1 Freitag, 16.09.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Jörg Lengersdorf Neue Referenz JULIA FISCHER DUO SESSIONS DANIEL MÜLLER-SCHOTT KODALY SCHULHOFF RAVEL HALVORSEN ORFEO C 902 161 A Ansteckend musikantisch Emil Nikolaus von Reznicek Konzertstück für Violine & Orchester Goldpirol • Till Eulenspiegel Sophia Jaffé Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin Marcus Bosch CPO 777983-2 Faszinierende Gegenüberstellung Paul Juon Lieder Maria Riccarda Wesseling Clau Scherrer Coviello CLASSICS COV 91812 Unverschämte Schmissigkeit Moszkowski Piano Concerto in B minor, Op 3 (First Recording) Schulz-Evler Russian Rhapsody Ludmil Angelov BBC Scottish Symphony Orchestra Vladimir Kiradjiev hyperion CDA68109 Rücksichtslose Spielfreude TRIO KLAVIS GEOGRAPHY OF SOUND Orlando Records 9120040730512 Gefällig Emma Johnson English Fantasy Music for clarinet and orchestra by John Dankworth Patrick Hawes Paul Reade Will Todd NIMBUS ALLIANCE 0170357632822 2 Neue Klangfarbenspektren INSANE HARMONY ENGLISH MUSIC 1650-1700 Purcell LawesTomkins Locke Williams MUSICA ALTA RIPA MDG 309 1961-2 Unanfechtbar intonations- und stimmrein HER HEAVENLY HARMONY PROFANE MUSIC FROM THE ROYAL COURT THE QUEEN'S SIX Resonus 506262790687 Schräg, aber liebenswert MERRIE ENGLAND THE BAND OF THE GRENADIER GUARDS British Military Music Archive BMMA 754422041621 Am Mikrofon begrüßt Sie Jörg Lengersdorf. – Recht exotische Musik liegt heute auf meinem Tisch mit neuen CDs der letzten Wochen, auch wenn man von zumindest einem Stück der heutigen Auswahl behaupten darf, dass es beinahe die Spatzen von den Dächern pfeifen könnten, wenn es denn nicht um einen Singvogel aus der Gattung der Pirole ginge. Der Goldpirol heißt ein wunderschönes Stück des Komponisten Emil Nikolaus von Reznicek, das selbst eingefleischte Klassikkenner vermutlich noch nie gehört haben. Heute wird das geändert. – Außerdem in der Sendung: Lieder von Paul Juon, die Weltersteinspielung eines Klavierkonzerts von Moritz Moszkowski, ein folkloristisches Trio von Aram Khatchaturjan, zeitgenössische Klarinettenmusik, die nach Tee und Gebäck klingt, und dazu gleich mehrere CDs, die wehmütige Blicke auf Britannien werfen. Das Folgende ist eine Zingaresca von Erwin Schulhoff. Julia Fischer, Violine, Daniel Müller Schott, Cello, lassen es mit allen Mitteln der Kunst krachen im Klanggebälk. Erwin Schulhoff: Duo für Violine und Violoncello, Zingaresca 3:05 Julia Fischer und Daniel Müller Schott mit einer Zingaresca. „Ernst und heiliger Eifer sind vollständig überflüssige Angelegenheiten für Kunstbeflissene. Aller Ernst ist Verblödung.“ So schrieb Komponist und Bürgerschreck Erwin Schulhoff in seinem Tagebuch im Januar 1921. Schulhoff war nicht nur ein brillanter Tonsetzer voller origineller Einfälle, er hatte auch eine nicht zu leugnende Lust an der Provokation um ihrer selbst willen. „Hoch die Revolution, hoch alles Neue, so hoch – bis auch unsere Kinder uns niederhauen, ich klage alle an, die nicht gewillt sind, ihre Eltern zu vernichten.“ Auch solche Sätze gehörten zum markigen Repertoire Schulhoffs, der ebenso radikal versuchte, die Musik mit explosiver rhythmischer Energie zu erneuern. Wäre der jüdische Kommunist Schulhoff nicht während der Nazibarbarei 1942 in einem bayrischen Lager an Lungentuberkulose gestorben, wer weiß, welchen Einfluss er nach dem Krieg noch auf die europäische Musikgeschichte genommen hätte. Er gehörte früh zu den 3 ersten Europäern, die den Jazz in ihre Kompositionen einbauten, einerseits, um das bürgerliche Publikum zu ärgern, andererseits aus echter Leidenschaft für die frischen Einflüsse aus Übersee. Unter Pseudonym spielte Schulhoff sogar in einem Prager Jazzorchester. Schulhoffs Duo für Violine und Cello, obwohl verhältnismäßig selten zu hören, ist nun beileibe keine Neuentdeckung. Geigenstar Daniel Hope hat es aufgenommen, die fulminante Nachwuchsviolinistin Liza Ferschtmann ebenso. Aber schon die gerade gehörten drei Minuten der Zingaresca aus Schulhoffs Duo zeigen spätestens im Vergleich mit den anderen Aufnahmen: Julia Fischer und Cellist Daniel Müller Schott sind bei dieser Aufnahme in puncto rücksichtsloser Spielfreude, Brillanz und Virtuosität die neue Referenz. Diese Duoeinspielung entfacht derart viel Energie, dass sie einen, mit Verlaub, aus den Schuhen haut. Auch die häufiger zu hörenden Duos von Zoltan Kodaly und Ravel, ebenfalls auf der neuen CD, setzen in klanglicher Hinsicht Maßstäbe, es flirrt, funkelt, murmelt, kracht und tanzt, um im nächsten Moment himmlisch süß zu singen oder düster zu klagen. Und dann ist da noch eine Zugabe. Eigentlich müssen Fischer und Müller-Schott an dieser Stelle längst nichts mehr beweisen. Machen sie aber. Sie können alles, und das klingt so: Johann Halvorsen: Passacaglia (nach Händel) 6:00 Nur zwei Instrumente, aber Klang für ein ganzes Quartett. Ein ewiger Renner für die Besetzung Geige und Cello. Georg Friedrich Händels Passacaglia in der Fassung von Johann Halvorsen. Eine Standardzugabe, zu hören beinahe immer, wenn zwei verschieden hohe Streicher zusammen konzertieren. Dennoch hat es selten so viel Spaß gemacht, dieses beinahe totgerittene Schlachtross der Virtuosität wieder zu hören. Auch wenn es vordergründig anders scheint: Es ist nicht einmal besonders schwer zu spielen, und man müsste schon beinahe mit dem Teufel im Bunde stehen, um hier die Messlatte noch einmal unerreichbar hoch zu legen. Es bleibt Spekulation, ob Julia Fischer und Daniel Müller-Schott hier neue virtuose Rekorde aufstellen, denn gerade bei diesem herrlich obskuren Showstück gibt es hinter den sieben Bergen möglicherweise immer jemanden, der es noch schneller, noch lauter, noch wahnsinniger spielt. Aber Rekorde hin oder her: Die beiden liefern eine irrwitzig brillante Einspielung ab, an der man so leicht eben nicht mehr vorbeikommt. Und es ist ja auch „nur“ eine Zugabe auf einer CD, die mit den Duos von Ravel, Kodaly und Schulhoff vor allem Potenzial für Entdeckungsreisen in das ganze Klang- und Ausdrucksspektrum intimer Kammerbesetzung bietet. Die „Duo Sessions“ von Julia Fischer und Daniel Müller-Schott sind ein Maßstab. SWR2 Treffpunkt Klassik, neue CDs. Horch, was kommt von draußen rein. Das ist der angekündigte Goldpirol. Emil Nikolaus von Reznicek: Der Goldpirol, Idyllische Ouvertüre 11:35 Mittendrin gibt es mal einen Ausflug in ein Tegernseer Brauhaus mit unvermeidlich schräger Blaskapelle, und das lässt einen die Idylle dann doch unter einem augenzwinkernden Blickwinkel betrachten. Der Goldpirol zwitschert sich durch den Bayrischen Wald. 1903 komponierte Emil Nikolaus von Reznicek die Idyllische Ouvertüre, benannt nach zwitscherndem Goldgeflügel. Die Ouvertüre heißt zwar nach dem Goldpirol, war aber von Anfang an wohl deutungsoffen konzipiert. Zunächst hieß das Werk, 1903 im Sommerurlaub am Tegernsee skizziert, einfach nur Ouvertüre Es-Dur. Wegen der ersten Takte, die ganz unverhohlen an Vogelgezwitscher erinnern, bekam es dann zur Berliner Uraufführung mit den Philharmonikern diesen hübschen Beinamen. Und tatsächlich kann man ja bei den atmosphärischen Episoden der Musik an einen Vogel denken, der die bayrische Landschaft überfliegt, und dabei eben auch 4 der Brauhauskapelle aus dem Mittelteil begegnet. Da das Werk aus unerfindlichen Gründen bald darauf in Vergessenheit geriet, wurde es tatsächlich später noch einmal umbenannt. In den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur brachte der Verlag das Stück unter dem Titel „Im Deutschen Wald“ heraus. Mit einem deutschtümelnden Etikett hoffe man auf größere Verkaufserfolge. Vom adeligen Reznicek wusste man, dass er gern auf die Jagd ging oder auch mit dem Schmetterlingsnetz durch den so besungenen deutschen Wald wanderte. Ein vermeintlich harmloser älterer Herr, der 1930 immerhin 70 Jahre alt war, zu alt für Politik. Da Rezniceks Tochter wohl während des Krieges für den britischen Geheimdienst MI6 spionierte, tat Reznicek gut daran, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Nach dem Krieg blieb vor allem Rezniceks Ouvertüre zur Oper „Donna Diana“ ein Ohrwurm, sie war jahrelang die Titelmelodie der Fernsehshow „Erkennen sie die Melodie“. Alle anderen Werke des Komponisten werden heute gern als Wiederentdeckungen bezeichnet. Auch das nächste Stück ist so noch nie eigespielt worden: Rezniceks Konzertstück für Violine und Orchester, hier mit Solistin Sophia Jaffé. Emil Nikolaus von Reznicek: Konzertstück für Violine und Orchester E-Dur 9:05 1918 schrieb Emil Nikolaus von Reznicek das Konzertstück für Violine und Orchester, und weil er es direkt danach umarbeitete, beide Ecksätze austauschte, aus dem Konzertstück sein Violinkonzert machte, geriet diese Urfassung in Vergessenheit, bis zu dieser Aufnahme, die Solistin Sophia Jaffé jetzt mit dem Rundfunksinfonieorchester Berlin unter Markus Bosch eingespielt hat. Da das umgearbeitete Violinkonzert überdies kein allzu großer Erfolg wurde, darf man es wohl als falsche Entscheidung Rezniceks bezeichnen, dass er die Ursprungsversion links liegen ließ, die nun, knapp 100 Jahre nach ihrer Entstehung, tatsächlich erstmals überhaupt zu hören ist. Mit dem schottischen Tanz, den wir gerade als Finalsatz gehört haben, hat die Komposition in der Tat Schlagerpotenzial. Aber natürlich versteht man anhand dieser Musik auch, warum Reznicek musikhistorisch von der Nachkriegsforschung so lange übergangen wurde. Für ein Werk, das im letzten Weltkriegsjahr 1918 entstanden ist, wirkt die Harmonik hoffnungslos konservativ. Zwar verteidigte sich Reznicek schon 1920 gegen Kritiker, er sei mit seinem Rückgriff auf alte Stile doch in gewissem Sinne modern, aber natürlich hatten ihn selbst die neoklassischen Entwicklungen längst überholt. Man kann mit dieser CD im Ohr hübsche Entdeckungen farbenreicher Musik machen. Überdies spielt Solistin Sophia Jaffé einfallsreich und ansteckend musikantisch, das Rundfunksinfonieorchester Berlin unter Markus Bosch musiziert durchsichtig, klangschön, oft mit hinreißenden atmosphärischen Wechseln, ein Rundfunkorchester auf höchstem internationalen Niveau. Das Label CPO hat mit den Werken von Emil Nikolaus von Reznicek einmal mehr echte Schmuckstücke gefunden. Revolutionär ist das nicht, aber nicht jeder lohnende Hinhörer muss ja gleich die Musikhistorie auf den Kopf stellen. SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs. Nach dem schottischen Tanz von vorhin nunmehr volkstümlich weiter. Ein russisches Volkslied. Paul Juon: Sprudle, kleines Bächlein Sprudle, kleines Bächlein aus Russische Volkslieder von Paul Juon mit Maria Riccarda Wesseling, Sopran, und Clau Scherrer, Klavier. 1:40 5 Er habe zwar Violine und Musiktheorie studiert, mehr noch aber „Mädchenaugen“, bekannte Komponist Paul Juon mal in einer knappen Selbstbeschreibung. Wegen der Mädchenaugen habe er musikalisch auch nur sehr bedenkliche Fortschritte gemacht. Paul Juon, 1872 geboren, war zehn Jahre älter als Béla Bartók, etwa gleichaltrig wie Arnold Schönberg, studierte zeitgleich mit Alexander Skrjabin am Moskauer Konservatorium. Aber anders als bei den genannten Kollegen steckt Juons Musik auf sehr andere Art die Fühler ins 20. Jahrhundert. Dissonanzen sind bei Juon eher homöopathisch dosiert, dafür dominieren oft zauberhaft einfache Melodien. Musik solle vor allem zur Seele und zu den Sinnen sprechen, war Paul Juons Credo, das er 1930 formulierte, als viele Kollegen für Juons Geschmack nur noch formale Kopfmusik schrieben. Fast entschuldigend hatte er vorher in einem Brief geäußert, dass seine Musik am stärksten dominiert werde von Eindrücken, die er in seiner Jugend aufgesogen habe. Er liebe nun einmal russische Volksmusik. Juons Volkslieder sind hier wohl erstmals aufgenommen, Sopranistin Maria Riccarda Wesseling hat sie bei Recherchen zu einem Kunstliedprogramm quasi nebenbei wiederentdeckt. Paul Juon: Hör nur, schönes Mägdlein 2:55 Kein Schweizer, kein Russe, kein Deutscher, kein Romantiker, kein Neutöner, kein Volksmusiker ist Paul Juon gewesen – und doch von allem ein wenig. Der russische Komponist Schweizer Abstammung, der hauptsächlich in Deutschland unterrichtete, pflegte Selbstauskünfte wohl häufig augenzwinkernd zu geben, etwa so: „Meine erste Komposition schrieb ich etwa 12/13 Jahre alt, was mir furchtbar viel Spaß machte, besonders wenn die Schnörkel und Verzierungen auf dem Titelblatt gut und zahlreich gelangen. Das Titelblatt war die Hauptsache. Ich machte es immer zu allererst, bevor auch nur eine Note des Stückes komponiert war.“ Ein Verleger bat Paul Juon einmal um eine Biografie. Als Anfangssatz notierte Paul Juon: „Geboren am 8. März zu Moskau“, als Schlusssatz schrieb er: „Seit dem 1. April 1907, vier Uhr nachmittags, trage ich einen langen Spitzbart.“ Viel mehr stand denn auch nicht in Paul Juons Selbstbeschreibung. Und viel mehr weiß auch der Musikfreund hierzulande bis heute nicht von Paul Juon. Paul Juon ist einer der zahllosen vergessenen Komponisten der Spätromantik. Ob er dabei deutsche Musik verkörperte, die russische oder die schweizerische, danach wird häufig schon nicht mehr gefragt. Faszinierend an der CD, die Sopranistin Maria Riccarda Wesseling und Pianist Clau Scherrer zusammengestellt haben, ist nun die Gegenüberstellung von Juons ganz einfachen Volksliedsätzen und seinen Kunstliedern. Beinahe impressionistisch kommt Juons Lied „Paradies“ daher. Eine Idylle auf orientalischer Folie, die in immer düstereren Farben zu leuchten beginnt. Ein Paradies, das in Schönheit erstarrt. Paul Juon: „Paradies“ op. 99 Nr. 1 3:45 Im Weltall ist es frostig kalt und hypnotisch schön. Maria Riccarda Wesseling und Clau Scherrer haben Paul Juons Kunstlieder entdeckt und sie seinen Volksliedsätzen gegenübergestellt. Eine faszinierende Reise in eine noch viel zu wenig erkundete Klangwelt. Eine CD, zu der ich persönlich immer wieder gegriffen habe in den letzten Tagen. SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs. 6 Und Sie merken schon, es wimmelt heute in der Sendung nur so von Neuentdeckungen und Weltersteinspielungen. – Moritz Moszkowskis h-Moll Klavierkonzert wäre vermutlich noch länger unbeachtet in der Französischen Nationalbibliothek verstaubt, wenn nicht ein junger Komponist aus Berlin 2008 im Zuge seiner Doktorarbeit das Werk dort aufgespürt hätte. Zu den bizarren Umständen der Entdeckung zählt auch, dass auf dem Manuskriptumschlag eine falsche Opuszahl aufgeprägt war, so dass möglicherweise auch wegen des kleinen Druckfehlers niemand auf die Idee kam, ausgerechnet zwischen diesen Buchdeckeln nach etwas Unerhörtem zu suchen. Die Französische Nationalbibliothek wusste jedenfalls nicht, welchen Schatz sie da im Archiv hütete, bis der junge Doktorand aus Berlin vorbeikam, um die Sache zu lüften. Nun hat aber auch Komponist Moszkowski wenig dazu beigetragen, das Werk in eine hellere Nische zu stellen. Er hatte das Werk bereits in seiner Jugend geschrieben, aber zunächst keinen Verleger gefunden, sicher auch wegen dessen monströsen Umfangs. Später hatte der Komponist dann an einen Interessenten geschrieben: „Ich würde Ihnen ja gerne mein Klavierkonzert zusenden, wenn nicht zwei Gründe dagegen sprächen: erstens ist es wertlos, zweitens ist es mit seinen 400 Seiten sehr gut geeignet, meinen Klavierstuhl zu erhöhen.“ Nun gibt es das dicke Stück also auf CD. Und, ja, lang ist es, aber man kann ja auch mal selektiv hören: Der dritte Satz ist mit sieben Minuten bei weitem der kürzeste, und ganz unerhört unterhaltsam … Moritz Moszkowski: Klavierkonzert h-Moll op. 3, 3. Satz 7:55 An dieser Stelle hätte man bei der Gesamtaufführung des Stücks nun schon 35 Minuten hinter sich. Auf dieses Scherzo aus Moritz Moszkowskis h-Moll-Klavierkonzert würde jetzt noch eine düstere Einleitung folgen, bevor der riesig dimensionierte letzte Satz mit über 20 Minuten das Werk auf knapp eine Stunde Länge bringt. Klar, auch Brahms zweites Klavierkonzert ist so lang, aber das ist eben Brahms. Moritz Moszkowski war ein begnadeter Komponist rasender Etüden oder kleiner Salonstücke für höhere Töchter.. Das riesige Klavierkonzert spannt ein bisschen um die Taille vor lauter genial melodiösen Einfällen. Ein sehr hübscher Luftballon, zum Zeppelin aufgeblasen. Im Konzert wird man das Werk wohl allein deswegen nicht allzu oft hören. Eine CD ist in dieser Hinsicht das richtige Medium: Man kann Satz für Satz hören, und das ist durchaus vergnüglich, allein das Finale für sich könnte ja schon ein ausgewachsenes Konzertstück abgeben. Auch wenn Moszkowskis Musik nicht unbedingt existenzielle Fragen stellt, sondern vor allem bunt und knallig ist, staunt man doch kopfschüttelnd über die schiere Unverschämtheit, mit der hier eine schmissige Idee nach der anderen kommt. Mal meint man, Chopin oder Liszt im Salon zu begegnen, mal Tschaikowsky, mal scheinen hier bereits 1875 Rachmaninoffsche oder Elgarsche Harmonien vorweggenommen – und das alles in abenteuerlichem Mix. Ludmil Angelov, Chopin-Spezialist aus Bulgarien, ist auch der richtige Interpret für den Parforceritt durch die pianistische Sahnetortentheke. Wer es richtig üppig mag, ist hier bestens bedient. SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs. Das ist Musik von Aram Khatchaturjan. Aram Khatchaturjan: Trio für Violine, Klarinette und Klavier, in der Fassung für Saxofon 7:10 1932 schrieb der Armenier Aram Khatchaturjan sein Trio für Klarinette, Violine und Klavier, basierend auf kaukasischer, usbekischer und armenischer Folklore. Khatchaturjan 7 komponierte eigentlich nur wenig Kammermusik, denn in der Sowjetunion, unter der Doktrin des sozialistischen Realismus, hatte Kammermusik immer mit dem Ruf zu kämpfen, bürgerlich und westlich dekadent zu sein. Nun galt Khatchaturjan ja als strammer sozialistischer Realist, daher hat er eben nur manchmal Kammermusik geschrieben, und wenn doch, dann folkloristische wie die gerade gehörte. Hinreißend trotzdem – oder vielleicht deshalb. Im Arrangement des Trio Klavis hat Saxofonist Miha Ferk die Klarinettenstimme für sein Instrument angepasst. Das Saxofon färbt die Musik noch mehr im jazzigen Timbre, das ohnehin auch schon in der Komposition angelegt scheint. Geigerin Jenny Lippl traut sich auch an die raschelnden, schabenden und flüsternden Seiten des Instruments, lässt herrliche Anklänge an Klezmer Musik oder Blues aufblitzen. Zudem präsentiert die Einspielung weitere Ausflüge in jene klassischen Kompositionen, wo Kammermusik mit Folk verschmilzt, oder längst selbst volkstümlich geworden ist: Villa Lobos, Astor Piazzolla und Arturo Marquez mit südamerikanischen Kompositionen, oder George Gershwins „Catfish Row“. – Alles ist rücksichtslos spielfreudig musiziert, die Musiker gehen an die instrumentalen Grenzen, das ist Risiko, das sich lohnt … SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs. Die nächste Musik duftet irgendwie nach five o‘clock tea und biscuits. Ein Schelm, wer kitschig dabei denkt … Paul Reade: „The Victorian Kitchen Garden“, Summer 2:05 Unverkennbar klingt diese Musik nach englischen TV-Serien, in denen die Welt noch in Ordnung ist, nach gutsituierten Herrschaften auf Landschlössern, nach wohlwollend kauzigen Butlern, die eine gutmütige Dienerschaft lautlos in die richtigen Bahnen lenken. Irgendwie Downton Abbey oder Eaton Place, jedenfalls vermeintlich „Gute alte Zeit“. Und tatsächlich, die Klarinettensuite von Paul Reade, die Solistin Emma Johnson auf ihrer neuen CD „English Fantasy“ eingespielt hat, war ursprünglich Musik fürs Fernsehen. „The Victorian Kitchen Garden“ hieß die Dokumentarserie, in der die Protagonisten versuchten, in einem verlassenen Viktorianischen Garten unterhalb eines Herrenhauses zu gärtnern wie ihre Vorfahren aus den glorreichen Tagen des Empire. Biogemüse und Detox-Musik, alles mit der Hand gemacht und möglichst schadstoffarm. Wer hierzulande häufig die Neue Musik-Szene erkundet, sich für zeitgenössische Musik interessiert, kurz: wer an Avantgarde, Herausforderung und Experiment denkt, wenn er Musik der letzten 100 Jahre meint, könnte bei der Musik der neuen Emma Johnson-CD leicht an Kitsch denken. Nun ist Emma Johnson aber eine der bekanntesten Klarinettistinnen der Welt, hat von Mozart über Brahms bis zur Gegenwart unzähliges an Repertoire aufgenommen. Und man sollte zudem wissen, dass in England traditionell sogenannte „Light Music“, leichte Klassik, sehr viel entspannter mit anspruchsvoller Literatur koexistiert. Bei der traditionellen „Last Night of the Proms“, in London im September, ist es absolut selbstverständlich, neue, druckfrische Avantgardemusik uraufzuführen, und anschließend Schlager zum Mitsingen abzuspulen. Klarinettistin Emma Johnson hat nun für ihre neue Produktion zusammengetragen, was an Klarinettenkonzerten explizit für sie geschrieben worden ist in den letzten Jahrzehnten. Dabei ist auch ein Konzert des Jazz-Klarinettisten und Bandleaders John Dankworth … Sir John Dankworth: „The Woolwich“ (1995), Boogie Woogie 4:25 8 1927, knapp drei Jahrzehnte nach George Gershwin, wurde der spätere britische Bandleader John Dankworth geboren, Clubkonzerte sahen ihn neben Duke Ellington auf dem Programm, bis er in den 60ern begonnen hat, Filmmusik zu schreiben. 2010 ist Dankworth verstorben, aber auch sein spätes Klarinettenkonzert klingt noch hörbar nach den wilden Jazz Jahren und nach Gershwin Verehrung. Klarinettistin Emma Johnson hat Dankworths ihr gewidmetes Klarinettenkonzert mit anderen jüngeren britischen Stücken kombiniert. Oft ist diese Musik irgendwie aus der Zeit gefallen nostalgisch, bisweilen kratzt sie am Jazz, manchmal am Kitsch, zweifelsohne sprengt sie keine Hörgewohnheiten. Wenn ich das jetzt also als entspannte CD mit zeitgenössischer Musik bezeichne, dann muss man sich entscheiden, ob man das für eine gute oder schlechte Nachricht hält. Gefällig ist es jedenfalls. SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs. Vielleicht ist es Zufall – aber es fällt schon auf, dass der Tonträgermarkt sich nach dem Brexit-Votum der Insulaner stark mit Musik einer glorreichen britischen Vergangenheit beschäftigt. Sehnsucht nach alter Größe oder Pfeifen im Walde? – Das Ensemble Musica Alta Ripa hat eine ganze CD der englischen Musik des späten 17. Jahrhunderts gewidmet. Henry Purcell: Fantazia on a ground in D 4:45 Im 17. und im 20 Jahrhundert habe die britische Musik musikgeschichtlich die stärksten Akzente setzen können. Im 17. Jahrhundert habe erstmals jener unverwechselbare britische Akzent in die Musik gefunden, der die Tradition dann im weiteren Verlauf bestimmte. – So steht es zu lesen im Begleitheft der neuen CD des Ensembles Musica Alta Ripa, spezialisiert auf Alte Musik, und daher natürlich an jenem speziell britischen Zungenschlag aus dem 17. Jahrhundert interessiert. „Insane Harmony“ – wahnsinnige Harmonien, so heißt das Programm der neuen CD von Musica Alta Ripa, und tatsächlich ziehen einem manche harmonische Kühnheiten der englischen Barockmeister die Schuhe aus, wenn wunderschön schmerzhafte Dissonanzen die Gehörgänge erweitern. Zudem spielen nur sechs Musiker auf der CD mit, aber durch aparte Besetzungen in Kombinationen mit Flöte, Orgel oder Cembalo entstehen von Stück zu Stück wechselnd neue Klangfarbenspektren. Und die neue CD von Musica Alta Ripa ist dabei nur eine von mehreren CDs, die sich in den letzten Monaten mit der tönenden Vergangenheit Britanniens auseinandergesetzt hat. Auch das Vokalensemble „The Queen‘s Six“ wagt eine Zeitreise in die Vergangenheit, noch ein Jahrhundert weiter zurück, in die englische Renaissance. „Heavenly Harmony“ heißt diese Produktion – nominal also himmlisch. Thomas Tallis: O ye tender Babes 1:20 Das fulminante Gesangssextett The Queen‘s Six befasst sich auf der Produktion „Her Heavenly Harmony“ einmal mehr unanfechtbar intonations- und stimmrein mit englischer Musik. Diesmal sind es weltliche Gesänge des späten 16. Jahrhunderts. „Oh ihr verweichlichten Kinder von England. Schüttelt ab Faulheit und Liederlichkeit. Treibt Euren Verstand zu Gelehrigkeit und Tugend. Seid pflichtgetreu gegen Gott und den König, macht euch und den Eltern Freude. Mehrt den Ruhm des Königreichs.“ – So heißt es im gerade gehörten Lied von Thomas Tallis. Das ist erstens eine wunderbare CD, und zweitens die perfekte Überleitung zur letzten Neuerscheinung, die auch noch in den vergangenen Wochen auf meinen Tisch geflattert kam – pflichtbewusste Engländer zum Ruhme des Königreichs: Die Bandmitglieder des Leibregiments der Königin, die Grenadier Guards, 9 tatsächlich eine der profiliertesten Militärkapellen der Welt, haben ihre größten Hits veröffentlicht … Grenadier Guards: Savoy Hunting Medley (1934 aufgenommen) 2:00 So, jetzt haben wir auch da hinein gehört – bei so viel englischer Musik am Schluss der Sendung wollte ich Ihnen auch diese Neuauflage nicht vorenthalten: Die britischen Grenadier Guards, eine Leibgarde der Königin, haben Aufnahmen aus den 20er und 30er Jahren digitalisiert und neu veröffentlicht. Schräg ist das schon, aber irgendwie liebenswert, es passt auch irgendwie zur neuen alten Rolle Britanniens in Europa. Scheinbar träumt auch der britische Musikmarkt sich gern mal in glorreiche Tage zurück, die längst vergangen sind, aber die Passion für klassische Musik lebt nun mal auch von großen Geschichten. Und in diesem Sinne ist Europa ja doch wieder ganz vereinigt …
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