Neue CDs 16.09.2016

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Freitag, 16.09.2016
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Jörg Lengersdorf
Neue Referenz
JULIA FISCHER
DUO SESSIONS
DANIEL MÜLLER-SCHOTT
KODALY
SCHULHOFF
RAVEL
HALVORSEN
ORFEO C 902 161 A
Ansteckend musikantisch
Emil Nikolaus von Reznicek
Konzertstück für Violine & Orchester
Goldpirol • Till Eulenspiegel
Sophia Jaffé
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Marcus Bosch
CPO 777983-2
Faszinierende Gegenüberstellung
Paul Juon
Lieder
Maria Riccarda Wesseling
Clau Scherrer
Coviello CLASSICS COV 91812
Unverschämte Schmissigkeit
Moszkowski
Piano Concerto in B minor, Op 3 (First Recording)
Schulz-Evler
Russian Rhapsody
Ludmil Angelov
BBC Scottish Symphony Orchestra
Vladimir Kiradjiev
hyperion CDA68109
Rücksichtslose Spielfreude
TRIO KLAVIS
GEOGRAPHY OF SOUND
Orlando Records 9120040730512
Gefällig
Emma Johnson
English Fantasy
Music for clarinet and orchestra by
John Dankworth
Patrick Hawes
Paul Reade
Will Todd
NIMBUS ALLIANCE 0170357632822
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Neue Klangfarbenspektren
INSANE HARMONY
ENGLISH MUSIC 1650-1700
Purcell
LawesTomkins
Locke
Williams
MUSICA ALTA RIPA
MDG 309 1961-2
Unanfechtbar intonations- und stimmrein
HER HEAVENLY
HARMONY
PROFANE MUSIC
FROM THE ROYAL COURT
THE QUEEN'S SIX
Resonus 506262790687
Schräg, aber liebenswert
MERRIE ENGLAND
THE BAND OF THE
GRENADIER GUARDS
British Military Music Archive BMMA 754422041621
Am Mikrofon begrüßt Sie Jörg Lengersdorf. – Recht exotische Musik liegt heute auf meinem
Tisch mit neuen CDs der letzten Wochen, auch wenn man von zumindest einem Stück der
heutigen Auswahl behaupten darf, dass es beinahe die Spatzen von den Dächern pfeifen
könnten, wenn es denn nicht um einen Singvogel aus der Gattung der Pirole ginge. Der
Goldpirol heißt ein wunderschönes Stück des Komponisten Emil Nikolaus von Reznicek, das
selbst eingefleischte Klassikkenner vermutlich noch nie gehört haben. Heute wird das
geändert. – Außerdem in der Sendung: Lieder von Paul Juon, die Weltersteinspielung eines
Klavierkonzerts von Moritz Moszkowski, ein folkloristisches Trio von Aram Khatchaturjan,
zeitgenössische Klarinettenmusik, die nach Tee und Gebäck klingt, und dazu gleich mehrere
CDs, die wehmütige Blicke auf Britannien werfen.
Das Folgende ist eine Zingaresca von Erwin Schulhoff. Julia Fischer, Violine, Daniel Müller
Schott, Cello, lassen es mit allen Mitteln der Kunst krachen im Klanggebälk.
Erwin Schulhoff: Duo für Violine und Violoncello, Zingaresca
3:05
Julia Fischer und Daniel Müller Schott mit einer Zingaresca.
„Ernst und heiliger Eifer sind vollständig überflüssige Angelegenheiten für Kunstbeflissene.
Aller Ernst ist Verblödung.“ So schrieb Komponist und Bürgerschreck Erwin Schulhoff in
seinem Tagebuch im Januar 1921. Schulhoff war nicht nur ein brillanter Tonsetzer voller
origineller Einfälle, er hatte auch eine nicht zu leugnende Lust an der Provokation um ihrer
selbst willen.
„Hoch die Revolution, hoch alles Neue, so hoch – bis auch unsere Kinder uns niederhauen,
ich klage alle an, die nicht gewillt sind, ihre Eltern zu vernichten.“ Auch solche Sätze
gehörten zum markigen Repertoire Schulhoffs, der ebenso radikal versuchte, die Musik mit
explosiver rhythmischer Energie zu erneuern.
Wäre der jüdische Kommunist Schulhoff nicht während der Nazibarbarei 1942 in einem
bayrischen Lager an Lungentuberkulose gestorben, wer weiß, welchen Einfluss er nach dem
Krieg noch auf die europäische Musikgeschichte genommen hätte. Er gehörte früh zu den
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ersten Europäern, die den Jazz in ihre Kompositionen einbauten, einerseits, um das
bürgerliche Publikum zu ärgern, andererseits aus echter Leidenschaft für die frischen
Einflüsse aus Übersee. Unter Pseudonym spielte Schulhoff sogar in einem Prager
Jazzorchester.
Schulhoffs Duo für Violine und Cello, obwohl verhältnismäßig selten zu hören, ist nun
beileibe keine Neuentdeckung. Geigenstar Daniel Hope hat es aufgenommen, die fulminante
Nachwuchsviolinistin Liza Ferschtmann ebenso. Aber schon die gerade gehörten drei
Minuten der Zingaresca aus Schulhoffs Duo zeigen spätestens im Vergleich mit den anderen
Aufnahmen: Julia Fischer und Cellist Daniel Müller Schott sind bei dieser Aufnahme in
puncto rücksichtsloser Spielfreude, Brillanz und Virtuosität die neue Referenz. Diese
Duoeinspielung entfacht derart viel Energie, dass sie einen, mit Verlaub, aus den Schuhen
haut. Auch die häufiger zu hörenden Duos von Zoltan Kodaly und Ravel, ebenfalls auf der
neuen CD, setzen in klanglicher Hinsicht Maßstäbe, es flirrt, funkelt, murmelt, kracht und
tanzt, um im nächsten Moment himmlisch süß zu singen oder düster zu klagen.
Und dann ist da noch eine Zugabe. Eigentlich müssen Fischer und Müller-Schott an dieser
Stelle längst nichts mehr beweisen. Machen sie aber. Sie können alles, und das klingt so:
Johann Halvorsen: Passacaglia (nach Händel)
6:00
Nur zwei Instrumente, aber Klang für ein ganzes Quartett. Ein ewiger Renner für die
Besetzung Geige und Cello. Georg Friedrich Händels Passacaglia in der Fassung von
Johann Halvorsen. Eine Standardzugabe, zu hören beinahe immer, wenn zwei verschieden
hohe Streicher zusammen konzertieren. Dennoch hat es selten so viel Spaß gemacht,
dieses beinahe totgerittene Schlachtross der Virtuosität wieder zu hören. Auch wenn es
vordergründig anders scheint: Es ist nicht einmal besonders schwer zu spielen, und man
müsste schon beinahe mit dem Teufel im Bunde stehen, um hier die Messlatte noch einmal
unerreichbar hoch zu legen. Es bleibt Spekulation, ob Julia Fischer und Daniel Müller-Schott
hier neue virtuose Rekorde aufstellen, denn gerade bei diesem herrlich obskuren Showstück
gibt es hinter den sieben Bergen möglicherweise immer jemanden, der es noch schneller,
noch lauter, noch wahnsinniger spielt. Aber Rekorde hin oder her: Die beiden liefern eine
irrwitzig brillante Einspielung ab, an der man so leicht eben nicht mehr vorbeikommt. Und es
ist ja auch „nur“ eine Zugabe auf einer CD, die mit den Duos von Ravel, Kodaly und
Schulhoff vor allem Potenzial für Entdeckungsreisen in das ganze Klang- und
Ausdrucksspektrum intimer Kammerbesetzung bietet. Die „Duo Sessions“ von Julia Fischer
und Daniel Müller-Schott sind ein Maßstab.
SWR2 Treffpunkt Klassik, neue CDs.
Horch, was kommt von draußen rein. Das ist der angekündigte Goldpirol.
Emil Nikolaus von Reznicek: Der Goldpirol, Idyllische Ouvertüre
11:35
Mittendrin gibt es mal einen Ausflug in ein Tegernseer Brauhaus mit unvermeidlich schräger
Blaskapelle, und das lässt einen die Idylle dann doch unter einem augenzwinkernden
Blickwinkel betrachten. Der Goldpirol zwitschert sich durch den Bayrischen Wald. 1903
komponierte Emil Nikolaus von Reznicek die Idyllische Ouvertüre, benannt nach
zwitscherndem Goldgeflügel. Die Ouvertüre heißt zwar nach dem Goldpirol, war aber von
Anfang an wohl deutungsoffen konzipiert.
Zunächst hieß das Werk, 1903 im Sommerurlaub am Tegernsee skizziert, einfach nur
Ouvertüre Es-Dur. Wegen der ersten Takte, die ganz unverhohlen an Vogelgezwitscher
erinnern, bekam es dann zur Berliner Uraufführung mit den Philharmonikern diesen
hübschen Beinamen. Und tatsächlich kann man ja bei den atmosphärischen Episoden der
Musik an einen Vogel denken, der die bayrische Landschaft überfliegt, und dabei eben auch
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der Brauhauskapelle aus dem Mittelteil begegnet. Da das Werk aus unerfindlichen Gründen
bald darauf in Vergessenheit geriet, wurde es tatsächlich später noch einmal umbenannt. In
den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur brachte der Verlag das Stück unter dem Titel
„Im Deutschen Wald“ heraus. Mit einem deutschtümelnden Etikett hoffe man auf größere
Verkaufserfolge. Vom adeligen Reznicek wusste man, dass er gern auf die Jagd ging oder
auch mit dem Schmetterlingsnetz durch den so besungenen deutschen Wald wanderte. Ein
vermeintlich harmloser älterer Herr, der 1930 immerhin 70 Jahre alt war, zu alt für Politik. Da
Rezniceks Tochter wohl während des Krieges für den britischen Geheimdienst MI6
spionierte, tat Reznicek gut daran, sich möglichst unauffällig zu verhalten.
Nach dem Krieg blieb vor allem Rezniceks Ouvertüre zur Oper „Donna Diana“ ein Ohrwurm,
sie war jahrelang die Titelmelodie der Fernsehshow „Erkennen sie die Melodie“. Alle anderen
Werke des Komponisten werden heute gern als Wiederentdeckungen bezeichnet. Auch das
nächste Stück ist so noch nie eigespielt worden: Rezniceks Konzertstück für Violine und
Orchester, hier mit Solistin Sophia Jaffé.
Emil Nikolaus von Reznicek: Konzertstück für Violine und Orchester E-Dur
9:05
1918 schrieb Emil Nikolaus von Reznicek das Konzertstück für Violine und Orchester, und
weil er es direkt danach umarbeitete, beide Ecksätze austauschte, aus dem Konzertstück
sein Violinkonzert machte, geriet diese Urfassung in Vergessenheit, bis zu dieser Aufnahme,
die Solistin Sophia Jaffé jetzt mit dem Rundfunksinfonieorchester Berlin unter Markus Bosch
eingespielt hat.
Da das umgearbeitete Violinkonzert überdies kein allzu großer Erfolg wurde, darf man es
wohl als falsche Entscheidung Rezniceks bezeichnen, dass er die Ursprungsversion links
liegen ließ, die nun, knapp 100 Jahre nach ihrer Entstehung, tatsächlich erstmals überhaupt
zu hören ist. Mit dem schottischen Tanz, den wir gerade als Finalsatz gehört haben, hat die
Komposition in der Tat Schlagerpotenzial.
Aber natürlich versteht man anhand dieser Musik auch, warum Reznicek musikhistorisch von
der Nachkriegsforschung so lange übergangen wurde. Für ein Werk, das im letzten
Weltkriegsjahr 1918 entstanden ist, wirkt die Harmonik hoffnungslos konservativ. Zwar
verteidigte sich Reznicek schon 1920 gegen Kritiker, er sei mit seinem Rückgriff auf alte Stile
doch in gewissem Sinne modern, aber natürlich hatten ihn selbst die neoklassischen
Entwicklungen längst überholt.
Man kann mit dieser CD im Ohr hübsche Entdeckungen farbenreicher Musik machen.
Überdies spielt Solistin Sophia Jaffé einfallsreich und ansteckend musikantisch, das
Rundfunksinfonieorchester Berlin unter Markus Bosch musiziert durchsichtig, klangschön, oft
mit hinreißenden atmosphärischen Wechseln, ein Rundfunkorchester auf höchstem
internationalen Niveau. Das Label CPO hat mit den Werken von Emil Nikolaus von Reznicek
einmal mehr echte Schmuckstücke gefunden. Revolutionär ist das nicht, aber nicht jeder
lohnende Hinhörer muss ja gleich die Musikhistorie auf den Kopf stellen.
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs.
Nach dem schottischen Tanz von vorhin nunmehr volkstümlich weiter. Ein russisches
Volkslied.
Paul Juon: Sprudle, kleines Bächlein
Sprudle, kleines Bächlein aus Russische Volkslieder von Paul Juon mit Maria Riccarda
Wesseling, Sopran, und Clau Scherrer, Klavier.
1:40
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Er habe zwar Violine und Musiktheorie studiert, mehr noch aber „Mädchenaugen“, bekannte
Komponist Paul Juon mal in einer knappen Selbstbeschreibung. Wegen der Mädchenaugen
habe er musikalisch auch nur sehr bedenkliche Fortschritte gemacht.
Paul Juon, 1872 geboren, war zehn Jahre älter als Béla Bartók, etwa gleichaltrig wie Arnold
Schönberg, studierte zeitgleich mit Alexander Skrjabin am Moskauer Konservatorium. Aber
anders als bei den genannten Kollegen steckt Juons Musik auf sehr andere Art die Fühler ins
20. Jahrhundert. Dissonanzen sind bei Juon eher homöopathisch dosiert, dafür dominieren
oft zauberhaft einfache Melodien.
Musik solle vor allem zur Seele und zu den Sinnen sprechen, war Paul Juons Credo, das er
1930 formulierte, als viele Kollegen für Juons Geschmack nur noch formale Kopfmusik
schrieben. Fast entschuldigend hatte er vorher in einem Brief geäußert, dass seine Musik am
stärksten dominiert werde von Eindrücken, die er in seiner Jugend aufgesogen habe. Er
liebe nun einmal russische Volksmusik. Juons Volkslieder sind hier wohl erstmals
aufgenommen, Sopranistin Maria Riccarda Wesseling hat sie bei Recherchen zu einem
Kunstliedprogramm quasi nebenbei wiederentdeckt.
Paul Juon: Hör nur, schönes Mägdlein
2:55
Kein Schweizer, kein Russe, kein Deutscher, kein Romantiker, kein Neutöner, kein
Volksmusiker ist Paul Juon gewesen – und doch von allem ein wenig. Der russische
Komponist Schweizer Abstammung, der hauptsächlich in Deutschland unterrichtete, pflegte
Selbstauskünfte wohl häufig augenzwinkernd zu geben, etwa so:
„Meine erste Komposition schrieb ich etwa 12/13 Jahre alt, was mir furchtbar viel Spaß
machte, besonders wenn die Schnörkel und Verzierungen auf dem Titelblatt gut und
zahlreich gelangen. Das Titelblatt war die Hauptsache. Ich machte es immer zu allererst,
bevor auch nur eine Note des Stückes komponiert war.“
Ein Verleger bat Paul Juon einmal um eine Biografie. Als Anfangssatz notierte Paul Juon:
„Geboren am 8. März zu Moskau“, als Schlusssatz schrieb er: „Seit dem 1. April 1907, vier
Uhr nachmittags, trage ich einen langen Spitzbart.“
Viel mehr stand denn auch nicht in Paul Juons Selbstbeschreibung. Und viel mehr weiß auch
der Musikfreund hierzulande bis heute nicht von Paul Juon. Paul Juon ist einer der zahllosen
vergessenen Komponisten der Spätromantik. Ob er dabei deutsche Musik verkörperte, die
russische oder die schweizerische, danach wird häufig schon nicht mehr gefragt.
Faszinierend an der CD, die Sopranistin Maria Riccarda Wesseling und Pianist Clau
Scherrer zusammengestellt haben, ist nun die Gegenüberstellung von Juons ganz einfachen
Volksliedsätzen und seinen Kunstliedern. Beinahe impressionistisch kommt Juons Lied
„Paradies“ daher. Eine Idylle auf orientalischer Folie, die in immer düstereren Farben zu
leuchten beginnt. Ein Paradies, das in Schönheit erstarrt.
Paul Juon: „Paradies“ op. 99 Nr. 1
3:45
Im Weltall ist es frostig kalt und hypnotisch schön. Maria Riccarda Wesseling und Clau
Scherrer haben Paul Juons Kunstlieder entdeckt und sie seinen Volksliedsätzen
gegenübergestellt. Eine faszinierende Reise in eine noch viel zu wenig erkundete Klangwelt.
Eine CD, zu der ich persönlich immer wieder gegriffen habe in den letzten Tagen.
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs.
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Und Sie merken schon, es wimmelt heute in der Sendung nur so von Neuentdeckungen und
Weltersteinspielungen. – Moritz Moszkowskis h-Moll Klavierkonzert wäre vermutlich noch
länger unbeachtet in der Französischen Nationalbibliothek verstaubt, wenn nicht ein junger
Komponist aus Berlin 2008 im Zuge seiner Doktorarbeit das Werk dort aufgespürt hätte. Zu
den bizarren Umständen der Entdeckung zählt auch, dass auf dem Manuskriptumschlag
eine falsche Opuszahl aufgeprägt war, so dass möglicherweise auch wegen des kleinen
Druckfehlers niemand auf die Idee kam, ausgerechnet zwischen diesen Buchdeckeln nach
etwas Unerhörtem zu suchen. Die Französische Nationalbibliothek wusste jedenfalls nicht,
welchen Schatz sie da im Archiv hütete, bis der junge Doktorand aus Berlin vorbeikam, um
die Sache zu lüften. Nun hat aber auch Komponist Moszkowski wenig dazu beigetragen, das
Werk in eine hellere Nische zu stellen. Er hatte das Werk bereits in seiner Jugend
geschrieben, aber zunächst keinen Verleger gefunden, sicher auch wegen dessen
monströsen Umfangs. Später hatte der Komponist dann an einen Interessenten geschrieben:
„Ich würde Ihnen ja gerne mein Klavierkonzert zusenden, wenn nicht zwei Gründe dagegen
sprächen: erstens ist es wertlos, zweitens ist es mit seinen 400 Seiten sehr gut geeignet,
meinen Klavierstuhl zu erhöhen.“
Nun gibt es das dicke Stück also auf CD. Und, ja, lang ist es, aber man kann ja auch mal
selektiv hören: Der dritte Satz ist mit sieben Minuten bei weitem der kürzeste, und ganz
unerhört unterhaltsam …
Moritz Moszkowski: Klavierkonzert h-Moll op. 3, 3. Satz
7:55
An dieser Stelle hätte man bei der Gesamtaufführung des Stücks nun schon 35 Minuten
hinter sich. Auf dieses Scherzo aus Moritz Moszkowskis h-Moll-Klavierkonzert würde jetzt
noch eine düstere Einleitung folgen, bevor der riesig dimensionierte letzte Satz mit über
20 Minuten das Werk auf knapp eine Stunde Länge bringt. Klar, auch Brahms zweites
Klavierkonzert ist so lang, aber das ist eben Brahms.
Moritz Moszkowski war ein begnadeter Komponist rasender Etüden oder kleiner Salonstücke
für höhere Töchter.. Das riesige Klavierkonzert spannt ein bisschen um die Taille vor lauter
genial melodiösen Einfällen. Ein sehr hübscher Luftballon, zum Zeppelin aufgeblasen. Im
Konzert wird man das Werk wohl allein deswegen nicht allzu oft hören. Eine CD ist in dieser
Hinsicht das richtige Medium: Man kann Satz für Satz hören, und das ist durchaus
vergnüglich, allein das Finale für sich könnte ja schon ein ausgewachsenes Konzertstück
abgeben. Auch wenn Moszkowskis Musik nicht unbedingt existenzielle Fragen stellt, sondern
vor allem bunt und knallig ist, staunt man doch kopfschüttelnd über die schiere
Unverschämtheit, mit der hier eine schmissige Idee nach der anderen kommt. Mal meint
man, Chopin oder Liszt im Salon zu begegnen, mal Tschaikowsky, mal scheinen hier bereits
1875 Rachmaninoffsche oder Elgarsche Harmonien vorweggenommen – und das alles in
abenteuerlichem Mix.
Ludmil Angelov, Chopin-Spezialist aus Bulgarien, ist auch der richtige Interpret für den
Parforceritt durch die pianistische Sahnetortentheke. Wer es richtig üppig mag, ist hier
bestens bedient.
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs.
Das ist Musik von Aram Khatchaturjan.
Aram Khatchaturjan: Trio für Violine, Klarinette und Klavier,
in der Fassung für Saxofon
7:10
1932 schrieb der Armenier Aram Khatchaturjan sein Trio für Klarinette, Violine und Klavier,
basierend auf kaukasischer, usbekischer und armenischer Folklore. Khatchaturjan
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komponierte eigentlich nur wenig Kammermusik, denn in der Sowjetunion, unter der Doktrin
des sozialistischen Realismus, hatte Kammermusik immer mit dem Ruf zu kämpfen,
bürgerlich und westlich dekadent zu sein. Nun galt Khatchaturjan ja als strammer
sozialistischer Realist, daher hat er eben nur manchmal Kammermusik geschrieben, und
wenn doch, dann folkloristische wie die gerade gehörte. Hinreißend trotzdem – oder vielleicht
deshalb.
Im Arrangement des Trio Klavis hat Saxofonist Miha Ferk die Klarinettenstimme für sein
Instrument angepasst. Das Saxofon färbt die Musik noch mehr im jazzigen Timbre, das
ohnehin auch schon in der Komposition angelegt scheint. Geigerin Jenny Lippl traut sich
auch an die raschelnden, schabenden und flüsternden Seiten des Instruments, lässt
herrliche Anklänge an Klezmer Musik oder Blues aufblitzen. Zudem präsentiert die
Einspielung weitere Ausflüge in jene klassischen Kompositionen, wo Kammermusik mit Folk
verschmilzt, oder längst selbst volkstümlich geworden ist: Villa Lobos, Astor Piazzolla und
Arturo Marquez mit südamerikanischen Kompositionen, oder George Gershwins „Catfish
Row“. – Alles ist rücksichtslos spielfreudig musiziert, die Musiker gehen an die
instrumentalen Grenzen, das ist Risiko, das sich lohnt …
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs.
Die nächste Musik duftet irgendwie nach five o‘clock tea und biscuits.
Ein Schelm, wer kitschig dabei denkt …
Paul Reade: „The Victorian Kitchen Garden“, Summer
2:05
Unverkennbar klingt diese Musik nach englischen TV-Serien, in denen die Welt noch in
Ordnung ist, nach gutsituierten Herrschaften auf Landschlössern, nach wohlwollend
kauzigen Butlern, die eine gutmütige Dienerschaft lautlos in die richtigen Bahnen lenken.
Irgendwie Downton Abbey oder Eaton Place, jedenfalls vermeintlich „Gute alte Zeit“.
Und tatsächlich, die Klarinettensuite von Paul Reade, die Solistin Emma Johnson auf ihrer
neuen CD „English Fantasy“ eingespielt hat, war ursprünglich Musik fürs Fernsehen. „The
Victorian Kitchen Garden“ hieß die Dokumentarserie, in der die Protagonisten versuchten, in
einem verlassenen Viktorianischen Garten unterhalb eines Herrenhauses zu gärtnern wie
ihre Vorfahren aus den glorreichen Tagen des Empire. Biogemüse und Detox-Musik, alles
mit der Hand gemacht und möglichst schadstoffarm.
Wer hierzulande häufig die Neue Musik-Szene erkundet, sich für zeitgenössische Musik
interessiert, kurz: wer an Avantgarde, Herausforderung und Experiment denkt, wenn er
Musik der letzten 100 Jahre meint, könnte bei der Musik der neuen Emma Johnson-CD leicht
an Kitsch denken.
Nun ist Emma Johnson aber eine der bekanntesten Klarinettistinnen der Welt, hat von
Mozart über Brahms bis zur Gegenwart unzähliges an Repertoire aufgenommen. Und man
sollte zudem wissen, dass in England traditionell sogenannte „Light Music“, leichte Klassik,
sehr viel entspannter mit anspruchsvoller Literatur koexistiert. Bei der traditionellen „Last
Night of the Proms“, in London im September, ist es absolut selbstverständlich, neue,
druckfrische Avantgardemusik uraufzuführen, und anschließend Schlager zum Mitsingen
abzuspulen.
Klarinettistin Emma Johnson hat nun für ihre neue Produktion zusammengetragen, was an
Klarinettenkonzerten explizit für sie geschrieben worden ist in den letzten Jahrzehnten.
Dabei ist auch ein Konzert des Jazz-Klarinettisten und Bandleaders John Dankworth …
Sir John Dankworth: „The Woolwich“ (1995), Boogie Woogie
4:25
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1927, knapp drei Jahrzehnte nach George Gershwin, wurde der spätere britische
Bandleader John Dankworth geboren, Clubkonzerte sahen ihn neben Duke Ellington auf
dem Programm, bis er in den 60ern begonnen hat, Filmmusik zu schreiben. 2010 ist
Dankworth verstorben, aber auch sein spätes Klarinettenkonzert klingt noch hörbar nach den
wilden Jazz Jahren und nach Gershwin Verehrung. Klarinettistin Emma Johnson hat
Dankworths ihr gewidmetes Klarinettenkonzert mit anderen jüngeren britischen Stücken
kombiniert.
Oft ist diese Musik irgendwie aus der Zeit gefallen nostalgisch, bisweilen kratzt sie am Jazz,
manchmal am Kitsch, zweifelsohne sprengt sie keine Hörgewohnheiten. Wenn ich das jetzt
also als entspannte CD mit zeitgenössischer Musik bezeichne, dann muss man sich
entscheiden, ob man das für eine gute oder schlechte Nachricht hält. Gefällig ist es
jedenfalls.
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs.
Vielleicht ist es Zufall – aber es fällt schon auf, dass der Tonträgermarkt sich nach dem
Brexit-Votum der Insulaner stark mit Musik einer glorreichen britischen Vergangenheit
beschäftigt. Sehnsucht nach alter Größe oder Pfeifen im Walde? – Das Ensemble Musica
Alta Ripa hat eine ganze CD der englischen Musik des späten 17. Jahrhunderts gewidmet.
Henry Purcell: Fantazia on a ground in D
4:45
Im 17. und im 20 Jahrhundert habe die britische Musik musikgeschichtlich die stärksten
Akzente setzen können. Im 17. Jahrhundert habe erstmals jener unverwechselbare britische
Akzent in die Musik gefunden, der die Tradition dann im weiteren Verlauf bestimmte. – So
steht es zu lesen im Begleitheft der neuen CD des Ensembles Musica Alta Ripa, spezialisiert
auf Alte Musik, und daher natürlich an jenem speziell britischen Zungenschlag aus dem
17. Jahrhundert interessiert.
„Insane Harmony“ – wahnsinnige Harmonien, so heißt das Programm der neuen CD von
Musica Alta Ripa, und tatsächlich ziehen einem manche harmonische Kühnheiten der
englischen Barockmeister die Schuhe aus, wenn wunderschön schmerzhafte Dissonanzen
die Gehörgänge erweitern. Zudem spielen nur sechs Musiker auf der CD mit, aber durch
aparte Besetzungen in Kombinationen mit Flöte, Orgel oder Cembalo entstehen von Stück
zu Stück wechselnd neue Klangfarbenspektren.
Und die neue CD von Musica Alta Ripa ist dabei nur eine von mehreren CDs, die sich in den
letzten Monaten mit der tönenden Vergangenheit Britanniens auseinandergesetzt hat. Auch
das Vokalensemble „The Queen‘s Six“ wagt eine Zeitreise in die Vergangenheit, noch ein
Jahrhundert weiter zurück, in die englische Renaissance. „Heavenly Harmony“ heißt diese
Produktion – nominal also himmlisch.
Thomas Tallis: O ye tender Babes
1:20
Das fulminante Gesangssextett The Queen‘s Six befasst sich auf der Produktion „Her
Heavenly Harmony“ einmal mehr unanfechtbar intonations- und stimmrein mit englischer
Musik. Diesmal sind es weltliche Gesänge des späten 16. Jahrhunderts. „Oh ihr
verweichlichten Kinder von England. Schüttelt ab Faulheit und Liederlichkeit. Treibt Euren
Verstand zu Gelehrigkeit und Tugend. Seid pflichtgetreu gegen Gott und den König, macht
euch und den Eltern Freude. Mehrt den Ruhm des Königreichs.“ – So heißt es im gerade
gehörten Lied von Thomas Tallis. Das ist erstens eine wunderbare CD, und zweitens die
perfekte Überleitung zur letzten Neuerscheinung, die auch noch in den vergangenen
Wochen auf meinen Tisch geflattert kam – pflichtbewusste Engländer zum Ruhme des
Königreichs: Die Bandmitglieder des Leibregiments der Königin, die Grenadier Guards,
9
tatsächlich eine der profiliertesten Militärkapellen der Welt, haben ihre größten Hits
veröffentlicht …
Grenadier Guards: Savoy Hunting Medley (1934 aufgenommen)
2:00
So, jetzt haben wir auch da hinein gehört – bei so viel englischer Musik am Schluss der
Sendung wollte ich Ihnen auch diese Neuauflage nicht vorenthalten: Die britischen Grenadier
Guards, eine Leibgarde der Königin, haben Aufnahmen aus den 20er und 30er Jahren
digitalisiert und neu veröffentlicht. Schräg ist das schon, aber irgendwie liebenswert, es passt
auch irgendwie zur neuen alten Rolle Britanniens in Europa. Scheinbar träumt auch der
britische Musikmarkt sich gern mal in glorreiche Tage zurück, die längst vergangen sind,
aber die Passion für klassische Musik lebt nun mal auch von großen Geschichten. Und in
diesem Sinne ist Europa ja doch wieder ganz vereinigt …