, sondern tritt auch selber mit zwei Teams bei den Wettkämpfen an. Beide Teams sind aus studentischen Projekten hervorgegangen. Bei diesen sogenannten FokusProjekten wenden Bachelor-Studierende der Fachrichtung Maschineningenieurwissenschaften der ETH Zürich ihr theoretisches Wissen in der Praxis an und entwickeln selbstständig ein Produkt, das sie an einem Rollout-Anlass präsentieren. Mit etwas Glück treffen Sie eines der Teams – oder sogar beide – am 7. Oktober. Sie bereiten sich an diesem Tag auf den Wettkampf vor, durchlaufen medizinische und technische Checks und sind zwischendurch im Bereich der Hands-On-Demos für die Schulklassen da. Team Scewo Scewo ist ein innovativer Rollstuhl, mit dem Alltagshindernisse wie zum Beispiel Treppen bewältigt werden können. Die Kombination von Rädern und Raupen ermöglicht dem Rollstuhlfahrer eine neue Dimension der Mobilität: Dadurch, dass der Rollstuhl auf zwei Rädern balanciert, kann er auf der Stelle gedreht und selbst durch enge Räumlichkeiten manövriert werden. Die Raupen geben optimalen Halt auf der Treppe und lassen sich auf beliebige Winkel ausfahren. Scewo spielt die Hauptrolle im Trailer zur Cybathlon-Disziplin „Powered Wheelchair Race“: www.cybathlon.ethz.ch/die-disziplinen/Rollstuhl-Parcours.html Aktueller News-Beitrag zu Scewo: www.ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2016/08/top-im-treppensteigen.html Team Varileg Mit dem alltagstauglichen VariLeg Exoskeleton sollen Paraplegiker wieder aufrecht gehen können. Das Stützgerüst wird an den Beinen befestigt und bewegt diese mithilfe von Elektromotoren. Mit neusten Technologien aus der Robotik ausgestattet entstand ein Exoskelett, das unebenen Untergrund und Hindernisse selbstregulierend ausgleichen kann. Präsentation der Studierenden anlässlich des Rollouts: http://varileg.ch/videos/ Interview mit dem Team-Leader (in Englisch): www.cybathlon.ethz.ch/cybathlon-news/2015/10/tech-teams-of-the-cybathlonvarileg.html 5 Ausstellung „Von Captain Hook zu Iron Man?“ Das Cybathlon-Schulprogramm beinhaltet auch einen geführten Besuch durch diese Ausstellung. Die Klassen begeben sich auf eine Reise von den Anfängen der Unterstützungstechnik bis hin zur Gegenwart. Sie erfahren, wie sich Prothesen, Rollstühle und weitere Hilfsmittel über die Jahre entwickelt und verbessert haben. Die Vielfalt der Exponate widerspiegelt die historische und technologische Entwicklung diverser Hilfsmittel und Sportgeräte im Bereich Behinderung. Die einzigartige Sammlung wurde von PluSport gemeinsam mit verschiedenen Partnern zusammengestellt. Beispiele von Objekten: - Roll-Rikscha, Baujahr ca. 1890, aus Stahl und Holz - Hebelselbstfahrer, Baujahr ca. 1930, aus Stahl, Holz und Leder (siehe Bild), aus der Sammlung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung - Hand-Unterarm-Prothese, Leihgabe von spiess + kühne (siehe Bild) - Speedbike, Baujahr 2015, aus Alluminium, von Alois Praschberger, Österreich - Beinprothese C-Leg 4 mit elektronischem Kniegelenk, Ottobock Ausstellungsguides: Nebst Rüdiger Böhm (s. Seite 4) wird am Schulprogramm auch der Experte Armin Köhli die Schülerinnen und Schüler durch die Ausstellung führen und Fragen beantworten: Armin Köhli, der bei einem Zugunfall im Alter von 15 Jahren beide Unterschenkel verlor, arbeitet seit 2007 bei der unabhängigen Nichtregierungsorganisation Geneva Call, die sich als humanitäre Organisation in Krisenregionen für die Einhaltung von humanitärer Normen einsetzt. Er verhandelt mit rivalisierten bewaffneten Gruppierungen im Nahen Osten, um einen besseren Schutz der Zivilbevölkerung vor Gewalt und Landminen zu erreichen. Vorher war er bereits lange humanitär aktiv, arbeitete als Journalist, war erfolgreicher Profi-Radfahrer und fuhr zudem extreme Rennen, wie die 11‘000 km lange Tour d’Afrique von Kairo nach Kapstadt. 6 Anregung: Mögliche Aufgaben für Schulklassen im Vorfeld - Die Schülerinnen und Schüler überlegen sich eigenständig Fragen, die sie den Experten (meet & greet) stellen möchten, tauschen sich in Zweier- oder grösseren Gruppen dazu aus. Resultate im Plenum zusammentragen, Fragen in Themenkreise einteilen (vgl. unteren Absatz zu den mögliche Leitfragen) - Alle überlegen sich, ob sie in ihrem Umfeld eine Person mit einer Behinderung kennen. Sie sprechen mit dieser Person darüber, wie sie den Alltag erlebt und/oder – noch besser – begleiten sie bei einer Aktivität (z.B. einkaufen, Fahren im ÖV, ...) und beobachten, welche Hindernisse es zu meistern gilt. - Selbstversuch: Die Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert, sich eine Hand zu bandagieren und zu beobachten, wie sich das auf eine alltägliche Aktivität wie Zähneputzen, Umziehen, Butterbrot schmieren, ... auswirkt. - Besonders für Fachschaft Deutsch: Gegenüberstellung der originalen UNOBehindertenrechtskonvention mit der Fassung in „Leichter Sprache“ (siehe Anhang). Oder: spezielle Passage daraus als mögliches Aufsatzthema. - …und bestimmt haben Sie als Lehrpersonen noch ganz andere Ideen, wie sich das Thema am besten im Unterricht oder als Hausaufgabe vermitteln lässt! Mögliche Leitfragen Empfehlung: Die Leitfragen den Schülern nicht abgeben, sondern von ihnen erarbeiten lassen und im Unterricht einbetten. Z.B. Einzeln oder zu zwei Fragen überlegen, präsentieren, Diskussion in Gruppen, Rollenspiele, Recherchieren als Hausaufgabe, ... Themenkreis Leben mit Behinderung, individuelles Leben im Alltag - Welchen Herausforderungen begegnen Menschen mit Behinderungen in ihrem Alltag? - Welche besonderen Bedürfnisse haben sie? - Welche besonderen Fähigkeiten haben sie? - Wie stehen sie selber zu ihrer Behinderung? Fühlen sie sich überhaupt behindert? In welchen Situationen? - Was sind die Voraussetzungen für eine tatsächliche Integration? - Wer soll sich anpassen, um Gleichstellung zu erreichen: die Menschen mit Behinderungen oder das Umfeld? - Wie reagiert das Umfeld auf ihre Behinderung? - Welche Reaktionen würden sie sich vom Umfeld wünschen? - … Themenkreis Mensch und Technik - Welchen Beitrag kann die Technik zur Gleichstellung leisten? Welchen nicht? - Ist die technologische Entwicklung für Menschen mit Behinderung ein einziger Segen? Oder kann sie vielleicht auch zum Fluch werden, indem sie diese Menschen unter Druck setzt, alle verfügbaren Technologien zu nutzen, auch wenn sie dies vielleicht gar nicht wollen? - Die Entwicklung und Produktion von technischen Hilfsmitteln wie Prothesen etc. ist teuer. Wer soll das bezahlen? - … Siehe hierzu auch den Hinweis auf die Podiumsdiskussion "Ist Hightech der Schlüssel zur Gleichstellung" auf Seite 11. 7 Behinderung und Gleichstellung: Worum geht’s genau? Quelle: Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB. https://www.edi.admin.ch/edi/de/home/fachstellen/ebgb.html Die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen nimmt in der öffentlichen Diskussion in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr Raum ein. In der Schweiz lässt sich dies in rechtlicher Hinsicht besonders am Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes am 1. Januar 2004 und an der gleichzeitig erfolgten Schaffung des Behindertengleichstellungsbüros ablesen. Wie lässt sich Behinderung definieren? Es gibt keine einheitliche Definition von Behinderung. Je nach Kontext und Konzept von Behinderung lässt sich diese verschieden umschreiben. Die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskussionen der letzten 50 Jahre waren vor allem von diesen Modellen geprägt: 1.) Das individuelle Modell (oder medizinische Modell) Das individuelle Modell, das sich nach dem ersten Weltkrieg entwickelte, beruht auf einem biomedizinischen Ansatz. Behinderung wird als „körperliche, psychische oder geistige Beeinträchtigung" einer Person verstanden, aus der Einschränkungen der gesellschaftlichen Partizipation folgen. Dieses Modell beruht auf einer Logik von Ursache und Wirkung: Eine Krankheit oder ein Trauma führt zu einer Beeinträchtigung des Organismus, welche die Fähigkeit einschränkt, gewisse Verrichtungen vorzunehmen, woraus wiederum ein sozialer Nachteil oder eine Behinderung folgt. Behinderung ist danach eindeutig das Resultat einer Beeinträchtigung des Individuums. Der Umgang mit Behinderung, der aus diesem Modell folgt, knüpft an der Pflege an und setzt sich die längerfristig die Heilung der Person oder zumindest deren Eingliederung in die Gesellschaft zum Ziel, wie sie für die „Gesunden" existiert. 2.) Das soziale Modell Als Reaktion auf dieses sehr medizinische Modell entsteht in den 1960er Jahren im Umfeld verschiedener Behindertenbewegungen eine strikt soziale Sicht von Behinderung. Daraus entwickelt sich das soziale Modell der Behinderung, welches Behinderung als Ergebnis einer Gesellschaft betrachtet, welche die Besonderheiten ihrer Mitglieder nur unzulänglich berücksichtigt. Die Ursache der Behinderung liegt in diesem Modell ausserhalb des Individuums. Daraus folgt auch ein anderer Umgang mit Behinderung: Die soziale Betrachtungsweise verwirft die Heilung als Ideal und setzt stattdessen auf die Förderung der vorhandenen Kapazitäten der Person, um so ihre Autonomie im Alltag zu ermöglichen. Dieses Modell fordert ebenfalls die Beseitigung physischer und sozialer Barrieren. Es geht darum, die Umwelt und Dienstleistungen anzupassen, d.h. sie für Personen mit physischen oder psychischen Beeinträchtigungen zugänglich und verwendbar auszugestalten. 3.) Die interaktiven Modelle Als Reaktion auf die traditionellen Ansätze, die je einen spezifischen Aspekt in den Vordergrund stellen, hat sich ein dritter Typus von Modellen entwickelt. Die neue Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health) der Weltgesundheitsorganisation WHO versucht, bei der Definition der Behinderung sowohl den individuellen wie auch den umweltbezogenen Faktoren Rechnung zu tragen. Das Modell PPH (Processus de production du handicap; Prozess der Erzeugung von Behinderung), das seit den 1980er Jahren in Québec von Fougeyrollas und seinen Mitarbeitenden entwickelt wird, setzt einen Akzent auf der Interaktion zwischen den verschiedenen Faktoren, die zu einer Situation von Behinderung führenden. Diese neueren Modelle sind offen und dynamisch, indem sie versuchen, den individuellen Determinismus des medizinischen und den externen Determinismus des sozialen Modells zu überwinden. 8 «Behinderung» ist nicht deckungsgleich mit dem Begriff «Invalidität», die im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung verwendet wird und die eine fehlende oder reduzierte Erwerbsfähigkeit bedeutet. Was verstehen wir unter Gleichstellung? Im Alltag stossen Menschen mit Behinderungen oft auf Hindernisse, die es ihnen erschweren oder gar verunmöglichen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Gleichstellung bezeichnet diejenigen Massnahmen, die auf eine Beseitigung oder zumindest Verringerung dieser Benachteiligungen abzielen. Bei der Gleichstellung geht es darum, jedem Menschen in gleicher Weise die autonome Teilhabe am Leben der Gesellschaft zu ermöglichen. Ein solches Verständnis von Gleichstellung basiert auf einer sozialen Definition von Behinderung, die eine Behinderung auch in gesellschaftlichen Faktoren verankert: Die Umwelt ist «be-hindernd». Lange Zeit wurde Behinderung im «medizinischen Modell» lediglich als individuelles Merkmal angesehen. Der Paradigmenwechsel - weg vom medizinischen, hin zum sozialen Modell von Behinderung - bestimmt, wie Gleichstellungsmassnahmen in Zukunft ausgestaltet werden. Welche rechtlichen Grundlagen gibt es? In der Schweiz bildet die Bundesverfassung (BV) die eigentliche Grundlage für das Gleichstellungsrecht. Artikel 8 Absatz 2 BV verbietet jegliche Diskriminierungen wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Artikel 8 Absatz 4 BV beauftragt zudem den Gesetzgeber, Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen der Menschen mit Behinderungen vorzusehen. Der Gleichstellungsauftrag der Bundesverfassung wird im Bundesgesetz zur Beseitigung der Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen konkretisiert. Dieses ist am 1.1.2004 in Kraft getreten und sieht insbesondere in vier zentralen Bereichen Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen vor: So sollen Hindernisse beim Zugang zu Bauten und Anlagen sowie bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen, Aus- und Weiterbildungsangeboten und des öffentlichen Verkehrs beseitigt werden. Auf internationaler Ebene trat am 3. Mai 2008 die UNO-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Damit werden die allgemeinen Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen konkretisiert. Eine spezielle, in „Leichter Sprache“ geschriebene Fassung dieser Konvention findet sich im Anhang dieses Dossiers. 9 Weitere Informationen und Anregungen Weitere Informationen: - Das EBGB stellt auf seiner Website eine ganze Reihe weiterführender Informationen zur Situation in der Schweiz zur Verfügung und bietet Publikationen zum Download oder kostenlosen Versand an: www.edi.admin.ch/edi/de/home/fachstellen/ebgb.html - Procap, der grösste Mitgliederverband von und für Menschen mit Behinderungen in der Schweiz, bietet mit „Mal seh’n“ Sensibilisierungsanlässe in Schulen an. Zudem verfügt Procap über eine Sammlung an Filmen zum Thema Behinderung, die für schulische Zwecke eingesetzt werden dürfen. Auf Wunsch können sich Lehrpersonen auch ein Informationspaket zum Thema Hör- und Sehbehinderungen zukommen lassen. Kontakt und weitere Informationen: www.procap.ch/index.php?id=2232&type=0 - PluSport Behindertensport Schweiz ist die Dachorganisation der Sportclubs für Sportlerinnen und Sportler mit aussergewöhnlichen Fähigkeiten. PluSport organisiert Sportcamps, führt spezielle Ausbildungskurse durch, koordiniert die Arbeit im Spitzensport und realisiert verschiedene Projekte in der Öffentlichkeit. www.plusport.ch - Filme zum Thema (Auswahl): o Sensibilisierungsvideo von Pro Infirmis: https://www.youtube.com/watch?v=E8umFV69fNg o Sensibilisierungsvideo von Aktion Mensch: https://www.youtube.com/watch?v=gZFHK3OwzFM Anhang (siehe separates PDF): - Publikation „Hintergrund und Fakten“ des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB UNO-Behindertenrechtskonvention, spezielle Fassung in sogenannter „Leichter Sprache“ Statistiken zu Behinderungen in der Schweiz: Art der Behinderung und Wahrgenommener Gesundheitszustand 10 Gerne weisen wir Sie auch auf folgende Veranstaltung hin: Podiumsdiskussion „Ist Hightech der Schlüssel zur Gleichstellung?“ Dienstag, 27.September 2016, 18:30 bis 20 Uhr, mit anschliessendem Apéro ETH Zürich, Audimax, Rämistrasse 101, 8006 Zürich Im Vorfeld des Cybathlon organisiert die ETH Zürich eine öffentliche Podiumsdisskussion, die sich mit Bedeutung von Technologie für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung auseinandersetzt. Gibt es irgendwann die Pflicht sich technologisch zu „optimieren“? Werden Menschen mit Behinderung genügend in die technische Entwicklung eingebunden? Gibt es ein Anrecht auf modernste Hilfsmittel? Insbesondere für Lehrpersonen, die anlässlich des Cybathlon-Besuchs die Thematik Behinderung und Gleichstellung im Unterricht vertiefen wollen, bietet die Veranstaltung eine optimale Gelegenheit, um verschiedene Sichtweisen auf das Thema kennen zu lernen. Programm: Begrüssung Ulrich A. Weidmann, Vizepräsident für Personal und Ressourcen der ETH Zürich Inputreferat Brian McGowan, Präsident des Vereins Sensability Podiumsdiskussion mit: • • • • Karin Harrasser, Kultur- und Medienwissenschaftlerin, Kunstuniversität Linz Andreas Rieder, Leiter des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) Joe Manser. Zürcher Gemeinderat und Leiter der Fachstelle für Hindernisfreies Bauen Robert Riener, Initiator des Cybathlons und Professor für Sensomotorische Systeme an der ETH Zürich Special Guests: • • • • Nationalräte Christian Lohr und Balthasar Glättli Anja Reichenbach, Projektleiterin Blindspot Joachim Röthlisberger, Projektleiter bei PluSport Rüdiger Böhm, Motivationstrainer und Coach Moderation: Niklaus Walter, Ressortleiter Wissen SonntagsZeitung und Tages-Anzeiger Anmeldung Die Teilnahme steht allen Interessierten offen und ist kostenlos. Bitte melden Sie sich online an unter www.event.ethz.ch/PDC_2016 Siehe auch www.cybathlon.ethz.ch/fuer-besucher/podiumsdiskussion.html 11
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