1 Alexander Fuchs : Kleine Werkeausgabe LESEPROBEN

Alexander Fuchs : Kleine Werkeausgabe
LESEPROBEN
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Inhaltsverzeichnis
Mary Walden
Nach der Wende ....................................................................
Seite 3
Dorothea Merian's
Erinnerungen an ihre Mutter ...................................................
Seite 30
Fabio Paulfeld
Johann Melzer's Reise ans Ende der Welt ..................................
Seite 68
Karl Georg Tandlop
Der Russische Frieden ...........................................................
Seite 124
Susanne Riedinger
Der Sternenhimmel im Juni .................................................... Seite 145
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Mary Walden
Nach der Wende
Der Roman erzählt das Schicksal eines Oberleutnants, der als hauptamtlicher
Mitarbeiter für die DDR Staatssicherheit tätig war. Nach der politischen Wende
in Ostdeutschland muss er sich mühsam neu orientieren.
Da wird er in den Fall des Missbrauchs einer minderjährigen Prostituierten
verwickelt und gerät in die Machenschaften des organisierten Verbrechens.
Schließlich bleibt ihm keine andere Wahl, als sein Leben aufs Spiel zu setzen.
Geschildert werden die dramatischen Ereignisse im "Wende Herbst" in Dresden, einem der Brennpunkte der ostdeutschen Revolution.
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LESEPROBE
"Daniela Smerlova", wiederholte die Frau ihren Namen. "Tut mir leid", sagte
die Schwester im Johannstädter Krankenhaus, "ich kann Ihnen im Moment
nicht weiterhelfen, ich habe hier keine Nachricht auf diesen Namen vorliegen."
Die Frau verzog zweifelnd den Mund, legte die flachen Handflächen an die
Kante des Tresens und sagte "Ein Polizeibeamter hat mich hergebeten."
Sie war um die dreißig, hatte eine schlanke Figur und dunkles Haar, das hinter
den Ohren vom Nacken herauf ganz kurz war, oben aber in einer fülligen Welle zur Seite fiel. Sie hatte ebenso dunkle Augen, eine gerade zierliche Nase
und einen kleinen, ovalen Mund mit kräftig dunkelrot geschminkten Lippen.
Sie trug fast schwarze Leggings, die in halbhohen, braunen Wildlederschuhen
steckten, deren schmale Schäfte nach außen gewendet waren. Über der Hose
hatte sie einen enganliegenden blauen Rock und als Oberteil einen grobmaschigen, hellen Pullover mit weitem, schlauchartigen Kragen über einem türkisfarbenen Shirt an. Ihre Fingernägel waren kurzgeschnitten und mit einem
hauchdünnen, farblosen Schimmer lackiert, und um den Hals hing eine Kette
mit ebenso mattglänzenden Perlen. Quer über der Schulter hatte sie eine
ziemlich ausgebeulte Umhängetasche aus Kunstleder.
Neben ihr standen zwei Polizisten, die eben mit dem Streifenwagen gekommen waren. "Wie Sie sehen", sagte die Krankenschwester, "wissen die Herren
auch nicht mehr." Einer der beiden, der dickere, sagte "Wenn Sie wenigstens
sagen könnten, von welcher Stelle aus man Sie angerufen hat." "Warten Sie",
sagte Daniela und kramte aus ihrer Tasche einen Zettel, "der Herr heißt ..."
Da erschienen ein Stationsarzt im weißen Kittel und ein Mann an seiner Seite,
der eine kurze Lederjacke über einer karierten Hose trug. "Doktor Fitzmann",
sagte die Schwester hinter dem Tresen, "diese Frau hier sagt, sie sei angerufen worden, es ginge um eine Patientin aus der Notaufnahme." "Danke,
Schwester Karin", sagte der Arzt, "es ist in Ordnung." Und an Daniela gewandt: "Schön, daß Sie kommen konnten, Frau Smerlova. Das hier ist ..." Der
andere stellte sich selbst vor. "Kriminalkommissar Peter Hellwein." Im Unterschied zu dem Arzt gab er ihr die Hand.
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Die Schwester war froh, daß sich offenbar alles aufklärte. "Tja, Jungs", sagte
sie zu den beiden Polizisten, "umsonst gekommen. Vielleicht habt ihr ja noch
Zeit für einen Kaffee." "Gern", sagte der Dicke, und während sich Daniela und
die zwei Männer in Richtung Arztzimmer entfernten, sagte er zu seinem Kollegen "Lass das mal von Manfred überprüfen, ob es bei der Kripo einen Kriminalkommissar Hellwein gibt."
In seinem Zimmer bot der Arzt den beiden Platz an, aber sie blieben alle stehen. Er nahm eine Mappe vom Tisch, klappte sie auf und referierte daraus
"Das Mädchen ist zirka vierzehn bis sechzehn Jahre alt, geschlechtsreif und
leidet an einer unbehandelten Bronchitis. Sie ist gestern Nacht in die Notaufnahme gekommen. Sie hatte ein blaues Auge, Anzeichen von Fixierung an den
Handgelenken sowie insgesamt zehn mehr oder weniger starke Hämatome
über den Körper verteilt, das größte über dem Bauchnabel, möglich, daß man
ihr einen Schlag in die Magengrube versetzt hat. Sie hat vernarbte Verletzungen auf dem Rücken und an der rechten Innenseite des Oberschenkels. In ihrem Blut waren Spuren von Alkohol und Rauschgift." "Hinweise auf Geschlechtsverkehr", sagte der Kriminalkommissar so, als kenne er den Bericht.
"Wir fanden Sperma, wahrscheinlich von mehreren verschiedenen Individuen."
"Haben Sie sie vor der Untersuchung um ihr Einverständnis gefragt?" "Bitte?"
Er klappte die Mappe zu und behielt sie in der Hand. "Frau Smerlova, wir haben Sie hergebeten, weil das Mädchen offenbar nur tschechisch spricht - wenn
es überhaupt spricht. Sie hat uns weder ihren Namen gesagt noch woher sie
kommt. Beim Hilfeverein 'Sonnentau' sagte man uns, Sie hätten Erfahrung
mit solchen Personen."
Daniela nickte unmerklich, dann fragte sie "Wer hat sie in die Notaufnahme
gebracht? Ich nehme an, sie kam nicht von allein." "Ähm", machte der Arzt
und schlug die Mappe abermals auf. "Ein Taxifahrer hat sie hergebracht." "Sie
kam mit dem Taxi?" Hellwein sagte "Der Fahrer hat sie angeblich an der Straße bei Bad Schandau aufgelesen." "Und ist dann bis hierher gefahren?" "Ja."
Der Arzt sagte "Bei der Aufnahme konnte nicht alles protokolliert werden, wir
mussten uns zunächst um das Mädchen kümmern, Sie verstehen." "Inwie-
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fern?" "Wir hatten die Polizei verständigt, aber der Taxifahrer ist inzwischen
verschwunden." "Aber Sie haben doch wenigstens seine Personalien aufgenommen?" "Wir haben den Namen und die Betriebsnummer des Taxis." Er
suchte in der Mappe nach einem Zettel. "Es ist ein gewisser Gerhard Ziegler
aus Dresden Prohlis."
Der Kommissar sagte "Ich schlage vor, Sie sprechen als erstes mit dem Mädchen." "Ja, aber allein." "Natürlich, wie Sie wollen." Sie lag halbaufgerichtet
im Bett, den Kopf zur Seite gedreht und schaute aus dem Fenster. Sie streifte
Daniela nur mit einem kurzen Blick, aber sie registrierte, daß sie keine Krankenschwester ist. "Hallo. Ich bin Daniela Smerlova, ich bin hergekommen, um
mit dir zu reden", sagte sie, nahm einen Stuhl und setzte sich auf die Seite
des Bettes, von der aus sie ebenfalls hinausschauen konnte. Die andere antwortete nicht.
Trotz der Prellung am Auge konnte man sehen, daß sie ein hübsches Gesicht
hatte. Daniela bemerkte sofort dessen dunklere Tönung und machte sich einen Reim darauf. Sie fragte sie nach ihrem Namen, bekam aber keine Antwort, sie starrte weiter aus dem Fenster. "Wenn ich dir helfen soll, muss ich
zumindest wissen, wie du heißt." Manchmal in solchen Fällen reagierten die
anderen daraufhin abweisend und sagten 'Ich brauche Ihre Hilfe nicht' oder
auch nur 'Leck mich' oder 'Fick dich', aber wenigstens kommunizierten sie. Die
hier blieb stumm.
"Woher bist du? Aus der Gegend von Decin? Usti? Teplice? Oder Richtung Ceska Lipa? Ich kenne in Benesov eine Roma Siedlung, bin ein paar Mal dort gewesen, ich kenne da einen Clan Chef namens Witoscha, er hat ..." "Ich muss
zu meinem Bruder", sagte sie und drehte den Kopf zu ihr hin. "Okay." Sie
schauten sich direkt in die Augen, Daniela wusste, daß man so ihr Vertrauen
gewinnen konnte, mit einem offenen, anspruchslosen Blick. "Sie wissen gar
nichts", wurde sie angefaucht. Freilich, man konnte sich auf die Blickgeschichte nicht immer verlassen.
"Das stimmt nicht ganz, ich weiß, was sie mit dir gemacht haben." Sie wollte
etwas erwidern, bekam aber einen Hustenanfall, es rasselte tief drin in der
schmalen Brust wie bei einem alten Kettenraucher. Daniela stand auf und
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nahm von dem Nachtschränkchen eine Flasche mit Hustensaft. "Willst du davon was haben?" Sie nickte. Daniela gab ihr einen Löffel voll. Sie ließ ihre
Oberlippe darübergleiten, wie man einer schnurrenden Katze übers Fell
streicht. "Noch einen." Daniela schaute auf das Etikett. "Was ist? Daran werde
ich nicht krepieren." "Da hast du wahrscheinlich recht."
Daniela fand Kommissar Hellwein in der Cafeteria. "Haben Sie etwas erfahren
können", fragte er. "Nicht viel. Sie heißt Celine." Den Namen hatte sie ihr entlocken können, aber sie bezweifelte, daß es ihr richtiger war. Manche solcher
Mädchen gaben sich Phantasienamen, die zu einer Person passten, die mit ihrem wirklichen Leben nichts zu tun hatte.
"Ich habe noch nicht richtig mitbekommen, wer Sie eigentlich sind?" "Kriminalkommissar Hellwein." "Ja, soviel weiß ich schon. Von welcher Behörde
kommen Sie? Und warum interessieren Sie sich für eine tschechische minderjährige Prostituierte? Noch dazu ein Zigeunerkind." "Ich arbeite in einer Einheit für Sonderermittlungen." "Klingt für mich nicht viel aufschlussreicher."
"Wenn Sie mich vielleicht ausreden lassen." "Bitte, natürlich", sagte Daniela
und hob halb entschuldigend, halb bedient die Hände. "Kann es sein, daß Sie
gewisse Vorbehalte gegenüber der Polizei haben, Frau Smerlova?"
"Warum sollte ich? Sie tun bestimmt nur Ihre Arbeit." "Ich gebe mir alle Mühe." "Sicher. Es heißt oft: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint." "Wie bitte?"
"Ich habe innerhalb des letzten halben Jahres dreizehn Fälle von sexueller Nötigung und schwerer Körperverletzung an Minderjährigen erlebt, alle so in der
Größenordnung wie bei diesem Mädchen. Nicht einer davon wurde bis jetzt
aufgeklärt, ja, es wird nicht einmal wirklich ermittelt. Es wurden in dieser Zeit
jede Menge Zigarettentransporte beschlagnahmt, aber nicht ein einziger Menschenhändler verhaftet."
"Ich weiß." Daniela rang sich ein bitteres Lächeln ab. 'Sie wissen gar nichts'
hatte Celine ihr ins Gesicht gesagt; sie könnte das gleiche diesem Kommissar
entgegenhalten. Er sagte "Wenn Sie nicht mit uns zusammenarbeiten wollen,
können Sie das gern ablehnen, wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen, aber wir
können sie natürlich nicht von Ihnen fordern." "Na großartig. Sie wissen genau, daß wir ohne die Polizei machtlos sind. Da können wir diese Kinder auch
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gleich in die Kirche schicken."
"Also, wenn das so ist", sagte Hellwein ruhig, "sehe ich eigentlich keinen Hinderungsgrund dafür, daß wir uns gegenseitig helfen können, im Interesse der
Betroffenen. Außer vielleicht gewisse persönliche Aversionen." Sie schaute ihn
an. "Ich habe doch nichts gegen Sie persönlich, ich kenne Sie überhaupt
nicht." "Richtig. Ich schlage vor, ich hole uns jetzt einen Kaffee und dann sage
ich Ihnen etwas über mich und unsere Arbeit, einverstanden?" Sie nickte
deutlich.
Er holte zwei Becher Kaffee. Dann erklärte er ihr, er wäre der Leiter eines
kürzlich eingerichteten Sonderkommandos für organisierte Kriminalität im sogenannten Dreiländer Eck Deutschland, Polen, Tschechei. "Welche Erfolge hatten Sie denn bisher zu verzeichnen?", meinte Daniela, eine Frage, auf die sie
natürlich keine offene Auskunft erwartete. "Unsere Abteilung ist noch sehr
klein", sagte er. "Es gibt auch so schon ähnliche Ermittler, zum Beispiel für
Wirtschaftskriminalität oder für Drogenhandel."
"Dann sind Sie nicht gerade willkommen?" Er lächelte matt. "Sie kennen sich
wohl aus mit den Kompetenz Streitigkeiten von Ordnungsbehörden?" "Nein.
Aber ich weiß, daß immer jeder gern allein gewinnen will." "Oh ja, das klingt
wie eine echte Lebensweisheit." "Ich wollte damit nur sagen, daß ich Ihnen
nicht mehr zutraue als allen anderen." "Vielen Dank. Ich glaube, wir hatten
wirklich einen schlechten Start."
"Einen Start? Für Sie ist das vielleicht der Anfang Ihrer Arbeit hier, für mich
nicht. Für mich ist dies ein weiteres Verbrechen, bei dem es - wie bei allen vorangegangenen - ein Kind als Opfer, ein paar hilflose Verfolger und eine unbestimmte Anzahl von Leuten gibt, die davon profitieren. Ich weiß nicht genau,
Herr Kommissar, mit welchem Auftrag Sie hier agieren, aber ich befürchte, Sie
verkennen die Lage. Das hier ist kein 'Dreiländer Eck' wie Sie es so idyllisch
nennen, sondern ein Dschungel, durch den Sie sich mit der Machete den Weg
bahnen müssen, wenn Sie an Ihr Ziel gelangen wollen."
"Meine Güte, Frau Smerlova, wenn man Sie reden hört, könnte man denken,
wir sind im Kongo und nicht in Mitteleuropa. Kommen Sie mal wieder runter.
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Ich habe nicht vor, mit der Machete zu agieren, und das ist auch nicht meine
erste Ermittlungsarbeit. Schon möglich, daß uns diese Schweinehunde hin und
wieder durch die Lappen gehen, aber wir lassen uns bestimmt nicht von ihnen
verarschen, und früher oder später schnappen wir sie." "Höchstwahrscheinlich
später", sagte Daniela ungerührt. "Ja, höchstwahrscheinlich. Aber immerhin,
wenn wir es nicht tun, dann würden sie davonkommen. Und nun verraten Sie
mir bitte etwas über Ihre Hilfsorganisation."
"Organisation hört sich bedeutend an. Es ist ein Verein. Wir existieren von einer finanziellen Unterstützung durch das Sozialministerium des Landes Sachsen, durch Mittel aus einem Fond von Unicef und durch Spenden. Wir haben
ein Büro in Usti nad Labem, dem früheren Aussig, und eins in Dresden." "Wo
in Dresden? Ich habe Ihre Adresse nirgends gefunden." "Sie haben mich doch
angerufen." "Das ist der Anschluss einer Anwaltskanzlei." Sie schwieg. Sie
schien plötzlich ein bisschen verwirrt. Dann sagte sie "Können Sie mir nochmal Ihre Dienstmarke zeigen?" Er tat es. "So oft Sie wollen."
"Entschuldigung." "Wofür?" "Es ist manchmal nötig, daß wir ... ich meine, es
gibt nicht Wenige, die uns lieber heute als morgen ausgeschaltet sehen möchten. Für das, was wir tun, ist nicht nur ein gesundes Misstrauen unverzichtbar,
sondern auch so etwas wie Konspiration, Sie verstehen?" "Vollkommen. Ich
frage auch nicht nochmal nach der Adresse." "Schön."
"Warum haben Sie eben den Namen Aussig so betont?" "Weil ich annehme,
daß Sie nicht von hier sind?" "Das stimmt, aber ich kenne mich ein wenig aus
in sächsischer Geschichte." "Das ist bestimmt sehr hilfreich", sagte Daniela
wieder ironisch, "und woher kommen Sie?" "Aus Rheinland Pfalz." "Da sind Sie
also ein waschechter Wessi. Fliegen Sie auch jeden Montag mit dem Beamten
Bomber in Dresden ein, und freitags zurück nach Hause?" "Nein. Ich wohne
hier", sagte er und fügte hinzu "ich habe keine Familie." "Ach so? Wie kommt
das?" "Das interessiert Sie doch nicht wirklich?" Sie lachte. "Nein. Und wahrscheinlich denke ich: 'jetzt versucht er es über die private Schiene'." "Was?"
Sie zuckte mit den Schultern.
"Sie haben mir immer noch nicht gesagt, weshalb Sie sich ausgerechnet mit
diesem Mädchen befassen." "Wir gehen einem Hinweis nach." "Ich nehme an,
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mehr können Sie mir im Moment nicht verraten." "Sie sagten, diese Celine sei
ein Zigeunerkind?" "Böhmische Mädchen haben nicht so einen dunklen Teint
und nicht so schwarzes Haar. Na ja, ich glaube, ich sehe das eben." "Haben
Sie Kontakte zu den Roma in der Tschechei?" "Sie meinen, ob man mich dort
zu den Familienfeiern einlädt?"
Hellwein hob widerwillig die Brauen. "Nein. Ich meine, ob Sie Geschäfte mit
denen machen, Frau Smerlova." "Von den Kindern, mit denen wir es zu tun
haben, sind ungefähr ein Viertel bis ein Drittel Roma. Seit dem Krieg in Jugoslawien werden es ständig mehr." "Woher kommen die? Aus dem Kosovo?"
"Das lässt sich schwer feststellen, sie haben nämlich keinen Pass bei sich."
Dann sagte sie "Arbeiten Sie eigentlich für Interpol?" "Nein, warum?" "Ich habe mal mit einem Mann von Interpol gesprochen, der hat genau solche Fragen
gestellt. Und dann hat sich gezeigt, daß es ihm gar nicht um diese Kinder
geht, sondern um Waffengeschäfte." "Wissen Sie noch, wie er hieß?" "Da
müsste ich nachsehen, ich merke mir nicht jeden dahergelaufenen Ermittler."
"Ich kann nur noch einmal sagen: wir sind für organisierte Kriminalität zuständig, und dazu gehört unter anderem auch der Menschenhandel." "Demnach müssten Sie ja ein ganzes Bataillon befehligen, Herr Kommissar." "Tue
ich auch. Und sie sind alle mit Macheten bewaffnet." Daniela musste lachen,
und Hellwein lachte auch.
"Was wollen Sie jetzt machen?", fragte sie ihn. "Ich werde mir den Taxifahrer
vorknöpfen." "Gute Idee. Wahrscheinlich macht der öfters solche Fahrten."
"Was für Fahrten? Doch nicht missbrauchte Kinder im Spital abliefern?" "Sextouristen über die Grenze fahren." "Hm. Schon möglich", machte Hellwein und
überlegte. "Und ich würde Sie bitten, daß Sie versuchen, etwas mehr von dem
Mädchen zu erfahren." "Ich werde sie nicht verhören." "Sie können mit ihr
reden." "Morgen." "Natürlich. Ich gebe Ihnen meine Nummer." "Ich gebe Ihnen auch noch eine andere." "Und was ist das? Etwa ein Waschsalon?" "Finden
Sie's heraus. Übrigens, Ihr Humor ist wirklich umwerfend."
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Gerhard Ziegler hatte einen zähen Tag hinter sich, er hatte fünfzehn Adressen
bearbeitet. Bei vier davon hatte er niemand angetroffen, bei dreien hatte er
bloß viel Zeit vertrödelt, ohne einen einzigen Abschluss zu machen. Einen
Handwerker, der nach einem Betriebsunfall arbeitsunfähig geworden war, besuchte er aus Versehen zum zweitenmal, und er erzählte Gerhard seine ganze
öde Leidensgeschichte von vorn. Es graute ihm vor den Leuten, die allein waren und es ausnutzten, daß er zu ihnen kam.
In einem Treppenhaus überholte ihn von oben eine Horde wilder Kinder und
rempelte ihn so arg an, daß er beinahe hinuntergefallen wäre. "Saubande!",
rief er ihnen nach, und sie lachten ihn aus. Drei Versicherungen mit je dreitausend Mark sowie zwei Unfallpolicen, das war die ganze Ausbeute. Er beließ
es dabei, weil er das Gefühl hatte, die Quote würde sich nur noch verschlechtern. Zuhause trank er ein Bier und noch eins, machte sich zwei belegte Brote
und mummelte sie vor dem Fernseher. Dann legte er sich hin.
Er schlief gut, und am nächsten Tag fühlte er sich wach und gestärkt. Wie immer legte er am Küchentisch seine Route für heute fest und stellte die entsprechenden Adressen zusammen. Die Karten mit den Adressen wurden in der
Agentur behandelt wie Wechsel oder sogar wie Blancoschecks. Sein Gruppenleiter pflegte zu sagen "Es gibt keine schlechten oder guten Adressen, jede
einzelne ist bares Geld wert. Es kommt allein auf euch an, wieviel ihr herausholt."
Trotzdem ging er beim Verteilen nicht aufs Geradewohl vor, nicht jeder bekam
das Gleiche. Wer gut schrieb, also viele Abschlüsse machte, der bekam auch
stets vielversprechende Adressen. Mitarbeiter, die durch mangelnden Fleiß
auffielen, wurden mit Adressen abgespeist, bei denen von vornherein nicht
viel zu holen, mithin nichts zu verderben war, Kunden, von denen man wusste, daß sie finanziell klamm waren oder dafür bekannt, daß sie zwar bereitwillig eine Versicherung abschließen, sie aber ebenso kurzentschlossen wieder
kündigten. Manche begriffen gar nicht, worum es dabei eigentlich geht.
Gerhard gehörte zwar nicht zu den Spitzenleuten in der Agentur, aber laut
Gruppenleiter immerhin zu den "soliden Verkäufern", die sich nicht hängenließen, auch wenn es mal stockte, die ranklotzen konnten, wenn sie bei der
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Zielvorgabe (der Planerfüllung, wie man sie scherzhaft nannte) hinterherhinkten, und die - dem Tüchtigen hilft das Glück! - unweigerlich auch immer wieder eine Zeit hatten, wo es lief wie geschmiert.
An diesem Tag war Gerhard auf der Neustädter Seite unterwegs. Als erstes
war ein Rentner Ehepaar dran, sie sahen aus, als wären sie beide gerade aufgestanden, der Mann erschien zuerst in Unterwäsche. Sie waren seit ewiger
Zeit Mitglieder der "Volkssolidarität", mit der Gerhards Versicherung einen Geschäftsvertrag hatte, über dessen Inhalt Mitarbeiter wie er natürlich im einzelnen nicht Bescheid wussten.
Leider hatten die Leutchen bereits eine ähnliche Sterbevorsorge bei einem andern Anbieter abgeschlossen. Trotzdem waren sie sehr freundlich, sie boten
ihm einen Kaffee an, aber Gerhard schützte Zeitmangel vor und lehnte dankend ab; er hatte noch den Anblick der schmuddeligen Unterwäsche vor Augen.
Dann kam er zu einer alleinstehenden Lehrerin, ebenfalls im Ruhestand. Sie
reichte Gerhard kaum bis zur Brust und hatte ganz kurzes, weißes Haar. Als er
sie fragte, welche Fächer sie unterrichtet habe, meinte sie, der Mann, der unter ihr wohne, habe vor langer Zeit in ihr die Liebe zur Seidenraupenzucht geweckt. Diese seltsame Bemerkung stand in merkwürdigem Kontrast zu dem
klaren, fast untrüglichen Blick aus ihren aufmerksamen Augen.
Sein Gruppenleiter hatte allen Mitarbeitern eingeschärft, sie sollten ja die Finger von Leuten lassen, die irgendwie den Eindruck machen, sie seien nicht
ganz richtig im Kopf. Es hatte bei solchen Verträgen schon unangenehme Folgen gegeben. Aber die kleine Lehrerin wollte durchaus eine Versicherung bei
ihm abschließen, und Gerhard vergewisserte sich vorher, daß sie jedenfalls
noch die alleinige Geschäftsfähigkeit besitzt.
Er fuhr weiter hinaus bis in die Charlottenstraße, wo einige neue Wohnblocks
standen. Er hatte die Adresse eines jungen Mannes, der selbst bei der Agentur
angerufen und um ein Beratungsgespräch gebeten hatte, was wirklich nur selten geschah. Es zeigte sich, daß es ein Pärchen mit einem knapp einjährigen
Sohn war; die Mutter, eine hübsche Frau mit einer Lockenfrisur, öffnete ihm.
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In der Wohnung war es sehr ordentlich, und alles zwar schlicht, aber geschmackvoll eingerichtet. Ja, sie wisse Bescheid, allerdings sei ihr Mann gerade nicht da. Sie könne jedoch auch für ihn mitentscheiden.
Gerhard erläuterte ihr, daß bei dieser Art von Vorsorge der Versicherungsnehmer und der Versicherte ein und dieselbe Person sind, sie müssten also jeder für sich selbst abschließen. Dagegen sei es aber möglich, daß der Beitragszahler jemand anderes ist. "Das ist ja kompliziert", sagte sie. Sie hielt
die ganze Zeit den Jungen auf dem Arm, der brav an seinem Schnuller nuckelte.
Gerhard passierte es, wie er jedesmal hinterher selbst erkannte, noch zu oft,
daß er mit seinem Fachwissen die Kunden verschreckte, anstatt sie zu überzeugen. Er stellte ihr ein paar Fragen, dann meinte er "Wenn ich Sie richtig
verstehe, geht es Ihrem Mann um eine Kapitallebensversicherung." "Genau.
Was ist das eigentlich?" Gerhard erklärte es ihr so gut er konnte.
Sie fragte "Muss man sich dafür untersuchen lassen? Ich meine, wegen Krankheiten und so." "Man muss ein paar Fragen beantworten." "Aber es ist kein
Arzt dafür nötig?" "Nein. Allerdings sollten die Angaben der Wahrheit entsprechen." "Und Selbstmord?" "Bitte?" "Ich frage nur Interesse halber. Wenn
der Betreffende Selbstmord begeht, wird die Versicherung dann trotzdem ausgezahlt?" "Nach einer Frist, ja." "Wie lange ist die Frist?"
Gerhard bekam plötzlich einen trockenen Hals. "Hören Sie, Frau Schäfer, ich
möchte nicht indiskret sein, aber ich meine, dieses Thema berührt Sie doch
überhaupt nicht. Sie sind so jung und ... ich glaube, ich kann Ihnen mit meinen speziellen Angeboten nicht recht dienlich sein. Sie sollten vielleicht einen
Bausparvertrag abschließen oder einen monatlichen Betrag in Vermögenswerten anlegen, verstehen Sie, damit Sie ihre finanzielle Situation schrittweise
und langfristig verbessern und damit Ihre Familie auf eine sichere Basis gestellt ist und Sie - ich vermute, daß das Ihren eigenen Vorstellungen entspricht - sich auch vergrößern ... vermehren ... ich meine ... na Sie wissen,
was ich sagen will."
Er hatte das Gefühl, als habe er von dem Moment an, als diese Frau mit dem
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kleinen Jungen die Tür öffnete und er die Wohnung betrat, eine innere Stimme gehört, die ihn davor warnte, dieser Frau, ihrem Kind und ihrem wie unsichtbar anwesenden Mann irgendetwas anzudrehen, das ihnen letztlich nicht
von Nutzen ist und das ihrem allem Anschein nach blühenden Leben nur den
Makel der Anfälligkeit aufdrücken würde. Sie lächelte ihn an und sagte "Vielen
Dank für Ihren Ratschlag."
"Ich lasse Ihnen meine Karte da. Wir haben natürlich in unserer Agentur auch
Experten für alle Arten von Geldanlage und so weiter." Er verabschiedete sich,
er kniff dem Jungen sanft in die Wange, der sich daraufhin verschämt an ihre
Schulter lehnte. In Wahrheit, so fand er, als er im Auto saß, hatte ihn die
überraschende Erwähnung des Selbstmords geradezu erschreckt.
Die nächsten drei Besuche waren gemischt, einer wimmelte ihn ab, die zweite,
eine Frau mit künstlichem Hüftgelenk, hatte schlechte Erfahrungen mit ihrer
Unfallversicherung gemacht, schloss aber trotzdem noch eine weitere ab, weil
ihr Gerhard so "vertrauenswürdig" erschien. Bei dem dritten, wiederum einem
älteren Ehepaar, sagte ihm die Frau oben an der Wohnungstür, er würde ihren
Mann im Keller finden, was auch zutraf. Es roch nach Verdünnung und verschmortem Plastik. Sie standen beide im Dunkeln, und der Mann leuchtete
Gerhard mit einer Taschenlampe ins Gesicht.
Er hörte sich alles an, dann schickte er ihn wieder nach oben (in den dritten
Stock) zu seiner Frau: sie solle "so ein Ding" abschließen, aber nicht mehr als
3000 Mark! Was ihr Mann eigentlich da unten mache, fragte Gerhard sie, um
das Gespräch aufzulockern. Er arbeite an einer "Erfindung". Wahrscheinlich
hatte er Gerhard deshalb im Finstern abgefertigt.
Es war Mittagszeit, und Gerhard gönnte sich eine Pause. Er fuhr zum Schloss
Albrechtsberg, das auf der Neustädter Elbseite oben auf den Terrassen steht.
Zu DDR Zeiten war in dem riesigen Gebäude mit den beiden eckigen Türmen
der Pionierpalast untergebracht, das staatlich finanzierte Freizeithaus der sozialistischen Kinder- und Jugendorganisation, die vierzig Jahre bestanden, Millionen von Mitgliedern und sich gleich nach der Wende aufgelöst hatte.
Zu dem Areal gehört ein parkähnlicher Garten mit hohen Bäumen, verschlun-
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genen Wegen, einem kleinen Teich, Bächen und Brücken, und nach der Elbseite hin hat man einen herrlichen Blick auf den Fluss und auf die Stadt gegenüber. Gerhard parkte seinen Opel Kadett vor dem Haupttor. Das Gebäude
war geschlossen, überall wurde um- und ausgebaut, draußen prangte das
Schild der Baufirma aus Düsseldorf. Das Wetter war mild und trocken. Er
machte einen Spaziergang durch den Park, der hier und da ein bisschen verwildert aussah. Aber es war schön ruhig hier, und nur die Vögel zwitscherten
munter in den Bäumen.
Er erinnerte sich, wie Monika und er die Tochter hierher geschickt hatten, als
sie ungefähr neun war. Sie sollte eigentlich ein Musikinstrument spielen lernen, das war Monikas Wunsch. Sie versuchten es mit Blockflöte, aber es stellte sich heraus, daß Kathrin nicht nur unmusikalisch war, sondern auch keine
ausreichende Fingerfertigkeit besaß. Außerdem hatte sie keine große Lust zum
Musizieren und erst recht nicht zum Üben. Wenn er ehrlich war, so hatten weder er noch Monika selber irgendwelche nennenswerte musische Begabung,
und das bewahrte wahrscheinlich Kathrin davor, zum Instrument Lernen verdonnert zu werden.
Die Blockflötengruppe, zu der sie ein paar Mal ging, traf sich wöchentlich im
Pionierpalast und hatte, wie alle Arbeitsgemeinschaften im Haus ein anerkannt hohes Niveau. Man musste bald einsehen, daß Kathrin dem nicht genügte. Durch Zufall geriet sie in eine Gruppe von Gleichaltrigen, die sich mit
Malen und Zeichnen und sogar mit plastischem Gestalten beschäftigten.
Der Leiter, ein erfahrender Kunsterzieher mit Rauschebart, gab ihr spontan
einen großen, leeren Bogen Papier und eine Handvoll Wachsmalstifte (eine
Rarität), erkundigte sich, ob sie schon einmal im Zoo gewesen sei, was sie bejahte, und forderte sie erwartungsvoll auf, ein Tier zu malen, das ihr besonders in Erinnerung geblieben sei. Während Kathrin munter drauflos zeichnete,
zeigte der Kunsterzieher ihren Eltern, was so alles in dieser Arbeitsgemeinschaft geschaffen wird, und das konnte sich wirklich sehen lassen.
Die Tochter malte einen großen Elefanten und einen kleinen daneben, überlegte dann, ließ sich einen zweiten Bogen Papier geben, malte einen Löwen im
Käfig, der sehr gefährlich und auch majestätisch aussah, und auf ein weiteres
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Blatt eine Horde Affen auf der Affeninsel, die allerlei Schabernack trieben.
Dann ergänzte sie das Elefantenbild um einen Tierpfleger, der den großen mit
einem Schrubber bearbeitet, dem Löwen hing sie ein Schild an den Käfig, auf
dem eine klitzekleine, aber äußerst exakte Skizze des afrikanischen Kontinents Auskunft über sein Herkunftsland gab, und auf der Insel erschien zusätzlich ein Affe, der mit irgendetwas Seltsamen beschäftigt war.
Sie bedauerte es, als die Zeit für diesen Nachmittag um war, sie hatte sich gerade das Becken mit den Pinguinen vorgenommen. Der Kunsterzieher war von
ihren Werken vollauf begeistert, und auch die anderen Kinder zollten ihr geradezu bewundernde Anerkennung. Es war allen klar, daß Kathrin fortan zum
Mal- und Zeichenzirkel in den Pionierpalast ging.
Bei allen größeren Ausstellungen war sie mit ihren Arbeiten vertreten, und sogar beim zentralen Wettbewerb auf Bezirksebene gewann Kathrin Ziegler einen zweiten Platz. Nur ein gewisser Ronnie Reinhold aus Kamenz war angeblich besser. Aber sie fand, daß ihm bei seinem Bild, einem Stilleben mit Obstschale, jemand geholfen hat, und sie kannte mindestens fünf Leute, die ihr
darin zustimmten.
Ganz in Gedanken versunken stand Gerhard vor dem Albrechts Schloss, als
ihn jemand fragte "Ist das Ihr Opel Kadett da vorm Tor?" "Ja." "Da können Sie
nicht stehen bleiben, das ist ein Privat Parkplatz." "Privat Parkplatz? Da habe
ich immer geparkt!" "Und wenn Sie's weiterhin tun, rufe ich die Polizei und die
schleppen Ihren Wagen ratzfatz ab", sagte der Mann in einem Ton, als wäre
Gerhard mit seiner Frau fremdgegangen.
Er fuhr weiter hinauf nach Loschwitz zu einem Friseurmeister im Ruhestand,
der in einem hübschen Haus in der Nähe des Luisenhofs wohnte, den man bekanntlich den "Balkon von Dresden" nennt. Als er sich von ihm verabschiedete, deutete der Friseur auf das Nachbargrundstück, wo eine prächtige, neuverputzte Villa stand, und meinte "Gehen Sie doch mal da hin, da wohnt seit
neuem eine stinkreiche Witwe, da ist bestimmt was zu holen." Dabei rieb er
Daumen und Zeigefinger aneinander und grinste.
Kurzentschlossen folgte Gerhard dem Rat. An dem vergitterten Eingangstor
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war auf dem Schild in verschnörkelter Schreibschrift lediglich der Name Nauwerk zu lesen. Daneben befand sich ein Klingelknopf mit Wechselsprechanlage. Gerhard machte sich keine Illusion, eingelassen zu werden. Als er auf
die Frage "Wer ist da?", sagte, er sei Herr Ziegler und wolle Frau Nauwerk in
einer geschäftlichen Angelegenheit sprechen, erwiderte die Frauenstimme
"Einen Moment", und nach einer Pause sagte sie tatsächlich "Frau von Nauwerk lässt bitten." Dann schnarrte der Türöffner.
Am Eingang stand ein Dienstmädchen im dunklen Kostüm mit knapper, weißer Schürze und Häubchen und sagte mit freundlicher Miene "Frau von Nauwerk ist im Salon, eine Treppe hoch, Sie können es nicht verfehlen." Er wusste gar nicht, wie ihm geschieht, daß man ihn so ohne weiteres eintreten ließ.
Oben stand die große Flügeltür offen, und er sah die Hausherrin, die gerade in
einem Buch mit braunem Ledereinband las. Sie trug ein überaus elegantes,
dunkelrotes Kleid mit einem Silberfuchs Kragen, Seidenhandschuhe und ein
glitzerndes Diadem im sorgfältig hochgesteckten Haar, sie sah aus, als wollte
sie zu einem Ball gehen.
Er stellte sich vor, und sie streckte ihm ihre Rechte hin, und zum ersten Mal in
seinem Leben gab er einer Dame einen Handkuss, er wusste, daß man dabei
den Mund nur bis auf Haaresbreite der Hand nähert. "Es ist mir ein Vergnügen", sagte sie, und Gerhard musste die ganze Zeit annehmen, daß sie ihn für
irgendwen anderen hielt; die Szene hatte etwas Unwirkliches.
Sie schwenkte das Buch und fragte ihn "Was halten Sie von Carus und seiner
Theorie der menschlichen Psyche, mein lieber Ziegler?" Er wusste zwar, daß
Carl Gustav Carus ein Dresdner Maler war, dessen Bilder in der Gemäldegalerie hängen, und daß er außerdem Arzt gewesen war, nach dem die Medizinische Akademie ihren Namen hat, mehr aber auch nicht, von seinen Schriften
war ihm nichts bekannt. Dennoch antwortete er "Es ist schon eine Weile her,
daß ich ihn gelesen habe, und ehrlich gesagt, mir ist davon nicht viel in Erinnerung geblieben."
Frau von Nauwerk lächelte und sagte nicht ohne Begeisterung "Genau das ist
der Punkt: man liest es und man begreift es auch, aber man behält es nicht.
Warum ist das so? Wenn es Ihnen offenbar ebenso ergeht, kann es doch nicht
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an meinem Verstand liegen?" "Vielleicht muss man auf den rechten Zeitpunkt
warten, an dem einem dann alles wieder einfällt. Die meisten Bücher, die man
irgendwann einmal gelesen hat, trägt man in seinem Kopf mit sich und denkt
niemals daran. Aber eines Tages erlebt man eine Situation, wo es Klick macht,
und ein bestimmter Satz oder ein Bild daraus kommt einem wieder in den
Sinn, so klar und deutlich, als hätte man es eben zum ersten Mal gelesen."
Frau von Nauwerk sah ihn erstaunt an. "Warum sind Sie denn nicht schon früher zu mir gekommen?" Aber in ihrer Stimme und in ihrem Blick lag dabei etwas Sehnsüchtiges, das Gerhard so vorkam, als verspreche sie sich weit mehr
von ihm als nur eine Verständnishilfe der Carus'schen Theorie. Ihm wurde bewusst, daß die Frau wohl über siebzig sein dürfte und sich wahrscheinlich und
trotz des Personals (sicher hatte sie auch noch eine Köchin und einen Chauffeur) in ihrer großen Villa ziemlich allein fühlt.
Sie legte das Buch beiseite und drückte auf einen roten Knopf an einem Kästchen auf dem Glastisch, es erschien das Dienstmädchen. Frau von Nauwerk
bestellte Tee. Gerhard sah sich im Salon um, überall standen wertvolle Möbel
und Antiquitäten, Kunstobjekte und Porzellanfiguren, die womöglich aus der
Meißner Manufaktur stammten. Sein Blick fiel auf ein Bild, das in kräftigen
Farben eine Straßenszene darstellte.
"Das ist ein Kirchner", sagte die Witwe, "ein Motiv aus der Friedrichstadt."
"Ernst Ludwig Kirchner?" "Ja. Mein Vater hat es neunzehnhundert siebenunddreißig erworben, gleich nach der Schau über die Entartete Kunst, die die Nazis hier veranstaltet haben. Es hing vorher sogar eine Zeitlang in der Gemäldegalerie, bis es dort unerwünscht war. Dann wurde behauptet, es sei 'bezahlt von den Steuergroschen des deutschen Volkes'. Einfach lächerlich!
Damit wollte man die Leute zur Bilderstümerei aufhetzen." "Heute ist es vermutlich ein paar Groschen mehr wert", sagte Gerhard und bereute sogleich
seine platte Bemerkung. "Wir hatten auch ein Antiquitäten Geschäft am Neumarkt. Ich komme aus einer Familie, die mit den von Kügelgens verwandt
war." "Aha."
Der Tee wurde serviert. Frau von Nauwerk schenkte selber ein. "Mein Mann
war Gesellschafter bei der Firma Teekanne." "Ja, die kenne ich." "Also nicht
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direkt Gesellschafter, denn es ist von jeher ein Familienunternehmen gewesen, aber er war Gläubiger über die Dresdner Bank, dort war er als Volkswirt
tätig." "Und dann sind Sie aus Dresden weggezogen?"
Sie nahm einen Schluck aus der Tasse, als würde damit ihr Urteil über die
ganze diesjährige Tee Ernte gefällt werden, sie sah ihren Gegenüber unverwandt an. "Weggezogen?", betonte sie dann, "Der Russe hat uns aus Dresden
verjagt." Sie schüttelte den Kopf, man konnte sehen, daß sie es niemals verwunden hatte.
"Ausgerechnet der Russe! Wo ein Mann wie der Wilhelm von Kügelgen so viel
für Russland getan hat; Petersburg war ja praktisch seine zweite Heimatstadt.
Ich weiß, es ist vielleicht nicht ganz frei von Rachegelüsten, aber ich sage, es
geschieht ihnen ganz Recht, daß sie jetzt selber so erschüttert werden." "Sie
meinen die Russen." Die Witwe schwieg, sie hatte sich deutlich genug ausgedrückt.
"Wohin sind Sie damals gegangen?" "Nach München. Mein ältester Sohn hat
ein Haus am Chiemsee, in unmittelbarer Nachbarschaft von Herrn Biedenkopf,
der nun seinerseits ein Wahl Dresdner geworden ist." "Ja. Wie die Geschichte
so spielt", meinte Gerhard und schaute auf die Uhr. Er stand auf und sagte
"Eine herrliche Aussicht haben Sie von hier." Sie traten beide an die breite
Fensterfront. "Bei gutem Wetter kann man sogar die Babisnauer Pappel sehen. Als kleines Mädchen war ich einige Male dort." "Ja", lachte Gerhard, "und
ich habe es bis heute nicht geschafft."
Da erschienen über der Stadt zwei Ballons, einer mit dem Logo einer Versicherung, der andere in Form einer Teekanne mit dem Logo der Firma Teekanne. Gerhard schaute Frau von Nauwerk von der Seite an, sie starrte hinüber
zur Babisnauer Pappel, sie schien von den Ballons keine Notiz zu nehmen. Er
wandte sich ab, ging zu dem Glastisch und nahm seinen Aktenkoffer. "Ich
danke Ihnen vielmals für den Tee."
Sie trat auf ihn zu und sagte "Wären zweihundert Mark ein angemessener
Preis?" Gerhard spürte, wie sich seine Haare am Hinterkopf sträubten. "Ich
muss jetzt leider gehen", presste er hervor. Sie streckte die Rechte mit dem
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Seidenhandschuh nach ihm aus. Er sagte "Danke! Bemühen Sie sich nicht, ich
finde allein hinaus", und eilte die Treppe hinab und an dem Dienstmädchen
vorbei, das ihm verständnislos nachschaute.
*****
Kommissar Hellwein zeigte Gerhard seinen Dienstausweis, dann sagte er "Darf
ich einen Moment hereinkommen, ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen."
"Ja natürlich." Sie setzten sich ins Wohnzimmer. "Worum geht es?" "Fahren
Sie Taxi?" "Was? Nein, nie. Ich besitze ein Auto." Hellwein tippte sich an die
Stirn. "Entschuldigung, das war unglücklich formuliert. Ich meine, ob Sie
manchmal, vielleicht auch nur nebenberuflich, Taxi fahren?" "Ich selber? Als
Fahrer?" "Ja." "Nein. Wie kommen Sie darauf?" "Was haben Sie denn am - er
holte ein Notizbuch aus seiner Jackentasche und blätterte darin - am Freitag
den elften gemacht?" "Ich habe gearbeitet."
"Was tun Sie beruflich?" "Ich bin Versicherungsberater." "Sie sind sich sicher,
daß Sie an dem Tag unterwegs waren." "Wie jeden Tag in der Woche, ja."
"Wo?" "In der Stadt." "Geht es ein bisschen genauer." "Hören Sie, Herr Kommissar, wenn Sie mich vernehmen wollen, dann müssen Sie mir schon sagen,
worum es geht." "Sie meinen, dies sei eine Vernehmung?" "Nein. Und deshalb
muss ich auch keine weiteren Fragen beantworten", sagte Gerhard. Der Mann
entpuppte sich als äußerst unangenehm. (Hellwein war offenbar ein Mensch,
den man auf Anhieb schwerlich sympathisch finden konnte.) "Nein, das müssen Sie nicht. Ich gehe davon aus, daß Sie nicht auch nachts arbeiten, oder?"
"Nein. Und ich verrate Ihnen auch warum: weil meine Kunden dann schlafen."
"Und Sie nicht?" "Und ich auch."
"In dieser Nacht vom Freitag zum Samstag wurde im Krankenhaus in der Johannstadt ein Mädchen mit Verletzungen in die Notaufnahme gebracht." "Ja,
und?" "Laut einem Vermerk an der Rezeption hat ein Taxifahrer namens Gerhard Ziegler aus Prohlis das Mädchen abgeliefert." "Das kann nur ein Missverständnis sein." "Die Kleine möchte sich bei Ihnen bedanken." "Tut mir leid, ich
war das nicht." "Was?" "Der dieses Mädchen dort ... wenn es sich um eine Taxifahrt handelte, dann müssen Sie doch auch die Herkunft des Taxis kennen."
"Sie meinen, wo es herkam?"
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"Herr Kommissar, Sie brauchen mit mir nicht wie mit einem Hilfsschüler zu
reden. Mit Herkunft meine ich natürlich die Identifikation des Taxis, es muss
ja wohl eine Registrierung und einen Betreiber dafür geben." "Sie kennen sich
ja gut aus. Oh, nein, ich höre schon auf damit", sagte er und hob die Hände.
"Wollen Sie nicht wissen, was dem Mädchen passiert war?" "Was war dem
Mädchen passiert?" "Es war in einen Verkehrsunfall verwickelt." Gerhard verzog keine Miene, dann sagte er "Sie sind also extra hierher gekommen, um
mir das mitzuteilen." "Es ist meine Arbeit, die Personen zu befragen, deren
Name im Zusammenhang mit einem Delikt fällt." "Und ich versichere Ihnen,
daß ich nichts damit zu tun habe." "Würden Sie in eine Gegenüberstellung
einwilligen?" "Mit diesem Mädchen?" "Und mit der Krankenschwester aus der
Notaufnahme." "Ja, warum nicht. Aber ich würde nicht auf eigene Kosten ins
Krankenhaus fahren."
"Ich verstehe", sagte Hellwein und steckte sein Notizbuch wieder ein. "Können
Sie sich vielleicht erklären, wieso jemand Ihren Namen nennt, ich meine, sich
als Sie ausgibt?" "Ich habe keine Ahnung." "Ich frage auch, weil ich natürlich
für mich entscheiden muss, ob es sich überhaupt lohnt, das herauszufinden."
"Auch da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen." "Gut. Dann will ich Sie nicht länger belästigen." Gerhard winkte ab. "Ich lasse Ihnen meine Karte da." "Wozu?" "Das tue ich immer, solange ich noch nicht am Ende bin, am Ende der Ermittlungen meine ich." "Wie Sie wollen." "Was für ein Auto fahren Sie?" "Einen
blauen Opel Kadett." Als Gerhard aus dem Fenster schaute, sah er, wie der
Kommissar unten seinen Wagen inspizierte.
Diese Unterredung beschäftigte Gerhard offenbar mehr als ihm lieb war. Er
rief den Kriminalkommissar an und sagte, er möchte selber eine Gegenüberstellung, allerdings in unauffälliger Weise. Hellwein überlegte einen Moment,
dann sagte er "Sie begleiten mich einfach, und wir sprechen mit dem Mädchen
und mit der Krankenschwester, in Ordnung?" "Ja, gut." "Wann soll ich Sie abholen?" "Nicht nötig, ich habe sowieso in Johannstadt zu tun." Sie verabredeten eine Uhrzeit.
Er wollte Frau Smerlova Bescheid geben, damit sie bei eventuellen Verständi-
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gungsproblemen vermitteln kann, aber sie war nicht erreichbar. Die Gegenüberstellung brachte im Grunde keine brauchbaren Erkenntnisse, im Gegenteil, eher noch mehr Unklarheiten. Als Daniela tags darauf ins Krankenhaus kam, erlebte sie eine unerfreuliche Überraschung. Das Mädchen sei verschwunden, sagte die Schwester, und man konnte hören, daß sie ziemlich
sauer auf die junge Patientin ist.
"Was heißt verschwunden? Hat sie jemand mitgenommen?" "Nein. Sie ist allein losgezogen. Hier sind ihre Sachen, wenn Sie die freundlicherweise mitnehmen würden." Sie gab Daniela einen vollen Plastikbeutel. "Aber ... ist sie
etwa im Nachthemd fortgelaufen?" "Sie hat sich bei ihren Zimmergenossinnen
bedient. Wir haben jetzt drei Anzeigen wegen Diebstahl am Hals. Dankbarkeit
gehört nicht gerade zu den Stärken von denen." "Von welchen?" "Von denen,
die es nicht mal registrieren, daß man sich um sie kümmert."
"Sie sind doch versichert gegen solche Vorkommnisse." Die Schwester sah sie
beinahe verächtlich an. "Ich möchte nicht weiter darüber sprechen. Wir haben
unsere Pflicht getan." "Kann ich mal telefonieren?" "Bitte." Sie rief den Kommissar an. Während sie auf ihn wartete, kramte sie in Celines Sachen; was
sollte sie damit anfangen? Aber in der Tasche der lumpigen Jogginghose fand
sie etwas, das offenbar nicht ihr gehört.
Als Hellwein eintraf, setzten sich in die Cafeteria. Sie sagte ihm, was geschehen war. Sie hatte fast befürchtet, daß er erleichtert sei, weil sich damit alles
von selbst erledigt hatte, aber Hellwein zeigte keine Regung. Dann berichtete
er ihr von der Gegenüberstellung. Sie seien beide, er und dieser Gerhard Ziegler an Celines Bett getreten. Er habe sie gefragt, ob sie diesen Mann kennt,
und sie habe nein gesagt. "Sie hat mit Ihnen geredet?" "Sie hat nein gesagt.
Sie muss mich verstanden haben, meinen Sie nicht?" "Das ist anzunehmen.
Hat sie noch was gesagt?"
Hellwein machte eine unklare Geste. "Ziegler hat sie gefragt, wie das passiert
wäre mit dem Unfall." "Mit dem Unfall?" "Ich war bei ihm zu Hause und habe
ihm ein paar Fragen gestellt. Ich habe gesagt, das Mädchen hätte einen Verkehrsunfall gehabt." "Warum denn das?" "Das gehört zu meinen Tricks, das
verstehen Sie nicht." "Nein, wirklich nicht. Und was hat sie geantwortet?" "Sie
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hat ihn ungefähr so angeguckt wie Sie mich jetzt. Na ja, zugegeben, ich konnte nicht ganz schlau daraus werden, was sich da zwischen den beiden abspielt." "Dann hat Ihr Trick also nicht funktioniert?" "Bei Ihnen klappt sicher
immer alles."
"Lassen Sie uns nicht wieder einander angiften, Herr Hellwein." "Ich konnte ja
nicht damit rechnen, daß er plötzlich von selber eine Gegenüberstellung verlangt. Er hat Celine erzählt, er hätte selbst mal sechs Wochen im Krankenhaus
gelegen, er wüsste, daß das kein angenehmer Ort wäre, und schon gar nicht
für ein so junges, hübsches Mädchen wie sie." "Das hat er gesagt? Junges,
hübsches Mädchen?" "Wie sie, ja." "Sie hat ein blaues Auge!" "Ich weiß."
Er trank einen Schluck aus dem Kaffeebecher, dann meinte er "Merkwürdig
auch die Art, wie er das sagte, so ... so übertrieben väterlich, als wollte er etwas wiedergutmachen." Daniela sagte "So was fällt Ihnen auf?" Er strafte sie
mit einem empörten Blick. "Die Aufgabe eines Kriminalisten ist es, sich in eine
andere Person hineinversetzen zu können, um dadurch etwas über ihre innere
Verfassung zu erfahren, es ist angewandte Psychologie. Man lernt das sogar
auf der Polizeischule, aber am besten bringt man es sich selber bei."
"Sie schließen also nicht aus, daß dieser Ziegler das Mädchen kennt?" "Nachdem ich ihn zu Hause befragt hatte, glaubte ich eigentlich nicht, daß er was
damit zu tun hat. Aber jetzt ... ich bin mir nicht hundertprozentig sicher."
"Was war mit der Krankenschwester? Kennt sie ihn?" "Bei der Notaufnahme
hat ein Zivi die Daten aufgenommen, und der ist gerade nicht da. Die Schwester kann sich nicht gut erinnern, sie sagt, er könnte es gewesen sein, aber sie
würde das nicht beschwören." "Meine Güte." "Was wollen Sie, Frau Smerlova,
das ist ein Krankenhaus und kein Polizeirevier."
"Und das Taxi?", fiel ihr ein. "Gibt es nicht." "Wie bitte?" "Keins mit dieser
Nummer." "Hm, na wirklich! Wenn's ein Polizeirevier wäre, dann würden ihnen
die Ganoven wahrscheinlich jedes Weihnachten ein Präsent schicken." Hellwein fragte "Also, was schlagen Sie vor, das wir tun?" "Ich hatte ehrlich gesagt erwartet, daß Sie die Sache als erledigt betrachten." "Ja, das wäre eine
Option. Und ein ungeklärter Fall von Kindesmissbrauch mehr, der Sie bedrückt." "Machen Sie sich da mal nicht zu viele Sorgen um mich."
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"Und wenn doch?", meinte er mit veränderter Stimme. Sie sah ihn verblüfft
an, dann sagte sie scharf "Wollen Sie mich anbaggern?" "Ich bin im Dienst.
Und wenn Sie eine Kollegin wären, könnte mich das teuer zu stehen kommen." "Ach, sind Ihre Kolleginnen so prüde? Oder können Sie sich nicht beherrschen?" Er lachte, er wollte etwas entgegnen, verkniff es sich aber.
Sie dachte an die Karte, die sie in Celines Hosentasche gefunden hatte. "Was
ist, wenn ich mal zu diesem Gerhard Ziegler gehe?" "Mit welcher Begründung?
Sie müssen ihm ja irgendwas sagen." "Ich lasse mir was einfallen." "Soll ich
mitkommen?" Daniela überlegte. "Ich rufe Sie an, wenn ich Sie brauche." "Nur
damit wir uns richtig verstehen: ich bin nicht Ihr Assistent." "Oh, Verzeihung,
wenn das jetzt so rüber kam", erwiderte sie mit gespieltem Bedauern.
"Was haben Sie da in dem Beutel? Wollten Sie Celine etwas zum Anziehen
mitbringen?" "Nein, das sind ihre Sachen. Sie hat sich was geklaut, bevor sie
gegangen ist." "Dann könnten wir nicht mal eine Personenbeschreibung herausgeben." "Hatten Sie das vor?" Er überlegte. "Kann ich das mal sehen?" Sie
reichte ihm den Beutel , er warf einen Blick darauf und sah die Blutspuren.
"Was wollen Sie damit machen?" "Ich weiß nicht. Ihnen überlassen?" "Gut. Ich
nehme das mit, vielleicht lässt sich was herausfinden."
Drei Tage später hatte Gerhard schon am frühen Nachmittag seine Tour beendet und war ins Zentrum gefahren, um einen Ladenbummel zu machen.
Auch wollte er einen neuen Anlauf zum Bücherlesen nehmen und sich etwas
von einem gewissen Konsalik kaufen, der allenthalben angepriesen wurde.
Wie er in der Passage an den Auslagen entlangschlenderte, stand plötzlich ein
Mädchen neben ihm. Sie war auffällig salopp gekleidet und hatte eine riesige
Sonnenbrille mit halbgetönten Gläsern auf. Sie hatte schwarzes, wie aufgeplustertes Haar, ihre Lippen waren knallrot geschminkt, und sie lachte ihn an
mit strahlend weißen Zähnen. "Hallo", sagte sie. "Wie geht's?" "Ähm, danke
gut. Kennen wir uns?" Sie schob die Brille ein Stück hoch, und Gerhard sah
den dunklen Ring um ihr linkes Auge.
"Ah, das Mädchen aus dem Krankenhaus!" "Celine." "Haben sie dich schon
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entlassen, Celine?" "Ja, ist wieder alles in Ordnung. Lädst du mich zum Eisessen ein?" "Was? Ich bin ... ich warte ..." "Ich wette, du hast darauf gewartet,
mich wiederzusehen?" "Nein! Ich meine, wieso sollte ich? Wir kennen uns
doch gar nicht." "Das sollten wir schnellstens ändern." Sie lächelte ihn an.
"Also gut, auf ein Eis." "Da drüben ist ein Eiscafé."
Als sie bestellt hatten, sagte Gerhard "Eins musst du mir zuerst mal erzählen,
Celine: woher du kommst?" "Rate mal." "Es klingt ein bisschen wie Rumänien." "Wo ist das?" "Also nicht aus Rumänien. Ich hatte letztens eine Kundin,
die war Rumänien Deutsche, die hat so ähnlich ... na ja, oder vielleicht doch
anders." "Was hattest du mit der?" "Eine Kundin. Ich bin Versicherungsberater, ich verkaufe Versicherungen." "Wieso? Hast du zuviel davon?" Er lachte.
"Wenn man's genau nimmt, können sie mir gar nicht ausgehen." "Was kann
man damit machen?"
Die Serviererin brachte das Eis. Celine freute sich, man konnte praktisch
durch die getönten Gläser ihre Augen leuchten sehen. "Wow, sieht das toll
aus!" "Ist ja auch der größte, den sie haben." "Nein! Der zweitgrößte." "Du
bist aber bescheiden." "Was?" "Also woher kommst du?" "Warum bist du so
neugierig. Verstehst du mich so schlecht?" "Nein, ich verstehe dich ganz gut."
"Ich darf es niemand verraten. In meiner Heimat ist Krieg. Ich musste mit
meinen Eltern und meinen Geschwistern fliehen. Wir mussten alles dalassen.
Wir konnten nur nachts fliehen, tagsüber mussten wir uns verstecken. Wir
durften niemals anhalten. Meine Eltern wurden beide erschossen." Während
sie das sagte, schabte sie mit dem Löffel kunstvolle Spuren in die Eiskugeln.
Gerhard wusste nicht, ob sie ihn zum Narren halten will.
"Das ist ja ... furchtbar. Dann bist du aus Jugoslawien?" "Ist da jetzt Krieg?
Ja, du hast recht! Aus Bossjen." "Bosnien." "Na, was sag' ich denn. Oder
liegt's vielleicht an deinen Ohren." "Und du warst hier zu Besuch, als das mit
dem Unfall passierte?" Sie sah ihn bloß an und leckte mit der Zungenspitze
den Löffel ab. "Genau", murmelte sie dann.
Nach einer Weile meinte sie "Der da mit dir dabei war, ist das 'n Bulle?" "Ja."
"Bist du auch einer?" "Ich habe dir doch gesagt, ich bin Handelsvertreter."
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"Vorhin hast du was anderes gesagt." "Celine! Das ist die allgemeine Berufsbezeichnung für alle, die bei den Leuten daheim was verkaufen." "Ja, ja,
schon kapiert! Musst mich nicht gleich anschnauzen." "Ich habe dich nicht angeschnauzt." "Ich hab's ja kapiert!" "Und wohnst du jetzt hier?" Sie schob die
Sonnenbrille auf die Nasenspitze und lugte über den Rand hinweg in die Runde, als müsste sie herausfinden, wo sie ist. "Wo? Hier?", fragte sie dann. Gerhard stieß unwillkürlich einen Lacher aus, war sie nicht ganz dicht? "Ja! Da
drüben in dem Reisebüro vielleicht", rief er aus. Sie musste auch lachen.
"Du willst mich verscheißern!" "Ich würde nie ein verletztes Mädchen verscheißern, das kürzlich seine Eltern im Krieg verloren hat", entgegnete er und
konnte sein Lachen kaum beherrschen. "Würde ich mir auch nicht gefallen lassen!" Dann fügte sie hinzu "Bei Freunden." "Bitte?" "Da wohn' ich." Mit dem
Trinkhalm holte sie den letzten Rest vom zerlaufenen Eis aus dem großen
Glasbecher und ließ es dabei ordentlich röcheln. "Du hast deinen schon geschafft", stellte er fest, um es zu beenden. "Und du brauchst so lange, weil du
so viel quatscht."
Sie schaute auf die Karte. "Wo steht da der Kaffee?" Er zeigte mit dem Finger
drauf. "Hier, eine ganze Auswahl." "Was heißt'n das?" "Cappuccino." "Und das
drunter." "Latte macchiato." "Und das?" "Espresso." "Und wo steht Kaffee?"
"Das ist alles Kaffee, mehr oder weniger, das sind besondere Kaffee Zubereitungen. Wie alt bist du?" "Alt genug, daß ich mich von dir nicht verscheißern
lasse." Gerhard winkte ab. Sie schob die Brille hoch, beugte sich tief über die
Karte und starrte angestrengt darauf. Da erbarmte er sich. "Möchtest du etwas davon?" "Ja. Was mit Kaffee."
Er bestellte einen Latte macchiato. Sie schüttete massenhaft Zucker hinein.
"Da war vorher schon so eine Tussy da." "Wo?" "Da im Krankenhaus. Die wollte auch wissen, wo ich herkomme. Warum wollen hier immer alle wissen, wo
ich herkomme?" "Und was hast du ihr erzählt?" "Nichts. Geht niemand was
an. Ich frage die Leute doch auch nicht, wo sie herkommen. Interessiert mich
auch 'n Scheiß."
"Bist du in die Schule gegangen, bevor du hergekommen bist?" "Warum
frags'ten jetzt so'n Quatsch? Klar bin ich in die Schule gegangen." "Weil du
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offenbar ziemlich schlecht lesen kannst." "Passt dir was nicht an mir? Klar bin
ich in die Schule gegangen! Andauernd!" "Es ist mir bloß aufgefallen, ich weiß
nicht, ob mir das nicht passt." "Na dann frag' doch nicht so was, wenn du
nicht mal weißt, ob's dir passt oder nicht." Er fuhr auf. "Na gut! Wenn du's genau wissen willst: Ja! Es macht mich stutzig, daß ein Mädchen in deinem Alter
nicht mal eine Eiskarte lesen kann."
Sie streckte ihm die Zunge raus. "Na und! Vielleicht ist es ja bloß 'ne Eiskarte,
die ich nicht lesen kann! Und alles andre kann ich lesen!" Sie setzte noch eins
drauf. "Und wie soll ich den Eisbecher gelesen haben, den ich bestellt habe?
Häh?" "Ach hör' doch auf, Celine! Da sind lauter Bilder davon drauf, da hast
du dir das größte ausgesucht." "Es war nicht das größte! Wenn du selber richtig lesen könntest, hättest du das gesehen!" Sie schlug mit ihrer kleinen Faust
auf den Tisch, daß die Tasse klapperte. "Oh, du kannst so gemein sein!",
presste sie hervor. Sie war nahe dran loszuheulen.
Aber stattdessen bekam sie einen schrecklichen Hustenanfall, der ihr die Brust
zusammenzudrücken schien. "Ist alles in Ordnung, Celine?" "Nein!" Sie wühlte
in der Tasche ihrer Sportjacke und brachte ein kleines, braunes Fläschchen
zum Vorschein, schraubte hastig den roten Verschluss ab, warf den Kopf nach
hinten und kippte den Inhalt hinunter, aber es war nichts mehr drin. "Mist!
Leer." "Was ist das?" "Das muss ich nehmen!"
Ohne mit husten aufzuhören, hielt sie ihm das Fläschchen vor Augen und
tippte mit dem Finger drauf. "Davon muss ich jede Stunde einen Löffel nehmen! Öhö, öhö! Zwei, wenn's ein kleiner ist. Der Arzt hat gesagt, wenn ich's
nicht jede Stunde nehme, kann ich verrecken! Öhö, öhö, öhö! Du hast doch
keine Ahnung, Mann!" "Zeig' mir's mal." Sie riss es an sich. "Nein!", schrie sie.
Gerhard brach der Schweiß aus, sie war wirklich verrückt. Sie schaute sich
um. "Kannst du mir eine volle besorgen? Öhö, öhö!" "Ich glaube, da vorn ist
eine Apotheke. Hast du das auf Rezept gekriegt?" "Mann, wegen meinen Husten hab' ich das gekriegt, merkst du überhaupt noch was!" "Ja, ja, jetzt beruhige dich." Der Husten ließ nach, sie keuchte, sie umklammerte das Fläschchen so fest, daß ihre Fingerknöchel schneeweiß hervortraten.
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"Ich hole dir ein neues." "Versprich mir's!" "Ja." "Schwöre!" "Jetzt hör auf! Gib'
mir's, ich will sehen, ob man ein Rezept braucht." "Jede Stunde brauch' ich
es." Er schaute demonstrativ auf die Uhr. "Wir haben noch fünfzehn Minuten!"
Das wirkte schlagartig. "Ehrlich?" "Ich schwör's, solange kann dir nichts passieren." "Wieviel von 'ner Stunde ist das?" "Eine Viertelstunde, genug Zeit."
"Hier", sagte sie und gab ihm zögernd das Fläschchen. Der Husten war weg.
Dann sagte sie "Bist du sauer auf mich?" "Weswegen denn?" "Wegen der blöden Eiskarte." "Was? Nein!" "Ich kann lesen!" "Ich glaub' dir's." "Wieviel Zeit
ist noch?" "Jede Menge, über zehn Minuten. Ich werde bezahlen, und dann suchen wir die Apotheke." "Hast du nicht gesagt, da vorn ist eine?" "Ja." "Dann
müssen wir doch nicht erst suchen." "Nein. Du hast recht. Wir gehen hin und
holen ein volles Fläschchen." "Ja gut. Mann, bin ich froh, daß ich dich getroffen hab' und daß du weißt, wo die Atopeke ist, Mann hab' ich ein Glück!"
"Ja, ich bin auch froh."
Sie blickte abermals über den Brillenrand in die Runde. "Hast du vielleicht
auch irgendwo ein Telefon entdeckt?" "Ja, dort an der Ecke." "Was meinst du,
bleibt noch genug Zeit, damit ich mal telefonieren kann?" "Ich denke schon,
wenn es nicht zu lange dauert." "Ich will bloß meinen Freunden Bescheid
sagen, wann ich komme." "Ja, gut."
Sie erhob sich, stieg so umständlich über den Stuhl, daß sie die Beine spreizen musste und wandte sich in Richtung Telefon. "Ach so. Hast du zufällig 'n
bisschen Kleingeld?" Gerhard gab ihr ein paar Münzen, sie fragte "Reicht das
auch?" "Für ein Ortsgespräch ja. Du willst doch nicht nach Bosnien telefonieren, oder?" "Blödmann." Sie steckte das Geld ein und ging hinüber.
Gerhard sah, wie sie den Hörer abnahm und eine Weile ans Ohr hielt. Dann
kam sie wieder. "Mist! Meine Freunde sind heute nicht da." Gerhard winkte
der Serviererin und zahlte, sie bedankte sich für das Trinkgeld. Sie gingen zur
Apotheke und kauften ein Fläschchen Hustensaft, es war nicht genau derselbe, und Celine regte sich auf und meinte, sie brauche unbedingt denselben,
der andere würde nichts nützen, aber als Gerhard sagte, den oder gar keinen,
willigte sie schließlich ein. Sie steckte das Fläschchen sofort in die Tasche.
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"So, das war's dann", sagte Gerhard, und Celine meinte "Kann ich mit zu dir
kommen? Meine Freunde sind doch nicht da, und ich soll abends nicht allein
draußen rumlaufen." "Nein, das geht nicht. Tut mir leid." "Aber wo soll ich
denn hin?" Er zuckte mit den Schultern, sie sagte "Außerdem hab' ich keinen
Löffel dabei." "Was?" "Für den Hustensaft! Das hast du natürlich schon wieder
total vergessen! Ich bin dir egal, ich hab's immer gewusst!"
"Du bist eine Nervensäge!" Sie musste lachen. "Such' dir was anderes. Bei mir
kannst du jedenfalls nicht übernachten." "Bitte! Ich könnte auch was für dich
tun." "Was soll das denn heißen? Willst du bei mir abwaschen?" "Ich dachte
an was anderes, aber wenn's sein muss." "Hör' auf mit dem Unsinn! Wir trennen uns hier. Und versuche nicht mir nachzulaufen." "Wir können uns nicht
trennen! Öhö, öhö! Wenn wir uns trennen, muss ich dir nachlaufen, so ist das
bei mir, ich kann nichts dagegen machen. Öhö, öhö, öhö!" "Nimm' was von
dem Hustensaft." "Ich hab' keinen Löffel, öhö, öhö!" "Mensch, nimm' einfach
einen Schluck." Sie tat es.
Dann hakte sie sich bei ihm ein. "Ich verspreche, morgen früh bin ich weg. Ich
bin auch ganz still. Ich brauch' auch nichts zu essen, bin sowieso noch satt
vom Eis. Bitte!" Sie gingen ins Parkhaus, wo Gerhards Wagen stand. Draußen
war es schon dunkel. Als sie auf der Dohnaer Straße waren, fragte Celine
"Kann ich mal fahren?" "Bist du nicht bei Trost!" "Aber ich kann fahren!", sagte sie mit Nachdruck, dann fügte sie hinzu "Sogar besser als lesen."
*****
Der ganze Roman erhältlich auf: www.fuchsgotha.de/walden
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Dorothea Merian's
Erinnerungen an ihre Mutter
Maria Sibylla Merian ist vor allem durch ihre Blumenbilder, aber auch durch
ihre Illustrationen zur Metamorphose der Schmetterlinge berühmt geworden.
Sie lebte in der Epoche, die wir heute als die Zeit des Barock bezeichnen und
die nach dem unseligen Jahrzehnte langen Krieg, der Europa verwüstete und
politisch neu formierte, den Künsten und den Wissenschaften, aber auch dem
globalen Handel einen enormen Aufschwung brachte.
Davon war auch Merians künstlerische Arbeit geprägt, welche sie u.a. bis in
die niederländische Kolonie Surinam führte, wo sie mit Pinsel und Farben den
Zauber der exotischen Pflanzenwelt aufs Papier bannte.
*****
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LESEPROBE
Dorotheas Mutter Maria versprach sich viel von der neuartigen Erfindung, die
man "Vergrößerungsglas" nannte oder auch das "Auge des Polyphem". Sie
wohnten damals in Utrecht, und eines Tages kam ein Wanderarzt, bessergesagt ein Quacksalber in die Stadt und gab auf dem Markt eine Vorstellung.
Er pries etliche seiner Arzneien und Wundermittel an, und er hatte dieses "Auge des Polyphem" dabei, das er, bevor er es endlich präsentierte, mit vielen
überschwänglichen Worten ankündigte, um es spannender zu machen. Die
Sache lief schließlich darauf hinaus, daß er sich ein riesiges Vergrößerungsglas
- heute sagt man gemeinhin Lupe oder Linse dazu - vor sein Auge hielt, welches dadurch wahrhaftig vielfach größer auf die Zuschauer blickte. Nicht wenige wichen erschrocken zurück, einige Frauen kreischten, zwei, drei Männer
zückten sogar ihren Degen gegen den Wunderdoktor.
Inzwischen, da diese Instrumente häufiger im Gebrauch sind, kennt man den
Anblick zur Genüge und man weiß, daß es sich zwar nicht um einen Zaubertrick oder um eine optische Täuschung handelt, aber auf gewissen physikalischen Gesetzen beruht und mit dem Polyphem sowenig zu tun hat wie das
Feuer im Küchenherd mit dem Vulkanos.
Bei jener Vorstellung - dessen erinnerte sich Dorothea noch genau - hatte des
Doktors monströses Auge auch einige zum Lachen gebracht; es sah gar zu
drollig aus, wie die Pupille über die Gesichter der anderen huschte, als würde
sie nach etwas suchen, das sie verloren hat. Dorothea schien, er wäre selber
noch ein bisschen unsicher im Umgang mit seinem seltsamen Instrument.
Jedenfalls behauptete er, damit zum Beispiel die Läuse auf dem Kopf erkennen zu können, die bekanntlich für das bloße Auge viel zu klein sind. Sogar ihre Brut - er nannte sie "Eier" wie bei den Hühnern - welche die Läuse zwischen
den Haaren auf dem Grund der Kopfhaut ablegten, könnte er angeblich damit
"zählen". Das schien die Leute zu belustigen. Keiner von ihnen hatte jemals so
etwas wie Eier auf dem Kopf eines andern erspäht; Dorothea musste sehr kichern bei diesen Worten. Sie stellte sich vor, wie die Läuse auf dem Kopf um-
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herlaufen und wie die Hühner darauf scharren, was es dann so unangenehm
jucken lässt.
Ihre Mutter Maria war - allerdings aus anderem Grund - so davon beeindruckt,
daß sie auf der Stelle ein Vergrößerungsglas haben wollte, natürlich um damit
die Dinge, die sie zeichnete, besser betrachten zu können. Dieser Quacksalber
handelte freilich nur mit seinen Arzneien und nicht mit Lupen, für welche es
damals noch wenig Verwendung und die auch nicht ganz billig waren. Zu der
Zeit verfügte sie über etwas Geld, das sie gespart hatte, und das sie jetzt bereit war, dafür auszugeben. Sie erkundigte sich, wo man ein Vergrößerungsglas kaufen kann, und erfuhr, daß es in Amsterdam mittlerweile einige Linsenschleifer gibt, die sich damit befassen.
Womöglich wollte sie damit auch der Gefahr vorbeugen, daß sich ihre Augen
wegen der oft stundenlangen Zeichnerei vorzeitig erschöpfen und ihre Sehkraft einbüßen, auf die sich all ihre Kunst gründete, oder zumindest der größere Teil davon. Denn auch ihr Vater, der selige Matthäus Merian, fürchtete
sich am meisten davor, zu erblinden oder auf den Augen so schwach zu werden, daß er seiner Arbeit nicht mehr nachkommen könne. Von allen Organen
schätzte er die Augen am meisten; er dankte jeden Morgen Gott, daß er ihn
die Welt erblicken ließ wie am Vortage. Es war kein noch so geringes Anzeichen zu erkennen, das auf eine Schwächung hindeutete, aber je älter er wurde, umso mehr machte er sich darauf gefasst.
Matthäus Merian sagte, ein Komponist (oder "Tonkünstler", wie er ihn treffender nannte) könnte notfalls seine Werke auch schaffen, wenn er blind wäre.
Die meisten und die besten Tonkünstler wären in der Lage, mit geschlossenen
Augen das Klavier zu spielen. Es wäre ohne weiteres möglich, daß ein anderer
die dazugehörigen Noten aufschreibt. Ein Dichter könnte seine Worte und Sätze diktieren, falls er sein Augenlicht einbüßte, und einer der größten Dichter
der Menschheit, nämlich Homer, ist bekanntlich blind gewesen. Aber ein Maler
oder Kupferstecher kann seine Kunst nicht mehr ausüben, wenn er nicht sehen kann, wie seine Hände das Bild schaffen. Deshalb seien für einen Kupferstecher seine Augen das höchste Gut.
Sie begaben sich also nach Amsterdam zu dem bezeichneten Linsenschleifer.
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Er wohnte in einem Haus an der Willemsgracht, unweit des sogenannten
Schwedischen Depots. An das Haus schloss sich eine ganze Werkstatt an, zu
welcher er aber jedem Unbefugten den Zutritt verwehrte. (Überhaupt wurde
damals das Handwerk der Herstellung optischer Linsen von einigen wenigen
Spezialisten betrieben, die mit Argwohn und Verschwiegenheit bemüht waren,
ihr Wissen und ihre Fertigkeiten für sich zu behalten.)
Dieser Mann ließ vom ersten Moment an erkennen, daß er nicht gewillt war,
einer Frau - im wörtlichen Sinne - Einblick in das Geheimnis der optischen
Phänomene zu gewähren, geschweige denn, ihr eins von seinen Instrumenten
zu verkaufen. Er behauptete, Frauen sind "von Natur aus und durch Gottes
Beschluss" nicht dafür geschaffen, ihren Verstand zur Erforschung und Beschreibung des Kosmos zu verwenden.
Denn dieser Kosmos ist Gottes eigenes Werk, das zu erkennen und zu begreifen er, Gott selbst, dem Manne vorbehalten hat, der dafür mit den nötigen
Geisteskräften samt ihrer Hilfsmittel (wie unter anderen die Logik und die
Sprache) ausgestattet worden ist, während das Feld, das die Frau im irdischen
Leben zu bestellen hat, die Familie ist, um deren Erhalt und Fortbestand sie
sich treulich und gewissenhaft kümmern sollte.
"Wie ich sehe, haben Sie selbst ein Kind." Er deutete auf Dorothea, die von
seiner Art, mit ihrer Mutter zu sprechen, sehr befremdet war. "Ich habe das
Glück", erwiderte Maria Sibylla, "auch noch eine zweite Tochter zu haben,
ebenso liebreizend wie diese." "Das freut mich für Sie. Und ich höre heraus,
daß Sie ein frommer Mensch sind und gewiss dem allmächtigen Schöpfer dafür danken, daß er Sie so fruchtbar gemacht hat. Sie sollten sich damit zufrieden geben und nicht danach trachten, den Kreis ihrer gottgewollten Bestimmung zu verlassen und die Grenzen zu übertreten, die dem Weib hienieden
gesetzt sind. Es käme dabei ja doch nur hirnloser Brei heraus, wenn Sie anfingen, sich mit solchen Dingen wie den optischen Eigenschaften des Lichts zu
beschäftigen."
"Danach steht mir auch gar nicht der Sinn", gab Dorotheas Mutter zurück, "ich
möchte dieses Vergrößerungsglas dafür verwenden, die Objekte, die ich in
meinen Zeichnungen abbilde, besser betrachten zu können und vor allem ihre,
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dem bloßen Auge oft verborgenen Details zu erfassen. Muss ich dafür erst Ihre
Wissenschaft studieren oder - um im Bilde zu bleiben - es wagen, die Grenzen
zu übertreten, die Sie, verehrter Meister, offensichtlich in Ihrem eigenen Dünkel um sich gezogen haben?"
Dem andern blieb der Mund offenstehen; Maria Sibylla hatte es nach seiner
geringschätzigen Belehrung gleich aufgegeben, noch etwas Wohlgefälliges von
ihm zu erwarten. Er wies die beiden mit einer nicht eben höflichen Geste aus
seinem Haus, aber Maria Sibylla war eigentlich froh, daß er ihre Worte nicht
als Beleidigung aufgefasst und sie deswegen bezichtigt hätte.
Als sie durch den Korridor zur Straße gingen, rief mit verhaltener Stimme eine
Magd hinter ihnen her, sie sagte "Verzeihen Sie, wenn ich mich einmische, ich
habe gehört, was Sie suchen. Im Judenviertel gibt es einen Gelehrten, der
sich, des Broterwerbs wegen, mit der Linsenschleiferei befasst, vielleicht kann
der Ihnen weiterhelfen." Sie nannte seinen Namen und die Adresse, und Maria
Sibylla bedankte sich.
Etwas von dem, was der unfreundliche Mann gesagt hatte, war ihr in Gedanken hängengeblieben, und zwar das Wort "Kosmos", mit dem er offenbar die
ganze göttliche Schöpfung meinte, die Natur und Kreatur, mithin die ganze
sichtbare und unsichtbare, aber gleichwohl vorhandene Welt. So jedenfalls
fasste Maria Sibylla für sich mit dem Begriff Kosmos alles zusammen, was
irgendwie Berechtigung hatte, darin untergebracht zu werden und zu welchem
solche Erfindungen wie das Vergrößerungsglas einen Zugang verschaffen
könnten.
Und es gab zwei Arten dieses Kosmos, oder genauer gesagt, zwei Sphären,
die gleichwertig waren und sich nur dadurch unterschieden, daß sie sich hinsichtlich seiner Ausdehnung an entgegengesetzten Enden befanden. Und das
eine Ende hieß Mikrokosmos, das andere Makrokosmos. An dem einen waren
die kleinsten Teilchen zu finden, die kleinsten Wesenheiten, am andern die
größten. Am einen die Atome, von denen Demokrit schon vor zweitausend
Jahren geschrieben, am andern die Gestirne des Universums, die der treffliche
Kopernikus in "ein System der Beharrlichkeit in der Bewegung" gebracht hatte, wie es Dorotheas Onkel einmal nannte, der selbst in der Natur- und Him-
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melskunde bewandert war.
Und es waren nicht eigentlich zwei Enden im Sinne von Endpunkten, an welchen etwas zum Abschluss käme, sondern es waren offene, scheinbar niemals
enden wollende Pfade, in deren Richtung sich die ganze unteilbare Schöpfung
ausbreitete und in deren Richtung man sich bei ihrer Betrachtung mit seinen
Sinnen und seinem Verstand womöglich in der Unendlichkeit verlieren konnte,
wenn man nicht zugleich die richtigen Gedanken dazu formulierte, an denen
man sich festhalten konnte wie an dem Geländer einer Brücke über einer
schier unergründlichen Wirklichkeit.
Es schien, daß jener ansonsten wenig erfreuliche Besuch bei dem Mann in der
Willemsgracht ihr wenigstens dieses eine bedeutsame Wort eingebracht hatte,
das geeignet schien, eine Art Überblick zu gewinnen und zu behalten, um die
Objekte ihrer Kunst, die Blumen und Früchte, die Käfer und Schmetterlinge
und all' das vielartige Gewächs und Gekreuch in einen größeren, weiteren Zusammenhang einzuordnen, aus welchem sie - selbst durch den vergleichsweise harmlosen und unschuldigen Eingriff, den eine bloße Zeichnung bedeutete - nicht einfach herausgerissen werden konnten, ohne daß dabei von ihrem einzigartigen Wesen etwas verlorenginge.
Natürlich kam für ihre Mutter dabei von beiden Sphären allein der Mikrokosmos in Betracht. Und wenn später gelegentlich Bewunderer ihrer Werke (oder
auch Kritiker, die es ja durchaus gab) eine gewisse Detailversessenheit in ihren Darstellungen konstatierten und meinten, sie hätte in ihrem Bestreben,
alle Einzelheiten und Kleinigkeiten wiederzugeben, den Blick für das Ganze
verloren, dann dachte Dorothea jedesmal, daß es ja genau dieses Ganze war,
das sich in jedem noch so winzigen und unscheinbaren Bestandteil widerfinden lassen sollte.
Der andere Linsenschleifer im Judenviertel war nicht leicht zu finden, und Dorothea und ihre Mutter mussten sich mühsam durchfragen, bis sie zu seinem
Haus kamen. Selbst dort deutete nichts darauf hin, daß er da wohnte. Ein
kleiner Junge zeigte ihnen den Eingang zu einer Kellerwohnung, sie stiegen
eine steinerne Treppe hinab und Dorothea umklammerte die Hand ihrer Mutter.
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Als Maria Sibylla an die Tür klopfte, hörte man von drinnen eine Stimme. "Wer
ist da?" Sie nannte ihren Namen und sagte, weshalb sie gekommen sei. Der
Mann öffnete und man blickte in einen finsteren Raum, der nur schwach von
ein paar Kerzenlichtern erhellt wurde. Dorothea scheute sich hinein zu gehen,
aber der Mann sagte "Wartet, ich mache gleich etwas Licht", und das klang so,
als würde er es aus einem Krug oder einem Sack hervorzaubern wollen.
Er stieg auf einen Stuhl und öffnete die Luke vor dem wohl einzigen Kellerfenster, das kaum größer war als eine Ofenklappe, und doch geschah etwas
Wundersames. Der hereinfallende Lichtstrahl überflutete den ganzen dumpfen
Kellerraum mit einer angenehmen Tageshelle. Der Mann löschte die Kerzen,
und Dorothea sah, daß überall Spiegel aufgestellt und aufgehängt waren, welche durch ihren Widerschein das kärgliche Licht der Fensteröffnung um ein
Vielfaches vermehrten.
Jetzt erst konnte man Gestalt und Antlitz des Mannes erkennen. Er war
schlank und trug ein langes, dunkles Gewand, das an mehreren Stellen ausgebessert war. Er hatte schmale Hände mit langen Fingern, die dem Mädchen
ein bisschen gruselig anmuteten. Er hatte tiefschwarzes Haar, das ihm fast bis
auf die Schultern reichte und an manchen Stellen wie Tinte schillerte, er hatte
ein ebenso schmales Gesicht mit einem dünnen Bärtchen am Kinn und über
den Mundwinkeln, und die hohlen Wangen gaben ihm einen Ausdruck von
Auszehrung.
"Setzen Sie sich", sagte er und wies auf eine Bank an der Längsseite des Tisches, auf dem, wie überall im Raum, Bücher gestapelt waren. Und wie er ihnen so gegenüber saß, dachte Dorothea, er sähe aus wie Jesus Christus in
Emmaus, jener Geschichte, die sie aus dem Evangelium kannte. Doch sein
Name war Espinoza, er nannte sich selbst einen "Ex-Juden", und das war in
mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.
Seine Familie (über die er ansonsten kein weiteres Wort verlor) stammte
demnach aus Spanien, von wo sie bei der Rückeroberung durch die Katholiken
in die niederländischen Provinzen geflüchtet war, welche sich bekanntlich von
der Herrschaft und Knechtschaft der spanischen Krone befreit hatten. Die
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Amsterdamer Jüdische Gemeinde hatte ihn exkommuniziert, weil er mit seiner
eigentümlichen und unerhörten Philosophie seine Glaubensbrüder gegen sich
aufgebracht hatte, obwohl er, wie er selbst beteuerte, niemals die Absicht gehabt hätte, die alte jüdische Lehre zu verwerfen oder gar zu verdammen, sondern sich als ein Erneuerer derselben ansehe, denn seine Überzeugung war,
daß man den Glauben, um ihn lebendig zu halten und nicht in leeren Floskeln
und Ritualen erstarren zu lassen, von Zeit zu Zeit (er dachte dabei an Generationen) an den Fortschritt der menschlichen Vernunft und an die Bedürfnisse
der Gemeinschaft anpassen müsse.
Aber in den Augen der anderen hatte er dabei das ganze Gebäude des Judentums in seinen Grundfesten erschüttern wollen, sie warfen ihm vor, Gott
selbst zu lästern, und als sie sahen, daß er nicht bereit war, seiner Lehre abzuschwören, hatten sie ihn aus der Gemeinde ausgestoßen, was dazu führte,
daß er hier in diesem Keller hausen musste, weil er sich zum einen nichts Besseres leisten konnte, und weil er hier zum anderen vor den Belästigungen
seiner ehemaligen Genossen sicher war. Denn auch wenn sie ihn behandelten
wie einen Verräter, so war er doch seinerseits nicht gewillt, sich vertreiben zu
lassen, "denn nur Gott kann mich erniedrigen oder erheben", sagte er, "nur
Gott führt mich in die Gefangenschaft oder in die Freiheit".
Dorothea verstand nicht viel von seiner Rede, sie fragte "Haben Sie das mit
den Spiegeln selber gebaut?" "Ja, mein Kind", antwortete er und erklärte weiter "das sind keine gewöhnlichen Spiegel, sondern sie haben eine gewölbte
Oberfläche, dadurch verteilen sie die Lichtstrahlen besser im Raum. Wenn du
in einen hineinschaust, würdest du dich wundern, was er dir zeigt." "Darf ich
mal?", fragte sie. "Selbstverständlich. Nimm' den da, steig' auf den Hocker."
Sie tat es, und was sie sah, brachte sie zum Lachen. Ihr Spiegelbild machte
sie zu einem kleinen, breitgezerrten Kobold, mit Armen und Beinen dick und
fett wie Sülzwurst, mit aufgeblasenen Backen und einem Grinsemaul, aus
dem ihre so anmutigen Zähne wie bedrohliche Hauer herausragten. "Machen
Sie das auch? Ich meine, in diesen Spiegel schauen."
Espinoza lachte, seine Zähne waren auch so schon unansehnlich genug, "Oh
ja, meine Kleine, damit tröste ich mich über allen Ärger hinweg." "Vielleicht
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hat Ihnen Gott das gegeben, damit Sie über sich selbst lachen können." Maria
Sibylla sagte "Dorothea! Sei nicht unhöflich." "Ich wollte Sie nicht kränken",
sagte das Mädchen unbekümmert. "Nein, das hast du nicht", sagte Espinoza,
und man sah, daß er seine Freude an dem Kind fand.
"Was ist das?", fragte Dorothea und deutete auf ein Gebilde, das an der Wand
hing; es bestand aus einigen schnurgeraden, glatten Leisten, die mit Markierungen bezeichnet und beweglich miteinander verbunden waren. "Das ist ein
Instrument zur Berechnung von mathematischen Aufgaben", sagte Espinoza,
"ein deutscher Gelehrter hat es mitgebracht, als er mich besuchte." "Und dann
hier vergessen?" "Nein, er hat es mir überlassen. Er hatte es selbst von einem
Franzosen, der eine neue Methode der Geometrie erfunden hat."
"Und wie funktioniert es nun?", fragte Dorothea, und Espinoza erwiderte "Tja,
wenn ich das wüsste." Zu Maria Sibylla gewandt meinte er "Leider bin ich, was
die Mathematik betrifft, nicht sehr begabt. Für einen Juden bin ich sogar ein
ausgesprochen miserabler Schachspieler." Dorothea sagte "Ich könnte es Ihnen beibringen." "Tatsächlich?" "Ja, ich kann gut Schach spielen, nicht wahr,
Mama?" "Das stimmt", bestätigte sie. "Und was würdest du dafür verlangen?"
"Verkaufen Sie meiner Mama so ein Vergrößerungsglas."
"Hm. Du meinst, ich soll ihr eins schenken?" "Nein", sagte Dorothea, "wir bezahlen es. Ich kann ja doch nicht jedesmal zu Ihnen herkommen." "Nun, wir
könnten uns unsere Züge per Post zuschicken", schlug er vor, und das Mädchen schmunzelte. "Sie meinen, ich schreibe Ihnen einen Brief, in dem steht
dann 'Springer auf g drei' und Sie schreiben zurück 'Läufer auf e sieben' oder
so ähnlich." "Zum Beispiel." "Das wäre ganz schön umständlich und auch
ziemlich aufwändig, finden Sie nicht?"
Maria Sibylla mischte sich ein. "Natürlich will ich es bezahlen. Ich müsste nur
sicher sein, daß es mir auch von Nutzen ist." "Oh, darauf können Sie sich verlassen", beteuerte Espinoza und holte ein paar von den Vergrößerungsgläsern
herbei, die in Messingringe eingefasst und mit einem handlichen Griff versehen waren. "Probieren Sie diese aus", sagte er und legte dazu einige Gegenstände auf den Tisch, darunter ein aus Seide gewebtes Taschentuch, ein getrocknetes Seepferdchen und ein Medaillon von der Größe einer Fünf Gulden
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Münze, auf dem angeblich en miniature eine mythologische Szene gemalt
war.
Unter dem Glas konnte man auf dem Seidentuch die einzelnen Gewebefäden
unterscheiden, die offenbar dünner als ein Haar waren, und Espinoza erklärte,
daß sich bei diesem kostbaren Tüchlein auf einer Fläche "so groß wie ein Daumennagel" mehr als tausend solcher Fäden kreuzen. Bei dem Seepferdchen
(das Dorothea besonders gefiel) konnte man alle Feinheiten der Haut erkennen, die fast wie eine wild zerfurchte felsige Landschaft anmutete, und auf
dem Medaillon sah man den Jüngling Paris in Ritterrüstung, wie er die Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite betrachtet, die ganz nackt waren und mit den
Reizen ihrer Weiblichkeit nicht geizten.
Maria Sibylla entschied sich für eins, das ihr für ihre Arbeit am besten geeignet schien; sie wurden sich rasch einig über den Preis, und zuletzt schenkte
Espinoza der Tochter das Seepferdchen, das sie auch später noch an die
Bekanntschaft mit dem merkwürdigen Amsterdamer Juden erinnern sollte.
Warum hatte er sich mit seinen Schriften bei seinen Glaubensbrüdern überhaupt so unbeliebt gemacht, daß sie ihn mit Verachtung straften und ihn
einen Abtrünnigen nannten, der es nicht länger wert sei, den Schutz und Zusammenhalt ihrer Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen? Sie warfen ihm vor,
ihren Gott nicht nur verunglimpft, sondern seine Existenz geradezu geleugnet
zu haben. In ihren Augen war Espinoza ein Atheist, ein Ungläubiger, und zwar
einer, der von Blutes und Stammes wegen einmal zu ihnen gehört hatte, was
seinen Abfall von Gesetz und Glauben zu einem Akt der Auflehnung und der
Gewalt gegen sein eigenes Volk machte.
Hätte er das im Wahnsinn getan, wie von einem bösen Dämon ergriffen, der
ihm den Verstand raubte und ihn zu einem willigen Werkzeug des Frevels und
der Sünde verrohen ließ, dann hätte man ihn vielleicht von eigener Schuld
freisprechen und ihm den Dämon austreiben können. Doch was er sagte und
in seinen Schriften äußerte, das war von großer Klarheit und von Scharfsinn
erfüllt, und allein der durchdachte und bis in die kleinste Anmerkung stringente Aufbau seiner Traktate ließ keinen Zweifel an der völligen geistigen Unversehrtheit und am untrüglichen Urteilsvermögen des Verfassers.
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Später sagte ein Freund Maria Sibyllas zu ihr, als sie sich darüber unterhielten: die Juden seiner Amsterdamer Gemeinde hätten Espinoza lieber zu ihrem Oberrabbiner oder wenigstens zu ihrem geistigen Wortführer und Schriftgelehrten machen sollen, das wäre klüger gewesen und sie hätten sozusagen
zwei Fliegen mit einer Klappe erschlagen. Sie hätten sich die, letztlich vergebliche, Mühe erspart, den Renegaten mundtot zu machen; und sie hätten sich
im Gegenteil damit rühmen und brüsten können, einen Philosophen von europäischem Rang in ihrer Gemeinde zu beherbergen. Denn das, so meinte der
Freund rückblickend, sei Espinoza trotz aller Schmähungen seiner Gegner unzweifelhaft geworden und keiner, der sich ernsthaft mit der abendländischen
Geisteskultur befasst, würde an ihm vorbeikommen oder ihn als einen boshaften Querulanten abtun können.
Jedoch hätten, so fügte dieser Freund hinzu, die Juden mit ihrer Freiheit und
Originalität - ja man möchte fast sagen, mit ihrer bewundernswerten Unverschämtheit des Denkens und ihrer Gedanken immer schon im Widerspruch zu
ihrem orthodoxen Glauben gestanden, zu ihrer Intoleranz und ihrem Pharisäertum, das ihnen von alters her bei Strafe verbietet, auch nur ein Jota an
ihrer Offenbarung zu ändern.
Maria Sibylla hatte nie genügend Zeit und Muße gefunden, Espinozas Werke
zu studieren, aber in Gesprächen mit Freunden wie diesem hatte sie viel darüber erfahren, zumal ihre Freunde meistens mit den Dingen, über die sie redeten, bestens vertraut waren. Es gab strenggenommen drei Themen, über die
ihre Mutter sich am liebsten mit anderen, und natürlich am besten mit Experten auf dem Gebiet, unterhielt. Das war die Malerei, die Botanik und etwas,
das erst nach dem Ende des schrecklichen Krieges ins Interesse der Denker
gerückt war und das man Theosophie nannte.
Diese Theosophie war, wie der Name es andeutet, aus der Theologie und der
Philosophie hervorgegangen, und man konnte sie als eine Wissenschaft von
Gott und Welt bezeichnen, die sich allerdings nicht auf die herkömmliche Religion gründete und daher die Religion auch nicht zur Voraussetzung hatte.
Praktisch jeder Mensch konnte sich mit der Theosophie befassen, der sich
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fragt: Was ist Gott? Und nach Antwort darauf sucht, und es bedurfte keines
expliziten Glaubensbekenntnisses, um dazu berechtigt zu sein, sondern nur
eines vernunftbegabten Individuums. Es bedurfte auch keiner besonderen Institution, die es erlaubte oder verbot, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen,
und das machte diese junge (und doch eigentlich schon weit zurückreichende)
Wissenschaft in den Augen der Religionshüter gleich welcher Provenienz zu einem Hort des Ketzertums - so wie sie andererseits jede Menge Anhänger fand,
die sich mit ihrem Laientum, ja mit ihrem Dilettantismus nicht zu schämen
brauchten.
Denn indem sie den Anspruch erhob, eine eigenständige Wissenschaft zu sein,
die nur der Anschauung und der Vernunft verpflichtet war, sagte sie sich los
von der Herrschaft und Beherrschung durch eine Obrigkeit, die ihre Legitimität
bloß aus einem Kodex von Vorschriften und Dogmen ableitete, auf den sie ihre
Untertanen einschwor und den in Frage zu stellen oder gar anzuzweifeln sie
ihnen bei Strafe und Verdammnis untersagte.
Dorotheas Onkel Frederick (Maria Sibyllas nur wenig älterer Stiefbruder, auf
dessen Vermittlung hin ihre Mutter später mit ihr und ihrer älteren Schwester
Helena nach Schloss Waltha im Friesischen Land gehen wollten) hatte einmal
versucht, Dorothea zu verdeutlichen, worin das Neu- und Andersartige der
Theosophie lag.
Einer der Punkte, an dem sich die Geister schieden und woran ihr Streit entbrannte, war dieser: bislang hatte man sich Gott als überirdisches Wesen, sogar als Menschwesen, vorgestellt, wie er beispielsweise am Firmament der
Sixtinischen Kapelle von Michelangelo dargestellt wurde, der sich dabei auch
nicht gescheut hatte, ihm antikisch-moderne Züge zu verleihen und ihn in der
Gesellschaft jugendlich schöner, wenngleich unnahbar dreinblickender Begleiterinnen zu zeigen.
Und genaugenommen hatte doch jeder Gläubige (zumal da er noch ein Kind
war, das sein Gebet an Gott richtete) ihn seit Anbeginn als den Mann mit dem
langen weißen Bart betrachtet, der irgendwo im Jenseits residiert und von
dort auf die Welt und die Menschen niederschaut. Dorothea konnte ihm da nur
zustimmen.
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Übrigens, so sagte Frederick, unterschied sich ja darin der Gott des Christentums in nichts von den antiken Göttern oder jenen der nordischen Sagenwelt,
die mit den Menschen auf Erden oft den lebhaftesten Umgang pflegten. Aber
was hatte der Gott Abrahams und Moses', der Gott Salomons und Davids anderes getan, als er sich unentwegt in die Streitigkeiten zwischen den Stämmen und Völkern, ja auch in die familiären Angelegenheiten der Leute einmischte und dabei - soll man es leugnen oder verschweigen? - nicht selten
scheinbar ganz willkürlich und unberechenbar handelte.
Ein Blick in die Geschichte der Philosophie und des Christentums genüge allerdings, sagte Frederick, um zu erkennen, daß es sehr früh schon Überlegungen
gab, in denen Gott nicht als Person oder Personifizierung, nicht als ein "über
den Wolken schwebender Lenker des Schicksals und Richter über Gut und Böse" verstanden wurde, sondern als "ein Prinzip, das der Welt und der Wirklichkeit ureigenes Wesen, sozusagen ihre Seele verkörpert".
Dorothea fragte ihn, was man sich unter diesem "Gott als Prinzip" vorstellen
kann, und Frederick antwortete, es sei - im Unterschied zu einem Wesen, das
dies und jenes tue und mehr oder weniger auf den Gang der Welt Einfluss
nehme - vielmehr eine der Welt innewohnende Kraft, welche sie aus sich
selbst heraus in Bewegung hält, eine Kraft, die ursächlich ist für alles, was in
dieser Welt entsteht, was existiert und was zerfällt, alles, was zu Geburt, Leben und Tod gehört, und die angesichts der Vielfalt und Fülle aller Einzelwesen, der Pflanzen, Tiere und anderen Kreaturen, aber, so führte Frederick weiter aus, auch angesichts der unüberschaubaren Menge der leblosen Objekte,
der Steine und Säfte, der Farben und Klänge, der Phänomene des Himmels,
des Lichts und der Zeit und aller dem Menschen eigenen und die menschliche
Gesellschaft antreibenden Empfindungen und Gedanken, Affekte und Handlungen, alles, was in der Vergangenheit geschehen ist und was sich in Zukunft
noch ereignen wird - eine Kraft die angesichts all' dessen in jedem Einzelnen
davon und zugleich in Allem vorhanden ist und darin und daraus hervor wirkt
und deshalb als ein universelles Prinzip angesehen werden kann.
"Nun haben manche von jenen Leuten", fügte er hinzu, "dieses Prinzip mit
Gott gleichgesetzt. Und Espinoza brachte es auf die einfache Formel Deus sive
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natura, Gott oder Natur, was nicht bedeutet, daß entweder das eine oder das
andere gilt, sondern genau im Gegenteil das eine mit dem andern identisch
sei."
Ihre Mutter sagte zu Dorothea, einige dieser Gedanken sinngemäß aus den
Worten des Espinoza herausgehört zu haben, als sie seinerzeit das Vergrößerungsglas bei ihm kaufte. Freilich war diese Unterhaltung viel zu kurz, um tieferen Einblick in seine Theosophie zu bekommen und sie wollte auch nicht zu
neugierig erscheinen. Doch von einer Idee, in der Natur überall eine wirkende
Kraft zu vermuten, die so allumfassend und allmächtig war, daß man sie nur
einem göttlichen Wesen zuschreiben konnte, von dieser Idee hätte Espinoza
gesprochen, als Maria Sibylla ihm darlegte, worauf ihre künstlerische Arbeit
gerichtet war.
Sie hatte ihm Beispiele aus ihrem Blumenbuch genannt und dabei unversehens auf einige botanische Besonderheiten aufmerksam gemacht, woraufhin
Espinoza erstaunt und zugleich anerkennend feststellte, daß sie sich weitaus
gründlicher mit ihren "Naturobjekten" befasste, als es doch für die äußerliche
Abbildung vonnöten sei. Sie bestätigte dies und wandte auch ein, es ließe sie
manchmal regelrecht untätig verharren, wenn sie beim Anblick einer wundersam gestalteten Blüte oder einer merkwürdig geformten Frucht (zumal wenn
es sich um ein exotisches Stück handelte) ins Grübeln gerät, als wenn sie darüber nachdenken müsse, aus welchem Garten die Pflanze stammt und wie
die "Gesellschaft der anderen Gewächse" aussähe, damit diese hier sich darin
heimisch fühle.
Das wären doch gute und nützliche Überlegungen, meinte Espinoza, und Dorothea bemerkte, ihre Mutter säße manchmal wohl über eine Stunde vor ihrem "Modell", ohne auch nur einen Strich aufs Papier zu bringen. Espinoza
lachte, und Maria Sibylla sagte, das wäre durchaus häufig der Fall und es hält
sie von ihrer eigentlichen Arbeit ab, mit der sie ja auch vorankommen und
fertig werden müsse. "Denn schließlich mache ich das nicht bloß zum Vergnügen, sondern es ist auch mein Beruf, mit dem ich meinen Lebensunterhalt bestreiten und mich und meine Töchter ernähren möchte".
Und irgendwie glaubte sie, daß ihr bisher eine solche alles verbindende Idee
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fehlte, die ihr helfen würde, ihre Passion und Profession, also den inneren Antrieb und das Talent, die sie schon früh auf den Pfad und in die Gefilde der
Kunst führten, mit den Gegenständen und Motiven, welche sie dort vorfand,
für sich auswählte oder die sich ihr wie von selbst aufdrängten und auf das
Papier gebannt werden wollten, in Einklang zu bringen. Denn schon seit diesen frühen Tagen habe sie, sagte Maria Sibylla, anfangs nur unbewusst, später immer einfühlsamer nach einem Übereinstimmenden in ihrer Seele mit
den Eindrücken gesucht, welche sie von außen durch die Sinne, vorzüglich
durch ihre Augen und ihre hervorragende Beobachtungsgabe von der "anderen Seite", wie sie es nannte, gewonnen hatte.
Deshalb war sie damals von Espinozas Vorstellung eines der Natur wie des
Menschen immanenten göttlichen Prinzips so angetan, zumal es schien, als
habe er bewiesen, daß dieses Prinzip tatsächlich in völliger Selbstbestimmung
existiert, mithin in Wahrheit keine Idee im Sinne eines Erzeugnis' bloßen berechnenden Verstandes darstellt, sondern lediglich von ihm aufgefunden worden ist, so wie man die Eigenschaften des Lichts oder die Bahnen der Planeten
gefunden hatte.
Espinoza hatte sogar von einer Substanz gesprochen, als welche man diesen
Gott begreifen kann (eine Substanz, die nichts außerhalb ihrer selbst benötigt,
um daraus gebildet zu werden). Er war - oder genauer: Es war also etwas
Stoffliches, Materielles, unabhängig vom Denken und Bewusstsein Existierendes und schien damit frei von jedem Verdacht, es könnte sich letztlich doch
nur um eine bloße Imagination, um ein Hirngespinst handeln.
Die Begebenheit mit dem Kauf des Vergrößerungsglases lag sehr lange zurück, als sich Dorothea wieder daran erinnerte, und zwar - wie konnte es anders sein - als sie beim Ordnen der Hinterlassenschaft ihrer Mutter in deren
Schreibtisch Schubfach das Seepferdchen wiederfand, welches ihr der Herr
Espinoza geschenkt hatte. Sie befühlte es und erinnerte sich auch, wie sie es
unter dem Glas betrachtet und sich sehr über seine vertrocknete und
schrumplige Haut gewundert hatte. Sie sah jetzt auch, daß es einmal kaputt
gegangen und zwar das Köpfchen abgebrochen war, und daß es jemand wieder drangefügt hatte, mit Leim, mit einem Fischleim, wie ihr jetzt einfiel.
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Dorotheas Großmutter Johanna hatte dieses Seepferdchen nie gemocht, sie
schrieb dem verdorrten Meereswurm eine negative Wirkung zu - und daß es
das Geschenk eines, noch dazu subversiven Juden war, machte es erst recht
verdächtig. Sie glaubte, es übe auf geheimnisvolle Weise Einfluss auf die
Weiblichkeit des jungen Mädchens aus. Woher sie diese Überzeugung nahm,
wollte sie nicht verraten. Sie sagte, es wäre besser, wenn man es fortschmeißt, noch besser: verbrennt, die Asche unter den Kot mischt und alles in
die Gosse schüttet, um auf Nummer sicher zu gehen, daß es endgültig beseitigt sei. Sie ließ es immer besonders eklig aussehen. Sie glaubte allen Ernstes,
dieses Seepferdchen würde die jungfräuliche Menstruation blockieren. Was
sich aber nicht bewahrheitete, und Dorothea hatte Zeit ihres Lebens keine
diesbezüglichen Probleme.
Es war ihr Onkel Caspar, der das Seepferdchen wieder zusammengeleimt hatte, in der Werkstatt des alten Matthäus Merian, Dorotheas "echtem" Großvater. Caspar stammte aus dessen erster Ehe, er war nur sieben Jahre jünger als
seine Stiefmutter Johanna (die Besorgte). Für Dorothea war Caspar eher ein
Großvater als ein Bruder ihrer Mutter Maria Sibylla. Und das galt noch mehr
für Caspars älteren Bruder, der ebenfalls Matthäus hieß und die Kupferstecher
Werkstatt und Druckerei des Vaters nach dessen Tod übernommen hatte. Auf
diese Weise nannte Dorothea mehrere Männer ihre Großväter. (Über einen
weiteren wird noch berichtet werden.)
Den "echten" kannte sie nur aus den Schilderungen der Erwachsenen - und
gewissermaßen durch den Ruf und Ruhm, die ihn als einen Meister seiner Profession unsterblich gemacht hatten. Er wurde in allen Landen als einer der
besten Kupferstecher genannt. Er hatte selbst mehrere tausend Kupferstiche
entworfen, geritzt und gedruckt. Er hatte unzählige, teils mehrbändige Werke
herausgegeben, durchweg mit vielen Illustrationen.
Sein größtes Verdienst bestand darin, von nahezu allen bedeutenden Städten
Europas detailreiche Ansichten dokumentiert zu haben. Mit diesen Stadtansichten hatte er gutes Geschäft gemacht. Praktisch jeder Kaufmann und Handelsreisende, der in Europa unterwegs war, orientierte sich an Matthäus Merian's Abbildungen wie ein Seefahrer an den Sternbildern. Und andererseits
waren die Städte scharf darauf, in seinen Katalog aufgenommen zu werden,
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denn das steigerte ihre Popularität.
Matthäus Merian hatte für die Stadt Basel einen Stadtplan geschaffen, der so
groß war, daß man ihn wie ein Gemälde an die Wand hängen und dann fünf
Schritte zurücktreten musste, um ihn zu überblicken. Jede Straße und jede
Gasse, jedes Gebäude - und sei es noch so klein und unscheinbar - waren darauf eingezeichnet. Für diesen Plan erhielt er von den Stadträten hundert Taler Honorar.
Noch imposanter war sein Stadtplan von Frankfurt am Main. Er wurde fünf
Wochen lang öffentlich zur Schau gestellt, und alle Einwohner der Stadt konnten ihn besichtigen. Nach der ersten Woche musste davor eine Absperrung gezogen werden, weil die Leute mit ihren Fingern die Stellen berührt hatten, wo
sie selbst wohnten und dazu all' jene Stellen, wo ihre Verwandten wohnten,
und immer, wenn in den Zeitungen etwas über ein besonderes Vorkommnis
stand, bildete sich vor dem Merian'schen Stadtplan ein Pulk von Menschen,
von denen immer einer genau bezeichnete, wo das just passiert war.
Alle kamen, um zu sehen, wo ihr Haus steht. Aus der Schnurgasse kamen sie
und vom Kornmarkt, aus der Fuhrgasse und vom Frauenberg, vom Saalhof
und von der Bornheimer Pforte und natürlich vom Römer, sie kamen sogar
von Sachsenhausen, das ebenfalls mit abgebildet war, und nicht wenige kamen, um zu sehen, ob auf dem Friedhof bei der Peterskirche auch die Gräber
ihrer Angehörigen zu erkennen sind. Maria Sibylla erzählte, daß der alte
Merian ganze zwölf Wochen lang Tag für Tag von früh bis spät mit dem Zeichenblock durch die Stadt gezogen war, um alles genau aufzunehmen.
Matthäus Merian hatte seine Geburtsstadt Basel nicht nur durch Ansicht und
Plan verewigt, er hatte auch den berühmten sogenannten Baseler Totentanz
zu Papier und zu Druck gebracht, ein fast hundert Schritt langes Fresko auf
der Innenseite der Friedhofsmauer bei der Predigerkirche. Dieses Buch mit
dem Baseler Totentanz, von dem sich eine Ausgabe im Familienbesitz befand,
beeindruckte die kleine Dorothea auf's tiefste.
Merkwürdigerweise war es ihre Großmutter Johanna, die ihr diese Lektüre
nahebrachte. Das Seepferdchen, dessen sie vergeblich habhaft zu werden
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suchte (Dorothea hielt es immer gut versteckt), war Hexenwerk in ihren Augen. Der Totentanz hingegen galt ihr als ein Exempel der Frömmigkeit und
von etwas, das sie "Vanitas" nannte, und das Dorothea die erste Zeit immer
mit "Vaginas" verwechselte und meinte, es habe ebenfalls etwas mit ihrem
Geschlecht zu tun.
Insgeheim versuchte sie, den Tod, der auf jedem der Einzelbilder zu sehen
war, mit etwas in ihrem Innern in Verbindung zu bringen, auf das er unwiderstehlichen Einfluss habe. Meistens war er als Knochenmann dargestellt, aber
nicht immer, manchmal war sein Körper nur halbverwest und an seinem
Bauch und an den Lenden hing noch verfaultes Fleisch oder in den Höhlungen
unter den Rippen wimmelte es von Würmern, die vom Tageslicht ganz verwirrt wurden. Auch sein Gesicht war nicht durchweg der blanke Totenschädel,
und er verfügte über eine erstaunliche Mimik, welche Dorothea jedesmal von
neuem überraschte und irgendwie auch interessierte.
Die ganze Bilderfolge bestand darin, daß der Tod jeweils an der Seite eines
einzelnen Menschen einherschreitet, den er sich gerade als Opfer ausgewählt
hat. Es war für diesen Mann oder für diese Frau demnach der Moment, da sie
ihr Leben und diese Welt jäh verlassen mussten. Da waren nacheinander die
höchsten Würdenträger aufgeführt, der Kaiser, der Papst, König und Bischof,
Fürst und Pfaffe, hernach der Kriegsherr, der wohlhabende Kaufmann, die
schöne Edelfrau, die noch schönere Braut, Gelehrte und Künstler, Händler und
Handwerker, Soldaten und Zivilisten, Adlige und Bürger, Reiche und Arme,
Rechtschaffene und Verbrecher, Philosophen und Narren, Gesunde und Kranke, Alte und Junge.
Nun hätte man sich denken mögen, der erbarmungslose Tod würde die Person
gewaltsam an sich reißen, sie würde sich schreiend und klagend widersetzen
und wehren, mit Händen und Füßen strampeln und sich sträuben, um seinem
Zugriff zu entgehen - denn man sagte ja auch, daß der eine oder andere dem
Tod schon mal von der Schippe gesprungen sei, ein Ausdruck, den sich Dorothea gemerkt hatte.
Doch davon war nichts zu erkennen oder auch nur zu spüren. Der Tod und
sein Opfer, sie sahen aus, als gingen sie ein Stück des Weges einher in einer
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angedeuteten, offenen, flachen Landschaft, ganz so, als plauderten sie ein
wenig zwanglos über dies und jenes, um die Zeit zu verkürzen, als würde keiner von beiden daran denken, was diese fatale Begegnung tatsächlich bedeutet. (Daher auch der oft lächelnde, ja liebenswürdige Ausdruck des Todes, niemals drohend, eher schon verführerisch.)
Es war diese unerklärliche Sorglosigkeit der Gestalten, welche Dorothea nicht
verstand. Noch dazu der rätselhafte, geradezu irreführende Titel "Totentanz".
Sollte man sich so den Tod vorstellen? Als jemand, der einen zu einem Tänzchen auffordert wie zum Vergnügen. Als jemand, der sich zu einem herüberneigt und flüstert "Darf ich bitten?" Und wäre es dann nicht das Allerklügste
gewesen, einfach zu entgegnen "Oh, tut mir leid, ich kann nicht tanzen!"
Dorothea fragte sich, ob in diesem Anbiedern, in dieser scheinbaren Unverfänglichkeit womöglich der Bezug zu ihrem Geschlecht läge. Es gab ja wohl
nicht ohne Grund keinen weiblichen, sondern nur einen männlichen Tod. Und
war diese Aufforderung zum "Totentanz" in Wahrheit eine verschleierte Aufforderung, sich dem Tod in einer Art und Weise hinzugeben, sich ihm mit Haut
und Haar zu überlassen, die alle Vorstellungen von den schlimmsten Dingen,
die einer Frau angetan werden können, übertrafen? Wenn es so war, warum
machte er sich dann aber nicht nur an die Frauen, sondern auch an die Männer ran?
Man konnte buchstäblich den schweren Stein plumpsen hören, der auf dem
Mädchenherzen gelegen hatte, als ihre Großmutter Johanna das Missverständnis aufklärte, nachdem Dorothea sich nicht anders zu helfen wusste, als
sie zu fragen, was dies alles mit der "Vaginas" zu tun habe. Johanna musste
sehr lachen, nichtsdestotrotz nahm sie Dorotheas Frage ernst. Es heiße Vanitas, nicht Vaginas, und das sei etwas völlig anderes.
"Vanitas vanitatum!", sagte Johanna, "Ein Ausspruch, der wörtlich übersetzt:
'Eitelkeit der Eitelkeiten' bedeutet." Unter jedem Bild des Totentanzes stand
ein Vers, der auf die betreffende Person gemünzt war, aber von Vanitas vanitatum war da nichts zu lesen. Dorothea fragte "Wie kommst du darauf?" Und
Johanna sagte, das sei eine allgemeine Absicht solcher Darstellungen: den
Menschen vor Augen zu führen, wie eitel, das heißt, wie zerbrechlich ihr Leben
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in Wirklichkeit sei und daß es von einem Moment auf den andern damit vorbei
sein könne, wenn nämlich der Tod zu einem letzten Tänzchen aufspielt. Daher
trete er auch oft mit einer Fiedel auf oder mit einer Trommel, um den Takt
vorzugeben und den armen Sünder, "der in uns allen steckt", mit einer süßlich
schauerlichen Weise hinüber zu geleiten.
"Es ist kein Buch über das Sterben, wie es sich tatsächlich vollzieht", erklärte
Johanna, "solche Bücher schreiben die Doktoren, sie beschreiben, wie unser
Körper von Krankheiten befallen wird, welche ihn von innen her zerstören,
oder wie wir so alt und gebrechlich werden, daß schließlich unser Herz stehenbleibt und wir aufhören zu atmen und der Geist aus unserm Leib entfleucht.
Dies hier ist eine Mahnung an die Lebenden, sich immer dessen bewusst zu
sein, wie leicht wir alles verlieren können, was wir so hoch schätzen und woran wir uns klammern - allem voran das eigene Leben.
"Was glaubst du", fragte Johanna sie, "warum dieser Totentanz ausgerechnet
an die Friedhofsmauer gemalt wurde? Doch nicht etwa, um den Tod damit zu
brüskieren oder zu beleidigen, wo man ihn schon nicht fernhalten konnte.
Nein, sondern um den Menschen, die diesen Ort betreten und noch einmal lebend verlassen dürfen, diese Aufforderung mit auf den Heimweg zu geben:
wir sollen unsere eigene irdische Eitelkeit erkennen und verwerfen. Wir werden dem Tod nicht entrinnen, aber wir sollten zu Lebzeiten dafür sorgen, daß
wir, wenn es einmal soweit ist, ihm mit reinem Gewissen, ohne Schuld und
Sünde, erwarten können.
Genau das war es wohl auch, was den seligen Matthäus Merian veranlasste,
den Totentanz von der Friedhofsmauer der Baseler Predigerkirche abzuzeichnen und ihn zur frommen Erbauung in Einzelbildern in einem Buch zu drucken. Er muss gespürt haben, daß seine Tage gezählt sind. Aber Johanna berichtete, wie der Alte zwei Tage vor seinem Dahinscheiden frühmorgens aufgestanden sei und erzählt habe, was er im Schlaf geträumt hatte.
In der Gegend seiner Kindheit, in irgendeinem Dörfchen im Baseler Umland,
wurde der Hof seines Vaters neu aufgebaut, mit drei großen Gebäuden aus
leuchtendem Kalkstein, den er im Traum bestaunt habe, und mit Dächern aus
Schindelholz. Die älteren Brüder gingen dem Vater tatkräftig zur Hand, die
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Frauen und Mägde sorgten fürs leibliche Wohl, und es waren auch etliche
Dörfler herbei gekommen, die mitanpackten oder zumindest gute Ratschläge
erteilten.
Aber all die Freude über den ansehnlichen Neubau konnte den Knaben Matthäus nicht über etwas hinwegtrösten, das ihn bedrückte: und das war das
Schicksal eines Mädchens aus dem Nachbardorf, welches wunderschön, aber
von Geburt an blind war. Der alte Matthäus, als er dies erzählte, konnte nicht
genau sagen, ob er in dieses Mädchen verliebt gewesen sei, aber im Traum
erschien es ihm so und er wollte in Gram über ihren Makel schier verzweifeln,
als plötzlich jemand angerannt kam und rief: "Ein Wunder ist geschehen! Das
Margaretli kann wieder sehen!" Und alle standen wie erstarrt vor Rührung,
und als der Mann nahe heran war, sagte er zu dem Knaben Matthäus: "Sie
will, daß du zu ihr kommst, sie möchte das Gesicht anschauen, welches sie bis
jetzt nur mit ihren lieblichen Fingern betasten durfte." Die Frauen und Mädchen in der Runde brachen bei diesen Worten in Tränen aus, und der Knabe
Matthäus machte sich sofort auf den Weg.
Später, als sie auf Schloss Waltha lebten, traf Dorothea einen Jungen namens
Jeremie. Der wohnte mit seinem Vater in einem Dorf auf der Strecke nach
Sneek. Der erzählte Dorothea von der Pest, die in Sneek "gewütet" hatte. Das
war ein ganz anderes Bild vom Tod, als es in dem Totentanz Buch geschildert
war. Mag sein, daß Jeremie, um das Mädchen zu beeindrucken oder ihr gar
das Gruseln zu lehren, in seinen Beschreibungen heftig zu übertreiben suchte.
Er redete so anschaulich, daß Dorothea oftmals vor Staunen der Mund offenstehen blieb und mancher eiskalte Schauer über ihren Rücken lief. Doch waren einige Stellen so gräulich, daß sie Jeremie bat, sie zu wiederholen, was
ihn natürlich nur noch mehr anspornte und wie es schien, seine Phantasie
beflügelte.
Wenn sie es genau bedachte, konnte der Junge es gar nicht selbst miterlebt
haben, wie er behauptete. Aber das tat seiner Glaubwürdigkeit keinen Abbruch, sie hätte ihm stundenlang zuhören können. Sie fand ihn auch ziemlich
hübsch, und sein Vater war ein netter Mann. Er hatte einen kleinen Hof mit
einem Stück Acker und ein paar Tieren. Er belieferte Schloss Waltha im Sommer mit Gemüse und ganzjährig mit Eiern, Butter und Käse; er hatte auch
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noch andere Abnehmer in der Gegend, und er hatte Beziehungen nach Makkum an der Nordsee Küste, von wo er frischen oder geräucherten Seefisch bezog und dann weiterverkaufte.
Jeremie half seinem Vater bei der Arbeit, deshalb hatte er häufig nicht viel
Zeit, sich mit Dorothea zu beschäftigen. Aber er merkte wohl, daß sie sich
freute, wenn sie ihn sah. Er brachte ihr auch oft etwas extra mit, eine besonders schöne Muschelschale oder einen Federschmuck. Die Leute auf
Schloss Waltha waren zum Teil Selbstversorger, es wurden auch Gänse und
Enten gehalten. Einmal brachte Jeremie ein ganz junges Entlein mit, das er
Dorothea schenkte und für das sie selbst verantwortlich war, was im wesentlichen darin bestand, darauf zu achten, daß es sich in der Entenschar
wohlfühlte. Sie nannte es übrigens auch Jeremie.
Irgendwann ergab es sich, daß Dorothea und ihre Mutter zu Jeremie's Vater
auf den Hof kamen, womöglich hatte er sie zu einem Besuch eingeladen. Maria Sibylla fand seinen Vater auch ganz nett. Aber Dorothea hatte (wahrscheinlich weil es sie so sehr beschäftigte) etwas von dem ausgeplaudert, was
Jeremie ihr von den Pestkranken und den Leichen erzählt hatte, und das gefiel
ihrer Mutter gar nicht und sie wollte bei der Gelegenheit ein Wort mit seinem
Vater reden und ihm deutlich machen, daß - bei aller Sympathie - derlei Geschichten für das Gemüt ihrer Tochter nicht geeignet wären.
Dorothea ahnte etwas davon, weshalb sie munter drauflos schwatzte und ihre
Mutter kaum zu Wort kommen ließ, die wiederum auch von dem Bericht des
Vaters nicht unbeeindruckt blieb. Er erzählte nämlich, daß er in Frankreich
aufgewachsen war, genaugesagt auf dem Landgut seiner Eltern in der Franche-Comté, der Freigrafschaft Burgund.
"Dann sind Sie adliger Abstammung?", sagte Maria Sibylla. "Mitnichten!", erwiderte der Vater, als würde er sich dagegen verwahren, "Auch meine Eltern
und meine Vorfahren waren im Grunde immer einfache Bauern gewesen, die
es von allein niemals zu dem gewissen Wohlstand gebracht hätten, den unsere Familie - natürlich auch durch Fleiß und unermüdliche Arbeit erhalten besaß. Alle Bauern ringsherum waren Leibeigene, allenfalls Pächter, meinen
Eltern dagegen gehörte der Grund und Boden, auf dem sie lebten, und das
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war keine Kleinigkeit.
Als Knabe machte ich mir darüber keine Gedanken, und als ich anfing mich zu
fragen, weshalb gerade uns das Glück zuteil geworden war, Landbesitzer zu
sein, da sagte man mir, es sei der Gnade Gottes verdankt. Tatsächlich
herrschte bei uns eine - ich würde mal behaupten - bis zur Selbstverleugnung
gehende Gläubigkeit. Aber Sie müssen verstehen, Madame Merian, es war ein
unbarmherziger und trübseliger Katholizismus, der in der Seele eines heranwachsenden Knaben nichts als Furcht und zugleich Misstrauen erzeugt.
Irgendwann einmal hörte ich die Bemerkung eines Erwachsenen über unsere
Familie und speziell über einen Vorfahren namens Balthasar Gérard, durch
dessen unerhörte Tat wir angeblich zu all unserm Wohlstand - manche redeten gar von Reichtum, weil sie meinten, wir hielten noch irgendwo weitaus
größere Schätze versteckt - wie wir also durch diesen Mann dazu gekommen
waren. Ich nehme an, der Name Balthasar Gèrard sagt Ihnen nichts." "Nein.
Was war mit ihm?"
"Nun, das ist jener Mann, der den trefflichen Wilhelm von Oranien, den ersten
Gouverneur der Vereinigten Niederlande, ermordet hat." "Ach herrje!", sagte
Maria Sibylla und legte die Hand ans Gesicht, "Aber wieso hat man ihn dafür
belohnt? Man könnte doch eher vermuten, er wäre dafür bestraft worden?"
"Oh, das ist er auch. Er wurde hingerichtet, nachdem man alle nur erdenklichen Foltern an seinem noch lebendigen Leib vollzogen hatte. Aber er war
überzeugter Katholik und ein treuer Untertan des Königs Philipp, des Erzfeindes der abtrünnigen Niederländer. Und der hat, gewissermaßen um den Patrioten zu belohnen, unserer Familie ebendas Landgut bei Pontarlier übereignet, auf dem ich geboren wurde."
"Wie sind Sie dann hierher nach Friesland gekommen?" "Wie gesagt, der bedrückende Katholizismus in meinem Elternhaus und überhaupt in meiner
Kindheit, hat in mir nicht gerade Begeisterung dafür geweckt. Dagegen war
ich schon frühzeitig empfänglich und aufgeschlossen gegenüber den Ideen der
Reformierten; ich würde mich nicht als Protestanten, nicht einmal als Kalvinisten bezeichnen, ich bin auch nicht besonders gebildet, geschweige denn belesen. Und ich hatte eigentlich im Unterschied zu vielen anderen Franzosen
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keinen echten Grund, aus dem Land zu flüchten.
Doch seitdem ich wusste, was es mit der vermeintlichen Gottesgnade, die unserer Familie zuteil geworden war, in Wahrheit auf sich hatte, und daß wir
unsere vergleichweise komfortable Lage nicht etwa Gott, als vielmehr einem
ruchlosen Mörder zu verdanken hatten, konnte ich dies nicht mehr mit meinem natürlichen Gewissen vereinbaren. Zwar versuchte man mir zu erklären,
daß höchstwahrscheinlich Gott selbst den Balthasar Gérard auserwählt hatte,
um den Anschlag auf den Antichrist, als welcher Wilhelm von Oranien betrachtet wurde, auszuführen, und daß demnach Gott selbst die Familie dafür belohnt habe. Doch ich hielt dagegen, warum Gott es dann zugelassen habe,
daß Gérard nach seiner hehren Tat die schlimmsten Torturen auszustehen
hatte, und darauf konnte mir keiner eine überzeugende Antwort geben.
Es gab auch noch einen anderen Grund für mich, von zuhause fortzugehen,
über welchen ich hier nicht weiter sprechen möchte; jedenfalls verließ ich eines Nachts meine Heimat und bin schließlich hier in Friesland angekommen,
wo ich nun bestimmt bis ans Ende meiner Tage bleiben werde." Maria Sibylla
fragte "Wissen Ihre Angehörigen, daß Sie hier sind?" "Nein. Ich habe alle Verbindungen abgebrochen. Ich habe damit natürlich auch jede Unterstützung
von Seiten meiner Familie ausgeschlagen.
Wir haben hier praktisch bei Null angefangen, es war nicht immer leicht und
ich musste einige harte Schicksalschläge hinnehmen, aber jetzt geht es uns
leidlich gut und niemand kann uns das, was wir erreicht haben, wieder wegnehmen, denn wir leben in dem vielleicht freiesten Land Europas und obwohl
ich von Geburt her Franzose bin, so erfüllt es mich doch mit einigem Stolz,
nicht nur hier leben zu dürfen, sondern auch meinen bescheidenen Beitrag
zum Gedeihen dieser Nation zu leisten."
Dorothea fiel auf, daß die Rede nicht auf Jeremies Mutter kam. Sie fragte ihn,
ob jene Frau, die bei ihrem Besuch zwischendurch anwesend war, seine Mutter sei, doch er verneinte: das wäre die Magd gewesen. Andererseits verlor
auch Maria Sibylla kein Wort über ihren Mann. Dem Mädchen gefiel es, wie
Jeremies Vater sie mit "Madame Merian" anredete, und sie fühlte etwas von
dieser Ehrbarkeit auf sich selber abfärben; überhaupt behandelte er auch
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Dorothea wie es schien mit der größten Hochachtung.
Dorothea konnte nicht umhin, Jeremie zu fragen, ob er denn Genaueres über
die Art der Folter wüsste, mit welcher der unselige Monsieur Gérard traktiert
worden war. Jeremie sagte, ihm sei unter anderem der Leib aufgeschlitzt und
die Organe mit Eisenzangen herausgerissen worden - bis auf das Herz, das
man bis zuletzt in Gang hielt, "damit er nicht vorzeitig abkratzt." Dorothea
befürchtete, davon zu träumen, aber das blieb aus.
Sie fragte sich manchmal selber, weshalb sie bei der Schilderung solcher
Grässlichkeiten so einen schaurigen Kitzel verspürte, aber sie fand keine
vernünftige Erklärung und sie schob es auf eine vorübergehende ungewöhnliche Mischung der inneren Säfte, von deren Existenz und Wirkung ihr Großmutter Johanna etwas mitgeteilt hatte. Sie war außerdem froh, daß ihre
Mutter die Sache mit den Pestleichen, die Jeremie so eindrucksvoll veranschaulichte, nicht angesprochen hatte.
Vielleicht war Jeremie ihr auch nur zuvorgekommen, denn er war so voll des
Lobes und in seiner Begeisterung kaum zu bremsen, als er die Zeichnungen
sah, welche Maria Sibylla mitgebracht hatte und die an diesem Nachmittag bei
der gemütlichen Kaffeerunde von Hand zu Hand gingen. (Da waren auch die
besagte Magd sowie zwei drei andere vom Gesinde ganz selbstverständlich
dabei.) Alle waren sich einig, daß sie so etwas Schönes noch nie "so direkt" zu
sehen bekommen hatten.
Es handelte sich um einige Drucke aus ihrem Blumenbuch: prächtige gelbe
Narcissen und blaue Hyazinthen, weiße Lilien und Türkische Binde, auch Goldwurz genannt; zwei oder drei Blumenkränze, eine goldgelbe Kaiserkrone, eine
dunkle Schwertlilie, mehrere Nelken, ein Wiesenglöcklein mit einem Distelfink
sowie ein Arrangement von Rittersporn, Josephstab und Vergissmeinicht.
Außerdem ein paar Aquarelle von den Blumen, die Maria Sibylla hier in Waltha
entweder im sogenannten "Einsiedelgarten" oder draußen in der freien Natur
gefunden hatte.
Eine der Mägde war ebenso angetan von Maria Sibylla's Kunst, daß sie hinausging und mit einem schönen Majolikakrug wiederkam, den sie ihr schenkte,
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damit sie die Blumen, so sie pflückt, ins Wasser stecken könnte, wo sie sich
länger frisch hielten. Wenn sie sich recht erinnerte, so hatte es Dorothea
kaum je erlebt, daß ihrer Mutter so viel schlichte, ehrliche, ja sogar dankbare
Anerkennung zuteil wurde, wie an diesem Nachmittag im Spätherbst auf dem
Hof von Jeremies Vater.
Ob sie denn selber auch so wunderbar zeichnen und malen könnte, wollte Jeremie dann von Dorothea wissen, und sie merkte sofort, daß sie in seinen Augen ungeheuer gewinnen würde, wenn sie das bejahte. Sie strich sich ihr Haar
hinters Ohr, als dürfte es ihr Selbsturteil nicht verdecken und sagte "Natürlich
nicht ganz so gut", und Jeremie nickte nur langsam und überwältigt.
Tatsächlich hatte Dorothea, ermutigt und angeleitet durch ihre Mutter, bereits
ein beachtliches Talent zum Zeichnen entwickelt, hatte ihr oft nachgeeifert,
wenn sie mit großer Konzentration und der nötigen Akribie mit Stift und Pinsel
über dem Papier saß und die Blume oder den Blütenzweig, die sie kunstgerecht vor sich aufgestellt hatte, auf der weißen, leeren Fläche Strich für Strich
und Punkt für Punkt wie ihr zweites Wesen entstehen ließ.
Maria Sibylla hatte der Tochter zu ihrem Geburtstag ein eigenes Kästchen aus
Holz mit den wichtigsten Utensilien geschenkt, die man zum Malen benötigte:
fünf verschiedene Pinsel, vom ganz dünnen mit einer Spitze so schmal wie ein
Silberfischchen über mittlere und breitere (die immer noch kaum eine Spur
hinterließen, wenn man damit übers Papier zog) - alle aus feinstem Marderhaar, das unglaublich geschmeidig war und das wie ein fleißiges Geistlein und
mit großer Ergebenheit die Farbe in sich aufnahm, um sie gleich darauf an ihrem Bestimmungsort - einer Partie am Rand eines Blütenblatts oder der Kontur längs eines Stängels - wieder abzusetzen und loszulassen.
Dorothea liebte es über alles, mit ihrer feinfühligen Hand den Pinsel zu führen,
ihn mit der Aquarellfarbe zu tränken wie einen durstigen Sproß und ihn dann
an einer bestimmten Stelle von seiner tauzarten Tropfenlast zu befreien. Anfangs zögerte sie dabei, war sich unschlüssig, wo dieser Farbtupfer zu platzieren sei, überlegte zu lange, wie Maria Sibylla meinte. Ihre Mutter war der
festen Überzeugung, daß man solange nicht die richtige Entscheidung träfe,
solange man noch daran zweifelte.
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Dabei empfand es Dorothea gar nicht als Zweifel - woran sollte man zweifeln?
- vielmehr wollte sie alles auf Anhieb richtig machen, und das ging nun mal
nur, wenn man es wohlbedachte. Sie war auch sehr wählerisch, was die Farben betraf. Nicht daß sie etwa eine bevorzugte, sie hatte nicht einmal eine
Lieblingsfarbe, und das war vielleicht das Problem: ihr gefielen alle gleich gut
und sie wollte keine davon vernachlässigen.
So geschah es mitunter, daß sie eine Blüte, wenn sie zuviel Rot besaß, mit
gelben oder orangen Streifen verzierte oder wenn ihr ein Blau zu dominant
erschien, sie es mit einem zarten Rosa oder einem lichten Ocker abschwächte.
Manchmal ging sie soweit, andersfarbige Details hinzuzufügen, die am Original gar nicht vorhanden waren oder sich sogar ein Blümlein ausdachte, das
sich um das Hauptobjekt herum rankte.
Als Jeremie mit seinem Vater wieder einmal in Waltha war, zeigte ihm Dorothea einige ihrer "gelungensten" Arbeiten, und sie war dabei ein bisschen
aufgeregt. Doch es übertraf offenbar alle seine Erwartungen. Sie hatten sich
abseits der Behausungen bei einem Buchenhain niedergesetzt (der Vater verhandelte drinnen mit dem Schlossverwalter), und Dorothea reichte Jeremie
ein Blatt nach dem andern, die er auf seinen Knien eingehend betrachtete. Sie
hielt sich zurück mit Erklärungen, um alles durch sich selbst wirken zu lassen,
und der Junge murmelte ein Staunen nach dem andern, pfiff auch zwischendurch anerkennend durch die Zähne oder warf Dorothea von der Seite einen
Blick zu, als würde er nicht glauben wollen, daß diese Zeichnung tatsächlich
von ihr stammte. Aber sie hatte alle mit ihrem Namen signiert: Dorothea G.
Jeremie fragte "Wofür steht das G? Ich denke, deine Mutter heißt Merian."
"Sie nennt sich als Künstlerin nach ihrem Vater, Matthäus Merian, weil der so
ein berühmter Kupferstecher war und viele Leute seinen Namen kennen. Das
G steht für Graff, so heißt mein Vater." "Er ist ein Graf?" "Nein, nicht Graaaf,
sondern Graff, mit Doppel-F." "Wo ist dein Vater?" "In Nürnberg." "Nicht
hier?" "In Nürnberg." "Warum ist er nicht hier bei euch?" "Das ist eine andere
Geschichte. Willst du nicht die anderen auch noch anschauen?" "Ja, natürlich.
Schenkst du mir eine davon?" Obwohl Dorothea auf diese Frage gewartet
hatte, sagte sie jetzt zögernd "Kommt drauf an, welche du meinst."
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Er schaute alle bis zur letzten genau an, ging sie dann noch einmal durch,
blätterte vor und zurück und entschied sich schließlich für ein Bild von einer
Samtrose, einem weißen Jasmin und einer Purpur Anemone. "Ja, das gefällt
mir auch am besten", meinte Dorothea und er fragte "Kannst du dich davon
trennen?" Die Frage gefiel ihr, sie sagte "Damit muss man immer rechnen."
Jeremie gefiel die Antwort, und ehe sie sich's versah, küsste er sie auf den
Mund, daß ihr Gesicht vor Scham rot anlief. Abends dachte sie darüber nach.
Sie fand es gut, daß Jeremie offenbar so eine Art Empfindsamkeit für das
Kunstvolle besaß, obwohl das eine eher untypische Eigenschaft für einen Jungen war und obwohl doch auch seine scheinbare Kaltblütigkeit bei seinen Erzählungen über Pestleichen und Folterpraktiken ihr ein wohliges Unbehagen
bereitete.
Jeremie hatte sich ein Eisboot gebaut! Das hatte Kufen und ein Segel und es
passten grade so zwei Personen hinein. In diesen Jahren waren im Winter die
Flüsse und Kanäle über viele Wochen zugefroren, und die großen Teiche, die
Seen, ja sogar das Sneekermeer bekamen eine Eisschicht, auf der man stehen
und gehen und mit Eisbooten fahren konnte. Das tat man nicht nur zum Vergnügen, sondern um alle die Waren zu transportieren, die auch im Winter von
Ort zu Ort geschafft werden mussten. Vieles wurde auf Schlitten geladen, die
von kleinwüchsigen, aber kräftigen Pferden gezogen wurden.
Mit einem Eisboot kam man schneller voran, man sparte sich die Pferde und
konnte weitere Strecken zurücklegen. Aber es war nicht ganz leicht, sich damit zu bewegen. Man musste etwas vom Segeln verstehen, insbesondere davon, wie man den Wind ausnutzt, der einem ja nicht immer in den Rücken
wehte so wie man sich das gewünscht hätte. Jeremie sagte, er habe sich das
selber beigebracht, er hatte sogar ein Buch über Seefahrt gelesen, das ihm
sein Vater besorgte, der es für einige Zeit von einem Amsterdamer Kaufmann
ausleihen durfte. Beim Bau des Bootes hatte ihm ein Zimmerer Geselle aus
Leeuwarden geholfen; das Boot hieß "Anna".
Auf Schloss Waltha war es in den Wintermonaten manchmal schwierig, mit
dem Brennholz über die Runden zu kommen. Man heizte auch mit einer Sorte
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von Torf, die besonders fest war, aber man benötigte dennoch jede Menge
davon, um es drinnen einigermaßen angenehm zu haben. Maria Sibylla und
ihre Tochter mussten sich auch tagsüber oft in dicke Wollgewänder hüllen, um
nicht frieren zu müssen; sie hatten sogar ein Robbenfell, unter dem sie sich
nachts aneinanderkuschelten.
Maria Sibylla fand im Winter nicht genug Blumen, die sie zeichnen und malen
konnte, sie zehrte von den Skizzen, die sie den Sommer über angefertigt hatte, aber Dorothea sah, wie langsam das vonstatten ging, weil die Mutter kaum
ihre Finger richtig bewegen konnte, und dabei musste sie ständig darauf achten, daß sich ihre liebe Tochter nicht erkältet.
Jeremies Vater hatte ihr vorgeschlagen, Dorothea eine Weile zu sich zu nehmen, zumindest solange, bis die Tage mit dem strengsten Frost wieder vorüber wären. Die Stuben auf dem Hof waren viel besser warmzuhalten als die
alten Gemäuer von Waltha, wo es zudem allerorten durch die Ritzen pfiff. Jeremie war natürlich von der Idee begeistert. Dorothea auch. Aber ihre Mutter
überlegte hin und her. Sie führte ein ziemlich langes Gespräch unter vier Augen mit Jeremies Vater. Dorothea fragte "Worüber reden die?", und Jeremie
sagte "Ich glaube, es geht da drum, wo du am besten schlafen sollst."
Maria Sibylla stimmte schließlich zu, und Dorothea wohnte bei der Magd in der
Kammer, die war groß genug, damit sie ein zweites Bett hinein stellen konnten. Der Junge hielt sich oft so lange dort auf, daß die Magd irgendwann sagte
"So, Jeremie, jetzt müssen wir dich 'rausschmeißen, das ist nämlich hier das
Frauengemach, da hast du so spät in der Nacht nichts mehr zu suchen!" Und
einmal träumte Dorothea, wie jemand von außen durchs Schlüsselloch linst,
aber sie konnte dann nicht genau sagen, wer es gewesen war.
Mit dem Eisboot fuhren die beiden auf einem Flüsschen bis zur Swarte Mole,
das war eine Windmühle, wo Jeremies Vater auch im Winter sein Korn mahlen
ließ und dann die Säcke mit dem Mehl wieder abholte. Auf das Boot passten
normalerweise drei volle Säcke, ohne daß es zu schwer geworden wäre. Wenn
Dorothea mitkam, mussten sie auf einen Sack verzichten, dafür fuhren sie
einmal mehr. Es machte Dorothea viel Spaß. Jeremie gab den besten Seemann ab, den man sich vorstellen konnte. Er machte alles mit gezielten und
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doch großzügigen Gesten und Handgriffen, und sie sah, daß er stolz war,
wenn alles klappte.
Der Müller in der Schwarzen Mühle war ein dicker Mann mit weißem Schnauzbart, der anscheinend rund um die Uhr arbeitete. Zum Glück setzte sich auf
den Mühlenflügeln kein Schnee ab, die konnten sich immer drehen, ob es nun
regnete oder schneite oder die Sonne schien. Er sagte, man könnte ja sogar
bei Mondschein Korn mahlen und einer seiner Vorfahren (der natürlich auch
schon Müller war) hätte darüber eine Abhandlung geschrieben, in welcher er
zeigte, welche Auswirkung das Licht des Vollmondes auf die Beschaffenheit
des Mahlguts habe. Und Dorothea schlug vor, man sollte dafür die Bezeichnung "Mondbrot" einführen, damit die Leute, wenn sie es essen, auch wissen,
was sie daran Besonderes haben. Der Müller lachte nur und von seinem dicken
Schnurrbart rieselte das Mehl.
Ein andermal fuhren sie auf einem der friesländischen Seen, da konnte sich
Kapitän Jeremie so richtig austoben, weil er nicht in der Spur bleiben musste
und hin und her kreuzen konnte. Es ging ein scharfer Wind, aber es war klar
und trocken, und Jeremies Vater hatte Dorothea eine riesige Biberfellmütze
überlassen und den Sohn ermahnt, daß sie sich nicht zu weit aufs Eis hinaus
begeben sollten, wenn das Wetter umschlägt "oder wenn Dorothea es für zu
gefährlich hält, hast du verstanden!"
Jeremie versprach es, und dann packte ihn doch der Übermut, und bei manchen seiner Manöver wurde es Dorothea ein bisschen mulmig zumute. "Halt'
dich bloß gut fest!", rief er, und mit ihren dicken Handschuhen klammerte sie
sich an den Bootsrand. Sie rief "Was ist das da hinten?" "Wo?" "Das da, ich
glaube, da steht ein Mensch mitten auf dem Eis." "Ach das", meinte Jeremie
und tat so als wüsste er es nicht, "wollen wir doch mal sehen, ob da nicht
jemand festgefroren ist."
Und als sie näher kamen, erkannte Dorothea tatsächlich einen Mann in einem
Fellmantel mit einer Kapuze über dem Kopf, die nur das Oval vom Gesicht
erkennen ließ. Er hatte einen schmalen Mund und zu beiden Seiten ein paar
Barthärchen über der Oberlippe, die ebenso wie die Brauen und der Fellrand
seiner Kapuze mit Eis überzogen waren. Er hatte Augen wie ein Chinese. Er
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trug Handschuhe und Stiefel aus Leder und Fell, und vor ihm war ein kreisrundes Loch so groß wie ein Teller ins Eis geschnitten und von seiner rechten
Hand war eine Schnur hinein ins Wasser getaucht. Neben ihm lagen zwei drei
Werkzeuge wie von einem Holzhauer.
Jeremie hielt ein Stück vor ihm, sie stiegen aus dem Boot und gingen hin und
der Mann sagte "Jeremie. Wie geht's?" "Gut. Und Ihnen, Herr Samartak? Hat
schon was angebissen?" "Noch nicht. Wer ist die Dame?" "Ich heiße Dorothea,
ich komme von Waltha. Wie lange stehen Sie schon hier?" "Ich weiß nicht,
vielleicht drei Stunden." "Ist Ihnen nicht kalt?" "Nicht mehr als sonst." Jeremie
flüsterte ihr zu "Er ist ein Eskimo! Er kann seine Körpertemperatur anpassen."
Dorothea fragte Herrn Samartak "Was für Fische angeln sie?" Er nannte ihr ein
paar Namen: Primbasche, Norre, Zodelfisch - hatte sie alle noch nie gehört,
aber wenn sie ehrlich sein sollte, kannte sie sowieso nur Karpfen und Hering.
In dem Moment ruckte es an der Schnur, so stark, daß sie ihm aus der Hand
glitt und blitzschnell im Loch zu verschwinden drohte. Aber Samartak war
noch schneller. Er trat mit dem Stiefel darauf, bückte sich im selben Augenblick und fasste die Schnur, ließ sie gleichwohl (lang genug war sie ja) ein
paar Ellen davonziehen. Als er aber spürte, wie schwer das war, das da dranhing, warf er sich mit aller Kraft nach hinten, zog jetzt mit beiden Händen und
rief "Fass mit an, Junge!"
Jeremie packte mit zu, Samartak lag auf dem Rücken und starrte zwischen
seinen Stiefeln auf das Loch, zu zweit eroberten sie eine Handbreit Schnur
nach der andern zurück. "Vorsichtig! Nicht zu heftig, sonst reißt sie womöglich. Ich glaube, das ist ein ganz fetter Bursche, wenn der mal durch das Loch
passt." Dorothea sagte "Soll ich was machen?" "Nimm' die Axt da. Kannst du
damit umgehen?" "Sie meinen Holz hacken?" Samartak lachte und Jeremie
musste auch grinsen. "Wenn er auftaucht und nicht durchs Loch passt ... hoho
... nicht wieder ausbüchsen, mein Guter ... wenn er nicht durchs Loch passt,
hackst du am Rand noch was 'raus." "Ja, mach' ich." Sie stellte sich am Loch
auf und hielt mit beiden Händen die Axt erhoben, sie keuchte beinahe vor Aufregung.
Da tauchte plötzlich in dem Loch der massige Kopf eines Fisches auf, seine
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Augen blickten ins Leere, sein Maul war weit aufgerissen und sah sehr ordinär
aus, die Schnur mit dem Haken saß tief in seinem Rachen. Die beiden zerrten
an ihr, doch sein Leib war dick wie ein prall gefüllter Weinschlauch und
klemmte fest. "Schlag' eine Kerbe in den Rand!", rief Samartak, und Dorothea
holte noch weiter aus und ließ die Axt aufs Eis krachen, es machte Pling! wie
wenn Metall hell aufeinander schlägt.
Aber es war danebengegangen und fast hätte sie ihren eigenen Fuß getroffen.
Der Fisch zappelte verzweifelt in seiner starren Halskrause. "Nochmal!" Sie
holte aus und diesmal traf sie den Rand, sie schlug schnell wieder zu und es
brach ein Stück Eis heraus, dann noch eins und noch eins, und der Fisch
wuchs über die Eisdecke, aber da traf sie seinen Kopf und als Blut herausspritzte, schrie sie auf. Samartak rief "Macht nichts, er ist sowieso des Todes!"
Endlich flutschte er raus, flog im hohen Bogen durch die kalte Luft und
klatschte zwischen den dreien so schwer aufs Eis, daß es unter ihren Füßen
dumpf erzitterte. Jeremie rief "Meine Güte, was für ein Brocken!"
Doch der hatte den Kampf noch nicht aufgegeben, er wand sich und schnellte
hoch bis über ihre Köpfe und Dorothea musste zurückweichen, damit sie nicht
getroffen wird. Jeremie verkürzte die Schnur, Samartak schlug mit der flachen
Hand auf den Fisch, daß er liegenblieb, dann holte er aus seinem Stiefel ein
langes, schmales und spitzes Messer hervor und rammte es ihm hinter den
Kiemen in den Leib, er zuckte noch und der Schwanz patschte eine Weile aufs
Eis, dann war er erledigt.
Dorothea ließ sich neben ihm auf die Knie fallen und sagte "Puh! Das war eine
Aufregung!", und Samartak meinte "Ja, damit hätte ich nicht gerechnet." "Wie
gut, daß wir zufällig vorbeigekommen sind, nicht wahr?" "Ja, Mädchen, das
hatte sich gut getroffen. Und deshalb lade ich euch zum Fischessen ein." "Wo
denn?" "In meiner Hütte natürlich. Da ist es vielleicht nicht ganz so ordentlich
wie auf Schloss Waltha, aber ich verspreche: es wird euch schmecken."
Und so war es auch. Herr Samartak hatte hervorragende Kenntnisse im Zubereiten von Fisch. Dorothea schaute interessiert zu, und er gab ihr einige gute
Hinweise und Erklärungen, falls sie selber mal dazu käme. Jeremie beschäftigte sich inzwischen mit diversen Jagd- und Angelgeräten, die Samartak aus
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seiner Heimat mitgebracht hatte und die zum Teil kunstvoll verziert waren. Er
stammte aus Grönland und beim Essen erzählte er davon, daß es dort Eisberge und Gletscher gibt, auch solche, in denen riesige Höhlen sind, "so groß wie
das Innere einer Kathedrale", und in manchen Nächten kann man das Polarlicht beobachten, welches sich wie ein gigantischer, grünschimmernder Vorhang am Sternenhimmel entlangzieht.
Es war schön warm in seiner Hütte, aber es roch ziemlich streng. Als Jeremie
draußen nach seinem Boot schaute, sagte er, da wären dunkle Wolken und es
sähe nach einem herannahenden Schneesturm aus. Samartak schlug vor, daß
sie hierbleiben sollten, aber Jeremie bemerkte Dorotheas unscheinbare Kopfbewegung und er sagte, wenn sie gleich aufbrächen, würden sie es sicher bis
nach Hause schaffen. Von dem Fisch war so viel übrig, daß sie zwei große Stücke für Jeremies Vater und für Maria Sibylla mitnehmen konnten, und Dorothea bedankte sich und wünschte Herrn Samartak weiterhin viel Erfolg beim
Angeln. Auch wenn er sehr freundlich gewesen war, blieb er ihr doch ein bisschen unangenehm.
Als der Frühling kam, begleitete Dorothea ihre Mutter hinaus in die Umgebung
von Schloss Waltha und half ihr beim Entdecken und Sammeln der Pflanzen,
welche Maria Sibylla abbilden wollte. Dorothea hatte ein gutes Gespür und
fand oft außergewöhnlich prachtvolle Exemplare. Aber sie schien auch ein wenig unvorsichtig zu sein, wenn sie sich in das unwegsame Gelände hineinwagte, und manches Mal verlor ihre Mutter sie aus den Augen und rief dann
so lange nach ihr, bis sie Antwort bekam. Da war sie mitunter schon in eine
ganz andere Richtung gelaufen oder hatte sich regelrecht verirrt (was sie aber
niemals zugegeben hätte).
Sie war immer ganz in Gedanken, der Mutter behilflich zu sein. Doch es war
nicht ungefährlich und nach Ansicht mancher Bewohner von Waltha unverantwortlich, abseits der bekannten Stellen in wildes Terrain vorzudringen. Man
hatte sie insbesondere vor den zahlreichen kleineren und größeren Sümpfen
und vor den Moorflächen gewarnt, die man leichtsinnigerweise betritt ohne es
zu bemerken und wo es dann für einen schnell zu spät sein konnte, wenn man
unweigerlich darin versank. Allerdings hatte Dorothea festgestellt, daß an diesen bedrohlichen Orten oftmals die seltensten Gewächse mit den schönsten
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Blüten standen.
In dieser Zeit fing Maria Sibylla auch an, sich wieder intensiver mit den Insekten zu beschäftigen, vor allem mit den Raupen und Schmetterlingen, mit Faltern und Motten - kurzum mit allen diesen Licht- und Luft-Wesen, die sich von
Blumennektar und pflanzlicher Kost ernährten und die (im Unterschied zu den
Bienen) im Verlaufe ihres Lebens jene höchst merkwürdige Verwandlung
durchmachen, welche man als Metamorphose bezeichnete.
Sie hatte schon, als sie noch in ihrer Vaterstadt Frankfurt war, sich für diese
unglaublich vielfältigen Kreaturen interessiert, für dieses "Geschmeiß" wie es
ihre Mutter Johanna nannte, die allem Sonderbaren der Natur abhold schien
und gerade in den Scharen von Insekten, von denen es namentlich an warmen Sommertagen in der Stadt nur so wimmelte, vor allem aber in den Schaben und Asseln, Tausendfüßlern und Ohrenkriechern - und natürlich in den
Spinnen - ein Gefolge des Teufels sah.
Nun waren das auch nicht eben Maria Sibyllas Favoriten unter den Insekten,
aber für Johanna war das alles ein und dieselbe Brut und sie verbot es ihr, in
der Dunkelheit am offenen Dachfenster mit einer Laterne die Nachtfalter anzulocken, welche Maria Sibylla, wenn sie ihrer habhaft wurde, erst in einen
Zinnkrug mit Deckel (ein Erbstück des seligen Matthäus) einsperrte, um sie
dann vorsichtig in ein Glasgefäß zu überführen, das man wie beim Apotheker
mit einem geschliffenen Propfen verschließen konnte.
Einmal war ihr der Zinnkrug aus der Hand gerutscht und nach unten auf die
Straße gefallen, und am nächsten Tag hatte der Nachtwächter an die Haustür
geklopft und ihrer Mutter mit einer Klage gedroht, weil ihn der Krug beinahe
am Kopf getroffen hätte. Nur durch Johannas bußfertige Miene und ihre Erklärung, sie werde der Nachtwächter Gilde eine Geldspende zukommen lassen,
konnte der strenge Mann umgestimmt werden.
Dorothea musste herzlich lachen, als die Mutter ihr diese Begebenheit schilderte. Der hatte es übrigens bloß leidgetan um die Falter, die sie bereits im
Krug gefangen hatte, worunter sich ein großes, besonders schön gemustertes
Exemplar befand, das ihr in vergleichbarer Ausprägung nie wieder begegnet
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war.
Es gab noch etwas aus der Hinterlassenschaft ihres Vaters, das sie sich, wie
man so sagt unter den Nagel gerissen hatte, bevor es in falsche Hände geriet,
das war ein Bildkasten aus Holz mit einer Glasscheibe, unter der in zwei Reihen je vier fast fingerlange Käfer auf Stopfnadeln aufgespießt waren.
Sie sahen aus wie wertvolle Schmuckstücke, wie Broschen aus einem unvergänglichen Material, überzogen mit einem metallischen Glanz, der stellenweise bunt schillerte. Ihr Leib war fest und wie es schien, wie der Harnisch eines
Ritters gegen alle Angriffe gewappnet, ihre Köpfe waren durchweg verschieden geformt, mancher breit, ein anderer länglich, oben mit einem scharfen
Grat versehen oder an den Seiten mit schildartigen Auswüchsen.
Einer hatte zwei riesige Halbkugeln als Augen, bei einem anderen waren sie
unter der vorgewölbten Stirn verborgen, einer hatte ein Geweih, ein anderer
ein hakenförmiges Horn an der Spitze. Sie hatten alle ihre, mit allerlei Stacheln und Zacken bewehrten Beine ausgestreckt, als wären sie mitten im Lauf
angehalten worden. Sie sahen aus wie eine Schar Krieger, die nur in eine vorübergehende Starre verfallen sind und auf einen Weckruf und ein geheimes
Kommando warteten, um entschlossen ihren Marsch fortzusetzen.
Aus welcher Gegend diese Käfer stammten, konnte Maria Sibylla nicht in Erfahrung bringen, sie kamen jedenfalls nicht aus der näheren Umgebung. Erst
viel später entdeckte sie in einem Buch über Insektenkunde immerhin drei
von ihnen abgebildet, die laut Verfasser in Westindien beheimatet waren.
Sie selber fand in einem Wald vor den Toren Frankfurts auf dem Boden einmal
einen Hirschkäfer mit einem ansehnlichen Geweih, er war tot und bereits stellenweise im Verfall begriffen, sie nahm ihn trotzdem mit und bewahrte ihn eine Weile auf. Sie hielt seine halbverwesten Überreste in einer Zeichnung fest
und ergänzte dabei die fehlenden Teile nach ihrer Vorstellung.
Darin, so dachte Dorothea, wenn sie sich an die Erzählungen ihrer Mutter erinnerte, war sie selbst ihr in Vielem ähnlich: in der Neugier auf eine unbekannte
Sache, die es zu begreifen galt; in dem aufmerksamen und verständigen He-
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rangehen und der feinen Beobachtungsgabe, welche sie zu immer weiteren
Entdeckungen und Aufschlüssen führten, und in der Freude über etwas, das
ihr dabei wie ein Gewinn, ein Geschenk, eine Belohnung für ihre Bemühung
erschien.
Später einmal hat Maria Sibylla gemeint, der Anblick dieser so vielgestaltigen
Käfer in des seligen Matthäus Merians Bildkasten habe sie damals schon veranlasst darüber nachzusinnen, warum an den einzelnen Kreaturen etwas so
und nicht anders ausgebildet ist. Warum der Schöpfer, den wir Gott nennen,
sie mit diesen einzigartigen Formen ihrer Körperteile ausgestattet hat, warum
er den einen lang und schmal, den anderen breit und flach, und wieder einen
andern rund und dick gemacht hat? Warum gab er dem einen große Augen,
dem andern ganz kleine? Warum hat der eine ein Geweih, der andere aber ein
Horn, der dritte bloß eine platte Stirn und der vierte dagegen ein Paar Fühler,
die wie Angelruten vorausragen?
Warum diese vielen Varianten, wenn es im Grunde bloß eines einzigen funktionierenden Mechanismus bedarf, um sich fortbewegen, fressen und sich seiner Feinde erwehren zu können? Allein bei dem Letzteren hatte es offensichtlich dem Schöpfer an Einfällen nicht gemangelt, wenn man sah, mit welch raffinierten Waffen sich diese Wesen in der Natur behaupteten. Es schien, als habe er allen und jedem von ihnen nicht nur ein Dasein verliehen, sondern dazu
auch das Recht auf ein Dasein. Und davon sollten sie wohl Gebrauch machen.
Dieser Wald bei Frankfurt lag in einer Gegend, welche "Bei den Höfen" hieß.
Es gab dort nur einen Hof und der war längst unbewohnt und halbverfallen;
man erzählte sich ein paar kuriose Geschichten, die sich angeblich dort zugetragen haben sollen. Der Wald erstreckte sich in eine Senke, die bis zum Ufer
des Mains reichte, wo sich mehrere Sandgruben befanden, die zum Teil bewirtschaftet waren. (Mit einigen der Arbeiter dort, die hauptsächlich Sand in
große Holzbottiche füllten, die von anderen dann weggetragen wurden, mit einigen dieser Arbeiter war Maria Sibylla während ihrer Exkursionen schon bekannt geworden.)
In den Sandgruben war, wie Maria Sibylla festgestellt hatte, eine ganz besondere Spezies von Schmetterlingen zu finden, genaugesagt da, wo sich auf
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dem Abraum bereits wieder ein Streifen von Kräutern und Sträuchern gebildet
hatte. Manche von ihnen bevorzugten hohe Disteln mit büscheligen, violetten
Blüten, auf ihnen wimmelte es nur so davon, und mit ihren samtigen, ockerfarbenen, mit dunkelblauen Punkten getupften Flügeln bildeten sie einen herrlichen Kontrast zu den stacheligen Pflanzen.
Sie bemerkte auch eine andere Art von Schmetterling, die sie bereits aus einem Buch kannte, das war die sogenannte Höcker Eule, sie nutzte die Brennesseln als Futterpflanze. Maria Sibylla fiel auf, daß mitunter jene Gewächse,
die wir gemeinhin als lästiges Unkraut bezeichnen - niemand hatte etwas für
Brennesseln übrig! - mit manchen Insekten in geradezu freundschaftlicher Beziehung standen. Und wenn man sie genau betrachtete, konnte man sogar einer Brennessel oder einer anscheinend abstoßenden Distel wahre Schönheit
abgewinnen.
Nach dem Malheur mit dem Zinnkrug und dem Nachtwächter war ihre Mutter
Johanna fest entschlossen, dem Spuk auf dem Dachboden ein Ende zu machen. Sie beauftragte jemanden, der von Berufs wegen Wohnungen entrümpelt, schickte ihn nach oben, um dort Ordnung zu schaffen. (Offenbar schreckte sie davor zurück, es selbst zu tun.) Nachher waren es drei Männer, die den
ganzen Kram nach unten brachten und auf einen Karren warfen.
Als Maria Sibylla nach Hause kam und die fürchterliche Bescherung sah, brach
sie in Tränen aus. Gerade hatte sie damit begonnen, eine Raupenzucht anzulegen, hatte alles in Gläsern, Kistchen und Schachteln dafür vorbereitet, hatte
die Raupen darin untergebracht und täglich mit frischen Blättern versorgt. Sie
hatte auch (nach dem Modell der "Käferparade") bereits mehrere solcher
Schaukästen für ihre Schmetterlinge und Nachtfalter gebaut, die Holzleisten
und das Glas hatte sie sich selber besorgt.
Beim Anblick der leergefegten Regale und der beiden Tische wollte sie vor
Verzweiflung schier aufschreien. Johanna indes, die zuerst mit ihrem resoluten
Vorgehen recht zufrieden war, plagten gleich darauf die ersten Zweifel. Als ihre Tochter kein Wort mehr mit ihr sprechen wollte und sich demonstrativ weigerte, zu essen und zu trinken, erkannte Johanna, daß sie einen Fehler begangen hatte. Sie glaubte, "das Beste für ihr Kind" getan zu haben, doch das
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erwies sich als Irrtum. Maria Sibyllas Leidenschaft war so stark, daß sie dafür
sogar die häusliche Eintracht aufs Spiel gesetzt hätte, und als ihre Mutter sah,
daß sie mit verbissener Miene von ihren Sachen welche in einen Beutel packte, befürchtete sie schon, sie würde auf Nimmerwiedersehen davonlaufen.
*****
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Fabio Paulfeld
Johann Melzer's Reise ans Ende der Welt
Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs kommt ein Mann in das Atelier des
Photographen Johann Melzer und bietet ihm Aufnahmen aus Südamerika an:
Landschaften, Menschen, Stadtansichten. Fasziniert vom Reiz der Photos
entschließt sich Johann zu einer Reise in die argentinische Provinz, dort, wo
die Gipfel der Anden bis in den Himmel reichen - und wo wilde Banditen ihr
Unwesen treiben.
*****
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LESEPROBE
Dr. Karl May in Bewunderung gewidmet
Die Mutter ist an einem Sonntagvormittag gestorben. Während der Doktor den Totenschein ausfüllt, meint er "Man sagt, es wird Krieg geben." Dann krempelt er die Hemdsärmel wieder herunter und zieht sein Jackett an. "Ja, das habe ich auch gehört", erwidert
Johann. Der Doktor sagt "Bei der jetzigen Lage in Europa wäre das keine Überraschung
mehr." Die Wanduhr tickt. "Nein, man muss sich darauf einstellen." "Ich schicke die Leute
von der Pietät her", er nennt den Namen des Bestattungsunternehmens, "die erledigen
alles zu Ihrer Zufriedenheit, Herr Melzer, und sie hauen einen nicht übers Ohr, sie wissen,
was ich meine." Es klingt, als wäre er an dem Geschäft beteiligt. "Sind Sie damit einverstanden?", fragt er nach, als er sieht, daß Johann nicht bei der Sache ist. Der wirft einen
Blick auf die Wanduhr. "Welche Zeit haben Sie eingetragen?" "Zehn Uhr." "Ah ja, gut."
Die Glocken der Marienkirche fangen an zu läuten. "Stimmt", sagt er und meint die Uhrzeit. "Das ist der erste Todesfall in meiner Familie. Obwohl ich nicht mehr der jüngste
bin." Der Doktor nimmt seine Tasche. "Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, mag
sein, daß er noch lebt, aber es ist doch unwahrscheinlich. Was meinen Sie?" Der Doktor
schaut hinüber zu der Toten auf dem Bett. "Ich schicke die Leute gleich her, dann können
Sie Ihre Frau Mutter heute nachmittag photographieren; ich nehme an, daß Sie das tun
wollen." Die Glocken der Marienkirche scheinen heute heftiger als sonst zu läuten. "Ja,
natürlich", sagt Johann, "ich werde ein Abschiedsphoto machen, ein Erinnerungsphoto sozusagen."
Der Doktor geht hinaus. "Übrigens, meine Nichte hat im nächsten Monat Konfirmation,
könnten Sie da ..." "Selbstverständlich." Sie gehen die Treppe hinab. An der Haustürschwelle bleibt er stehen. "Ach so", sagt Johann, "was bekommen Sie jetzt von mir?"
"Wie viele Photos machen Sie bei einer Konfirmation gewöhnlich?" "Eins. Ich meine,
wenn es gewünscht wird, dann ..." "Sagen wir vier?" "Verschiedene? Ja, natürlich." "Plus
Abzüge." Der Doktor schaut zum Himmel. "Und wann, meinen Sie, wird es Krieg geben?",
fragt Johann. "Schätze, sehr bald." "Man sollte sich darauf einstellen." "Bleiben Sie im
Haus." "Bitte?" "Ich schicke die Leute von der Pietät gleich her." "Ja, natürlich. Ich bin da."
Er reicht dem Doktor die Hand, aber der wendet sich ab und geht; er hält seine Tasche
fest in der Hand. Das Geläute von Sankt Marien wird leiser. Johann kann zuletzt die klei-
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ne Glocke heraushören, die den Namen Jubilate trägt.
Er geht wieder hinauf. Er betrachtet das Gesicht der toten Mutter. Es hat einen friedvollen
Ausdruck, die Augen sind geschlossen, die schmalen Lippen nur ein wenig zusammengepresst, die Wangenknochen stehen hervor; sie war zuletzt sehr abgemagert. Alles in allem friedvoll, denkt er. Man sollte das in die Todesanzeige schreiben: ein friedvolles Leben.
Er ist ihr einziger Sohn, das einzige Kind. Er hat eine Halbschwester, sie lebt in Hamburg,
sie ist die Tochter seines Vaters, er hat sie zwei- oder dreimal gesehen, sie ist jünger als
er. Es ist so gut wie sicher, daß sie nicht zur Beerdigung kommen wird. Dennoch wird er
sie benachrichtigen. Er wartet auf die Leute von der Pietät. Dann denkt er: Man könnte
jetzt schon eine Photographie von der Mutter machen. Wozu warten, bis ihr Antlitz noch
ein bisschen verschönert ist, jetzt ist es natürlich genug. Jetzt ist der Augenblick, da sie
noch nahe ist, sich noch nicht so weit entfernt hat. Wenn die Leute kommen, wird ihre
Seele diesen Ort schon verlassen haben, jetzt ist sie gerade dabei, ihn zu verlassen, und
man kann noch einen Hauch davon auf der Photographie einbehalten.
Trotzdem rührt er sich nicht vom Fleck, und er zuckt zusammen, als unten die Tür geht.
Christiane kommt ins Zimmer. Sie hat einen Termin beim Pfarrer vereinbart. Sie geht ans
Bett und beugt sich über die Tote. Er will sagen, daß sie friedvoll aussieht, aber stattdessen fragt er "Hat der Pfarrer was gesagt?" "Was soll er gesagt haben?" "Ich meine, weil
Mutter keine Kirchgängerin war." "Er kannte sie trotzdem, und sie war getauft." "Richtig,
sie war schließlich getauft, da gehört man doch irgendwie ein Leben lang zur Gemeinde."
Christiane hat sich wieder von der Toten abgewendet, sie sagt "Du solltest dich erkenntlich zeigen." "Bitte?" "Dem Pfarrer gegenüber; mit einer Spende für die Gemeinde." "Natürlich, das werde ich tun, das ist das Mindeste was getan werden kann. Wo ist Annemarie?" "Ich habe sie zu Tante Helgard gebracht. Sie kommen am Nachmittag herüber."
"Gut. Der Doktor schickt die Männer von der Pietät her, ich warte hier." "Ja. Ich geh' nochmal weg, ich bin in einer Stunde wieder da." "Ja, lass dir Zeit, wir sollten alles in aller Ruhe tun." Plötzlich fällt ihm Christiane um den Hals, sie schluchzt einmal auf und sagt "Ach,
Johann, es tut mir so leid." Er streicht mit der Hand über ihren Rücken. "Es ist gut, Christiane. Es war nun vorauszusehen." Wie er das sagt, fällt ihm wieder der Doktor mit dem
Krieg ein. "Wir haben uns damit abfinden müssen", fügt er hinzu. Nie zuvor hat er solche
Sätze formuliert. Christiane hat sich von ihm gelöst.
Als sie weg ist, kann Johann etwas von ihrem Parfüm an seinem Kragen riechen, ein fri-
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scher, beinahe fröhlicher Duft von Veilchen. Er holt die Kamera aus dem Atelier. Vom
Bahnhof Reiherstor kann man den Mittagszug hören, die Räder quietschen. Während die
Dampflok hält, kommen ein paar dumpfe Stöße aus dem Kessel, dann fährt sie fauchend
und mit einem langgezogenen Pfiff wieder an. Etwas später ziehen die Dampfwölkchen
am Fenster vorbei.
Johann hat dem Pfarrer die wichtigsten Etappen und Ereignisse aus Mutters Leben mitgeteilt. Die hat er in seine Trauerrede eingeflochten. Es sind etwas mehr als ein Dutzend
Leute anwesend. Mutters alte Freundinnen von der früheren Rommérunde, von der nun
noch zwei übriggeblieben sind. Johanns und Christianes Nachbarn mit ihrem mongoloiden Sohn, der ganz hinten sitzt und ununterbrochen an seinen Hosenträgern zupft. Der
Friseur Ludwig, seit siebzehn Jahren im Ruhestand, zu dem Mutter eine freundschaftliche
Beziehung gehabt hat. Eine alte Arbeitskollegin aus der Zeit, als sie in der Näherei beschäftigt gewesen war. Sie erscheint in Begleitung einer hochgewachsenen, hageren
Frau mit einer sehr dunklen Brille, die immer wieder den Blick rundherum schweifen lässt,
als müsste sie sich davon überzeugen, daß alles ordnungsgemäß abläuft. Aus dem Waisenhaus ist eine Schwester mit drei schweigsamen Mädchen erschienen, die alle drei
Zöpfe haben und das gleiche Kleid tragen. Annemarie, die neben Tante Helgard ganz
vorn sitzt, dreht sich ein paar mal zu den Mädchen um. Schließlich sind da noch einige
vereinzelte Personen, die Mutter möglicherweise gekannt haben oder die vielleicht auch
gewohnheitsmäßig zu Beerdigungen gehen. Hernach spricht die Schwester aus dem
Waisenhaus Johann ihr Beileid aus, und er erfährt zum erstenmal davon, daß Mutter die
Einrichtung mit regelmäßigen Spenden unterstützt hat.
Die Mahlzeit zum Gedenken an die Verstorbene findet anschließend im Hotel am Neuen
Teich statt. Irgendetwas an dem Essen schmeckt angebrannt, aber der Pudding, den es
zum Nachtisch gibt, ist ausgezeichnet, und gegen Ende der Tafel fangen die drei Waisenmädchen an zu tuscheln. Es ist schönes Wetter, und auf dem Heimweg machen die Hinterbliebenen einen kleinen Spaziergang um den Teich, Christiane und Annemarie Arm in
Arm vorneweg, Johann und Helgard hinterdrein.
Johann braucht drei Wochen, um Mutters Sachen zu ordnen. Er scheut sich davor, irgendetwas davon wegzuwerfen, und er ist froh, als er schließlich für die Wäsche einen
Abnehmer findet, der ihm sogar mehr dafür bezahlt, als es ein Lumpensammler getan
hätte. Das Geld spendet er dem Waisenhaus. Er findet auch ein paar Briefe seines Vaters, die aber lapidar und belanglos sind und denen Johann nichts Näheres über das
Schicksal des Vaters entnehmen kann. Er befürchtet auch, daß Mutter sie aufbewahrt
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hat, weil sie selbst womöglich keine andere greifbare Erinnerung an ihn besaß.
Christiane ist immer öfter und länger außer Haus, und Johann ist es eigentlich ganz recht,
daß sie ihm beim notwendigen Umräumen nicht zur Seite steht. Die Mutter hatte in der
oberen Etage zwei Zimmer bewohnt und das obere Bad mit Toilette benutzt, das komfortabler war als das untere, in das sich die drei hineinteilen mussten seit Annemaries Geburt, also seit nunmehr elf Jahren. Er denkt zuerst daran, in Mutters Wohnzimmer ein
zweites Atelier einzurichten (Christiane hat nichts dagegen), entscheidet sich dann jedoch
für eine Art Salon mit ganz neuen Möbeln. Christiane ist verblüfft von seiner Idee, sie lacht
sogar kurz auf, wie man über etwas Törichtes lacht, ist dann aber auch damit einverstanden.
Er lässt ein paar starke Männer kommen, und die schleppen Mutters alte Möbel in den
Schuppen hinterm Haus. Das leere Zimmer legt er zuerst mit einem neuen Teppich, einem farbenprächtigen Täbris, aus. Er holt aus dem Atelier den großen Lehnstuhl, stellt ihn
mitten hinein, öffnet das Fenster und setzt sich hin. Draußen grünt und blüht alles, und die
Sonnenstrahlen bringen die Farben auf dem Teppich zum Leuchten. Man sollte es am
besten so lassen, denkt er, wenn es nur immer so schön wäre wie zu dieser Jahreszeit!
Ganz in Gedanken versunken bemerkt er gar nicht, daß Annemarie hereingekommen ist.
"Papa, ich soll dich abholen, wir gehen alle zusammen mit Meyers essen." Johann reckt
sich wie nach einem Schlummer, dann streckt er die Arme aus und sagt "Ah, komm' her,
mein Schatz, mein Goldkind, setz' dich zu mir." Annemarie schaut sich um. "Nennst du
das einen Salon? Mit einem einzigen Stuhl?" Er zieht sie an sich heran. "Hier, setz' dich
auf meine Knie, genieße mit mir die herrliche Aussicht." "Dafür bin ich schon zu groß." Er
lacht. "Wofür?" "Um auf deinen Knien zu sitzen." "Ach was, mach's trotzdem, mir zuliebe."
Sie setzt sich, legt einen Arm um seinen Hals und gibt ihm einen Kuss auf die Wange.
"Ich soll dich abholen." "Wohin?" "Wir treffen uns mit Meyers zum Mittagessen." "Meyers?
Der Apotheker am Schmalen Rain?" "Häh? Die wohnen doch unten am Park." "Ach ja,
tatsächlich? Sind sie umgezogen?" "In einem riesengroßen Haus. Mama und ich sind fast
jeden Tag dort. Ich habe mich mit Clarissa angefreundet, sie ist ein Jahr älter als ich, also
nicht ganz ein Jahr." "So. Wie schön." "Was?" "Ich meine, daß du eine neue Freundin
hast." "Kommst du nun endlich mit? Ich muss nämlich wieder los, die warten schon alle."
Sie steht auf. Er sagt "Ja. Ach, weißt du was, geht ihr mal essen, ich komme dann nach."
"Du weißt doch gar nicht wo." "Ich denke bei Meyers." "Ja, aber essen tun wir im Restorang." "In welchem?" "Weiß nicht, wie das heißt." Vorm Haus hupt ein Auto. "Papa, ich
muss jetzt wieder los, der Herr Oskar wartet unten." "Wer?" "Das ist irgendein Verwandter
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von denen, musst du Mama fragen." "Der hat dich hergefahren?" "Na ja, um dich abzuholen, aber wenn du später kommst, sag' ich's den anderen." "Ja, tu' das." Es hupt wieder,
Annemarie springt die Treppe hinunter, und einen Moment später hört Johann, wie der
Wagen wegfährt.
Er geht auch nach unten. Die Meyers und das Mittagessen hat er gleich wieder vergessen. Dann kommt ein Ehepaar mit einem Buben, die ein Familienphoto machen lassen
wollen, sie haben einen Termin mit Johann vereinbart, und der tut so, als habe er sie erwartet. Aber dann kommt außerdem ein junger Soldat, der sich ein Weilchen gedulden
muss. Er setzt sich auf einen Stuhl in der Ecke und zündet sich eine Zigarette an. Johann
sagt ihm, daß man hier im Atelier nicht rauchen dürfe, worauf der Soldat verschwindet.
Für derart Familienphotos benutzt er den Lehnstuhl, auf dem der Vater Platz zu nehmen
hat und von der Gemahlin auf der einen, dem Nachwuchs auf der anderen Seite flankiert
wird. Als er ihn von oben holen will, meint der Vater, sie könnten sich ebensogut hinstellen, "schließlich bin ich noch kein alter Opa", und der Junge muss lachen. Er stellt sich vor
seine Eltern, und der Vater legt die Hand auf seine Schulter. Es ist fast noch besser gelungen als mit dem Lehnstuhl.
Als Johann die drei hinausbegleitet, steht der Soldat vor dem Schaufenster und raucht
immer noch. "Das ist nicht gut für die Gesundheit, junger Mann", sagt Johann. "Ja, ich
weiß", erwidert er. Als das Photo fertig ist, sagt er "Ich möchte Sie darum bitten, das Photo an folgende Adresse zu schicken, würden Sie das tun? Ich bezahle auch das Briefporto." "Wie Sie wünschen." Es ist für eine Frau hier in Seligenbrunn bestimmt. Als der Soldat bezahlt, fragt er "Heben Sie eigentlich alle Photoplatten auf?" "Eine gewisse Zeit lang."
Da kann man das Signal des Mittagszuges hören, der sich dem Bahnhof nähert. Der Soldat hat es plötzlich eilig, und Johann bemerkt erst jetzt den Tornister, den er draußen im
Flur abgelegt hatte. Wahrscheinlich ist er vollgepackt mit Zigaretten, denkt er, geht nach
oben, schließt das Fenster und bringt den Lehnstuhl mit herunter. Es ist schon dunkel, als
Christiane nach Hause kommt. Annemarie schläft wieder bei Tante Helgard.
Johann hat den Eindruck, als habe Christiane seit dem Dahinscheiden der Mutter an Frische und Optimismus dazugewonnen. Das hätte ihn einerseits betrüben sollen, muss er
sich doch schließlich eingestehen, daß das Verhältnis der beiden Frauen zueinander nicht
eben das glücklichste gewesen war. Andererseits ist Christianes Aufblühen für ihn ein
Trost und eine Art Beruhigung, was ihm hilft, den Fortgang der lieben Mutter etwas leichter zu verkraften.
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Freilich hat niemand eine so innige Beziehung zu diesem Menschen gehabt wie er, was ja
auch ganz natürlich ist. Dennoch wirft die Wandlung trotz ihrer positiven Seite einen - wie
soll er sagen - nachträglich dunklen Schatten auf die vergangenen Jahre. Sollte Christiane etwa viel mehr unter Mutters Anwesenheit im Haus gelitten haben, als sie es sich hatte
anmerken lassen? Sollte er das niemals richtig wahrgenommen oder gar unbewusst ignoriert haben? Wenn ja, dann wäre es jetzt am besten, Christianes zurückgewonnener Lebensfreude freien Lauf zu lassen und auch nicht zuviel Erklärungen oder Begründungen
für ihre derzeitigen Stimmungen und Beschäftigungen zu verlangen.
In manchen Augenblicken jedoch wünschte sich Johann ein klärendes Gespräch mit ihr.
Und selbst, wenn sie sagen würde, daß sie Mutter gehasst habe, würde er das akzeptieren, denn ihr Tod hatte doch wie durch höhere Gewalt alle Feindseligkeit, die etwa im
Hause herrschte, aufgelöst.
Immer häufiger benutzt er das obere Badezimmer und die Toilette dort und überlässt
Christiane und Annemarie jenes im Erdgeschoss. So hat bald jeder sein eigenes, und die
Putzfrau, die zweimal die Woche kommt, wird angewiesen, Waschlappen, Handtücher
etc. entsprechend auf beide Plätze zu verteilen.
Johann bemerkt auch, daß Christianes Migräneanfälle seit einiger Zeit ausbleiben. Als er
sie daraufhin anspricht, meint sie bloß, Doktor Rheinländer habe ihr ein neues Medikament verschrieben. Das ist nicht der Arzt, der so viele Jahre für sie da war, wenn sie ihn
brauchten, nicht der, welcher Mutters Totenschein ausgestellt hatte, sondern ein anderer,
ein neuer, und Johann wundert sich, warum sie darüber kein Wort verloren hat.
Eines Morgens beim Frühstück meint Johann, sie könnten doch alle zusammen eine kleine Urlaubsreise machen, zum Beispiel an die Ostsee. Christiane lacht; es ist wieder dieses Lachen wie über eine Schnapsidee, als habe sie es in der Vergangenheit Dutzende
Male erlebt, wie solche kühnen Pläne kläglich endeten. Aber sie sagt "Ja, warum nicht. Es
gibt nur ein Problem: Annemarie hat keine Ferien." "Ach was", entgegnet er, "wir lassen
sie freistellen für eine Woche." Annemarie ist begeistert, Christiane wiederholt "Wir lassen
sie freistellen? Du machst das?" "Ja." "Kennst du denn überhaupt ihren Lehrer?" "Herrn
Kleinhempel? Natürlich. Den werde ich schon überzeugen." "Aber Papa, Herr Kleinhempel ist gar nicht mehr an unserer Schule." Christiane nimmt sehr deliziös einen Schluck
Kaffee aus der Tasse. Dann sagt sie "Ich werde das übernehmen." "Großartig", ruft er,
und Annemarie klatscht in die Hände.
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"Dann kümmere ich mich um alles andere. Wir müssen eine Liste machen - ich muss eine Liste machen mit allen Sachen, die wir brauchen." Er wirft die Serviette auf den Teller
und holt Papier und Stift. Vormittags kommen drei Kunden zum Photopraphieren, und Johann empfindet sie als lästige Störung bei der Erstellung seiner Liste. Sie ist erst am Mittag fertig. Die Hälfte von allem, was er notiert hat, ist wieder durchgestrichen, und mit dieser kritischen Auswahl und der Beschränkung auf das Nötigste, ohne dabei ein gewisses
Maß an Komfort zu unterschreiten, ist Johann besonders zufrieden.
Sie nehmen ein Hotelzimmer im Seebad Binz auf der Insel Rügen. Das Doppelbett ist
schmal, Annemarie schläft auf einer Art gepolsterter Pritsche. Nachts war Johann aufgewacht und hätte gern mit Annemarie die Plätze getauscht. Das Wetter ist herrlich; die Dünen, der Strand, das Meer, alles ist wie dafür geschaffen, Leiden und Sorgen zu vertreiben und sich nur dem Wohlgefühl und guter Laune zu überlassen.
Sie mieten zwei Strandkörbe und packen jeden Tag einen großen Korb voll Proviant, von
dem Annemarie immer einige Weißbrotkrumen an die Möwen verfüttert, die im Flug laut
kreischend danach schnappen. Johann genehmigt sich stets eine Flasche Bier, die eine
Weile im feuchten Sand eingegraben und gekühlt wird. Es macht ihn so schön schläfrig;
und einmal nachmittags wacht er auf, und Annemarie liegt in unmöglicher Positur im anderen Strandkorb und liest. Wo Mama sei, fragt er. Die wäre im Hotel, knurrt Annemarie,
hätte Leute kennengelernt. "Und du? Bist nicht dabei?" "Das sind nur so blöde Kerle." Er
gähnt. "Na ja, dann bleib' hier bei mir, hier ist es auch schön, nicht wahr?" "Ja, sicher",
knurrt sie, und beim Umblättern reißt die Seite ein.
Als sie wieder zu Hause in Seligenbrunn sind, rieselt überall aus den Sachen noch Sand
heraus. Johann stellt fest, daß das Fernglas, das er im Koffer gesucht hatte, daheim liegen geblieben war, und Christiane vermisst eine Haarspange.
Dann sind regulär Schulferien; Annemarie präsentiert den Eltern ein hervorragendes
Zeugnis und darf sich dafür etwas wünschen. Sie zieht zuerst ein neues Fahrrad in Erwägung, aber da ihre Freundin keins hat, entscheidet sie sich für ein Paar modische Schuhe
für junge Damen. Sie bekommt eine dicke Blase am rechten kleinen Zeh, doch als das
überstanden ist, läuft sie jeden Tag darin umher. Sie übernachtet häufig bei Tante Helgard und manchmal bei Clarissa, mit der sie ständig zusammen ist.
Wenn Johann keine Aufnahmen macht, überholt er seine Photoausrüstung, es gibt hier
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und da etwas zu reparieren oder zu erneuern. Mutters Zimmer ist bis auf den schönen
Teppich immer noch leer. Die Putzfrau schlägt vor, es zu möblieren und dann zu vermieten, und Johann denkt eine Stunde lang darüber nach, ohne zu einem Entschluss zu
kommen.
Christiane erscheint eines Tages in Begleitung eines Herrn, der sich das Zimmer anschaut. Johann trifft die beiden oben an, wie sie mit großzügigen Handbewegungen eine
Einrichtung in die Luft zaubern. Sie stellt ihn Johann vor als einen Innenarchitakten, und
der Innenarchitekt nimmt von Johann kaum eine Notiz. Christiane meint, sie hätten einen
Entwurf, der ihm, Johann, bestimmt auch gefallen wird, und der Innenarchitekt sagt, der
Teppich sei viel zu groß und überdies zu "grell", man bevorzuge jetzt allgemein dezente
Farben. "So was finden Sie sonst nur noch im Puff", sagt er und schaut das einzige Mal
Johann ins Gesicht.
Am Nachmittag - der Innenarchitekt ist längst gegangen - überkommt Johann eine Begierde, die er nicht bändigen kann. Die Hände, mit denen er eine Photoplatte hält, fangen
an zu zittern, und zwischen den Beinen zieht es sich zusammen, als würden alle Säfte
seines Körpers dorthin angesaugt. Christiane sitzt im Gartenstuhl auf der Veranda. Er
geht zu ihr hin, packt sie und zieht sie hinein, sie plumpsen auf's Sofa. Christiane lacht. Er
raffelt ihren Rock hoch, und sie lacht noch mehr, und es ist diesmal ein fröhliches Lachen,
das ihn antreibt und ihm signalisiert, daß es ihr gefällt. Sie kann sich gar nicht wieder beruhigen, es ist beinahe wie ein Anfall. Er reißt wild an ihrer Wäsche herum, aber bevor er
ihren Schlüpfer heruntergezogen hat, ist es bei ihm schon passiert, und er sinkt mit einem
Seufzer auf ihren weichen Busen, auf dem er von ihren Lachstößen durchgeschüttelt
wird. Später am Abend fragt er nach den Entwürfen für das Zimmer, und Christiane erwidert "Beim nächsten Mal werden wir dich gewiss einweihen."
Aber beim nächsten Mal werden schon die ersten Möbel gebracht. Eine kleine Kommode,
ein Schrank mit einer Front aus Glasfensterchen, ein zierlicher Sekretär, dann eine
schmale Chaiselongue. Die Schubkästen der Kommode haben kaum Tiefe, und wollte
man auf der Schreibplatte des Sekretärs einen Brief schreiben, müsste man das Blatt
quer legen. "Das ist auch nur, um die Schroffheit der Wände abzumildern", erklärt Christiane, "damit das Fluidum besser vom Boden hinaufgleiten kann." "Was für ein Fluidum?"
Sie erkundigt sich beim Innenarchitekten und antwortet Johann "Das Fluidum, das jeden
Raum erfüllt." Er glaubt kein Wort, aber es erheitert ihn plötzlich und er sagt "Dieses
Fluidum, kann man das auch eindampfen?" Christiane wird zornig. "Bist du mit deinem
Salon auch nur einen Schritt vorangekommen?" Da bemerkt er, daß sie den Teppich ent-
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fernt haben, er findet ihn zusammengerollt auf Mutters alten Möbeln im Schuppen. Der
Händler, bei dem er ihn kaufte, hatte gesagt "Und noch einen Hinweis, Herr Melzer: Teppiche werden niemals gerollt, sondern zusammengefaltet."
Am nächsten Morgen hat Christiane schon beim Frühstück rotgeweinte Augen. Annemarie umschlingt sie mit den Armen und versucht, sie zu trösten. Johann fragt, was los sei.
"Ach", sagt Christiane, und die Tränen kullern über ihre Wangen, "ich weiß doch auch
nicht, ob ich das alles richtig mache." "Was meinst du?" Sie weist nach oben. "Mit Mutters
Zimmer. Ich will doch nur, daß wir es schön haben im Haus." Johann hat Mitleid mit ihr,
und zum erstenmal hat sie "Mutters Zimmer" gesagt. "Es ist schön bei uns zuhause." Er
nickt Annemarie zu, die streichelt Christianes Gesicht und sagt "Ja, Mama, mir gefällt es
auch hier."
Christianes Lächeln wird von einem Seufzer erstickt. "Ja, aber du sollst das letzte Wort
haben, Johann, das ist mir wichtig." "Wobei?" "Papa! Bei der Einrichtung von dem Zimmer natürlich." "Meine liebe, gute Christiane, ich verstehe etwas vom Photographieren,
aber für Inneneinrichtungen bin ich wahrscheinlich nicht der richtige Mann." "Warum hast
du dann das gestern gesagt?" "Was?" "Das mit dem Eindampfen." "Aber das war doch
nur Blödsinn." "Es hat uns verletzt." "Ich bitte dich, das war nur Blödsinn." Sie schweigt.
Schließlich sagt er "Möchtest du, daß ich mich dafür entschuldige? Ist dann wieder alles
gut?" Sie nickt mit einiger Bestimmtheit. "Es tut mir leid."
Dann frühstücken sie, und Annemarie erzählt von einem Erlebnis mit ihrer Freundin Clarissa. Sie redet wie ein Wasserfall und ihr Blick geht ständig zwischen den Eltern hin und
her, und dann bringt sie die beiden zum Lachen. "Jetzt müsst ihr euch einen Kuss geben",
fordert sie. Johann erhebt sich, geht zu Christiane hin, küsst sie auf den Mund und
streicht dabei über ihr Haar.
Den ganzen Tag hat er im Atelier zu tun, es kommt ein Kunde nach dem anderen. Er ist
nicht sehr gesprächig. Gegen Abend geht er zum Schuppen, zerrt den Teppich von den
Möbeln herunter, rollt ihn auf dem Rasen aus, faltet ihn dann Hälfte auf Hälfte zusammen
und wuchtet das Paket wieder hinein.
Das Zimmer füllt sich noch mit ein paar Möbeln, ebenso klein und unpraktisch wie die ersten. Dann wird ein kolossaler Kronleuchter angeliefert, und der Innenarchitekt heuert einen Elektriker an, der gemeinsam mit zwei Gesellen das Gehänge an der Decke befestigt. Als sie es einschalten, fliegen die Sicherungen raus. Johann ist in der Dunkelkammer
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und bekommt davon nichts mit.
Irgendwann kommt Christiane mit einem schwarzen Seidenschal zu ihm und sagt feierlich
"Es ist soweit." Er muss sich die Augen verbinden lassen und wird die Treppe hinaufgeführt. Christiane löst das Tuch von seinem Kopf, und der Innenarchitekt legt die Nadel
vom Grammophon auf die Platte, es erklingt der Triumphmarsch aus Aida. Aus irgendeinem Grund, aber bestimmt nicht, weil er von dem Anblick überwältigt ist, treten Johann
die Tränen in die Augen.
In der folgenden Woche regnet es täglich viele Stunden lang. Die Kunden bringen an ihren Schuhen eine Menge Schmutz ins Atelier, und die Putzfrau muss öfter als sonst saubermachen. Johann legt eine alte Matte unter die Garderobenhaken und stellt einen
Schirmständer in den Flur. Am Mittwoch, bei strömendem Regen, kommt ein fremder
Herr zu ihm. Er hat einen leichten Regenmantel an und einen Hut mit breiter Krempe auf,
aber er ist offensichtlich draußen vom Regen nicht im Geringsten nass geworden. Er legt
nicht ab, stellt sich nicht einmal vor, sondern holt unterm Arm eine Ledermappe hervor
und bittet Johann, einen Blick auf den Inhalt zu werfen.
Sein Gesicht hat eine dunkle Farbe, beinahe wie Bronze, denkt Johann, aber es kann
auch vom Schatten unter der Krempe herrühren. Dieser Hut scheint wohl aus Schafwolle
gefertigt zu sein, so einen hat Johann einmal in einem Geschäft gesehen, er war sehr
dicht gewebt, gut wasserabweisend und ziemlich teuer. "Was ist das?", fragt Johann.
"Photographien, die Sie vielleicht interessieren", antwortet der Mann. Er folgt Johann ins
Atelier, zieht einen Stapel Photographien auf feinem, weißen Karton aus der Mappe und
legt ihn auf den Tisch. Sie stehen sich gegenüber. Auf dem obersten Bild ist eine Steppenlandschaft zu sehen, mit ein paar vereinzelten Rindern, die offenbar an einer Wasserstelle weiden; im Hintergrund erheben sich schneebedeckte Berge. Es ist keine mitteleuropäische, allenfalls eine südliche Landschaft, vielleicht in Spanien.
Johann will es näher betrachten, aber er zögert. Von dem Stapel geht ein eigenartiger Geruch aus, als wären die Photos parfümiert, doch es ist eher ein herber Duft wie von einem
Kraut oder Gewürz. Der Mann spricht kein Wort, und da Johann bereits die Hand ausgestreckt hat, will er nicht unhöflich erscheinen und nimmt das erste Bild auf. Obwohl der
Karton eine gewisse Stärke hat, ist er federleicht. Und als wäre ihm das, was darauf zu
sehen ist, anscheinend völlig gleichgültig, fragt er "Was für ein Karton ist das?" "Bitte?"
"Ein solcher Karton ist mir noch nicht vorgekommen." Es klingt, ungewollt oder nicht, ein
bisschen misstrauisch. Geht hier etwas nicht mit rechten Dingen zu?
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"Schauen Sie sich die anderen an", sagt der Mann. In Windeseile hebt Johann ein Photo
nach dem anderen ab, ohne irgendeins genauer in Augenschein zu nehmen. Nur bei einer Aufnahme hält er einen Moment länger inne, und der Mann murmelt ein paar Worte,
die aber Johann überhört, denn er zwingt sich sogleich, dieses eine Bild unter den anderen wieder verschwinden zu lassen.
"Und warum zeigen Sie mir das?", fragt er. "Ich möchte Ihnen die Photos verkaufen."
"Verkaufen?" Er schiebt den Stapel ein Stück von sich weg. "Mein Herr, ich verkaufe meine eigenen Photographien." "Diese Aufnahmen sind einmalig, möglicherweise wertvoll."
Johann denkt: Warum kommt denn kein anderer Kunde, damit ich diesen Mann rasch
wieder los werde. "Ich bestreite gar nicht, daß sie einmalig sind, aber wertvoll? Wem sollten hier diese öden Landschaften oder diese Maultiertreiber gefallen?" Der andere
schweigt wie abwartend.
Mit einer etwas ungestümen Bewegung langt Johann abermals nach dem Stapel und blättert ihn noch schneller durch als vorhin. "Allenfalls für diese Gebirgsansichten fände sich
vielleicht ein Käufer." "Es sind die Anden", sagt der Mann, "genauer gesagt, die Cordillera
de los Andes." "So, so. Aber das hier, ein zusammengestürztes Haus, was bitte soll daran
Besonderes sein?" "Das war das Erdbeben in Los Alamos." "Ein Erdbeben?", sagt Johann vorsichtig, und die beiden Männer schauen sich an. Der andere hat dunkle, braune
Augen, von einer ungewöhnlichen Tiefe, als würde darin ganz weit nach hinten gerückt all'
das, was auf diesen Bildern festgehalten wurde, sich in diesem Moment abspielen. "Wo
liegen die Anden? In Peru?" "Diese hier in Argentinien, an der Grenze zu Chile." Johann
senkt den Blick, und in seiner Hand hält er wieder das eine Photo, das ihm zuerst aufgefallen war.
Er reicht den Stapel zurück. "Nein, mein Herr, ich habe dafür keine Verwendung. Tut mir
leid, vielleicht versuchen Sie es woanders." "Das geht nicht", erwidert der andere ruhig.
"Wieso nicht? Es gibt noch andere Photographische Anstalten in der Stadt. Oder wenden
Sie sich ans Historische Museum, die besitzen eine photographische Sammlung." Ein mildes Lächeln huscht über das Gesicht des Mannes. "Ich bin nur noch eine Stunde hier",
sagt er und es klingt, als würde dann eine bestimmte Frist abgelaufen sein. "Ah, ich verstehe", sagt Johann erleichtert; er würde also Gott sei Dank nicht wiederkommen. "Sehen
Sie, wenn Sie sich länger hier aufhielten, dann bestünde die Möglichkeit, daß man die
Photos im Schaufenster ausstellt, und wenn jemand Interesse ..." "Danke für Ihre Bemühungen", unterbricht ihn der andere, "wie gesagt, daraus wird nichts." "Nun, dann möchte
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ich Sie nicht unnötig aufhalten", sagt Johann und geht zur Tür. Der Mann hebt nur leicht
die Hand zum Gruß, Johann schaut zum Himmel und meint "Es hat etwas nachgelassen."
"Es scheint so." "Hat mich gefreut", sagt Johann und schließt die Tür.
Er geht zurück ins Atelier, auf dem Tisch liegt eine einzelne Photographie aus dem Stapel, mit der Rückseite nach oben. Seine Hand zittert, als er danach greift. Ich werde sie
nicht umdrehen, denkt er. Er tut es doch. Es ist der Ausblick auf eine Schlucht, auf deren
Grund sich ein silbrig glänzender Fluss schlängelt. Er schnuppert an dem Karton, er riecht
nach diesem seltsamen Gewürz. Er eilt zur Tür. Der Mann steht draußen, ohne Hut. Johann fragt ihn, wieviel er für die Photos verlangt. Der Mann nennt den Preis. Es ist so wenig, daß Johann es mit den paar Scheinen, die er stets in seiner Hosentasche hat, bezahlen kann. "Leben Sie wohl", sagt der Mann und verschwindet hinter der nächsten
Ecke.
Christiane hat immer häufiger Gäste im Haus. Es fing an mit 5-Uhr Tees, zu denen sie im
oberen Zimmer einlud. Es wird jetzt übrigens als "Suite petít" bezeichnet. Dann folgten
Soirees und Matinees, und ein paar Mal blieben zwei von ihren Freundinnen auch über
Nacht. Johann ist es ein Rätsel, wo und wie sie eigentlich schlafen; er findet sich damit
ab, daß ihm Christiane zeitweilig Toilettenverbot für die obere Etage erteilt, er benutzt
dann ihre, und es ist ihm lieber, als einer von den Damen in unpassenden Augenblicken
zu begegnen.
Nachmittags darf manchmal auch Annemarie mit dabei sein, wenn wieder irgendein lustiges Würfelspiel ausprobiert wird, von denen, so scheint es Johann, drei neue pro Woche
herauskommen. Einmal liegt eines der zusammenklappbaren Spielfelder aus Pappe auf
dem Tisch herum, und Johann erkennt darauf das alte Fuchs und Gans Spiel, nur sind es
neuerdings deutsche und französische Soldaten, die sich gegenseitig an der Nase herumzuführen versuchen. Besonders originell findet er das nicht.
Christiane (und auch manche ihrer Gäste) haben Johann ein paarmal aufgefordert, ihnen
Gesellschaft zu leisten, aber er schützt die Arbeit vor, es seien noch jede Menge Photoplatten bis zum nächsten Tag zu entwickeln, und ein Vetter des Apothekers Meyer, der
häufig mit von der Partie war, meint "Na, mein lieber Melzer, dann rühren Sie mal ihre
Chemikalien zusammen, und wir mischen uns derweil einen Cocktail", womit er die Lacher auf seiner Seite hat.
Überhaupt wird viel getrunken in der Suite petít, und wenn Johann der Putzfrau begegnet,
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klemmen stets leere Sektflaschen zwischen ihren Fingern. Abends wird zur Musik vom
Grammophon getanzt, und wenn Mitternacht ist und jemand hat Geburtstag, gibt es großes Hallo und ein Liedchen wird gegrölt. Einmal ist der Feinkostladenbesitzer Persicke,
ein junger Mann, der das Geschäft kürzlich vom Vater übernommen hat, so aufgedreht,
daß er das Fenster sperrangelweit aufreißt und mehrere Schüsse aus seinem Revolver in
die Nacht hinausfeuert.
Das ist Johann zuviel, er steigt die Treppe hinauf, um das ganze Pack rauszuwerfen. Sie
sind alle erschrocken über Persickes Unfug, er selbst hängt sternhagelvoll über dem Sekretär und kotzt in den Sektkühler. Es gelingt Christiane und ihren Gästen, Johann zu beschwichtigen, und ein wenig später löst sich die Gesellschaft in etwas betretener Stimmung von allein auf. Man macht sich bei den folgenden Treffen einen Spaß daraus, den
Persicke auf (unerlaubtes) Waffentragen zu visitieren.
Persicke versorgt die Leute immer mit leckeren Salaten, und manchmal findet Johann auf
dem Frühstückstisch zwei oder drei halbleere Schüsselchen mit Geflügel- oder Käsesalat,
bei dem die Mayonnaise langsam anläuft. Das sei übriggeblieben, erklärt Christiane im
Vorbeigehen. "Ihr könnt das alles essen", fügt sie hinzu, "ich hab' genug von dem fetten
Zeug." Daraufhin verzichtet Annemarie natürlich auch.
Christiane achtet jetzt sehr auf ihre gute Figur, aber es fällt ihr schwer, und wenn es früher die Migräneanfälle waren, die sie heimsuchten, so ist es jetzt mitunter eine Mischung
aus Hysterie und Verzweiflung, die sie aufregt und ihr scharlachrote Flecken auf Hals und
Gesicht verpasst. Sie und ihre Freundinnen wetteifern um die meiste Attraktivität, und es
vergeht kaum ein Tag, an dem nicht eine neue Schönheitscreme, ein Schlankheitsmittel
oder ein Pulver ausprobiert wird, welches in einem Glas Wasser aufgelöst und dreimal
täglich getrunken dem Haar mehr Fülle und Glanz verleihen soll.
Einmal, als oben wieder munteres Treiben ist, klopft es an Johanns Ateliertür und herein
kommt das Fräulein Wabersich, das noch nicht allzu lange "dabei" ist, aber über hervorragende Beziehungen zu allen möglichen Leuten in der Stadt verfügt. "Darf man eintreten?", fragt sie, und Johann kann es ihr schlechterdings nicht verwehren. "Ich bin die Felicitas, wir kennen uns vom Sehen." "Ja, ich erinnere mich", erwidert Johann, nicht ohne eine Spur von Ironie, die sagen soll, daß er sich schon seit einiger Zeit nicht mehr darum
kümmert, was in der Suite vor sich geht.
"Ich wollte Sie mal fragen, ob Sie auch Nacktaufnahmen machen." "Nachtaufnahmen?"
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"Wie bitte?" "Was haben Sie gefragt?" "Ob Sie auch Nacktaufnahmen machen." "Wovon?" "Wovon? Von einer Person zum Beispiel." "Ich dachte, Sie meinten Nachtaufnahmen." Sie muss sehr lachen. "Sie meinen jetzt den Mond, wenn er am Himmel steht."
"Ja, oder wenn sich in der Rosengasse im Laternenlicht die langen Schatten übers Straßenpflaster strecken." "Huh, das ist ja ganz schön schaurig", sagt Felicitas, kreuzt die
Arme vorm Busen und reibt sich die Schultern. Dann kommt sie näher heran, und als sie
sagt "Aber Sie haben mich schon richtig verstanden, Johann", da lässt sie ihren Mund etwas offen, und die Zungenspitze gleitet zwischen ihren feuchten Lippen einmal hin und
einmal her.
"Wo machen Sie das? Hier auf dem Sofa?" Da spürt Johann, wie es am Hals zu pochen
anfängt. "Ähm, ja, für gewöhnlich." Sie drückt leicht mit der Handfläche auf das Sofapolster, das federnd nachgibt. "Und wie machen Sie's ungewöhnlich?" "Tja, also ...", sagt er
und sieht, daß Fräulein Wabersich wie mit einem Zauberstreich ihr Kleid fallen lässt. Das
Weiß ihrer Unterwäsche steht im reizenden Kontrast zu den schwarzen Strümpfen, die
mit schmalen, elastischen Bändern oben gehalten werden. Sie legt einen Fuß nach hinten
aufs Sofa und beginnt, ihr Mieder vorn aufzuschnüren. Johann steht da wie erstarrt. "Wollen Sie nicht schon mal Ihren Apparat aufbauen?", meint sie und legt ihre milchweißen
Brüste mit rosigen Nippeln frei.
Doch da ruft von oben jemand hinunter "Felicitas! Wo steckst du denn bloß, wir wollen
anfangen." Dann hört man Schritte auf der Treppe. Johann eilt zur Tür, Felicitas zieht
rasch ihre Sachen wieder an. "Lassen Sie nur, Johann", flüstert sie und ruft nach oben
"Ich komme." Der Rufer kehrt wieder um. "Manchmal könnte man die alle auf den Mond
schießen", sagt sie, "mach' mir mal das Kleid hinten zu." Johann tut es, und er ist ganz
geschickt dabei. "Danke." Sie gibt ihm einen Klaps auf die Wange. "Dann verschieben wir
das aufs nächste Mal, einverstanden?" Und sie schlüpft an ihm vorbei zur Tür hinaus.
Als Annemarie die Masern bekommt, finden keine Vergnügungen in der Suite petít statt,
und die Putzfrau hat endlich einmal Zeit, alles gründlich zu säubern. Sie sagt zu Johann
"Herr Melzer, da wäre Ihr schöner Teppich aber tüchtig verhunzt worden, wenn der alle
die Flecken abgekriegt hätte, die jetzt der hat.
Annemarie liegt im Bett und will vorgelesen bekommen. "Dafür bist du schon zu groß",
meint Christiane, liest aber doch ein paar Seiten aus Gullivers Reisen, das die beiden
"stinklangweilig" finden. "Mama, warum haben wir keine spannenden Bücher?" Christiane
zuckt mit den Schultern. "Keine Ahnung."
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Christiane weiß selber nichts mit sich anzufangen. Etliche ihrer Bekannten sind verreist,
und Persicke hat einen Wasserrohrbruch im Laden. Dann will sie übers Wochenende mit
einer Freundin fort fahren, kommt aber Samstagabend schon wieder zurück; die Freundin
hätte sich ganz schlimm den Fuß verstaucht. Ach ja, und falls der Innenarchitekt hier aufkreuzt: sie sei nicht da.
Am Donnerstag kommt Christiane zu Johann ins Atelier, er kann sich nicht entsinnen,
wann sie das zuletzt getan hat. Er ist so vertieft, daß er sie nicht bemerkt und erschrickt,
als sie ruft "Du liebe Güte, Johann, was hast du denn für einen Hut auf?" "Den hat ein
Kunde hier liegengelassen." Sie will ihn von seinem Kopf nehmen, aber er reagiert empfindlich "No, no, Senora, es mio sombrero." "Bist du übergeschnappt?" "Nein. Dieser Herr
hat mir ein Bündel Photographien aus Südamerika verkauft." "Und weiter?" "Willst du sie
dir mal anschauen?" "Ja, später vielleicht. Ich wollte bloß mal gucken, was du so treibst."
Sie wendet sich zum Gehen. "Und setz' um Himmels Willen diesen Eierkorb ab." "Ja,
gleich."
Johann kennt die Alpen. Als Annemarie noch nicht geboren war, haben sie einen Urlaub
in Garmisch Partenkirchen verbracht. Die Berge hier auf den Photos, die der Mann Cordillera des los Andes nannte, sind anders als die Alpen, Johann kann nicht sagen, wie. Aber
einmal nachts im Traum hat ihm der Mann noch einmal die Photos verkauft, und dabei
gesagt, es wären die einzigen Aufnahmen vom Mondgebirge. "Vom Gebirge auf dem
Mond?", will Johann fragen, aber da reißt der Traum ab. Selbst wenn er bloß seiner eigenen Phantasie entsprungen war, so wünschte er sich, der Unbekannte möge ihm wieder
erscheinen, damit er ihm weitere Auskunft geben könnte.
Beinahe in jeder freien Minute betrachtet er die Photos, auf dem Tisch liegt nichts anderes als dieser Stapel. Frühmorgens vor dem Frühstück geht er ihn durch, wie wenn er
sich vergewissern müsste, daß über Nacht nichts daran verändert wurde. Selbst wenn er
Kunden im Atelier hat und mit seiner Technik beschäftigt ist, hat er in Gedanken jene Bilder vor Augen. Beim Entwickeln unterm Rotlicht der Dunkelkammer ist ihm, als tauchten
auf den Abzügen immer zuerst die Motive mit den schneebedeckten Bergen auf, die anscheinend noch höher sind als jede Wohnstatt der Götter.
Er verändert die Reihenfolge, legt ähnliche Ansichten zusammen, versucht herauszufinden, ob manche der endlosen Landschaften vom selben Standort aus aufgenommen waren, etwa nach der Art eines Panoramas. Und tatsächlich meint er, auf drei verschiedenen
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Perspektiven immer denselben Berg zu erkennen. Manchmal nachts wacht er auf, von einer Ungewissheit geweckt, geht ins Atelier, knipst das Licht an und kann doch wieder
nicht mit Sicherheit sagen, ob jene hellen Stellen zwischen den schroffen Felsen ein Weg,
jene fünf dunklen Punkte Reiter sind, jener Haufen Steine auf der Höhe ein Grab oder einen Orientierungspunkt darstellt?
Auf einem Bild sind zwei Lastwagen zu sehen, der eine mit prallgefüllten Säcken, der andere mit Kisten beladen. Sie stehen auf einer hellen Ebene, die sich im Hintergrund ins
weiße Nichts verliert. Die Fahrer sind ausgestiegen, und ganz vorn schaut ein Hund unschlüssig in die Kamera. Auf einem anderen führt eine Brücke über den Fluss, sie ist aus
Bandstahl mit dicken Nieten gebaut. Ein anderer Fluss (oder ist es derselbe?) hat heftige
Stromschnellen. Eine Allee ist mit turmhohen Pappeln gesäumt, wie klein wirkt der Karren
mit Maultier und Mann mitten auf der Straße.
Es gibt ein paar Photos mit Häusern, stattliche Villen inmitten von Gärten mit Palmen,
gepflegter Rasen mit Blumenbeeten, Laubengänge mit rankendem Wein. Das Prospekt
einer Straße mit Geschäften, dem Hotel "Centenario", der "Casa Troy", das ein Kaufhaus
sein muss, wie Johann vermutet. Am Straßenrand stehen offene Pferdekutschen und
eine Handvoll Automobile. Dann ein einzelnes flaches Gebäude mit breiter Front, vor dem
eine Mädchenklasse mit ihren Lehrerinnen Aufstellung genommen hat. Auf einer Farm
treiben Reiter mit großen Hüten schwarze Rinder in einen Pferch - sie verschwinden in
Flammen aus Staub. Und irgendwo, weit draußen, an einem Abhang mit Felsgestein und
Schotter, auf einem schmalen Sims vor einem Loch im Berg, haben sich vier Männer offenbar überreden lassen, für einen Augenblick aus ihrer Mine herauszukriechen; der eine
hält den Arm schützend gegen das blendende Sonnenlicht.
Und dann ist da dieses eine Bildnis, wegen dem er in Wahrheit den ganzen Stapel gekauft hat und das, er spürt es fast schmerzhaft, allmählich seine Sinne verwirrt, seine Gefühle verfälscht und ihm den Verstand raubt. Es ist, als spräche es zu ihm, als fordere es
ihn auf, etwas zu tun, woran er sein Lebtag nicht gedacht hat, das ihm nicht einmal im
unglaublichsten aller Träume eingefallen wäre.
Die Photographien sollten Johann fortan nicht mehr loslassen. Er sucht sie mit der Lupe
ab, damit ihm kein Detail entginge. Es gibt dort eine Bahnstation am Rande einer Stadt,
ein Zug mit einer kleinen Dampflok und vier Wagen fährt gerade ein. Auf dem verlängerten Bahnsteig spielt eine Militärkapelle, Herren in vornehmen Anzügen, Damen in weißen
Kleidern und mit großen Hüten erwarten die Ankunft. Abseits stehen Gemüsehändler mit
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ihren Karren. Kinder und Hunde springen umher; auf dem Bahnhofsdach sitzt ein
Schwarm Tauben. Auf dem Schild kann Johann den Namen des Ortes erkennen: SAN
GABRIEL. Er freut sich wie ein Forscher, der ein neues Element entdeckt hat und ihm
hiermit einen Namen gibt. San Gabriel. Mehr braucht er vorläufig nicht zu wissen.
Annemarie ist wieder gesund und sogar ein bisschen fraulicher geworden. Der Innenarchitekt kommt wieder häufiger zu Christiane, die beiden planen, die Tür in der Zwischenwand zu verbreitern und das angrenzende Zimmer zu einem Wintergarten umzugestalten.
Dazu soll die Fensterfront verglast werden. Johann fragt erst gar nicht nach den Entwürfen, gibt Christiane aber den Hinweis, daß man vorher die Statik des Hauses prüfen sollte. Sie erkundigt sich beim Innenarchitekten, was Johann damit gemeint haben könnte,
und daraufhin zieht sich die Planung etwas in die Länge. Die Parties finden also nach wie
vor in der Suite petít statt, und es gibt ein paar neue Gäste.
Eines Sonntags beim Frühstück sagt Johann, er trage sich mit dem Gedanken, für ein
halbes oder ein ganzes Jahr nach Südamerika zu gehen, um dort Land und Leute zu photographieren. Er schaut Christiane ins Gesicht, nach einer kleinen Pause sagt sie "Hast
du dir das auch gut überlegt." "Mit solchem photographischen Material könnte man danach hier in Deutschland eine Menge Geld machen", sagt er und denkt: ihre Antwort bedeutet: solange für uns gesorgt ist, kannst du unternehmen, was dir gefällt.
Die Mutter hatte Johann eine nennenswerte Summe Geld sowie Schmuck und Wertpapiere vermacht. Er war dadurch kein reicher Mann geworden, aber sie hätten sich ruhigen
Gewissens etwas leisten können. Der Schmuck blieb unangetastet. Wegen der Wertpapiere hatte Johann einen Finanzexperten konsultiert, der ihm riet, sie abzustoßen und
später in eine Kriegsanleihe zu investieren, die wahrscheinlich in Kürze ausgegeben werde. Johann befolgte es und ließ ihm dafür freie Hand. Abzüglich des üppigen Honorars
kam durch den Erlös noch ein fünfstelliger Betrag zum Vermögen hinzu.
Christianes Umgestaltungen im Haus, die Neueinrichtung und letztendlich freilich auch ihre ganzen Vergnügungen waren von Johanns Konto bezahlt worden. Jetzt, da er seine
Reise plant, wird für Christiane ein Limit festgelegt, bis zu dem sie davon abheben kann.
Der Finanzverwalter findet das Limit zu großzügig, aber Johann besteht darauf. Schließlich stimmt er einer Klausel zu, nach der von Christianes Mitteln Annemarie ein bestimmter monatlicher Betrag zusteht. Alles wird zunächst für ein Jahr vereinbart.
Johann schafft sich einige neue Ausrüstungsgegenstände an. Er verpachtet das Atelier
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an einen befreundeten Photographen, der dort seinen gerade fertig ausgebildeten Lehrling einsetzt. Dann kümmert er sich nur noch um seine Reise, welche Schiffahrtsgesellschaft, welche Route, welches Datum und so weiter und so fort. Er findet eine Firma, die
sich auf Überseereisen dieser Art spezialisiert hat. Vier Männer kommen mit einem Lastwagen, auf dem glattgehobelte, helle Bretter, Holzwolle, große Platten Buchbinderpappe,
Leinwand, Ölpapier auf Rollen, meterweise Band, Strick und was noch alles geladen ist,
das man zum Verpacken benötigt.
Der Schuppen wird leergeräumt, und die Leute brauchen eine Woche, bis Johanns Gepäck in acht großen Kisten verstaut ist. Eigentlich hätten sieben gereicht, aber Christiane
meint, das brächte Unglück, und so darf Annemarie für die achte Kiste Sachen aussuchen, die Johann ihrer Ansicht nach gebrauchen könnte oder die, wie jene handbemalte
Sammeltasse mit dem Stadtwappen von Seligenbrunn, ihn stets an zu Hause erinnern
sollen. Ob Annemarie wirklich versteht, was jetzt geschieht, darüber ist sich Johann seinerseits nicht ganz sicher. "Du schreibst mir doch mal, Papa", sagt sie, und er verspricht
es.
Als Handgepäck nimmt er den Lederkoffer seiner Mutter, aber der Haufen Reisepapiere
und persönliche Dokumente machen eine extra Tasche nötig. Immerhin ist darin noch
Platz für den Proviant, den ihm Christiane für die Bahnfahrt bis Hamburg mitgibt. Die beiden bringen ihn zum Bahnhof Reiherstor, er steigt ein, und sie winken sich zu. "Wo soll's
denn hingehen?", erkundigt sich der Reisende, der Johann gegenüber sitzt. "Nach San
Gabriel." "Dann befinden Sie sich auf einer Wallfahrt?" "Nein", sagt er und schaut aus
dem Fenster; oben am Wilhelmsberg entschwindet gerade das Schloss aus dem Blick.
"Aber was für eine Reise das wird, kann ich Ihnen erst sagen, wenn ich wieder zurück
komme."
Als Johann in Hamburg an Bord des Amerika-Dampfers "Oceana" geht, deutet in Europa
alles auf einen Krieg hin. Während der Überfahrt ereignet sich in Sarajewo das Attentat
auf den österreichisch-ungarischen Kronprinzen Franz Ferdinand. Daraufhin erklärt Österreich Serbien den Krieg. Als das Schiff in Buenos Aires anlegt, kämpft Deutschland bereits als Verbündeter Österreichs gegen Russland. Aber die Zeitungen in Buenos Aires
berichten auf der Titelseite über den Gesundheitszustand des Präsidenten Roque Saenz
Pena, und noch bevor Johann die Hauptstadt verlässt, um ins Landesinnere weiterzureisen, ist der Präsident gestorben. Sein Nachfolger heißt Victorino de la Plaza. Alles Namen, die Johann nie gehört hat, aber die Orte an der deutsch-russischen Front waren ihm
ebenso unbekannt. Er beschließt, vorerst überhaupt keine Zeitung mehr zu lesen.
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Seine Kisten sind zwar ausgeladen und in einem Lagerhaus der Zollbehörde abgestellt
worden, aber die Herausgabe verzögert sich um zwei Tage; den Grund dafür kann er
nicht in Erfahrung bringen. Der Zollbeamte hatte ihm eine wortreiche Erklärung gegeben
und ihn für übermorgen wieder herbestellt.
Johann übernachtet in einem Hotel; das Zimmer ist auf den ersten Blick abstoßend hässlich und äußerst dürftig eingerichtet. Es hat neben dem Bett nur einen Hocker, auf dem
eine Schüssel mit einer Wasserkanne steht. Ganz hinten auf dem Gang gibt es eine Toilette, die man von innen nicht verriegeln kann. Dort ist auch ein Wasserhahn. Johann
fragt nach einer Möglichkeit, zu Abend zu essen, aber die Frau, die unten an der Tür in einem Kabuff sitzt, versteht nicht, was er will. Er kämpft mit dem Hunger und kann sich, erschöpft wie er ist, doch nicht überwinden, irgendwo in den Straßen nach einem Restaurant zu suchen. Zudem ist es dunkel und er könnte sich verlaufen.
Spät abends klopft es an die Zimmertür. "Quien es?", ruft Johann. Jemand antwortet, er
kann das Wort aleman heraushören. Er öffnet. Auf dem Gang steht ein Mann mit einem
Holztablett vorm Bauch. "Cocina aleman", sagt er, "Deutsch Kuche." Er lüftet das Tuch,
das darübergedeckt ist, und präsentiert etwas zu essen, das irgendein Zwischending aus
belegten Brötchen und gefüllter Teigtasche ist, im fahlen Licht der einzigen Lampe kann
man es nicht genau erkennen, aber es duftet ganz appetitlich. Er nimmt zwei davon. Der
Mann zieht unter dem Brett ein Stück Papier heraus und wickelt freihändig die Teigtaschen darin ein.
Johann setzt sich auf die Bettkante, breitet das Papier auf den Knien aus und lässt es
sich schmecken, sie sind wirklich nicht übel. Als er die zweite verzehrt, sieht er, daß jemand einen Namen und eine Adresse auf eine Ecke vom Papier notiert hat. "Jeder echte
Reisende ist abergläubisch", hatte er in Mahlbergs Reisebericht über Südamerika gelesen, mit dem er sich über seine eigene kundig machen wollte. Viel Praktikables hatte er
dem Buch nicht entnehmen können. Es sei denn, denkt Johann, daß sich der Wert von
Mahlbergs Ratschlägen erst vor Ort erweist. "Jeder echte Reisende ist abergläubisch" sollte heißen: Man weiß nie, wann eine auf ein Stück Papier gekritzelte Adresse einem
nützlich sein kann.
Beim zweiten Mal ist der Zollbeamte in eine hitzige Diskussion mit einem Mann verwickelt,
der sich anscheinend über irgendetwas beschwert. Sie wollen beide nicht nachgeben und
fallen einander ständig ins Wort. Nach einer Weile merkt Johann, daß keiner von ihnen
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wirklich wütend ist, im Gegenteil, man kann ab und zu auf ihren Gesichtern ein angedeutetes Lächeln erkennen, als würde es ihnen Spaß machen, sich mit einem endlosen Hickhack die Zeit zu vertreiben.
In dem Raum ist es ziemlich stickig, der Ventilator an der Decke steht still. Johann wartet
vor der Tür, die beiden streiten sich unermüdlich weiter. Dann kommt jemand, der auch
ins Zollbüro will, er fragt Johann, ob er wartet. Er sagt ja. "Warum gehen Sie nicht rein?"
"Wie Sie hören können, ist jemand drin." "Aber wenn Sie nicht reingehen, werden die
heute nicht mehr fertig, Sie müssen sich schon bemerkbar machen." "Aha." "Sie sind
noch nicht lange hier?" "Seit zwei Tagen." "Hier herrscht das Gesetz der Verdrängung,
verstehen Sie, einer verdrängt den andern, und wenn man nicht aufpasst, wird man selbst
verdrängt." "Ich verstehe, aber ich will mich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen."
"Nun, dann werde ich das für Sie tun, Sie erlauben." Er geht an Johann vorbei, öffnet die
Tür zum Büro und verschwindet darin. Dann hört man, wie er die beiden unterbricht und
den Zollbeamten etwas fragt, der antwortet kurz und bündig, beinahe kleinlaut. Kurz darauf kommt der andere wieder heraus, er schenkt Johann keine Beachtung mehr. Der
geht abermals hinein.
Sei es nun, daß sie durch die Störung den Faden verloren haben, oder daß der Zollbeamte durch den Mann von eben wieder an seine Dienstpflichten erinnert wurde, jedenfalls
fertigt er den Streithahn kurzerhand ab, drückt einen großen Stempel auf ein Dokument,
setzt sein Signum darunter und händigt es ihm aus. Der bedankt sich mit zufriedener Miene, als habe die Regelung seiner Angelegenheit keine drei Minuten gedauert.
Der Beamte kann sich sehr gut an Johann erinnern. "Senor Melzer, es gibt ein kleines
Problem mit ihren Kisten." "Was für ein Problem?" Er nimmt sich vor, seinen Ton etwas
zu verschärfen; der Beamte hat dafür ein feines Gehör. "Kommen Sie mal mit", sagt er.
Sie gehen nach hinten in den eigentlichen Lagerraum, der über und über mit Frachtgut
vollgestopft ist, wie es mit den Schiffen aus aller Herren Länder im Hafen von Buenos Aires ankommt. Johann kann seine Kisten nirgends entdecken.
"Dies hier", erläutert der Beamte, "ist natürlich nur einer von vielen Lagerräumen unserer
Behörde, Sie können sich sicher vorstellen, daß bei uns jeden Tag so viel ankommt, wie
allein hier hineinpasst. Unglücklicherweise ist eine andere Lagerhalle ... im Umbau, man
kann sie vorübergehend nicht abschließen, was natürlich unbedingt nötig ist bei den Werten, die hier herumliegen ... schauen Sie bloß mal dort ..." "Senor", unterbricht ihn Johann,
"was ist mit meinen Kisten?" "Das erkläre ich Ihnen ja gerade." "Nein, Sie haben mir er-
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klärt, daß eine Ihrer Lagerhallen nicht genutzt werden kann." "Eben. Und daher ist es unumgänglich, daß wir hier noch zusätzlich Frachtgut unterbringen müssen, deswegen ist
es momentan auch so voll. In den letzten zwei Tagen ist allerhand hinzugekommen, dadurch ist der Zugang zu Ihren Kisten vorübergehend versperrt, aber ich versichere Ihnen,
Senor Melzer, sie sind alle noch da, und sobald die anderen Sachen abgeholt sind, kommen wir wieder heran."
"Wo stehen sie?" "Da drüben." "Was ist das für Zeug, das davor steht?" "Links das ist von
einem Italiener, er hat ein Geschäft in Rosario, er holt seine Waren in spätestens zwei Tagen ab, Sie können sich darauf verlassen." "Und das auf der anderen Seite?" "Die Fässer? Ach, das ist nicht so wichtig, wenn die Sachen von dem Italiener weg sind, dann
kommen wir an Ihre Kisten heran, da stören die Fässer gar nicht."
"In zwei Tagen, sagen Sie?" "Ja, zwei oder drei Tage." "Zwei oder drei?", fragt Johann
scharf. "Na, ich sagte, in zwei Tagen. Sie sehen doch, was hier los ist." "Ich komme übermorgen wieder." "Gut. Das würde ich Ihnen auch empfehlen, denn wie Sie wissen, erhöhen sich die Lagergebühren mit jedem weiteren Tag um fünf Prozent." "Wie bitte?" "Nun,
schauen Sie, Senor Melzer, wenn wir diese Bestimmung nicht hätten, dann würden einige
Leute es ausnutzen, hier zu günstigen Konditionen ihre Waren unterzustellen, Sie verstehen, so sicher wie hier beim Zoll sind sie kaum irgendwo, in ganz Buenos Aires nicht."
"Soll das heißen, ich muss für die zwei Tage Lagergebühren bezahlen?" "Für vier Tage.
Sie haben doch gewiss die Bestimmungen gelesen, sie stehen auf der Rückseite der Bescheinigung, die Ihnen bei ihrer Ankunft ausgehändigt wurde." Johann spürt, wie er wütend wird, der Beamte sagt "Gedulden Sie sich bis übermorgen, Senor Melzer, ich bin sicher, daß der Italiener pünktlich seine Sachen abholt", und es klingt so, als könne er, falls
es Johann in den Sinn käme, sich zu beschweren, auch dafür sorgen, daß die Sachen
des Italieners gar nicht so einfach hier herauszuschaffen sind, wie man sich das zuerst
dachte.
An diesem Abend kommt der Mann mit den Teigtaschen nicht vorbei, und Johann schläft
mit knurrendem Magen ein. Am nächsten Morgen sucht er ein Restaurant in der Nähe,
frühstückt dort ausgiebig und läuft den Weg zum Hotel langsam zurück, um ihn sich für
abends einzuprägen.
Dann geht er zum Bahnhof, um die Fahrkarte zu lösen und den Transport seines Gepäcks zu organisieren. Er denkt sich, wenn damit alles klar ist, könnte er den Zollbeamten
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eventuell unter Druck setzen, falls der die Herausgabe seiner Kisten weiter verzögern will.
Am Fahrkartenschalter verlangt er ein Billett nach San Gabriel. "Welches San Gabriel?",
fragt der Mann freundlich, "San Gabriels gibt es mehrere. Wir haben eins im Norden, eins
am Rio Parana, eins in Patagonien, eins auf der Strecke nach Santa Rosa, eins auch
ganz in der Nähe." "Es hat eine Bahnstation", sagt Johann. "Senor, die San Gabriels, die
ich meine, haben alle eine Bahnstation. Die, ich weiß nicht, wie vielen anderen, kommen
für uns doch gar nicht in Betracht, oder?" "Ja, das ist richtig. Ich habe hier ein Photo,
vielleicht können Sie besser als ich erkennen, um welches San Gabriel es sich handelt."
Der Bahnbeamte nimmt ohne ein Zeichen von Verwunderung darüber, daß der andere
gar nicht genau weiß, wohin er will, das Photo und schaut es sich an. "Einen Moment, Senor", sagt er dann und geht damit ins Hinterzimmer, wo er zwei Kollegen zu Rate zieht. Es
geht reihum und wird aufmerksam begutachtet, und offenbar weiß jeder von ihnen zweifelsfrei, welches San Gabriel darauf zu sehen ist, allerdings meint jeder ein anderes.
Der Bahnbeamte kommt zurück zum Schalter, er fragt Johann, ob er vielleicht noch ein
anderes Photo habe. Er gibt ihm eins mit einem markanten Berg in einer Ebene, und
diesmal ist sich einer der drei Männer absolut sicher. "Das ist der Cerro Blanco. Mein Bruder ist selbst schon dort gewesen. Das ist das San Gabriel am Rio Altanero." Er weiß es
am besten, und die anderen geben ihm recht.
"Wann wollen Sie fahren?", fragt der Bahnbeamte, nachdem er Johann die Photos zurückgegeben hat. "Das kommt darauf an, wie ich mein Gepäck mitnehmen kann." "Wieviel Gepäck haben Sie?" "Acht Kisten." "Wie groß ist eine einzelne Kiste?" Johann nennt
Breite und Höhe. "Das ist kein Problem. Allerdings werden die Kisten in einem separaten
Güterzug transportiert, der nächste fährt morgen früh."
Johann erklärt ihm, wie es sich mit der Zollbehörde verhält. "Dann übermorgen früh,
sechs Uhr dreißig. Sie können die Kisten morgen abend verladen lassen. Sie können
dann selbst übermorgen zehn Uhr den Zug nach San Juan nehmen, dort übernachten
und am nächsten Tag nach San Gabriel weiterfahren."
"Wie weit ist das von hier?" "Von Buenos Aires nach San Gabriel am Rio Altanero?" Hinter Johann hat sich eine Schlange gebildet. Der Bahnbeamte hat es eine Weile ignoriert,
jetzt schaut er über Johanns Schulter hinweg, es scheinen ihm zu viele zu werden. Er ruft
einen Kollegen, der seinen Platz übernimmt und sagt zu Johann "Kommen Sie mal he-
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rein, gehen Sie dort durch diese Tür."
In dem Büro hängt eine Karte von Argentinien an der Wand, auf der das Eisenbahnnetz
des Landes eingezeichnet ist. "Hier ist Buenos Aires." Sein Finger geht über die ganze
Breite der Karte hinweg bis fast an die westliche Grenze. "Und dort liegt San Gabriel, das
sind etwa tausend Kilometer."
Johann versinkt in die Betrachtung der Karte. Schließlich sagt der Beamte. "Was wollen
Sie denn mit Ihren Kisten in San Gabriel am Rio Altanero, wenn ich fragen darf?" "Ich bin
Photograph, ich möchte dort ein photographisches Atelier eröffnen." "Das ist eine famose
Idee", sagt der andere. "Allerdings könnten Sie das auch hier in Buenos Aires tun; Sie ersparen sich die lange Reise und Sie finden hier gewiss sogar eine bessere Räumlichkeit.
Außerdem haben Sie in der Hauptstadt mehr Kunden. Ein Verwandter von mir ist Heiratsvermittler, der kann sich vor Interessenten kaum retten, und jeden Tag kommen mit so
vielen Schiffen immer neue Männer an, von denen viele eine Frau zum Heiraten suchen.
Überlegen Sie doch mal: die wollen alle ein Hochzeitsphoto haben."
"Ja, das klingt verlockend. Aber ich habe mich nun mal für diesen anderen Ort entschieden." "Sie haben recht, Senor, ein Mann sollte zu seinem Entschluss stehen. Lassen Sie
sich nicht von einem alten Eisenbahnangestellten beschwatzen. Im übrigen können Sie ja
jederzeit hierher zurückkehren. Dann werde ich Ihnen jetzt die Fahrkarte ausstellen. Den
Frachtschein für das Gepäck erhalten Sie, wenn Sie es hier abgeben, ich reserviere
schon den Wagen dafür."
"Muchas gracias. Können Sie mir eventuell auch einen Transport von der Zollbehörde
zum Bahnhof vermitteln?" "Acht Kisten, sagten Sie?" Er überlegt kurz. "Ich schicke Ihnen
einen Kutscher mit einem Gespann dorthin, um welche Uhrzeit?" "Um zwölf. Mein Name
ist Johann Melzer." "Ihre persönlichen Angaben brauche ich jetzt sowieso für die Fahrkarte." "Ja, natürlich."
Abends hat das Restaurant, das er sich vorgemerkt hatte, geschlossen, an der Scheibe
hängt ein Zettel, auf dem irgendetwas von einer Familienfeier steht, drinnen ist alles dunkel. Zum Glück findet er zwei Straßen weiter ein anderes, das ihm sogar besser gefällt, es
ist geräumiger. Es ist ein langgestreckter Saal mit schlanken, marmorierten Säulen im
vorderen Bereich, zwischen denen verschnörkelte Ringe mit erleuchteten Glaskugeln herabhängen.
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Um runde Tische herum stehen einfache Caféhausstühle; wer es bequemer haben möchte, kann sich auf einem der Sofas zu beiden Seiten niederlassen, die mit tiefrotem Samt
überzogen sind und über denen schmale Spiegel mit vergoldeten Rahmen an der Wand
hängen. Halbhohe Paravents aus Streifen von hellen Palmblättern geben jeder dieser gemütlichen Nischen etwas Apartes, und das gedämpfte Licht der kleinen Tischlampen mit
grünem Schirm lässt manchen Gast im Halbdunkel verschwinden.
Je weiter die Stunde vorrückt, umso munterer und turbulenter wird es draußen auf der
Straße, und durch die großen Fensterscheiben, auf denen mit goldener Schrift der Name
"Bonafide" steht, kann Johann auf den Strom der Passanten blicken.
Noch vor einer knappen Stunde, als er ins Restaurant gekommen war, saßen drei, vier
Gäste an den Tischen, und ein Kellner machte gemächlich seine Runde. Jetzt bietet sich
ein ganz anderes Bild. Das Lokal füllt sich, weiter hinten wird Licht gemacht, und der Kellner bedient längst nicht mehr als einziger die Gäste. Eine ganze Truppe mit weißen Hemden und roten Westen ist emsig in Bewegung.
Es wird warm und wärmer hier drin, und Johann hängt sein Jackett über den Stuhl. Von
der Küche her durchziehen immer neue Wohlgerüche den Raum, und an der Bar neben
der kleinen Tanzfläche sind bereits die meisten Hocker besetzt, und drei Barkeeper mit
etwas ernster Miene servieren Cocktails in allen Farben.
Nach dem reichlichen Essen mit zwei Glas rotem Wein hat Johann einen Kaffee bestellt,
dann überredet ihn der Kellner, noch einen anderen Wein zu probieren, der auch vorzüglich ist, und Johann hat ein weiteres Glas davon getrunken, als wie aus dem Nichts an
seinem Tisch eine Dame auftaucht und sich an seine Seite setzt.
Sie legt eine Hand auf Johanns Unterarm und sagt "Wissen Sie eigentlich, Senor, warum
Männer wie Sie immer allein an einem Tisch sitzen?" "Weil sie es genießen?", stellt er die
Gegenfrage. Sie lacht, klopft auf seinen Arm und lehnt sich zurück, ihr Lachen klingt ein
wenig geringschätzig.
Dann beugt sie sich wieder vor, und Johann überlegt, ob der mit Alkohol angereicherte
Atem zwischen ihnen von ihr oder von ihm oder von beiden stammt. "Nein, mein Lieber",
sagt sie und fasst seine Krawatte knapp unterm Knoten, "ich sage dir, warum: weil solche
Männer keine Aura haben, deswegen ist so viel Platz um sie her." Sie lässt seine Krawatte wieder los und macht eine ausholende Geste. "Männer mit Aura scharen andere Män-
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ner um sich." "Und Frauen wahrscheinlich", ergänzt Johann.
"Und Frauen natürlich. Siehst du den dort, den Fetten mit der Glatze? Siehst du, wie viele
Leute um den herumhocken wie um einen Wahrsager? Der hat Aura. Der hat jede Menge
Aura." "Vielleicht ist er tatsächlich ein Wahrsager." Sie prustet heftig und schaut Johann
ungläubig an. "Kennst du den nicht?" Er schüttelt den Kopf.
"Das ist Fernando Fox, ein Abgeordneter der Ultraliberalen." "Ah, ein Politiker, na gut,
dann hat er auch etwas von einem Wahrsager, solange ihm die Leute glauben." Sie lachen, er fragt "Und warum sitzen Sie nicht auch da drüben, sondern bei mir und sagen
mir so wenig schmeichelhafte Dinge?" "Ich habe dich schon eine Weile beobachtet", sagt
sie und nimmt einen Schluck von seinem Wein.
"Ach ja, wirklich?", erwidert er unbeeindruckt, dann meint er "soll der Kellner noch ein
zweites Glas bringen?" "Bis der mal hier vorbeikommt, bin ich längst verdurstet." "Dann
trinken Sie weiter aus meinem." "Ja, danke. Ich heiße Carmen." "Johann. Freut mich, Ihre
Bekanntschaft zu machen." "Don Juan." "Ich fürchte, dafür fehlt mir die nötige Aura." "Ja",
lacht sie, "und ich habe auch kein Messer dabei."
Sie blickt hinüber zu dem umlagerten Politiker, und Johann betrachtet sie. Sie ist jung und
hübsch, sie hat schwarzes Haar, glatt nach hinten gekämmt und zu einem Knäuel gebunden, es glänzt im Lichtschein wie Tinte. Über ihrem rechten Ohr steckt eine weiße Blüte.
"Warum starrst du mich so an?", sagt sie. "Nur so, weil du da bist." Er spürt, wie der Wein
anfängt, ihm die Sinne zu verdrehen.
"Gefalle ich dir etwa nicht?", fragt sie, und da erst kommt er auf den Gedanken, sie könnte eine Prostituierte sein. "Nein, ja ... ich meine ... das ist eine dämliche Frage." "Ja, sie ist
wirklich dämlich. Ich stelle sie auch nur, um zu erkennen, wie dämlich der ist, der auf sie
anspringt." "Ah, dann ist das jetzt so etwas wie eine Intelligenzprobe?" "Ich habe mich
auch schon mit Männern abgegeben, die weniger Grütze im Kopf hatten als du, bilde dir
also nicht zuviel darauf ein." "Schade, ich hatte gerade damit angefangen." Sie lacht wieder, es scheint ihr zu gefallen, wie er mit ihren Grobheiten umgeht.
Auf einem Podest neben der Tanzfläche haben ein paar Musiker angefangen zu spielen
und locken sogleich einige Paare an, die sich in dem schummerigen Licht dort hinten in
sanften Bögen über das abgewetzte Parkett schwingen.
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"Wollen wir tanzen?", fragt er Carmen, und sie sagt "Ja gern", aber indem sie sich erheben, kommt ein kleiner, älterer Herr mit einem Spitzbart und einer Brille mit sehr dicken
Gläsern heran, blickt zwischen den beiden hindurch und ruft "Carmen, bist du hier? Oh,
du Treulose! Du hast dich nicht an unsere Abmachung gehalten, schäm dich, Töchterchen."
Dann bemerkt er Johann. "Wer ist das?", fragt er. Carmen sagt "Das ist ein alter Freund
von mir." "Ich heiße Johann Melzer, ich bin aus Deutschland." "Aus Deutschland? Ah, prekrasno! Ich heiße Jewgeni Schavelson, ich bin Russe, sehr erfreut." "Ganz meinerseits."
"Du hast mir nie von deinem deutschen Freund erzählt." "Wir hatten uns aus den Augen
verloren." "So, dann feiert ihr jetzt schönes Wiedersehen." Während er spricht, starrt er
durch seine Brillengläser ins Leere, es sieht aus, als würde er alles hinter sich wahrnehmen.
"Er kennt Lenin", flüstert Carmen. "Wen?", fragt Johann. "Lenin, den Führer der russischen Bolschewiken." "Aha." "Was hast du gesagt?" "Ich habe gesagt, daß du Lenin
kennst." "Ja, das stimmt, aber diese Bekanntschaft hat mir schon eine Menge Ärger eingebracht." "Nun übertreibe nicht, Jewgeni. Ohne deine Bolschewiken wärst du niemals bis
nach Buenos Aires gekommen."
"Das war auch gar nicht meine Absicht." "Manche behaupten, Jewgeni arbeitet hier für die
Kommunistische Internationale", sagt Carmen, als habe er ihnen den Rücken zugekehrt.
Aber er blickt immer zwischen ihnen hindurch. "Was hast du gesagt?", fragt Jewgeni; er
scheint auch schlecht zu hören. "Hüte deine Zunge, mein Töchterchen, und außerdem
bist du mir noch eine Erklärung schuldig." Sie prustet wieder wie vorhin und lacht ihn aus.
Da kommt ein junger blonder Mann und sagt "Jewgeni Andrejewitsch, Sie sind uns noch
eine Erklärung schuldig!" Carmen lacht von neuem. "Ist das dein neuer Geliebter?" Der
Blonde schaut sie entgeistert an; Jewgeni spricht geradeaus gegen Johanns Brust. "Was
habe ich?" Der Blonde sagt etwas vorsichtiger "Jewgeni Andrejewitsch, Sie haben uns
noch nicht verraten, weshalb die Bauern sich niemals auf die Sozialdemokraten verlassen
dürfen."
Jewgeni hebt den Zeigefinger wie ein kleiner Oberlehrer. "Sie dürfen schon, aber sie sollten nicht. Ah, frag' doch den Senor hier, er ist aus Deutschland, frag' ihn, wie sich die Sozialdemokraten verhalten, wenn es drauf ankommt. Nicht wahr, Senor ..." "Melzer, Johann
Melzer." "Senor Melzer, was haben die deutschen Sozialdemokraten getan, um den Krieg
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zu verhindern?" Der Blonde schaut Johann an, der sagt "Es tut mir leid, aber ich bin vollkommen unpolitisch, ich bin Photograph."
"Photograph?", sagt der Blonde voll Bewunderung. "Was photographieren Sie?" "Alles,
was gewünscht wird." "Könnten Sie ein Photo von mir machen?" Es verwirrt Johann. "Ja,
warum nicht, allerdings bin ich nicht mehr lange hier und muss noch einige Dinge erledigen." "Dann machen wir es gleich." "Was?" Johann schaut sich um, im Bonafide ist es
jetzt wie in einem Hexenkessel. "Wie stellen Sie sich das vor, ich habe gar keine Kamera
dabei."
"Worum geht es denn?", fragt Jewgeni dazwischen. "Er klärt ihn über die Sozialdemokratie auf", sagt Carmen und zwirbelt Jewgenis Haare zwischen den Fingern. "Ach, verlorene
Mühe", winkt er ab, "die Sozialdemokratie ist für das Proletariat, was die Babylonische
Gefangenschaft für die Juden war: man kann sich damit abfinden, aber man kann sich
nicht davon befreien."
"Ich wollte gerade mit der Senora tanzen", erklärt Johann, aber der andere lässt nicht locker. Er wohne hier ganz in der Nähe. "Jewgeni Andrejewitsch, dürfen wir für eine Stunde
Ihr Auto nehmen?" "Sie fahren Auto?", fragt Johann den Russen. Der sagt irgendwas.
Johann hat eine Kamera im Handgepäck, das Hotel ist gleich um die Ecke. Er sieht Carmen an, sie lacht. "Na los doch, in einer Stunde sind wir wieder hier." "Du kommst mit?"
"Wir kommen alle mit." Sie hakt Jewgeni unterm Arm ein, und der Blonde verschwindet
für einen Moment.
Zwei Minuten später steigen sie in Jewgenis Auto. Am Steuer sitzt ein anderer junger
Mann, im Schein der Straßenlaternen kann man sein hübsches Gesicht erkennen. "Hola
Carmen, que tal?", sagt er. "Hola José, esta bien." Der Blonde setzt sich auf den Beifahrersitz, Jewgeni klemmt sich hinten zwischen Carmen und Johann. "Ist das mein Wagen?", fragt er.
Johann wird es unterwegs übel. Im Hotel beugt er sich über das Klosettbecken, Carmen
und der Blonde stehen hinter ihm. "Welches Zimmer ist es?", fragt sie. "Das mit der blauen Tür", röchelt er. Sie holen seine Kamera. "Das Stativ und das kleine Blitzlicht auch",
ruft er. Es geht ihm wieder besser, und dann fahren sie weiter.
Sie halten in einer Seitenstraße, der Blonde stürmt vorneweg und zieht Johann mit sich.
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José muss die ganze Ausrüstung schleppen, aber das Zeug gefällt ihm. Carmen hat Jewgeni am Arm. Sie durchqueren drei Hinterhöfe und biegen nach links in einen Gang ein,
den fahles Licht beleuchtet. "Das hier kenne ich", meint Jewgeni, während er starr vor
sich hinblickt wie ein nachtblindes Tier.
Sie steigen eine Treppe hinauf bis in den dritten Stock. José kommt keuchend oben an.
"Wohin jetzt damit?" Carmen tätschelt ihm die Wange. Eine Wohnungstür steht offen,
Stimmen und Musik dringen heraus, dann erscheint eine dralle Frau im Unterkleid, sie
spricht Jewgeni an. "Wer ist das?", fragt er Carmen; die Frau langt hinab und kneift ihn in
den Hintern, daß er meckert wie eine Ziege.
Der Blonde führt alle in ein Zimmer, wo über eine ganze Wandbreite eine bemalte Leinwand hängt wie die Kulisse in einer Oper; sie zeigt eine Landschaft, wie sie Johann von
den Photos her kennt, hügelig und steinig, mit kargem Bewuchs und mit einem Tal, das
zu schneebedeckten Bergen hin führt.
"Ist das nicht prächtig?", sagt Carmen. "Wir brauchen mehr Licht." "Mehr Licht!", ruft Jewgeni theatralisch, und José muss lachen. Der Blonde schaltet alle Lampen an und sagt
"Ich ziehe mich um, ich bin gleich wieder da." Die Frau im Unterrock kommt herein, mit
zwei Gaslampen in Händen, Johann nimmt sie ihr ab und platziert sie günstig. Sie geht,
Jewgeni ruft "Senora, un momento, por favor", und folgt ihr.
Drei Kinder, zwei Mädchen und ein kleiner Junge tauchen auf und schauen neugierig zu.
Indem es heller wird, kommen die Farben auf der Leinwand erst richtig zur Wirkung, es ist
eine Landschaft unter sommerlicher Hitze, und der Schnee auf den Gipfeln leuchtet gegen das Blau des Himmels an. Johann ist sprachlos, er steht wie in Andacht vor einem
Heiligenbild.
José und Carmen fummeln hinten herum, und als sie sieht, wie ergriffen Johann ist, gebietet sie José Einhalt; die Kinder wundern sich. Plötzlich erscheint von der Seite ein General auf der Szene, und alle treten überrascht einen Schritt zurück.
Es ist der General José de San Martin, er trägt eine dunkelblaue Uniform mit riesigen
Epeauletten, die büschelartig über seine Schultern wallen; mit goldenen Knöpfen und einem breiten weißen Gürtel, auf dessen Schloss der goldene flammende Granatapfel
prangt. Er trägt einen grazilen Säbel an der Seite, und quer über die Brust und um den
Bauch ist eine hellblaue Schärpe gebunden, deren Enden mit langen Quasten herab-
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hängen.
Es ist nicht San Martin, denn der ist seit über sechzig Jahren tot; es ist der Blonde in seiner Gestalt, und er ist sehr darauf bedacht, seinen Auftritt auszukosten, ohne zu übertreiben, was ihm sichtlich schwer fällt. Er möchte kraftvoll, fest entschlossen und bescheiden
zugleich erscheinen, aber obwohl ihm die Uniform wie angegossen passt, stolziert er darin umher wie ein verängstigter Hahn, dem sein Vorrang auf dem Hof verlustig ging.
Carmen muss grinsen, und José fährt unbeeindruckt fort, sie zu befummeln. Johann lässt
sich nichts anmerken und gibt dem General ein paar routinierte Hinweise, wie er sich hinstellen soll, aber der Jüngling macht nur süßliche Gesten daraus.
Ein schlecht rasierter Mann, der nach Knoblauch riecht, schaut anscheinend nach den
Kindern. Dann tritt er an Johann heran und flüstert "Da auf dem Gemälde, das ist der Ort,
wo General San Martin gerastet hat, als er über die Anden zog." "Warum?" "Bitte?" "Warum ist er über die Anden gezogen?" "Es war Krieg", erklärt der andere und fügt mit einem
Fingerzeig auf den Jüngling bedeutsam hinzu "Dies ist eine von den drei originalen Uniformen des Generals, die noch existieren." "Tatsächlich?" "Ja. Eine ist in Frankreich, die
letzte, die er getragen hat, weil er dort gestorben ist; eine hat der argentinische Staat in
der Schatzkammer; und diese hier hat Emilio."
Johann macht eine weitere Aufnahme und fragt ebenso leise "Wie ist er dazu gekommen?" "Familienbesitz", deutet der andere an. "Aha." Es wird wohl einen Grund dafür geben, denkt Johann, daß er damit nicht zu irgendeinem Photographen geht.
Man hört José hinten stöhnen und Carmen lachen. Johann wendet sich um und sagt zornig "Also bitte, könnt ihr nicht einen Moment still sein!" Sie hören auf, die Kinder drehen
ihre Köpfe wieder nach vorn, Emilio sagt "Eins noch. Es ist ungeheuer warm in dieser
Uniform." Tatsächlich läuft ihm der Schweiß über die Stirn, und sein rechtes Bein zittert.
Eine der Gaslampen verlöscht mit einem Zischen; Jewgeni kommt wieder und ruft "Wo
steckt ihr denn nur, ich suche euch überall." Der Mann, der so genau Bescheid wusste,
scheucht die Kinder vor sich her aus dem Zimmer; Johann packt die Photoplatten ein.
"Ich schicke Ihnen die Photos hierher", sagt er freundlich zu Emilio, der sich ganz erschöpft auf einem Stuhl niedergelassen hat. "Ja, ist gut, ich danke Ihnen, gracias Senor ...
ich weiß noch nicht Ihren Namen?" "Juan Melzer." Es war mir eine Ehre, Herr General,
will er hinzusetzen, aber da bemerkt er, daß dem Jüngling vor Anstrengung die Tränen in
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den Augen stehen. Er schaut zu Johann hoch und sagt "Vielleicht ging doch alles ein bisschen zu schnell."
Der Abend ist noch lange nicht vorbei, und es scheint sich zu bewahrheiten, was Carmen
sagte: daß die Nacht in Buenos Aires doppelt so lang sei wie der Tag. Im Bonafide geht
es immer noch hoch her, alle Tische sind besetzt, auf den roten Sofas in den Nischen ist
kein Plätzchen mehr frei, und die Kellner laufen hin und her wie Briefträger mit Eilpost.
Johann glaubt, Fernando Fox, den Abgeordneten wiederzuerkennen, umringt von Leuten,
die in seiner Aura schwelgen. Gleich daneben haben sich welche gefunden, die ebenfalls
über Politik diskutieren, eingehüllt in Tabaksqualm und Weinbukett. Einer ereifert sich
über die hohen Exportzölle, die ein "Dolchstoß" für die Konjunktur des Landes seien, gerade jetzt, da Europa sich im Krieg aufreibt, spätestens aber in ein, zwei Jahren, wenn die
Nationen dort am Boden liegen, hätte man einen ganzen Kontinent als Absatzmarkt.
"Sehen denn das unsere Herren Präsidenten nicht?", wettert er, "wie können sie so töricht
sein und den Exportzoll auf über dreißig Prozent erhöhen! Wenn die Bauern weniger Gewinn haben, werden sie weniger investieren, zumal wenn sie wissen, daß die nächste
Ernte wieder ein Verlustgeschäft wird, da fehlt jeder Anreiz, und der Bauer macht, was er
immer macht, wenn die Zeiten schlecht sind: er bleibt daheim und guckt aus dem Fenster."
Hinten bei der Tanzfläche ist es etwas beschaulicher, weil auf dem Podest jetzt ein beleibter Herr im feinen Anzug und mit leicht brüchiger Stimme Tangos zum besten gibt, zwei
andere begleiten auf Gitarre und Bandoneon seinen Gesang. Die Leute sind hingerissen,
und jedesmal nach einem Lied braust der Beifall auf. Aber der Sänger hat anscheinend
keine Augen für sein Publikum, sein Blick ist nach innen gerichtet, zurück auf die vergangenen Zeiten, auf die immer unheilvollen Affären, von denen seine Lieder - eines wie das
andere - handeln, und Johann wird beim Zuhören rasch klar, daß seine Stimme eben
deshalb Gefahr läuft zu brechen, weil das gleiche mit seinem Herzen geschah. Er kann
nicht glauben, daß all das diesem Mann widerfahren ist, der aussieht, als würde er zuviel
Bier trinken und seinen Lebensunterhalt aus den mageren Gewinnen von Pferdewetten
bestreiten.
So plötzlich, wie Johann Carmen und die anderen getroffen hatte, so unversehens waren
sie auch alle wieder in der Menge verschwunden. Aber dann hält ihm von hinten jemand
die Augen zu, und er erkennt, obwohl er sie bis dahin noch nicht berührt hat, sofort Car-
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mens Hände, sie sind weich und warm, sanft und ein Spur zu trocken, und er fasst sie,
streicht damit über sein Gesicht und küsst sie. "Wo bist du gewesen?", fragt er, ohne sich
umzudrehen. Er spürt, wie sie ihren Kopf an seinen Rücken lehnt und wie behaglich es
ihm zumute ist, als sie sagt "Wollen wir jetzt tanzen?" "Ja gern."
Auf dem Podest hatte die Kapelle vom frühen Abend den Sänger abgelöst, und eine Weile, so scheint es, sind die Paare noch befangen von den schmerzlichen Strophen, die
eben verklungen waren, aber nach und nach kehren die Ausgelassenheit und jenes unstillbare Verlangen zurück, das auch den unglücklichsten unter den Liebenden immer wieder ins nächste Abenteuer treibt.
Als er am nächsten Morgen aufwacht, ist Carmen nicht da, aber ihre Sachen liegen auf
dem Boden. Gleich darauf kommt sie mit einem kleinen Tablett in Händen, auf dem zwei
Tassen und ein Teller mit Gebäck stehen. Sie ist barfuß und hat Johanns Jackett über
dem rosa Unterrock an. "Ich habe die Wirtin überredet, daß sie uns Kaffee kocht. Ich habe ihr etwas Geld gegeben, ist das in Ordnung?" "Ja natürlich", sagt er und versteht, daß
sie es aus seiner Brieftasche genommen hat.
Der Kaffee duftet himmlisch, das Gebäck ist ganz frisch. Es ist mit dieser süßen, cremigen Masse gefüllt, die Johann später noch öfter genießt und die man dulce de leche
nennt, eine karamellfarbenen Mischung aus Marmelade und Milch, deren Zubereitung
etwas Fingerspitzengefühl verlangt. Sie lassen es sich schmecken. Durch das winzige
Fenster kann man sehen, wie die Sonne über der Stadt aufgeht, und in den Straßenschluchten die Schatten ganz langsam hinabkriechen, bis sich die letzten dunklen Flecken am Boden auflösen.
"Ich muss um zwölf am Lagerhaus sein", sagt er. "Ich weiß, du hast es mir gestern Nacht
oft genug gesagt." Er lacht. "Damit ich es nicht verschlafe." "Wir haben es nicht verschlafen." "Nein, und ich fühle mich großartig." "Ich fühle mich auch großartig. Und bis um
zwölf haben wir noch jede Menge Zeit." "Vielleicht macht die Wirtin nachher noch einen
Kaffee für uns?" "Mal sehen", meint Carmen, streift sein Jackett ab, stellt das Tablett mit
dem Geschirr auf den Boden und streckt sich auf dem Bett aus. Johann beugt sich über
sie, und in dem Sonnenstrahl, der gerade eben die Fensteröffnung getroffen hat, tanzen
die Staubkörnchen.
Es war schon angenehm warm am Mittag, obwohl nach dem Kalender noch Winter war.
Der Kutscher, der Johanns Kisten zum Bahnhof schaffen sollte, kam erst kurz nach eins,
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aber der Italiener hatte schon am Vormittag angefangen, seine Sachen zu verladen, dann
war allerdings die Achse an seinem Wagen gebrochen, und es dauerte fast drei Stunden,
bis er einen Ersatz gefunden hatte.
Johann wäre zwar an seine Kisten herangekommen, aber vor dem Tor hatte nur ein Gespann Platz, genauer gesagt: der Zollbeamte erlaubte dort nur ein Fahrzeug, angeblich
der Sicherheit wegen oder zur besseren Übersicht, genau hatte es Johann nicht verstanden. Auf alle Fälle musste er für diesen Tag keine Gebühr bezahlen, wie lange es auch
dauern würde, bis seine Kisten freikommen.
Aber als es auf zwei Uhr zugeht und er immer noch warten muss, wird er langsam unruhig, immerhin ist es bis zum Bahnhof ein gutes Stück Weg. Zudem fängt der Kutscher
zu murren an, weil er - zumindest behauptet er das - die Zeit bereits für eine andere Fahrt
verplant hat. Johann sagt, er wird für den Ausfall aufkommen, er wundert sich dann, mit
wie wenig mehr der Kutscher zufrieden ist.
Kurz vor vier geht die Fuhre dann endlich ab, und glücklicherweise kennt sich der Mann in
der Stadt bestens aus, so daß sie unterwegs nur einmal halten müssen, um den Pferden
Wasser zu geben. Um sechs sind sie am Bahnsteig zum Verladen, und es ist acht Uhr
vorbei, als Johann sich auf den Weg zurück zum Hotel macht. Einer der Arbeiter, der
ebenfalls Feierabend hat, bringt ihn über etliche Gleise hinweg und Bahnsteige entlang
sicher bis auf die Straße.
Die Senora sei dagewesen, sagt die Wirtin unfreundlich wie immer; Johann ist überzeugt,
daß sie ihn vom ersten Augenblick an nicht leiden konnte. Carmen hat einen Zettel unter
der Tür durchgeschoben. "Konnte nicht länger warten. Bin vielleicht abends im Bonafide,
C." Er schaut auf seine Taschenuhr, es ist Viertel vor zehn. Er setzt sich aufs Bett, zieht
die Schuhe aus und gähnt.
Er denkt an Carmens schlanke Hände, an ihr schwarzes Haar, an ihren Mund mit den
weichen Lippen. Er kippt zur Seite und legt die Beine hoch. Er denkt an ihre Schultern,
ihre Hüften, ihre Schenkel, die Augen fallen ihm zu. Er küsst ihren Hals, er leckt an ihrem
Ohr, seine Finger gleiten über ihre Brust und über den Nabel hinweg abwärts. Er setzt
sich auf die Bettkante. Er beugt sich hinab und angelt seine Schuhe, er ist so müde, daß
er den linken nicht mehr vom rechten unterscheiden kann. Er will sich erheben, aber er
schwankt und fällt zurück aufs Bett, er denkt: Wer macht das Licht aus?, und schläft ein.
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Im nächsten Moment fährt er hoch, von außen wird die Zimmertür aufgeschlossen. Er
springt auf, und die Frage, weshalb er den Schlüssel nicht von innen ins Schloss gesteckt
habe, beschäftigt ihn so sehr, daß er nicht gleich mitbekommt, wer in der Tür steht. Die
Wirtin hat sie geöffnet, und sie sagt "Bitte sehr, Senora, hier ist es. Sie können ganz beruhigt sein, niemand wird sie hören."
Johann erblickt ein Frau im schwarzen Kleid, mit breitem Hut und dünnen Handschuhen,
sie sagt "Ach, Johann! Auf dieses Niveau bist du also herabgesunken!" "Christiane! Was
machst du hier?" "Ich habe mit dir etwas zu klären." "Wo ist Annemarie?" "Es geht ihr
gut." Das klingt beinahe so, als wollte sie hinzufügen: seit du weg bist! "Komm' doch
herein", sagt er, sie lacht schrill auf. "Ha! In diese Bude setze ich keinen Fuß!" Er schaut
nach der Wirtin, aber sie ist weg. Hat sie ihn verraten? Christiane steckt die Nase ins
Zimmer. "Es stinkt nach Hurenparfüm bei dir." "Unsinn."
Mit einer Stimme wie ein Inquisitor fragt sie "Hast du mit ihr geschlafen? Ja oder nein?" Er
sagt "Ja." "Wie oft?" "Mehrmals." "Bereust du es?" Er antwortet nicht. "Ich frage dich wieder: bereust du es? Schweiß tritt auf seine Stirn, sein Herz pocht wild, seine Beine zittern,
er antwortet nicht. Sie öffnet ganz ruhig ihre Handtasche und holt einen Revolver heraus,
sie richtet ihn auf seine Brust. Sie spannt den Hahn, Johann sieht, wie die messingglänzende Patrone hinter den Lauf rückt.
"Ich frage dich zum dritten Mal: bereust du es? Antworte!" Er will etwas sagen, aber es
geht nicht, er bringt nur ein merkwürdiges, schmerzvolles Krächzen hervor, wie einer, bei
dem sich der Strick um den Hals zusammenzieht. Er muss husten, er schlägt mit dem
Hinterkopf aufs Bettgestell. Er ist wach und schnappt nach Luft, das kleine Licht brennt, er
kriecht zur Tür und fühlt den Schlüssel, der im Schloss steckt.
Als es wieder gegen die Tür hämmert, ist es schon hell. "Juan, mach' auf!", ruft es von
draußen. Er öffnet, es sind Carmen und José. "Ich denke, dein Zug geht um zehn." "Ja."
Er kramt nach seiner Taschenuhr. "Dann solltest du dich auf die Socken machen." Es ist
halb neun; nach dem Alptraum hatte er fest geschlafen. "Danke, daß ihr mich geweckt
habt", er bringt seinen Anzug in Ordnung, "ihr wisst ja gar nicht, wie froh ich bin, euch zu
sehen." "Ich dachte gestern, du kommst ins Bonafide", sagt Carmen. "Ja, ich wollte, aber
dann hat mich die Müdigkeit besiegt." "Nicht so schlimm." "Nein", sagt er, und sie lächeln
sich beide nochmal an. "Wir fahren dich zum Bahnhof." "Großartig, es muy amable de su
parte."
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Die Waggons erster Klasse sind innen mit hellem, polierten Holz verkleidet, die Metallbeschläge glänzen golden, die Sitze sind gepolstert und mit blauem Stoff überzogen, und
die Fenster haben geblümte Vorhänge. Die Gepäcknetze bieten viel Platz, und am Dach
sorgen kleine Ventilatoren für frische Luft.
In den Wagen fürs einfache Volk stehen Holzbänke mit Lehnen, nicht bequem, aber stabil. Das Gepäck, oder besser gesagt, die Sachen, welche die Leute bei sich haben, sind
bis in den letzten kleinsten Winkel verstaut, sind untergeschoben, gestapelt, festgebunden, aufgehängt oder werden auf sonst eine Weise gehalten, und nur der Gang darf nicht
verstellt werden, damit der Schaffner ungehindert hindurchkommt. Dennoch hat er immer
wieder jemanden zurechtzuweisen, dessen Bagage zu weit auf den Steg gerutscht ist. Da
gibt es Kisten und Körbe, Säcke und Bündel, es gibt Gerätschaften aller Art, Schaufeln,
Äxte, Feldhacken - manches Wanderarbeiters ganze Habe und ganzer Stolz; Küchenstühle und Pferdesättel sind darunter, Kissen, Decken, Tiegel, Töpfe, Kannen, Krüge mit
Öl und Gläser mit Marmelade. Bunte Vögel in Käfigen, junge Hunde in Taschen, Hühner
in Pappkartons. Die Leute reden, schlafen, essen und trinken, die Kinder spielen so gut
es in der Enge geht, und irgendwo dazwischen stillt eine Mutter ihr Baby.
Bei Johann in dem halboffenen Abteil sitzen ein Arzt, eine Nonne in weiß- und taubenblauer Ordenstracht, eine junge Familie mit zwei sehr ordentlichen und artigen Kindern,
ein älteres Ehepaar, beide mit viel Schmuck, aber von bäuerischer Art, sodann ein dünner
Mann mit Brille, der ab und zu etwas in ein Notizbuch schreibt, und eine Frau mit großem
Busen, die ständig einschläft und dann mit offenem Mund schnarcht, aber niemand nimmt
daran Anstoß.
Der Uniformierte auf dem Bahnsteig hatte auf seiner Trillerpfeife gepfiffen und die Kelle
gehoben, die Lokomotive hatte das Signal erwidert, und mit einem leichten Ruck war der
Zug angefahren, aus der Bahnhofshalle hinaus ins Licht des sonnigen Vormittags. Fast
eine Stunde lang war die Fahrt durch das Häusermeer von Buenos Aires gegangen, dann
durch die Vorstadt und die Randsiedlungen bis hinaus zu den Ortschaften, die dabei waren, immer dichter an die Metropole heranzurücken und eher früher als später von ihr einverleibt zu werden.
Dann weitete sich die Landschaft zu einer endlosen Ebene, in der ab und zu ein Pappelwäldchen, ein paar Häuser neben Weiden, eine schwarze Rinderherde auftauchten, oder
ein träger Fluss silbern glänzte, an dem man nicht erkennen konnte, in welche Richtung
er fließt. Neben dem Bahndamm sauste alles in Windeseile vorbei, aber je weiter man in
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die Ferne zum Horizont blickte, um so mehr schien es, als würde man auf der Stelle verharren.
Das Ehepaar redet von nichts anderm, als davon, was in der Stadt in welchem Laden wie
teuer oder in einem andern um wieviel billiger gewesen war. Die Frau holt alle Stunde aus
dem Koffer putzige Kleinigkeiten hervor, die ihr Zuhause verschönern würden: ein Kerzenhalter aus bunt bemaltem Blech zum an die Wand hängen, aus Porzellan ein Walfisch auf
einer Woge, ein Salatbesteck aus Schildpatt.
Der Mann hat große Ringe an seinen dicken Fingern, und als er sich den Walfisch betrachtet, fällt er ihm herunter, glücklicherweise auf seine breiten Schenkel. "Wie gut, daß
es kein Frosch ist", sagt der Arzt, "der wäre gleich weggehüpft", und die Nonne muss
schmunzeln, aber die beiden schauen ihn verständnislos an.
Mit dem Arzt, der Doktor Vicente heißt, kommt Johann ins Gespräch. Er stammt aus
einem kleinen Ort in der Provinz La Rioja, und er ist ihm so verbunden geblieben, daß er
einmal im Jahr dorthin fährt, um alle, die es nötig haben, unentgeltlich zu behandeln. Zwar
gebe es dort einen Arzt, der sich um die Kranken kümmert, der jedoch nur über grundlegende Kenntnisse und eine hinreichende Erfahrung verfüge, während Doktor Vicente in
Buenos Aires studiert hat und überdies ein Spezialist für Kinderheilkunde ist. Er erzählt
Johann eine Reihe teils amüsanter, teils ziemlich trauriger Geschichten, und er meint
dann, er, Johann, habe gut daran getan, nach San Gabriel am Rio Altanero zu gehen, wo
die Verhältnisse, soweit er wisse, für einen Europäer angenehmer seien als in vielen anderen Provinzen des Landes.
In einer ihrer Wachphasen stellt die Frau mit dem dicken Busen den anderen ihre offenbar zahlreiche Familie vor, von der eine Tochter in Los Telares lebt, die zu besuchen sie
eben jetzt unterwegs sei. Dann macht sie wieder ein Nickerchen. Ein andermal fragt sie
den jungen Mann "Was schreiben Sie da eigentlich auf?" Er sagt "Statistische Berechnungen." "Aha." Sie ist sichtlich unzufrieden mit dieser dürftigen Auskunft und meint "Können
Sie einer einfachen Frau wie mir auch erklären, was das bedeutet?"
Er versucht es, aber er gehört zu der Sorte von Experten, die sich nur den Leuten ihres eigenen Fachs richtig verständlich machen können. "Das ist", springt der Doktor ein, "wenn
Sie zum Beispiel zählen, an wie vielen Dörfern mit mehr als drei Häusern wir während
einer Stunde Fahrt vorbeikommen. Das schreibt man dann auf und wenn Sie das - sagen
wir zehn Stunden lang - tun, dann können Sie daraus eine statistische Berechnung über
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die Bevölkerungsdichte machen, ist das korrekt so?"
Der junge Mann schaut ihn an und wackelt mit dem Stift zwischen den Fingern, dann
lacht er bloß wie über einen Witz, den er nicht verstanden hat. Die vollbusige Frau zeigt
sogar ein bisschen Scharfsinn, als sie fragt "Warum müssen es mehr als drei Häuser
sein?" "Das war doch bloß ein Beispiel", sagt der Doktor, und der junge Mann wirft ihm einen Blick zu, der bedeutet: Da sehen Sie, wohin man mit unbegründeten Annahmen gerät.
Aber der Familienvater, der bis dahin geschwiegen hat, meint "Bei mehr als drei Häusern
ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß die Leute nicht schon alle miteinander verwandt
sind und daß in nächster Zeit weitere Häuser hinzukommen." "Machen Sie auch solche
Berechnungen?", will die Frau wissen. "Nein, ich bin Immobilienmakler."
Daraufhin fragt ihn Johann, was denn so der Quadratmeter Grund und Boden im Westen
momentan kosten würde. Der andere erwidert "Senor, wir sind hier in Argentinien, da wird
nichts unter einem Hektar gehandelt, und da müssen Sie Glück haben, einen zu finden,
der sich solcher Fleckchen annimmt. Wenn Sie es zu etwas bringen wollen, dann sollten
Sie zuerst viel Land kaufen, ganz egal, was dann damit geschieht, es gehört jedenfalls Ihnen. Ansonsten murksen Sie so vor sich hin, und es wird doch nichts Gescheites daraus.
Cervantes hat nicht umsonst seinem Helden den Beinamen 'de la mancha' gegeben."
Es entbrennt eine Debatte über die Preisentwicklung beim Kauf und Verkauf von Land, an
der sich auch der Mann mit den Fingerringen beteiligt, der davon offenbar eine Menge besitzt. Als der Makler sagt "Wer Land hat, der steht am Anfang einer Kette von Unternehmungen, die daraus entstehen. Davon wird er langfristig immer profitieren, es ist wie eine
Art umgekehrter Quelle, die in den Boden zurückfließt", da sagt der andere "Ich weiß nicht
genau, was Sie damit meinen, aber ich will Ihnen was sagen: ich habe vor fünfundzwanzig
Jahren Land gekauft, unten in Chubut, dann drüben im Westen, und später am Rio Parana. Seitdem bin ich mit jedem Jahr vermögender geworden, und heute bin ich so reich,
daß es mich gar nicht mehr interessiert, wieviel Geld ich habe." Das war das längste, das
Johann ihn auf dieser Fahrt sagen hörte, und er sieht, daß seine Hände mit den breiten
Ringen an den Fingern dabei ein wenig zittern.
Zwei Stunden lang durchqueren sie ein Regengebiet unter tiefliegenden Wolken hinweg,
aus denen es in Strömen gießt. Dann heitert es sich auf, sie fahren durch eine lange Kurve, und man kann die Lokomotive sehen. Sie machen Halt an einer kleinen Station, um
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Wasser nachzufüllen und sich die Beine zu vertreten; der Schaffner weist die Passagiere
darauf hin, sich nicht zu weit zu entfernen. Es gibt ein paar Händler, die Getränke und einfache Speisen anbieten. Nach einer halben Stunde geht es weiter; über die Hälfte der
Strecke bis San Juan liegt hinter ihnen.
"Was willst du tun, wenn du gefunden hast, was du suchst?", hatte Carmen ihn gefragt,
nachdem sie die Photographien angeschaut und er ihr erklärt hatte, weshalb er unbedingt
zu diesem Ort gelangen müsse. Und da er nicht gleich antwortete, sondern stumm vor
sich hinblickte, meinte sie "Du hast deiner Frau gar nicht den wahren Grund genannt,
stimmt's?" "Nein", sagte er, "wie hätte ich das tun können." Dann fügte er schnell hinzu
"Unsere Beziehung ist nicht mehr dieselbe wie früher."
"Keine Beziehung bleibt so, wie sie am Anfang ist." "Ja, aber ich habe immer mehr das
Gefühl, meine Ehe mit Christiane war von Anfang an anders als ich es mir eingebildet
habe, sie war vom ersten Moment an eine Lüge und eine Täuschung, und ich frage mich,
was sie jetzt noch wert ist, wo sie die ganze Zeit über nur immer erbärmlicher geworden
ist."
"Soll ich dir sagen, was ich davon halte?", hatte Carmen gefragt. "Ja, sag es mir." "Mir
kommt es vor, als suchtest du nach einer Rechtfertigung für das, was du jetzt tust, und du
redest dir ein, du wärst das Opfer, und deine Frau wäre die Schuldige. Aber was ist, wenn
du die treibende böse Kraft bist, wenn in Wahrheit du alles kaputtmachst, Leid über die
andern bringst und deine Familie zerstörst."
Er lachte laut auf. "Warum lachst du?" "Ist das nicht witzig? Ich habe ein einziges Mal
Ehebruch begangen, und zwar gestern Nacht mit dir! Und nun bist ausgerechnet du es,
die mich anklagt. Was bist du? Die Verführung und die Rache in einer Person?" Sie blieb
ruhig. "Ich klage dich nicht an. Was geschehen soll, geschieht, es liegt nicht in unserer
Hand. Vielleicht hätte ich mich nicht mit dir abgegeben, wenn ich die ganze Geschichte
gekannt hätte, aber davon wusste ich nichts - du jedoch sehr wohl. Hast du es nicht gerade deshalb getan? Um deine neue Freiheit zu genießen?" "Vielleicht, ja."
"Mich geht es nichts an, mein Lieber, mich betrifft das nicht, für mich bist du nur ein Mann,
mit dem ich ein paar angenehme Stunden verbracht des Lebens habe. Aber für dich war
es womöglich ein verhängnisvoller Schritt, und vielleicht hast du dir insgeheim schon lange gewünscht, ihn zu tun. Aber dann wäre es besser gewesen, du hättest es daheim getan, denn hier, mein Lieber, bist du allein, hier ist niemand, der dir verzeihen, niemand,
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der dir vergeben könnte, und schon gar niemand, der aus Nächstenliebe deine Schuld auf
sich lädt; und es ist immer schwerer, mit einer Schuld zu leben, als mit einer Strafe."
So hatte Carmen gesprochen, und ihre Worte hatten ihn tief getroffen. Das muss wohl
auch die Ursache für jenen Alptraum gewesen sein, denkt Johann, während er aus dem
Zugfenster schaut. Ja, das wäre eine Erklärung dafür.
San Juan ist ein Knotenpunkt, von dem aus vier Eisenbahnlinien nach den Himmelsrichtungen abgehen. Es verdankt seine ganze Bedeutung diesem Bahnhof und den großen
Obstplantagen mit einigen Fabriken für die Verarbeitung für Trockenobst, die ebenfalls
von der günstigen Verkehrslage profitieren.
Der Bürgermeister des Städtchens ist unermüdlich damit beschäftigt, weitere Industrieunternehmen zu überreden, sich hier anzusiedeln, aber wer will schon dreihundert Kilometer von der nächstgrößeren Stadt entfernt ein Werk aufbauen? Große Hoffnung setzt
er in die Entwicklung der Eisenbahn, man braucht schnellere Züge, damit sich die Transportzeiten und damit quasi die Wege verkürzen.
Wenn man in San Juan aus dem Zug steigt, bietet sich einem ein trostloses Bild, und es
hat den Anschein, als wäre die Zeit, anstatt sich zu verkürzen, eher stehengeblieben. Es
gibt, wie seit nunmehr sieben Jahren, immer noch nur ein einziges Hotel in der Nähe des
Bahnhofs. Weiter drin in der Stadt kann der Reisende in schlichten Zimmern übernachten, die von einheimischen Landbesitzern gekauft oder gepachtet worden sind und für deren Betrieb sich eine Gesellschaft gegründet hat, von der es heißt, ihre Teilhaber seien
hohe Beamte im Verkehrsministerium.
Man kann sich nicht überall zur selben Zeit um die Instandhaltung der Quartiere kümmern, und so befinden sich etliche davon in desolatem Zustand. Es gibt vier oder fünf
Gründe, von denen immer mindestens einer dafür sorgt, daß man in dem Hotel kein freies Zimmer mehr bekommt und daher ein Unterkunft im Ort nehmen muss, wo die Übernachtung merkwürdigerweise doppelt so teuer ist. Sollte man daraus schließen, daß die
Hotelzimmer noch miserabler sind?
Ein leichter Einspänner bringt Johann zu einem Häuschen, in dessen Hinterhof ein
Schuppen oder Stall zu einem Fremdenzimmer ausgebaut worden ist. (Es hätte vielleicht
einen halben Tag gedauert, alles wieder in den vorherigen Zustand zu verwandeln.) Immerhin gibt es einen Abort und fließendes Wasser, das sauber und sehr kalt ist. Das Bett
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ist mit einer löcherigen Decke bezogen, und die Tür hängt so schief in den Angeln, daß
oben und unten ein breiter Spalt klafft, wenn sie geschlossen ist.
Es ist nur für ein paar Stunden, denkt sich Johann, und nach dem langen Sitzen im Waggon wird es guttun, sich ausstrecken zu können. Den Kutscher bestellt er für morgen früh
wieder her. Johann schien es, als wäre er durch die halbe Stadt gefahren, und es war
nicht gerade billig gewesen, aber er hätte allein niemals hierher gefunden und - was noch
fataler gewesen wäre - niemals zurück zum Bahnhof.
Das Licht funktioniert nicht, als er es ausprobiert, und so beschließt er, sich vor dem Dunkelwerden hinzulegen. Weil das Rattern des Zuges noch in seinen Gliedern steckt, kann
er nicht gleich einschlafen, und als er, die Arme unterm Kopf verschränkt, in die Nacht hinaus horcht, vernimmt er aus dem Nebengebäude ein Jammern und Greinen, als fände
dort eine Totenklage statt. Aber zwischendurch hört er schmerzvolles Stöhnen und
Schreie eines Mannes. Er dreht sich auf die Seite, aber bei diesen unheimlichen Lauten
findet er keine Ruhe.
Er steht auf, um nachzuschauen, woher sie kämen. Nebenan steht die Tür offen, und ein
Lichtschein dringt heraus. Er geht hinein, durch eine Küche hindurch. Dort sitzen zwei alte
Weiber, die Hände gefaltet, die Köpfe gesenkt. Aus dem angrenzenden Raum kommt ein
ekliger Geruch. Auf dem Bett liegt ein Mann mit Hose und Hemd, ohne Schuhe, alles ist
blutgetränkt, und das Blut ist stellenweise schon halb getrocknet und dunkel.
Der rechte Ärmel seines Hemdes hängt bis zum Kragen in Fetzen an der Seite, und der
Arm, der darin gesteckt hat, ist zu einem Brei aus Fleisch und Knochen zerschlagen. Aus
dem Loch in seiner Brust schimmern die Rippen, und am Hals blubbern in Abständen
kleine Ladungen Blut aus der offenen Ader, als würden Blasen im Körper des Mannes
aufsteigen und an der Wunde zerplatzen.
Um das Bett stehen ein Menge Leute, darunter ein paar Kinder, aber niemand tut etwas.
Die Frauen halten sich Taschentücher vors Gesicht und heulen. "Um Himmelswillen", ruft
Johann, "was ist passiert?" "Ein Unfall", sagt jemand. "Warum habt ihr keinen Arzt geholt?" "Jemand ist auf der Suche nach ihm", sagt ein älterer Mann mit hochgekrempelten
Ärmeln und blutverschmierten Händen; offenbar hatte er versucht zu helfen. "Wann ist er
los?" "Vor etwa einer Stunde." "Wir müssen die Blutung stoppen." "Ja, aber wie", entgegnet der Mann, "da ist alles aufgerissen."
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Der Verletzte stöhnt, und dann schreit er so furchtbar, daß sich die Kinder hinter den andern verstecken. "Im Hotel am Bahnhof ist ein Doktor, er ist mit der Eisenbahn gekommen, ich könnte ihn holen, wenn es nicht so weit wäre." "Bis zum Bahnhof?", fragte der
andere, und sie müssen sich abwenden, damit sie beim Schreien des Mannes ihr eigenes
Wort verstehen. "Das ist gleich um die Ecke." "Bitte?" "Mario!", ruft er, "Fahr mit dem Senor zum Hotel, da ist ein Arzt."
Sie preschen auf einem Fuhrwerk mit zwei Pferden zum Hotel, Johann weckt den Doktor,
der sich eilig ankleidet, seine Tasche schnappt und mit zu dem verletzten Mann fährt. Johann muss auf der Ladefläche sitzen, und Mario treibt die Pferde so heftig an, daß er
hinten von einer Ecke in die andere geschleudert wird.
Der Doktor schaut sich die Verletzung an. Der Mann hat aufgehört zu schreien. "Wer sind
seine nächsten Angehörigen?", fragt der Doktor dann in die Runde. Eine kleine Frau tritt
vor. "Er wird gleich sterben."
Sie geht auf die andere Seite und fasst die Hand ihres Mannes. Einige von den Leuten
knien nieder und murmeln ein Gebet. Der Doktor schaut auf den Mann. Dessen Körper
ruckt plötzlich, als würde er von unten angepackt und angehoben, dann wird er von einem
Krampf geschüttelt, der nur einen Moment dauert. Die Frau muss sich aus der Umklammerung seiner heilen Hand lösen, damit sie nicht drin steckenbleibt, dann sinkt sie bei
ihm hin und fängt an zu heulen.
"Er hatte zuviel Blut verloren", sagt der Doktor zu Johann. Der ältere Mann tritt hinzu und
fragt den Doktor, was zu tun sei. "Sind Sie mit dem Verstorbenen verwandt?" "Nein. Er
hinterlässt seine Frau und vier Kinder." "Haben Sie eine feste Decke, in die man ihn einhüllen kann?" "Ich kann ein großes Stück imprägnierte Leinwand besorgen." "Ja, tun Sie
das. Bringen Sie seine Frau erstmal nach nebenan, jemand soll bei ihr bleiben. Machen
Sie das Bett sauber, legen Sie ein weißes Tuch auf den Toten, waschen Sie vorher sein
Gesicht und kämmen sein Haar, dann können Sie Totenwache halten. Und schaffen Sie
die Kinder raus." "Danke, Herr Doktor", sagt der Mann. "Es tut mir leid, ich konnte nicht
mehr helfen, Senor."
Der Mann gibt den anderen Anweisungen, er tut es mit tiefem Ernst, als würde davon,
was jetzt geschieht, abhängen, welchen weiteren Weg die Seele des Toten nimmt. Der
Doktor meint zu Johann "Natürlich wissen die Leute selber, was zu tun ist. Dennoch, es
gibt nichts Hilfreicheres in solchen Situationen, als ihnen die Gelegenheit zu geben, dank-
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bar zu sein. Dankbarkeit beschämt den Tod."
Johann hilft mit, den Toten würdig aufzubahren, aber dann hat er das Gefühl, bloß noch
im Wege zu stehen und geht zurück in sein Zimmer. Er befürchtet, nach der Aufregung
erst recht nicht schlafen zu können, aber kaum daß er liegt, fallen ihm die Augen zu. Er
wacht auf, kurz bevor der Kutscher kommt. Auf dem Fußboden vor dem Bett steht eine
Flasche Wein und daneben liegt ein zusammengeknotetes Tuch mit Weißbrot. Er hat
nicht bemerkt, wie das dahin gekommen ist; auch kann er sich die Absicht nicht erklären.
Er nimmt seine Sachen und geht an der Wohnung vorbei, wo der Mann gestorben ist, die
Tür steht offen, er hört von drinnen Gemurmel. Statt des scheußlichen Geruchs in der
Nacht hat sich der von Desinfektionsmittel in der Luft verbreitet.
Er will den Kutscher zur Rede stellen, der ihn gestern auf einem unnötigen Umweg hergebracht und dafür abkassiert hat, aber der auf ihn wartet, ist ein anderer. Wahrscheinlich
lösen sie sich ab, denkt Johann und sagt ihm vorsichtshalber gleich, wo es lang geht.
Der Zug nach San Gabriel steht auf Gleis 5, der Schaffner hat damit angefangen, die
Passagiere einsteigen zu lassen, er kontrolliert die Fahrkarten, er wünscht jedem einzelnen eine gute Reise. Wenn sich jemand nach etwas erkundigt, sagt er, er werde nachher
zu ihm kommen.
Johann geht noch ein paar Schritte auf dem Bahnsteig hin und her, er würde jetzt wieder
stundenlang sitzen müssen. Er spürt auch, daß es ihm letzte Nacht an Schlaf gemangelt
hat; die Fahrt ist strapaziöser als er glaubte. Er schließt die Augen und atmet tief durch.
"Perdone, Senor" hört er eine Frau sagen. Er dreht sich um. "Sie haben etwas vergessen." Damit reicht sie ihm die Weinflasche und den Brotbeutel, die jemand in seinem Zimmer hinterlassen hatte. "Das gehört mir nicht", entgegnet er. "Doch Senor, das ist für Sie."
"Wofür?" "Für die Reise, eine Stärkung." "Ich bin zwar versorgt, aber wenn Sie unbedingt
wollen, nehme ich es an", meint er gleichgültig, und mit unverändert freundlicher Miene
sagt sie "Gracias Senor, muchas gracias por toto!"
Da erst erkennt Johann sie: es ist die Frau des tödlich verungklückten Mannes, die gestern bei seinem letzten Atemzug die Hand gehalten und ihn beweint hat. Ihre Augen sind
noch gerötet und das Gesicht geschwollen, aber ihr Ausdruck ist erstaunlich gefasst und
ihre Stimme klar, fast energisch. Jetzt gewahrt Johann auch den Jungen an ihrer Seite,
der gestern Zeuge des schrecklichen Todes seines Vaters gewesen ist.
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Johann schätzt ihn auf sieben, acht Jahre. Er trägt einen hellen Anzug, der zweifellos nur
für besondere Tage vorgesehen ist, und darunter ein weißes Hemd mit einem schwarzen
Band um den Kragen. Nur die Schuhe, die gehörten wohl eigentlich jemand anderem, sie
sind viel zu groß und schiefgetreten.
Johann nimmt den Brotbeutel, klemmt die Flasche unter den Arm und legt seine Hand auf
die Schulter des Jungen, es sollte bedeuten: Du bist ein tapferer Bursche. Aber es wirkt
wenig überzeugend; er will mit dieser Sache nicht mehr länger zu tun haben. Er geht zu
seinem Gepäck, steckt Wein und Brot in die Tasche und steigt in den Waggon.
Er ist froh zu sitzen, er wartet auf den Pfiff aus der Trillerpfeife und auf das Signal der
Lokomotive und darauf, daß der Zug anrollt und auf den kleinen doppelten Taktschlag,
wenn die Achsen über die Stelle fahren, wo die Schienen aneinandergefügt sind. Er sinkt
in einen Halbschlummer, in dem die Stimmen um ihn her gedämpft, doch nicht ganz ausgeblendet werden.
Dann mischen sich kurze Phantasien in seine Wahrnehmung, und als hinter seinem Rücken die Tür zwischen den Waggons aufgerissen wird und der Schaffner ruft "Bleib' stehen, du Strolch!", da denkt Johann bei sich: Aha, das ist der Eierdieb, jetzt haben sie ihn
endlich geschnappt. Und es beruhigt ihn sehr. Von dem, was darauf folgt, bekommt er
nichts mehr mit.
"Was ist denn mit dem Jungen?", fragt einer der Reisenden, als er sieht, daß der Schaffner ihn ziemlich hart am Schlafittchen gepackt hat. "Ein blinder Passagier", sagt der
Schaffner streng und nicht ohne Genugtuung, ihn erwischt zu haben. "Aber müssen Sie
ihn so grob anfassen? Er bekommt ja gar keine Luft mehr", sagt eine Dame. "Oh, er bekommt genug Luft." "Er ist doch noch ein Kind", meint ein anderer. "Dafür kann ich
nichts", entgegnet der Schaffner, "er ist offensichtlich groß genug, daß er sich unbemerkt
hier einschleichen konnte." "Wohin willst du denn, Kleiner?", fragt ihn jemand, doch der
Junge schweigt mit einer Miene, als würde das erste Wort, das über seine Lippen kommt,
ihn auf der Stelle tot umfallen lassen.
"Er kann gar nichts sagen, wenn ihm der Hals so zugeschnürt wird", sagt die Dame. Ein
Herr hinter ihr meint "Lassen Sie ihn doch mal zu sich kommen, Senor Revisor. Ich stelle
mich hier in den Gang, da kann er nicht mehr entwischen." "Wie heißt du?" Keine Antwort.
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"Wenn du uns nicht sagst, wie du heißt, geben wir dir einen Namen, der dir vielleicht gar
nicht gefällt", ruft einer aus einer Gruppe junger Männer, die sich die Zeit mit Kartenspielen vertreiben. "Ja, wie wäre es mit el zonzo." Jemand empört sich. "Wie können Sie ihn
Dummkopf nennen, bloß weil er nicht redet!" "Vielleicht ist er stumm." "Dann heißt er el
mudo." "Maultier? Wie kommen Sie denn darauf?" "El mudo sagte ich, nicht el mulo."
"Vielleicht ist er auch taub und versteht gar nicht, was wir ihn fragen."
Dem Schaffner wird es zu bunt. "Genug der Fragerei! Es ändert alles nichts an der Tatsache, daß es ein blinder Passagier ist." "Genau! Er ist blind, warum sind wir nicht gleich
darauf gekommen", ruft ein anderer von den jungen Männern. "Was geschieht jetzt mit
ihm, Senor Revisor?" "Ich werfe ihn beim nächsten Halt hinaus." Alle schweigen. Der Junge hält den Kopf gesenkt und schielt in die Runde.
"Welches ist denn der nächste Halt?", fragt die Dame. Der Schaffner zögert. "Eine Wasserstation an der Salina la Antigua." "An einem Salzsee wollen Sie ein Kind aussetzen?"
"Ja und wenn es ein erwachsener Mann wäre, würden Sie sich dann auch so darüber
wundern", entfährt des dem Schaffner. "Ist er aber nicht." "So sind nun mal die Vorschriften, ich habe sie nicht gemacht, ich muss sie lediglich befolgen. Hey, wo willst du hin?",
ruft er, da der Junge plötzlich versucht, an dem andern Mann vorbeizuschlüpfen.
Er macht ein paar Schritte den Gang entlang und bleibt dann neben einem Fahrgast stehen, dessen Kopf nach hinten auf der Lehne ruht, und der schläft. Der Schaffner und etliche andere, die wissen wollen, wie die Sache ausgeht, sind ihm gefolgt. Der Junge zupft
den Mann am Ärmel, und er muss es ein paar Mal und immer kräftiger tun, bis Johann die
Augen öffnet und die Leute vor sich stehen sieht.
"Sind wir schon da?", fragt er schlaftrunken. Keiner antwortet, aber der Junge holt aus der
Jackentasche seines Anzugs einen zusammengefalteten Zettel heraus und hält ihn Johann hin. "Was ist das?", fragt er. "Ach, bist du nicht der ... was soll ich damit?" Der Junge
schaut ihm ins Gesicht, Johann nimmt den Zettel, faltet ihn auseinander, und darauf steht:
"Senor, wären Sie bitte so freundlich und würden meinen Sohn bei meiner Schwester in
Villa Angela abgeben. Vielen Dank."
Johann blickt abwechselnd auf den Zettel und auf den Jungen. Der Schaffner sagt "Darf
ich mal sehen. Laut Vorschrift kann alles, was ein blinder Passagier bei sich trägt, beschlagnahmt werden." "Lesen Sie mal vor, was drauf steht", ruft einer. Der Schaffner tut
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es, sogar mit einer gewissen Erleichterung.
"Dann gehört der Junge also zu ihnen?", fragt er Johann. "Aber nein, woher denn. Ich
kenne ihn überhaupt nicht." "Mir schien eben, Sie hätten ihn wiedererkannt. Sie haben ihn
nie vorher gesehen?" "Einmal ja, beim Tod seines Vaters." Bei diesen Worten schaut er
den Jungen an, der zeigt keine Rührung. "Also sind Sie mit der Familie bekannt?" "Aber
nicht doch! Ich war ganz zufällig dazugekommen."
Der Schaffner sagt "Jedenfalls hat Ihnen die Mutter die Aufsicht über ihn übertragen."
"Wie bitte?" "Sie haben im Moment die Verantwortung für ihn, Senor, das geht aus diesem Dokument ganz eindeutig hervor." "Dann wird er nicht am Salzsee ausgesetzt?",
fragt die Dame. "Aber was soll ich denn mit ihm anfangen?", sagt Johann, "Ich reise nach
San Gabriel, um ein Photoatelier zu eröffnen."
"Nun, in Ihren Händen ist er jedenfalls besser aufgehoben als unter den Bestimmungen
der Eisenbahn." "Sie sollen ihn doch bloß bei seiner Tante abliefern. Seien Sie ehrlich,
Senor, ist das zu viel verlangt?" "Und wie, bitte schön, soll ich seine Tante finden? Steht
da etwa ein Name oder eine Adresse? Und dieses Villa Angela, womöglich gibt es das
gar nicht."
"Oh doch, Senor, Villa Angela liegt im Norden, gar nicht so weit von San Gabriel entfernt."
Ein anderer meint "Sagten Sie nicht, Sie wären Photograph? Dann ist es doch ganz einfach: Sie machen ein Photo von dem Jungen und hängen es im ayuntamiento von Villa
Angela aus. Dann wird es die Tante erfahren." "Ja, wenn die Tante existiert", kommentiert
Johann die Idee.
"Wie heißt der Junge?", fragt ihn der Schaffner. "Das weiß ich nicht", sagt Johann etwas
unwirsch. "Sie sollen auf ihn aufpassen und kennen nicht mal seinen Namen?", ruft jemand beinahe hysterisch. "Schreien Sie mich nicht so an", gibt Johann zurück. "So kommen wir nicht weiter", beruhigt sie der Schaffner. Eine junge Frau sagt zu ihm "Jetzt, wo
er einen Angehörigen hat, brauchen Sie sich doch nicht weiter um ihn zu kümmern."
"Noch ist nicht alles geklärt. Er muss wie jeder andere in diesem Zug in die Passagierliste
eingetragen werden."
Er wendet sich an den Jungen. "Sagst du jetzt dem Senor (er zeigt auf Johann) deinen
Namen." Der Junge hat einen Arm in die Hüfte gestemmt, es soll ihm wohl einen mutigen
Zug verleihen. Aber wie er so dasteht, in seinem Gute-Tage-Anzug, mit der widerspensti-
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gen Locke über der Stirn, die jemand mit süßlich duftendem Haarwasser zu glätten versucht hatte, mit seinem verständnislosen und ängstlichen Blick und mit den unmöglichen
Galoschen an den Füßen, da hat Johann auf einmal Mitleid mit ihm; niemand kann auch
nur ahnen, was in dem Jungen vorgeht, der binnen einer Nacht und eines halben Tages
nicht nur den Vater verloren hat, sondern auch von seiner Mutter und den Geschwistern
getrennt worden war.
Freilich, Johann wünscht die Mutter zum Teufel, weil sie ihn so dreist überrumpelt hat,
aber dafür kann der Junge schließlich auch nichts. "Komm' her", sagt er und streckt den
Arm aus. Der Junge macht einen Schritt auf ihn zu. Johann legt das schwarze Band, das
unterm groben Griff des Schaffners aufgegangen war, wieder ordentlich um den Kragen.
"Sag' mir, wie du heißt. Du kannst es mir zuflüstern."
Der Junge überlegt einen Moment und geht dann darauf ein. Er legt den Arm um Johanns
Hals, und sein Mund ist dicht an seinem Ohr. Eine der Frauen schluchzt, die anderen sind
so still, als hielten sie den Atem an, und nur das Rattern des Zuges verhindert, daß man
verstehen kann, was der Junge sagt: "Ich will zu meiner Mama."
Dann tritt er rasch zurück und schaut Johann unverwandt an, und alle anderen starren
ebenfalls auf ihn. Er sagt: "Manuel. Er heißt Manuel." Es hat etwas Absurdes, als nach
dieser Verkündung alle, einschließlich des Schaffners, Beifall klatschen. Allein Johann
und der Junge blicken sich stumm und regungslos an, keiner von beiden kann begreifen,
weshalb sie auf einmal aneinandergebunden sind.
*****
Nur die Tauben sitzen auf dem Dach, und vor dem Bahnhofsgebäude steht ein Händler,
aber er hat kein Gemüse, sondern goldgelbe, mit Puderzucker bestreute Teigstücke mit
hochgebogenen Ecken wie eine kleine Krone, die nach heißem Fett duften. Es ist keine
Militärkapelle da, und auch die Herren im dunklen Anzug und die Damen in weißen Kleidern fehlen. Aber das Schild ist dasselbe wie auf dem Photo: SAN GABRIEL.
Es hat eben einen Regenschauer gegeben, und der Boden ist aufgeweicht und stellenweise schlammig. Eine Kutsche ist in den Straßengraben gerutscht, und die Räder stehen
bis zur Nabe im Wasser, mit dem sich der schmale Kanal bis zum Rand gefüllt hat. Es
gibt hier kaum ein merkliches Gefälle, dennoch schießt das Wasser dahin, als müsse es
rechtzeitig einen andern Ort erreichen, und Johann soll später sehen, daß dieses Kanal-
113
system die ganze Gegend durchzieht und das Wasser vom Rio Altanero kommt, dem es
etliche Kilometer weiter südlich bei Castro Barros wieder zugeführt wird.
Jetzt aber muss er zusehen, wie er trockenen Fußes über den Bahnhofsvorplatz kommt.
Manuel folgt ihm in seiner Spur, er trägt seine Reisetasche. Sie nehmen eine Kutsche, die
sie dorthin bringt, wo laut Auskunft des Bahnbeamten Johanns Kisten untergebracht sind.
Es ist ein Schuppen mit Blechdach am Rand einer Brache, wo zwischen Gestrüpp zwei,
drei leerstehende Häuser verfallen. Die Tür steht offen und es ist kein Mensch zu sehen.
Johann ruft nach jemandem. Dann findet er seine Kisten, sie haben den Transport offenbar unbeschädigt überstanden, aber es sind nur sieben.
Ein Mann erscheint, mit einem Becher mit Mate Tee in der Hand, aus dem ein silbernes
Röhrchen herausragt. Er gähnt, dann sagt er "Was haben Sie hier zu suchen?" Johann
nennt seinen Namen und sagt ihm, worum es geht. Der Mann nimmt einen Schluck aus
dem Becher, geht an Johann vorbei zu den Kisten und klopft mit der freien Hand aufs
Holz. "Diese hier, Senor?" "Ja, aber es fehlt eine."
Der Mann gähnt und kratzt sich am Hinterkopf. "Welche fehlt?", fragt er. "Es waren acht,
ich sehe nur sieben." Der andere schaut auf die Kisten und zählt mit ausgestrecktem Finger wie ein Schuljunge nach. "Ja, sieben." "Wo ist die achte?" "Sind Sie sicher, daß es
nicht nur sieben waren?" "Bitte?" Johann blickt ihn drohend an, der andere sagt ganz
vertraulich "Wenn sie nicht hier ist, kann sie eigentlich nur drüben sein." Johann weiß
nicht, ob er sich wichtig oder über ihn lustig machen will.
"Keine Sorge, Senor, wir werden sie bald finden." "Das will ich hoffen." "Haben Sie es
eilig?" "Was hat das damit zu tun?" "Eigentlich nichts. Kommen Sie mal mit." "Manuel, du
bleibst hier und wartest, bis ich wiederkomme!"
Sie gehen über die Brache, es liegen viele Steine, Mauerreste und Holz herum, die Nässe
vom Regen ist verschwunden, zwischen den Wolken zeigt sich manchmal die Sonne.
Johann schaut nach rechts, wo hinter einem Zaun aus Latten und Draht eine Behausung
steht und ein großer schwarzer Hund zu ihnen herüberkläfft.
Weiter drüben sind Olivenbäume, und dahinter kommt wieder eine ähnliche Hütte aus
Lehmziegeln, an die eine Handvoll Bretterverschläge angebaut ist, dort bellt ein anderer
Hund. Ein paar hohe Pappeln wispern im Wind, und plötzlich erblickt Johann in der Ferne
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die Berge, verschwommen im dunstigen Sonnenschein. "Sind das die Anden?", fragt er
den Mann, der vorneweg läuft. Der hört nicht.
Im Schatten von großen Weiden steht ein weiterer Schuppen. Im Hineingehen pocht der
Mann gegen die Wand und ruft einen Namen als will er jemanden wecken. Es sieht aus
wie in einer Schrotthandlung, an den Wänden sind bis zum Dach Blech- und Eisenteile
aufgehäuft, manches hat noch farbige Spuren, das meiste ist mit Rost überzogen, und
alles scheint so ineinander verkeilt, verhakt und verzahnt, daß man kaum irgendetwas
Einzelnes hätte herausholen können, ohne den ganzen Stapel umzureißen.
Da steht tatsächlich die achte Kiste, und auch die ist allem Anschein nach unversehrt. "Na
bitte", sagt der Mann, "hier geht nichts verloren, da können Sie sich drauf verlassen." "Ich
möchte trotzdem, daß alles zusammenbleibt." "Ja ja, selbstverständlich." Er schaut in die
dunklen Ecken des Schuppens und in einem findet er auf dem Boden etwas, das Johann
nicht sehen kann. "Hej Pepe! Du gottverdammter Faulpelz!", ruft der Mann und stößt
denjenigen, der dort auf der Erde liegt, mit dem Schuh an. "Was ist denn los?", gibt der
erschrocken zurück. "Was los ist, du Hurensohn? Jemand hat die Kiste von dem Senor
aus Deutschland gestohlen, dafür wirst du bezahlen müssen?" Aber dann kann er bei seinen Worten nicht ernst bleiben und lacht über den schlechten Scherz.
Der andere hat sich aufgerappelt, sein Kopf erscheint hinter dem Gerümpel, er hat ungepflegtes Haar, ist schlecht rasiert, und indem er sich bewegt, kommt eine Wolke von
altem Schweiß herüber. Er sieht Johann und die Kiste und stammelt "Bitte um Verzeihung, Senor, habe die ganze Zeit aufgepasst, ich habe nicht geschlafen, nein, nein, denken Sie nicht, Pepe Molina hätte geschlafen, ich habe nur - er weist nach unten auf den
Boden - hier etwas gesucht!"
Er bückt sich schnell, dann hält er eine alte Sichel hoch und fuchtelt damit herum. "Ich
hörte Stimmen, da habe ich mich hier versteckt." "Ich habe dich gerufen, du Dummkopf!"
"Ja, das habe ich gehört, aber woher soll ich wissen, daß Sie es sind, Don Orlando, es
hätte ein Dieb sein können, der mit verstellter Stimme spricht, verstehen Sie, jemand, der
spricht wie Sie. Und den werten Senor aus Deutschland kenne ich ja nicht, also bin ich ..."
"Halt den Mund!" "Ja."
"Dann können Sie die Kiste hinübertragen zu den anderen", sagt Johann. Der Mann
schaut ihn missmutig an. "Sagen Sie Ihrem Burschen, er soll herkommen." "Sagen Sie
mir nicht, was ich tun soll", erwidert Johann, "tragen Sie die Kisten rüber, bevor ich mich
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an die Behörden wende." Pepe Molina blickt ungläubig zu dem Mann, und der muss einen
Lacher der Verwunderung unterdrücken. "Was bedeutet das jetzt, Don Orlando?", fragt
ihn Pepe und lässt die Hand mit der Sichel sinken. Der Mann sieht Johann scharf in die
Augen und überlegt einen Moment, dann sagt er "Frag' nicht, du Trottel, fass' an!"
Als sie drüben bei dem andern Schuppen angekommen sind, muss sich Orlando in den
Schatten setzen und ausruhen, der Schweiß läuft an seinen Schläfen herab. Er knurrt
"Wenn du zu Don Alfredo ein Sterbenswörtchen sagst, daß ich das Ding hier mit geschleppt habe, dann prügel' ich dich windelweich, verstanden!" "Aber natürlich, Don Orlando", sagt Pepe, "ich werde ihm sagen, Don Orlando hat mich die Kiste ganz alleine
schleppen lassen." "Hm", knurrt der andere zufrieden.
Pepe tritt an ihn heran und flüstert ihm etwas ins Ohr, wobei er Johann ansieht. "Untersteh' dich, du Bastard!", raunzt ihn Orlando an, wischt sich mit einem Taschentuch übers
Gesicht und muss dann doch grinsen. "Manchmal frage ich mich, was in deinem dummen
Schädel vorgeht, Pepe Molina!" Und Pepe zuckt mit den Schultern.
Obwohl er keineswegs von der Zuverlässigkeit dieser Leute überzeugt ist, entschließt sich
Johann dennoch, seine Sachen so lange in dem Schuppen aufbewahren zu lassen, bis er
eine geeignete Räumlichkeit für sein Atelier gefunden hat. Pepe Molina hat ihn seiner
Wachsamkeit versichert und gemeint, er, der Senor, habe nun selber gesehen, wie er darauf vorbereitet sei, Diebe, welche hier eindringen wollen, abzuwehren. Johann hält ihn für
ziemlich einfältig, aber - im Gegensatz zu diesem Orlando - für einen ehrlichen Kerl. Dem
anderen hat er zu verstehen gegeben, daß er sich an diesen Don Alfredo, den die beiden
zufälligerweise genannt und vor dem sie offenbar Respekt haben, wenden werde, und
Orlando tat so, als würde ihn das wenig beeindrucken.
Drei Tage lang ist Johann auf der Suche nach einer Wohnung, die seinen Ansprüchen
genügt, aber er hat keinen Erfolg. Sie übernachten im Hotel "Cruz del Sur" und dort speisen sie auch. Aber Manuel isst am ersten Tag überhaupt nichts und am zweiten auch
nicht, und Johann denkt, wenn das so weitergeht, wird der Junge verhungert sein, bevor
er ihn in Villa Angela bei seiner Tante abliefern kann. Dann bringt er ihn wenigstens dazu,
zum Frühstück etwas Weißbrot und Rührei und einen Apfel zu verzehren, und den nimmt
er wahrscheinlich auch nur deshalb, weil Johann ihn in niedliche kleine Boote geschnitten
geschnitten hat.
Er spricht auch sehr wenig und auf Johanns Fragen antwortet er einsilbig. Aber in der
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Nacht, wenn Johann beim Licht der Leselampe die Photographien betrachtet, hört er Manuel im Schlaf reden, wirres Zeug, das wohl aus der kindlichen Seele emporsteigt, die mit
all den Aufregungen nicht fertig wird. Johann schaut auf ihn, wie er sich wehrlos hin- und
herwälzt, und er denkt daran, ihn zu wecken und zu besänftigen, aber da hat er sich
schon von selbst wieder beruhigt.
Am nächsten Morgen liegt er schweißgebadet im Bett, reagiert kaum, als Johann ihn anspricht und rollt fürchterlich mit den Augen, als hätten sie jeden Halt verloren. Johann
lässt den Doktor holen, einen gutaussehenden und forschen Mann, der so jung wirkt, daß
Johann fast anzweifelt, ob er seine medizinische Ausbildung bereits absolviert habe.
"Gibst du dem Jungen denn nichts zu essen?", fragt er, nachdem er ihn untersucht hat;
Manuel ist wie abwesend und lässt alles mit sich geschehen. Johann versucht sich zu
rechtfertigen. Der Doktor gibt Manuel ein Stärkungsmittel und Johann ein Rezept für ein
weiteres Medikament. "Kann man ihn hier allein lassen?", fragt er den Arzt. Der zieht die
Augenbrauen zusammen. "Ich meine, ich bin gerade auf der Suche nach einer geeigneten Wohnung für mich ... und für den Jungen." "Er schläft jetzt erst einmal", erwidert der
andere, "aber heute Mittag, spätestens am Nachmittag, musst du ihm etwas Ordentliches
zu futtern geben, hörst du! Ich rede mit dem Küchenchef des Hauses, daß er euch eine
leckere Mahlzeit zaubert." "Ja, das ist gut", meint Johann und freut sich irgendwie darüber, daß der junge Arzt mit ihm spricht wie mit einem Freund seines Vaters. Dann sagt
er noch "Vielleicht hat er ja auch heute Geburtstag." "Wer?" Johann bereut sofort seine
idiotische Bemerkung. "Ach nein, das war nur ein Scherz."
"Du bist der neue Photograph?", fragt der Doktor im Hinausgehen. "Ja, woher wissen Sie
das?" "In San Gabriel machen alle Neuigkeiten schnell die Runde", sagt er, und es klingt,
als wäre diese hier schon wieder von gestern. Johann fragt ihn nach seinem Namen und
er findet irgendeinen vagen Ersteindruck bestätigt, als er hört, daß der junge Doktor Turini
heißt und italienischer Abstammung ist.
Johann überzeugt sich, daß Manuel tatsächlich schläft und daß er ruhig atmet. Er will an
seinem Hals den Puls fühlen, fasst dann aber vorsichtig das Handgelenk und spürt das
kleine Pochen wie den Herzschlag eines Vögelchens, das abgestürzt und auf den Boden
gefallen ist und nicht wieder auffliegen kann. Er nimmt sich vor, zuerst zur Apotheke zu
gehen, um die Arznei zu kaufen.
Wann hat er jemals Gleiches getan, als Annemarie krank war? Er kann sich nicht einmal
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schwach daran erinnern. In solchen Fällen hat sich Christiane um die Tochter gekümmert.
Jetzt meint er, die Kleine habe von jeher eine robuste Gesundheit gehabt und sich stets
wie von allein rasch wieder erholt. Aber vielleicht hätte er, so gesteht er sich ein, doch
etwas mehr väterliche Fürsorge zeigen sollen, wie dieser junge Arzt, dem gewiss seine eigenen Kinder (falls er schon welche hat) genauso wichtig sind wie Manuel.
Vielleicht hätte er sich überhaupt Annemarie mehr widmen sollen und sich nicht damit begnügen dürfen, daß sich, abgesehen von ein paar Unternehmungen und den obligatorischen Ferienreisen, ihre Beziehung zueinander auf die gemeinsamen Mahlzeiten bei
Tisch (die er oft sogar wegen der Arbeit im Atelier versäumte) und den Gute Nacht Kuss
(den er allerdings niemals vergaß) reduziert hatte.
Selbst ihre Geburtstage waren Christianes Angelegenheit (allenfalls seine Mutter hatte
dazu etwas beizutragen). Er kann sich nicht ein Gesicht, nicht einen Namen der Freundinnen ins Gedächtnis rufen, die dazu eingeladen waren. Lag es nur daran, daß er zu den
Eltern ihrer Altersgenossinnen oder Mitschülerinnen keine Verbindung gehabt und auch
dies völlig Christiane überlassen hatte?
Oh doch! Einmal waren sie alle drei bei einer Klassenfeier anlässlich irgendeines Jubiläums gewesen. Es war ein schöner Frühsommertag, und auf der Wiese hinter dem
Schulhof, die zum Grundstück des Fleischermeisters Willbrandt gehörte, hatten der Lehrer und einige Eltern ein buntes Gartenfest Ambiente vorgerichtet; auch Christiane hatte
dabei mitgewirkt. Johann war von dem Anblick und der Atmosphäre wirklich überwältigt,
und die Fröhlichkeit, mit der sich Annemarie und die andern Mädchen und ihre Geschwister an diesem warmen sonnigen Nachmittag zwischen den hübschen Dekorationen tummelten, sprang auch auf ihn über. Alle waren guter Laune, und sogar als ein Brüderchen
von einer bösen Wespe gestochen worden war, wurde das kleine Unglück mit tröstlichem
Lachen und ein paar "Heile, heile, Gänschen" Versen in einen drolligen Zwischenfall gewendet.
Alle Eltern hatten für das leibliche Wohl gesorgt, indem jeder etwas mitbrachte, und der
Fleischermeister Willbrandt, obwohl er selbst kein Kind in dieser Schule hatte, versorgte
die Mannschaft mit heißen Würstchen. Es gab Stände und "Stationen", an denen Groß
und Klein in allerlei Geschicklichkeitsspielen und Rätselraten miteinander wetteiferten,
und im Schatten des Ahornbaums, der mitten auf der Wiese sein Blätterdach ausbreitete,
fand ein kleiner Sangeswettstreit statt. Von der immensen Vorbereitung erfuhr Johann
erst in diesem Augenblick, und er spürte die ungeheure Wucht des Gemeinschafts-
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gefühls, das sich ihm hier darbot.
Er war froh darüber, daß Christiane ihn gebeten hatte, seine Kamera mitzunehmen, damit
er ein paar Photos machen kann. Das hatte sie - seine Bereitschaft als selbstverständlich
unterstellt - dem Herrn Oberlehrer und den andern Eltern vordem versprochen, und damit
konnte Johann jetzt punkten. Es kostete ihn allerdings einige Mühe, die Leute zu einem
Bild zu versammeln, da sie, vor allem natürlich die Kinder, wenig geneigt waren, ihre Vergnügungen oder auch nur die Plaudereien seinetwegen zu unterbrechen.
Und dann störte ihn noch etwas, das ihm erst im Nachhinein bewusst wurde: es sprach
sich herum, wer von den Eltern welchen Kuchen, welchen Obstsalat, welche Limonade
beigesteuert hatte, wer den Einfall mit dem lustigen Katze und Mäuse Spiel gehabt, wer
sich die Fragen für das Wissensquiz ausgedacht, wer die Preise beim Ballwerfen auf die
leeren Blechbüchsen gestiftet hatte. Aber nicht ein einziges Mal hörte Johann, daß man
ihn erwähnte, als denjenigen, der einige Momente dieses wunderschönen Tages zur späteren Erinnerung festgehalten habe. Und als er eine Woche später Annemarie die fertigen
Photos mitgab, damit sie der Lehrer verteilen kann, konnte sie sich nicht die Bemerkung
verkneifen, daß ihr Schulranzen ohnehin schon bis zum Rand vollgepackt sei.
Johann weiß jetzt noch nicht mal mehr, wie der Lehrer hieß und er grübelt andererseits
darüber nach, weshalb er sich den Namen des Fleischermeisters Willbrandt offenbar für
alle Zeit gemerkt und sich das Bild eingeprägt hatte, wie dessen schwarzer, glänzender
und gezwirbelter Schnurrbart beim Lachen schütterte, als er Christiane mit einem deftigen
Kompliment erheiterte.
Am Abend geht es Manuel wieder besser, der Schlaf, die Arznei und ein üppiges Mittagessen haben ihn wieder zu Kräften gebracht. Jedoch heult er alle Augenblicke und will zurück zu seiner Mama. Johann erklärt ihm die Sache mit seiner Tante in Villa Angela. Manuel hört sich das an mit einem Gesichtsausdruck, als würde ihm dieser Mann etwas von
den Entdeckungsreisen des Christoph Kolumbus erzählen; dann heult er wieder und will
zu seiner Mama.
"Vorläufig", sagt Johann gereizt, "kann ich dich nirgendwo hin schaffen, solange ich noch
keine Wohnung gefunden habe." Damit ist er allerdings kein Stück vorangekommen,
obwohl er bereits zwei Makler aufgesucht hat. Was er besichtigt hat, ist entweder zu klein
oder zu teuer oder völlig marode oder es liegt zu weit außerhalb; zwei, drei Angebote
schaut er sich gar nicht mehr an, nachdem man ihm beschrieben hat, wo die Häuser ste-
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hen. Die Putzfrau, welche im Hotel saubermacht, warnt ihn: "In dieses Viertel, Senor,
kommt man zwar hinein, aber nicht unbedingt wieder heraus."
Schließlich muss er sich auch in die Lage seiner Kunden versetzen: wer sollte bis wer
weiß wohin fahren, um eine Photographie bei ihm machen zu lassen? Der Makler meint,
er, Johann, könne ja auch selber zu den Leuten kommen, "so ein Photoapparat lässt sich
doch mühelos transportieren", er wisse auf Anhieb drei Männer, die ihm das Ding jederzeit überallhin hinterhertragen. Außerdem bräuchte er bei dem Sonnenschein, der hierorts
"im Überfluss" vorhanden sei, gar kein Atelier mit künstlicher Beleuchtung. Er redet so, als
habe er selber schon darüber spekuliert, als Photograph zu arbeiten.
Johann entgegnet, er sei kein Hausierer, und Porträtaufnahmen mache man nun mal
nicht im Freien. Im übrigen sei das, was er sich gestern angesehen habe, gar keine richtige Wohnung gewesen, sondern bloß ein Korridor, ein Durchgang, den überdies die anderen Hausbewohner mitbenutzen. Der Makler wird patzig. "Wenn Sie sich absondern
wollen, Senor Melzer, sollten Sie nach Patagonien ziehen."
Und dann geschieht das, was Johann unbewusst befürchtet hat. Als er ins Hotel zurückkommt, wartet dort ein Gendarm auf ihn und fordert ihn auf, mit ihm zur Polizeiwache zu
gehen. Dort sitzt Pepe Molina wie ein gefangenes Kaninchen und wird befragt. Er hält sich
ein weißes Tuch an den Kopf, das ein paar rote Flecken hat und tut so, als sei er gerade
nochmal mit dem Leben davongekommen.
Drei weitere Gendarmen stehen um ihn herum, und der mit dem höchsten Dienstgrad
führt die Ermittlung. Als Johann erscheint, fängt die Vernehmung offenbar gerade wieder
von vorn an. Pepe erklärt mit weinerlicher Stimme, er sei überfallen und "von hinten" mit
einem Knüppel auf den Kopf geschlagen worden. "Warum hast du die Beule dann über
der Stirn?", fragt der Gendarm, und die anderen nicken sich zu, was bedeutet: Das ist
eine gute Frage!
Pepe erwidert, er sei nach vorn gefallen und dabei mit der Stirn auf die Kante von der
Kiste aufgeschlagen. "Eben hast du behauptet, du hättest den Schlag von hinten auf den
Kopf erhalten." "Ja", sagt Pepe. "Und?" "Was und?" "Das war eine Frage", herrscht ihn einer der anderen an. "Ach so." Den Stoß, der ihn nach vorn hin warf, habe er in den "hinteren Rücken" erhalten.
Der Vorgesetzte schaut seine Kollegen an, dann meint er zu Pepe "Wenn es sich so zu-
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getragen hat, wie du sagst, müsste man dann nicht sehen, wo dich der Knüppel im Rücken getroffen hat?" Pepe sieht ungläubig zu ihm auf. "Wieso müsste man das nicht
sehen?" "Natürlich müsste man das sehen", belehrt ihn der andere Gendarm, "das war
eine Frage, du Trottel!" "Zeig' uns die Stelle", fordert der dritte.
Pepe nimmt das Tuch vom Kopf, und eine kleine Platzwunde kommt zum Vorschein. Er
zieht sein Hemd hinten bis an den Nacken hinauf und dreht sich auf dem Hocker zu ihnen
um. Über dem Gesäß, neben der Wirbelsäule hat er einen Handteller großen Bluterguss,
der viel schlimmer aussieht als die Kopfwunde.
Bei dem Anblick fühlt sich Johann bemüßigt zu raten, daß man die Stelle besser von einem Arzt untersuchen lassen sollte, falls der Mann innere Verletzungen erlitten habe,
aber dann wird ihm wieder bewusst, weshalb das ganze Theater hier stattfindet, und er
fragt den Gendarm, was denn überhaupt passiert sei.
"Er behauptet, er wäre überfallen, niedergeschlagen und bewusstlos geworden, und als er
wieder zu sich kam, waren zwei von Ihren Kisten verschwunden." "Welche?" "Senor Melzer, woher sollen wir denn wissen, was für Kisten Sie haben. Uns interessiert nur, daß
zwei davon gestohlen wurden." Dann stutzt er kurz und meint "Sie wollen doch Anzeige
erstatten, oder?" "Selbstverständlich will ich das." "Kann ich das Hemd wieder runterziehen?" "Dann müssen Sie uns zunächst detailliert beschreiben, was in den Kisten drin
war." "Da muss ich die andern öffnen und hineinschauen." "Ich ziehe jetzt mein Hemd
wieder runter." "Haben Sie denn keine Inhaltsliste? Bei der Zollbehörde mussten Sie doch
eine ausfüllen." "Ja, so eine Liste habe ich", sagt er, und dann fällt ihm ein, daß jede Kiste
eine Nummer hat.
"Sehen Sie, das hilft uns doch bei unseren Ermittlungen schon weiter. Holen Sie diese
Liste und kommen Sie damit - was ist heute?", fragt er seinen Kollegen, "Donnerstag",
antwortet der, "Kommen Sie nächsten Montag zwischen neun und elf wieder her, dann
nehmen wir das Protokoll auf." Es scheint, als habe er sich die ganze Zeit innerlich darauf
vorbereitet, endlich das Wort Protokoll auszusprechen.
"Warum denn so lange warten?", sagt Johann mit Nachdruck. Der Gendarm schweigt,
Pepe Molina entfährt ein schmerzvoller Seufzer, auf einmal geht die Tür auf und zwei
Männer betreten die Polizeiwache, der eine im hellen Anzug, eine Zigarre rauchend, der
andere in Hauptmann Uniform, eine Reitgerte unterm Arm; sie unterhalten sich lachend.
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"Achtung!", brüllt der Gendarm, und seine Kollegen nehmen Haltung an, Pepe, der mit
dem Rücken zur Tür sitzt, springt unwillkürlich mit auf. Dann macht der Chef dem Hauptmann Meldung, "mit der Aufklärung eines Diebstahls befasst", hört ihn Johann sagen und
denkt 'Aha, sehr gut! Der Herr Hauptmann wird den Vorgang gewiss etwas beschleunigen
helfen.'
Der sagt zum Gendarmen "Felipe, kommen Sie mit nach hinten in Ihr Büro, ich will etwas
mit Ihnen besprechen." "Jawohl." Er wendet sich an seinen Kollegen. "Du übernimmst hier
das Kommando und machst weiter mit der Untersuchung." Johann will den Hauptmann
ansprechen, aber da ruft Pepe "Don Alfredo!"
Der Mann im Anzug schaut ihn widerwillig an. "Don Alfredo, ich bin's, Pepe Molina. Ich bin
schwer verletzt worden bei der Ausübung meiner Pflicht. Ich habe mein Leben eingesetzt
bei der Bewachung der Kisten von diesem Senor hier, ich konnte verhindern, daß noch
mehr gestohlen wurde, ich habe alles gut bewacht. Bitte, Don Alfredo, jagen Sie mich
nicht gleich wieder fort."
Don Alfredo nimmt einen Zug aus seiner Zigarre und lacht schadenfroh. "Pepe Molina, du
kleiner Unglücksrabe, du machst mir dauernd Scherereien." "Gestatten Sie, daß ich mich
vorstelle", wendet sich Johann an ihn, "ich bin Senor Johann Melzer, Photograph aus
Deutschland. Es sind die Kisten mit meiner Ausrüstung, die in Ihrem Lagerschuppen abgestellt sind, zur sicheren Verwahrung, wie ich angenommen hatte, Senor ..." "Alfredo
Estevez Gonzales. Herzlich Willkommen in San Gabriel." Er steckt die Zigarre in den
Mund und reicht ihm die Hand.
"Leider muss ich nun feststellen", fährt Johann fort, "daß zwei davon gestohlen wurden."
"Oh, das tut mir leid", sagt Don Alfredo aus dem Mundwinkel heraus. "Pepe, das war wohl
das letzte Mal, daß du es vermasselt hast." Der Hauptmann wendet sich an den Gendarmen "Felipe, was haben Sie unternommen?" "Wir sind an dem Fall dran, Hauptmann
Cutico." Johann sagt "Ja, aber mir scheint ..." "Die Aufnahme der Tatumstände ist bereits
abgeschlossen", fällt ihm der andere ins Wort. "Ich schicke meine Männer dorthin, um die
Spuren zu sichern. Der Senor gibt uns eine Liste, anhand derer wir überprüfen, was genau gestohlen wurde." "Das heißt, Sie werden es heute noch tun?", fragt Johann, und
Don Alfredo und der Hauptmann schauen den Gendarmen an. "Unverzüglich! Die Angelegenheit duldet keinen Aufschub. Schließlich braucht der Senor aus Deutschland seine
Sachen." "Ist Ihnen damit erst einmal geholfen?", meint Don Alfredo.
122
Johann nickt. "Haben Sie schon irgendeinen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?",
fragt er den Gendarmen. "Nun, es gibt da ein paar Anhaltspunkte, die ..." "Dann gehen
Sie der Sache nach", sagt Hauptmann Cutico, "ich wünsche, daß der Senor seine Kisten
schnellstmöglich wieder hat." "Dafür werde ich persönlich sorgen."
Don Alfredo sagt zu Johann "Es würde mich freuen, wenn Sie morgen Abend mein Gast
sein wollen." "Mit dem größten Vergnügen." "Sagen wir um zehn. Wo wohnen Sie ... ah ja,
im Hotel Cruz del Sur, ich lasse Sie abholen, also bis morgen." "Felipe, kommen Sie",
sagt der Hauptmann, und sie verschwinden alle drei im Büro.
*****
123
Karl Georg Tandlop
Der Russische Frieden
Jeder möge am Fürstenhof bei seinem Herrscher Ehre und Gnade finden. Soll
man etwa umher irren oder von Sorgen niedergedrückt es jenem gleichtun,
der mit einem Beil um einen Ochsen herum läuft, als sei es der Teufel mit dicker Zunge? Wer könnte so das Gute erkennen? Niemand kann es. Ebensowenig kann man, ohne die Pfeile vorher mit Federn versehen zu haben, geradeaus schießen, oder durch Trägheit Verdienst erringen. Wenn man vor dem Bösen flieht, erreicht man das Gute nicht. Wer sich niemals mit den Hunden um
einen Knochen geschlagen hat, kann das Gute nicht gewinnen.
(aus dem Bittschreiben Daniils des Verbannten an den Großfürsten Jaroslaw Wsewoloditsch)
Die Aufzeichnungen Karl Georg Tandlop's, der während der Napoleonischen
Ära als Korrespondent für die Gothaer "National-Zeitung der Deutschen" gearbeitet hat und beim großen Brand von Moskau dabei war. In diesem Roman
treten u.a. die Königin Luise von Preußen und der Dichter Heinrich von Kleist
auf. Dies ist ein Buch über Politik und Weltgeschichte, und über die Menschen,
die ihnen ausgeliefert sind. Aber es ist auch ein Buch über die alles Schlechte
bezwingende, alles Gute erhaltende und überhaupt alles überdauernde Kraft
und Macht der Kunst
*****
124
LESEP ROBE
So verharrten wir in diesen Tagen in gespannter Unruhe und zerbrachen uns
den Kopf darüber, wo die französischen und die preußischen Truppen aufmarschieren würden und auf welchen Wegen die napoleonische Armee gegen den
Feind vorrücken könnte. Es war klar, daß König Friedrich Wilhelm nicht wartet, bis Napoleon vor den Toren Berlins steht.
Wir waren uns darin einig, daß die Grande Armée durch Thüringen ziehen
muss. Ob aber über das Saale Tal zwischen Thüringer Wald und Fichtelgebirge
oder durch die Werra Pforte bei Eisenach, darauf wollten wir uns nicht festlegen. Mein Chef Zacharias Becker, der die Entwicklung natürlich mit täglich
brandaktuellen Nachrichten begleitete - manchmal gaben wir sogar ein Einzelblatt als Extra Abend Ausgabe heraus - hatte ein paar Gothaer Stifte angeheuert, die als "Kundschafter" auf dem Krahnberg Ausschau nach auffälligen
Massen Bewegungen, sprich: einem Truppen Vormarsch, halten sollten; er
hatte ihnen sogar ein Fernrohr mit zehnfacher Vergrößerung mitgegeben.
Der Leutnant Gradenecker, der inzwischen mit seinem Oberst in Richtung
Sachsen aufgebrochen war, hatte uns zuvor noch gesagt, selbst wenn Napoleon an der Saale entlang heranrückt, sei es dennoch nicht unwahrscheinlich,
daß "bei uns" Aufklärer unterwegs wären. Becker ließ daher seine Jungen noch
auf ihrem Krahnberger Posten.
Tatsächlich kam ein gewisser Heinrich Bodelang aus Mainz zu Besuch und bemühte sich um Zutritt zu dem kartographischen Kabinett des Herzogs, angeblich sei er ein Geologe von internationalem Rang (er hatte wirklich einige
Referenzen dabei) und beabsichtige, die bedeutenden Muschelkalk Formationen des Thüringer Landes näher zu untersuchen.
Unserer wackerer Herr von Schlotheim, desgleichen ein Experte auf diesem
Gebiet, traute aber dem seltsamen Mann nicht, und so musste er wieder abziehen. Er sei, so berichtete Schlotheim, ein Mann von kleiner Gestalt, mit einer merkwürdig "aufgeplusterten" Perücke gewesen, unter der an einer Ecke
rötliches Haar herauslugte, und sein Bart "machte auch nicht den Eindruck,
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als wäre er an seinem Kinn festgewachsen". Der Rittmeister Klett war sich sicher, daß es ein von Napoleon beauftragter Spion gewesen war, der die bekanntermaßen hervorragenden Gothaer Karten entwenden wollte, um sie den
französischen Truppen für ihren Aufmarsch zu übergeben.
Was für Kartenmaterial die Franzosen zur Verfügung hatten, weiß ich nicht,
allerdings zeigte sich, daß weder die Preußen noch die Thüringer und Sachsen
über den Landstrich, auf dem dann die unheilvolle Schlacht stattfand, wirklich
Bescheid wussten. Keiner, so schien es, hatte sich über die Beschaffenheiten
des Geländes, die für eine militärische Operation relevant sein könnten, vorher informiert, was dazu führte, daß einzelne Abteilungen völlig im unklaren
darüber waren, wo sich der Feind befindet, ja sogar nicht einmal genau wussten, wo die verbündeten Truppen sind und in welche Richtung sie sich bewegen.
Als der Rittmeister Klett erfuhr, daß Prinz Louis Ferdinand mit einer kleinen
Vorhut nach Saalfeld unterwegs war, um das angeblich dort eingetroffene
Dritte Armeekorps des Marschalls Lannes zu attackieren, zögerte er keinen
Augenblick, seinem alten Kameraden beizustehen.
In allerletzter Minute hatte ich mich entschlossen, ihn zu begleiten. Ich gebe
zu, daß ich bis dahin immer davor zurückgeschreckt war, unmittelbar an einem Kampfgeschehen teilzunehmen, schon gar nicht mit Säbel und Gewehr.
Die Bilder von den untergehenden Russen auf dem See bei Satschan hatten
mir wiederholt gezeigt, daß man solches Kriegsgeschehen auch ebensogut in
der Redaktionsstube aufs Papier bannen kann, wenn man nur einigermaßen
blühende Phantasie hat - und die hatte mich bislang noch nie im Stich gelassen.
Der Rittmeister war nicht übermäßig begeistert von meiner Bitte, gab aber in
der Eile nach und sagte, ich solle einen dicken Mantel für die Nacht mitnehmen. Den schnürte ich auf einen Tornister, in dem ich Utensilien zum Feuer
anmachen, ein Messer und einen Löffel, etwas Verbandsmaterial (das hoffentlich unbenutzt bleiben würde), mein Skizzenbuch und Zeichenstifte sowie einen Kringel Wurst hineinpackte. Außerdem trug ich (als Glücksbringer) an einem Kettchen um den Hals ein kleines silbernes Kreuz, das mir Delaja ge-
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schenkt hatte.
Der Rittmeister gab mir eine Pistole, dazu Pulverhütchen, Zunder und eine
Handvoll Kugeln. Er sagte, dies sei nur zu meiner Verteidigung, ich sollte mir
ja nicht einfallen lassen, auf eigene Faust gegen die Franzosen vorzugehen.
Ich versprach es und steckte die Pistole in meinen Gürtel, wo sie beim Reiten
bald anfing, gegen meine Lenden zu scheuern.
Er hatte dem Prinzen Ferdinand eine Nachricht zukommen lassen, und zwar
nach Mühlhausen, wo er zuletzt Quartier bezogen hatte, aber er war sich nicht
sicher, ob sie ihn erreicht hatte. Er war überzeugt, daß die Franzosen am
rechten Saale Ufer nordwärts ziehen werden, damit sie den Fluss als Sperre
zwischen sich und den Preußen haben, und frühestens bei Saalfeld über die
Brücke gehen. Er glaubte, Prinz Ferdinand werde, nachdem er den Feind ausgemacht habe, auf der linken Saale Seite unbemerkt auf gleicher Höhe mithalten und sie dann bei der Brücke abfangen.
Ich dachte bei mir, daß dieser Plan die verbündeten preußischen Truppen völlig außer Acht lässt, die vermutlich ähnliche Operationen im Sinn hatten, sagte aber nichts weiter dazu. (Tatsächlich war das alles nachher ein ganzes großes Durcheinander, wo keiner mehr wusste, was in seiner nächsten Nähe vor
sich geht.)
Immerhin kannte sich der Rittmeister in dieser Gegend erstaunlich gut aus.
(Ich vermutete, daß er in der Vergangenheit eine Liebschaft in Saalfeld gehabt
hatte.) Wir näherten uns durch ein Seitental dem Fluss, und machten Halt in
einiger Entfernung vom Ufer. Rechter Hand (also südlich) erhob sich eine
Bergkuppe von mäßiger Höhe. Der Rittmeister, der sah, daß sich dort oben ein
idealer Ausblick bot, erstieg den Hügel, um nach den Franzosen zu suchen.
Ich begleitete ihn; Becker hatte mir sein Fernrohr mit zehnfacher Vergrößerung mitgegeben.
Aber auch damit bekamen wir den Feind nicht in Sicht, nirgends war eine Bewegung zu entdecken. Wir blieben etwa eine Viertelstunde dort und streiften
mit unserm Blick hin und her über die Tannenwäldchen und die Niederungen
am anderen Ufer, dann stiegen wir wieder hinab. Auch von Prinz Ferdinand
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und seinen Mannen war nichts zu sehen. Der Rittmeister war sich unschlüssig,
ob wir uns noch weiter flussaufwärts wagen sollten.
Wir kamen zu einem Gehöft mit einer Wassermühle. Der Besitzer sagte uns,
daß die Franzosen schon gestern nacht an der Saale entlang Richtung Jena
gezogen wären, "im Schein von Fackeln", fügte er hinzu, es sei ein gespenstischer Anblick gewesen, "wie ein endloser Leichenzug", und er war heilfroh,
daß sie am andern Ufer waren.
Ob der Weg über den Steinberg noch passierbar wäre, wollte der Rittmeister
wissen. "Durch den Lichtenhainer Wald?", meinte der Besitzer, "Letztens war
er jedenfalls noch frei, das war nach dem Windbruch, ich schätze, man würde
durch kommen. Aber da müssten Sie ja auf die andere Seite." "Gibt es eine
Furt in der Nähe?" "Wenn Sie nur mit den Pferden hinüber wollen, können Sie
es eine halbe Meile weiter unten versuchen, da biegt ein Weg zum Ufer ab,
den können Sie kaum verfehlen."
Kurz nachdem wir das Gehöft hinter uns gelassen hatten, tauchte eine Rotte
Reiter auf. Vor Aufregung zog ich meine Pistole aus dem Gürtel, aber mein
Pferd scheute und drehte sich einmal im Kreis, bei dieser Vorführung wäre ich
unversehens abgeknallt worden. Doch die anderen, übrigens ziemlich junge
Burschen, waren keine Soldaten, erst recht keine Franzosen. Es waren Abenteurer aus der Umgegend, die "bei der Prügelei ein bisschen mitmischen" wollten, wie sich der Anführer ausdrückte.
Er fragte den Rittmeister, ob sie sich uns anschließen können, und da sie gut
bewaffnet waren und auch sonst einen zuverlässigen Eindruck machten, nahm
er sie auf, unter der Bedingung, daß sie seinem Kommando gehorchten. Der
andere wandte sich zu seinen Kameraden um und sagte "Ihr habt es gehört,
Jungs! Ab jetzt dienen wir dem Herrn Hauptmann!" Sie quittierten es mit
einem lauten "Hurra!", bei dem mein Pferd sich abermals verängstigt drehen
wollte, aber ich bekam es in Griff.
Wir fanden die besagte Furt und stakten durch den Fluss. Drüben entdeckten
wir Spuren, aber für ein ganzes Korps wie das von Marschall Lannes waren es
zu wenige. Des Rittmeisters Plan war, durch den Weg über den Steinberg den
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weiten Saale Bogen abzukürzen und so wieder vor die französischen Truppen
zu gelangen. "Denn mit ihren schweren Geschützen", meinte er, "brauchen sie
mehr Zeit."
Als wir uns wieder dem Fluss näherten, glaubten wir, Kanonendonner zu hören, doch er war weit nördlich gegen Jena zu und außerdem auf der andern
Seite. "Verflucht!" raunte der Rittmeister, "wo stecken die bloß?", und es war
nicht ganz klar, ob er die Franzosen, die Preußen oder Prinz Ferdinand, oder
vielleicht alle zusammen meinte.
Wir bewegten uns vorsichtig einen Hang hinab und durchquerten ein Auenwäldchen, wo wir in einen Hohlweg kamen, aus dem der Rittmeister schnell
wieder heraus wollte, denn in einem solchen Hohlweg hatte er einmal, wie er
bemerkte, ein sehr übles Erlebnis gehabt. Plötzlich erbebte die Erde - über uns
- muss man sagen, denn wir befanden uns tief unten und die Seiten des Grabens waren zu steil, um rasch mit den Pferden hinauf zu klettern. "Ich hab's
geahnt", fluchte der Rittmeister, da zog oben eine Abteilung Preußen vorbei,
und der Rittmeister rief erleichtert "Louis! Prinz Ferdinand!" Der Angerufene
warf uns seitwärts einen Blick zu und erwiderte "Franz Klett! Altes Haus! Was
macht Ihr da unten! Seid Ihr unter die Sappeure gegangen?" (Das war die übliche Bezeichnung für die Soldaten in den Laufgräben und es war durchaus
ironisch gemeint.)
Der Prinz hatte dabei seinen Galopp nicht gebremst, und als der Rittmeister
sah, daß er gleich wieder von dannen war, gab er seinem Gaul einen Hieb aufs
Hinterteil, daß der mit einem weiten Satz voran und davon sprang, um weiter
vorn aus dem vermaledeiten Hohlweg herauszukommen. Ich befand mich
ungefähr in der Mitte des Zuges, und als die andern Burschen den Rittmeister
davon jagen sahen, taten sie es ihm gleich, was zur Folge hatte, daß mein
Pferd (es war wirklich kein Schlachtross!) völlig verunsichert auf der Stelle trat
und alle bis zum letzten Mann vorbei ließ, so daß ich Mühe hatte, an ihnen
dran zu bleiben.
Als ich schließlich oben angelangt war, sah ich, wie dem Prinzen eine Gruppe
von französischen Husaren entgegen kam, mit gezückten Waffen und fürchterlichem Geschrei. "Vive la France! Vive l' Empereur!" Der Prinz hielt dagegen
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und rief "Hoch lebe der König von Preußen!" Der Rittmeister und die Raufbolde hatten ihn fast eingeholt, und ich versuchte alles, mein Pferd vorwärts zu
treiben.
Da schlugen vorn die Klingen aneinander, und es fielen auch Schüsse, und
trotz des Getümmels sah ich mit aller Deutlichkeit, als wär's auf einem Bild
von Ryland, wie einer der Husaren mit ungeheurer Kraft dem Prinzen Ferdinand einen Degen in die Brust direkt beim Herzen stieß und wie der tapfere
Preuße leblos vom Pferd fiel. Ich hörte den Rittmeister aufschreien, und unsere Leute schlugen wie wild auf die Gegner ein.
Ich hatte meine Pistole gezogen (die längst vorher geladen war) und mit zittriger Hand zielte ich auf - ja, ich wusste gar nicht, worauf ich schießen sollte,
als auf einmal rechts aus dem Gesträuch eine weitere Abteilung französischer
Reiter hervorbrach und ebenso todesmutig wie siegessicher auf uns zu raste.
Wie mein Pferd das gewahrte, schwenkte es jäh herum und flüchtete, ohne
das ich es noch lenken konnte. Ich spürte, wie eine Kugel dicht an meinem
linken Ohr vorbeipfiff, und ich glaubte, im nächsten Augenblick getroffen zu
Boden zu stürzen.
Glücklicherweise gelangte ich - oder besser gesagt: mein Pferd - bis zu einer
Baumgruppe, hinter der ich Deckung fand. Ich hörte, wie sich die anderen
schlugen, offenbar hatte mich keiner verfolgt. Ich kämpfte mit mir selbst, ob
ich zurück reiten soll, ich wollte kein Feigling sein! Ich kam hinter den Bäumen hervor, und im nächsten Moment sah ich mich einer feindlichen Schwadron gegenüber, die mich mit voller Wucht überrannte. Ich bekam einen
Schlag wie mit dem Schmiedehammer gegen die Schulter, flog vom Pferd und
durch die Luft, landete schmerzhaft auf dem Boden, überschlug mich mehrmals und purzelte in ein Erdloch, wobei ich mit dem Kopf gegen einen Baum
prallte und das Bewusstsein verlor.
Als ich erwachte, lag ich ausgestreckt, gegen eine knorrige Wurzel gelehnt. Es
war alles ruhig, nur die Vogel zwitscherten. Drei Schritt entfernt hockte ein
Jüngling in den weißen Hosen der Grande Armée - und mit meiner Jacke! Er
schaute mich an. Als er bemerkte, daß ich zu mir gekommen war, sagte er
keineswegs unfreundlich, eher höflich "Bonjour, Monsieur. Mein Name ist
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Etienne."
Ich murmelte "Wo sind deine Eltern" (er war wirklich blutjung). "Sie belieben
zu scherzen", gab er zurück, "das ist in Ihrer Lage nichts Ungewöhnliches."
"Wie bitte?" "Sie haben nichts mehr zu verlieren, Monsieur, und Sie sind gerade dem Tod entronnen." "Gib' mir meine Jacke wieder", sagte ich, "und verschwinde, bevor ich dir eins über den Schädel gebe." "Versuchen Sie es", entgegnete er frech.
Ich wollte mich erheben, aber an meiner Hüfte spürte ich einen heftigen
Schmerz. Außerdem richtete der Junge meine Pistole auf mich. "Was ist, willst
du mich erschießen?" "Wenn es sein muss." "Um an meine Hosen heranzukommen?", sagte ich höhnisch. Ich dachte, wenn er mich töten wollte, hätte
er das längst tun können.
Er ließ die Pistole sinken und sagte "Warum wollen wir nicht Frieden schließen?" "Warst du da drüben dabei?", fragte ich mit einer Kopfbewegung nach
dem Kampf Schauplatz hin. "Ich habe mich vorher hier versteckt", gab er zu.
"Ah, sieh' an, ein Deserteur!", rief ich, "Dann ist deine Lage noch bedauernswerter als meine." "Ich weiß", sagte er, als habe er grade seine Mutter verloren. Er schien mir irgendwie hilflos.
Ich fragte "Wie lange liege ich schon hier?" "Seit ich her kam, ungefähr eine
Stunde." "Wie spät mag es sein?" "Gegen fünf." Ich überlegte. Es musste vier
Stunden her sein, seit wir mit den Franzosen zusammengetroffen waren. "Wie
sieht es dort aus?" Er sagte "Es liegen ein paar Tote da. Auch Pferde." "Was ist
mit unsern Leuten?" "Sind geflohen, glaube ich." "Liegt der Prinz Louis Ferdinand auch dort?" "Ein Offizier?" "Ja." "Nein, es sind nur Soldaten und ein
Unteroffizier. Wollen Sie dahin gehen und nachschauen?", fragte er mich.
"Nicht unbedingt." "Ich auch nicht. Würden Sie mir freundlicherweise sagen,
wie Sie heißen?" "Karl Tandlop." "Darf ich Sie mit Charles anreden?" "Wie du
willst." "Darf ich Ihre Jacke anbehalten?"
"Wo ist mein Pferd?" "Da drüben steht ein Brauner, der anscheinend nicht
weiß, wo er hingehört." "Wo ist dein Pferd?" "Das muss ich mir noch besorgen." "Und dann?" "Was und dann?" "Was hast du vor, Jungchen?" "Ich hatte
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Ihnen doch gesagt, daß ich Etienne heiße, Charles!" "Was hast du eigentlich
vor, Etienne, hier allein in Feindesland? Willst du einen Baguette Handel eröffnen?" "Ihr Witz ist wirklich flach", sagte er, und ich konnte dennoch darüber
lachen.
"Ich würde gern vorläufig bei Ihnen bleiben", sagte er dann ganz ernsthaft.
Ich verstand nicht recht. "Soll ich dich als Kriegsgefangenen behandeln?" "Das
muss nicht sein." "Mit dieser Uniformhose kommst du hier aber nicht weit",
räumte ich ein. "Ich weiß. Da unten liegt auch einer von euch." "Du erwartest
nicht im Ernst von mir, daß ich einem meiner Kameraden die Hosen ausziehe,
um sie einem Franzosen zu schenken!", empörte ich mich.
Er sagte "Ich würde mich überwinden, es selbst zu tun, wenn Sie solange hier
auf mich warten." Ich dachte, das wäre eine Möglichkeit, ihn loszuwerden. Ich
sagte "Gib' mir zuerst meine Pistole wieder." Er reichte sie mir ohne Zögern.
"Haben Sie auch Hunger, Charles?", fragte er. "Nein, ich ... oder ... na ja ...
ein bisschen schon." "Soll ich nachschauen, ob ich etwas finde?" Ich war unschlüssig. "Ich weiß nicht, einem Toten die Wegzehrung stehlen? Ich habe das
noch nicht gemacht." "Ich auch nicht", sagte Etienne, "aber es sind schlimme
Zeiten", fügte er hinzu und ich musste unwillkürlich nicken.
Obwohl ich mich eigentlich aus dem Staub machen wollte, blieb ich da. Der
Gedanke, mich allein hier herumzutreiben, war unangenehmer als jemanden
dabei zu haben, zu zweit war es immerhin ein wenig sicherer, auch wenn ich
nicht wusste, was ich von diesem Jungen halten sollte.
Er kam zurück mit Hose und Jacke (die glaube ich, von einem der jungen Burschen stammten) sowie mit drei Tornistern; an einem waren große Blutflecken. "Mal sehen, was wir hier haben", sagte er und ließ alles auf den Boden
fallen. "Geh' ein bisschen ordentlicher damit um", sagte ich. Er schaute mich
an und besann sich. "Sie haben recht, Charles, ich bin das noch nicht gewohnt." Dann meinte er "Ich ziehe mir die Sachen an. Sie könnten ja inzwischen nach was zu futtern ... ich meine, nach einer verwertbaren Hinterlassenschaft dieser tapferen Kameraden suchen.."
Ich kramte vorsichtig in den Tornistern, den mit den Blutspuren fasste ich
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nicht an. Etienne legte mir meine Jacke hin. "Die können Sie jetzt wiederhaben." Als er die Sachen wechselte, sah ich, daß er Strumpfhosen trug. Er
bemerkte, wie ich ihn ansah. "Was ist denn?" "Tragt ihr Franzosen alle Frauenwäsche unter der Uniform?" "Sie meinen die Strumpfhosen? Die halten
schön warm." Ich fand bloß einen Kanten Brot, der so hart war, daß man ihn
auf dem Stein in Stücke brechen musste. Außerdem einen in Zeitungspapier
gewickelten Trockenfisch, der aussah wie Kiefernrinde.
Bei dem Anblick hatte Etienne eine Idee. "Wir könnten dort am Fluss ein paar
Fische fangen." Mir war das alles zuviel. Ich schwieg und starrte ins Leere.
Etienne fragte "Was haben Sie nun vor?" "Ich werde meinen Freund, den Rittmeister suchen, wir waren zusammen unterwegs." "Glauben Sie, daß er davongekommen ist?" Ich sagte "Wenn da drüben nicht der Prinz Louis Ferdinand liegt, wer hat ihn dann fortgeschafft?" "Ich weiß nicht, vielleicht sind die
Preußen nochmal zurückgekommen und haben ihn geholt. Vielleicht war er ja
auch nur verletzt." Ich sagte, ich hätte genau gesehen, wie er einen Stich ins
Herz bekommen hatte.
"Das ist sehr traurig", sagte Etienne und strich mir übers Haar. Ich wich zurück. "Was soll das?" "Ich versuche, Sie zu trösten. Außerdem haben Sie da
noch Blut im Gesicht, das sollten Sie abwaschen, bevor Sie wieder unter Leute
gehen." Ich befühlte die Beule an meiner Stirn. "Ich habe auch ein Pferd gefunden", sagte er, "sie stehen beide dort an dem Baum." "Dann lass' uns was
suchen, wo wir die Nacht verbringen können." "Ja, in Ordnung. Können wir
hiervon noch irgendwas gebrauchen?" "Nein."
Wir hielten uns in der Nähe des Ufers und ritten flussabwärts. Glücklicherweise war mein Tornister am Pferd befestigt gewesen und unversehrt. Alles in
allem musste ich doch froh sein, daß mein Pferd mich da heil rausgebracht
hatte. Wir fanden eine unbewohnte, halbleere Hütte. Den Brotkanten weichte
Etienne in Wasser auf, ich schnitt meine Wurst in Stücke, aber nach dem
zweiten Bissen war mir der Appetit vergangen. Als ich nach draußen ging,
meinte ich, einen Feuerschein zu sehen. Ich fand im Dunkeln eine Leiter und
kletterte aufs Dach. Auf der anderen Seite in der Ferne konnte man die Feuerstellen eines Biwaks erkennen.
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Am nächsten Morgen kamen wir zu einer Ortschaft, wo eine Brücke über die
Saale führte. Es standen französische Posten da. Wir beobachteten eine Weile
unauffällig die Lage und sahen, daß normale Zivilisten ohne weiteres passieren konnten. Wir näherten uns den Posten (es waren zwei mit Gewehren) so
selbstverständlich wie möglich. Wir waren schon vorbei, da rief einer von ihnen "Monsieurs! Ihr zwei Männer da! Halt!" Er kam auf uns zu. "Sie haben etwas verloren", sagte er und reichte mir eine hölzerne Piccoloflöte hoch. Ich
verstand nicht. Etienne rief "Oh, das ist meine, merci beaucoup, mon Soldat."
Sie wechselten noch ein paar Worte, die ich nicht verstand.
"Gehört die wirklich dir?", fragte ich ihn, als wir drüben waren. "Ja, sie muss
mir aus der Tasche gerutscht sein. Wie geht es weiter, Charles?" "Wir müssen
herausfinden, wo unsere Truppen stehen." Es dauerte mehr als eine Stunde,
bis wir erfuhren, daß sich angeblich bei Blankenhain ein Hauptquartier der
Preußen befand. Unterwegs kamen wir an zwei, drei Stellen vorbei, wo offensichtlich kleine Scharmützel stattgefunden hatten, es lagen auch ein paar Leichen auf dem offenen Feld und im Straßengraben, die bis auf die Unterwäsche
entkleidet waren; man konnte nicht erkennen, zu welcher Armee sie gehört
hatten; die Raben machten sich schon darüber her.
In Blankenhain begaben wir uns zum Hauptquartier. Ich erkundigte mich nach
dem Rittmeister Franz Klett, ich sagte, ich wäre sein Bediensteter und hätte
ihn bei Saalfeld verloren. "Sie kommen von Saalfeld?", fragte mich der diensthabende Offizier. Ich sagte ja, ich hätte gesehen, wie Prinz Louis Ferdinand
getötet wurde. Das schien ihn davon zu überzeugen, daß ich irgendwie dazugehörte. "Unteroffizier Gessel!", rief er und fragte ihn nach dem Rittmeister.
"Franz Klett? Der ist nach Dornburg aufgebrochen, nachdem man ihn hier verarztet hat." "Was war mit ihm passiert?" "Nur eine Stichwunde am Oberarm",
sagte der Unteroffizier Gessel, "aber mir schien, er war völlig niedergeschlagen wegen dem Tod des Prinzen. Waren die beiden befreundet?" "Ja. Warum
nach Dornburg?", fragte ich. Der Offizier sagte "Napoleon ist von Gera nach
Jena gekommen." "Er war schon in Gera?", staunte ich. "Der Fürst zu Hohenlohe empfängt ihn mit seinen Grenadier Bataillons an der Saale." "Wo ist der
König?", fragte ich. Der Offizier zuckte mit den Schultern, der andere meinte
"Man sagt, der König und der Herzog von Braunschweig stehen mit siebzigtausend Mann bei Kapellendorf." "Wo ist das?" "Nordwestlich von Jena." Ich
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bedankte mich.
Ich sagte zu Etienne, wir könnten sofort dem Rittmeister hinterher reiten oder
aber noch abwarten. Ich hatte den Eindruck, daß in Kürze hier neue Nachrichten eintreffen werden. Endlich fand ich wieder Gelegenheit, meiner eigentlichen Tätigkeit nachzukommen. Ich notierte mir das, was ich soeben erfahren
hatte.
"Wozu machen Sie das?", fragte Etienne. "Ich arbeite für die Zeitung." "Für
welche?" "Die Deutsche Nationalzeitung." "Klingt bedeutend", sagte Etienne.
"Merkwürdig, daß sie hier nicht wissen, wo sich der König befindet", sagte ich,
"ich dachte, das wäre das Hauptquartier." Etienne fragte "Haben Sie nach der
Division von Marschall Lannes gefragt?" "Nein." "Was ist mit Marschall Bernadotte und dem Großherzog von Berg?" Ich schaute Etienne ungläubig an.
"Vielleicht solltest du selbst mal da rein gehen und mit denen sprechen." Er
schwieg. Ich fragte "Bei welcher Einheit warst du eigentlich?" "Bei General Savary." "Was sind das? Husaren?" "Artillerie." "Kanonen?" "Was glauben Sie,
Charles? Steinschleudern?" "Hast du keine Angst, erwischt zu werden?" "Wo?
Hier? Sie sagen doch selbst, daß sie nicht mal wissen, wo ihre eigenen Leute
sind." "Und vorhin der Posten auf der Brücke?" "Das war ein Belgier."
Dann sagte er "Wollen wir nicht endlich mal etwas essen?" Ich hatte meinen
Hunger so weit unterdrückt, daß sich mein Magen nicht mehr regte, aber
Etienne zuliebe, der wirklich schon ein kümmerliches Gesicht machte, stimmte
ich zu. Wir suchten uns ein Wirtshaus (es gab eigentlich nur das eine), wo es
als "Tagesgericht" Erbspüree mit klein geschnittenem Schinkenspeck gab.
Etienne hob beide Hände wie Jesus beim Abendmahl, schaute entgeistert auf
den Teller und fragte "Mon Dieu! Was ist das?" Ich erklärte es ihm. "Es sieht
aus wie Erbrochenes." "Jetzt hör' auf zu mäkeln", sagte ich und fügte hinzu
"vielleicht können wir uns irgendwo eine Flasche Wein besorgen." "Ich trinke
keinen Wein." "Dann kann ich dir auch nicht helfen."
Wie ich ihn so ansah, dachte ich auf einmal, daß er eigentlich ganz gut zu
Delaja passen würde. Ich fragte ihn "Etienne, wartet zu Hause eine Braut auf
dich?" Er antwortete nicht gleich, dann sagte er "Nein."
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In dem Wirtshaus stärkten sich auch die Leute aus dem Hauptquartier. Der
Unteroffizier Gessel setzte sich an unsern Tisch. Er sagte "Generalleutnant von
Rüchel ist gerade in Weimar eingetroffen, es heißt, er will nach Auerstädt. Es
heißt, Napoleon hat sich auf dem Landgrafen Berg in Jena in Stellung gebracht." Ich sagte "Was will Rüchel dann in Auerstädt?" Gessel sprach undeutlich mit vollem Mund. "Der Marschall Davout ist mit fünfundzwanzig tausend
Mann bei Kösen über die Saale und marschiert Richtung Weimar. Unser Herzog von Braunschweig steht mit über zweihundert Geschützen bei Eckartsberga, um ihn aufzuhalten." Das war nicht die Antwort auf meine Frage.
Etienne schaute verwundert zu, wie der Unteroffizier das Erbspüree in den
Mund schaufelte. Ich sagte "Dann wird es zur Schlacht kommen?" "Ja. Ich
schätze, morgen früh geht's los. Wer ist der Junge?", fragte Gessel und deutete auf Etienne. Der stellte sich höflich vor und sagte, das Essen in diesem
Hauptquartier sei eine Zumutung. Der Unteroffizier schaute ihn komisch an,
"Ist er ein Franzmann?", fragte er mich. Ich sagte "Er ist ein Hugenotte aus
Berlin." "Welche Einheit ist das?", fragte er Etienne, ich erklärte "Das ist keine
Waffengattung, sondern eine Glaubensrichtung". "Ach so", sagte Gessel, "ein
Feldpastor. Na, dann wirst du dich ja morgen auf dem Schlachtfeld deinem
Herrn von der besten Seite zeigen können."
Es war Nachmittag, als wir beschlossen, uns auf die Suche nach dem Rittmeister zu machen. Ich war nochmal ins Hauptquartier gegangen, um mir ein
Dokument ausstellen zu lassen, in welchem stand, daß ich als Korrespondent
für die Deutsche Nationalzeitung arbeite, ich dachte, daß wäre unter Umständen nötig, um möglichst nahe an das Kampfgeschehen heranzukommen,
obwohl ich mir noch nicht ganz sicher war, ob ich das wagen würde.
Wir hatten eine gute Strecke Weges ohne Zwischenfälle zurückgelegt, als vor
uns ein Planwagen auftauchte, der in dieselbe Richtung dahin zuckelte. Als wir
näher heran kamen, sagte Etienne "Den Wagen kenne ich." Er rief "Madame
Lurie! Florence!" Der Wagen hielt, wir waren gleich bei ihm. Er gehörte einer
Marketenderin, die offenbar im Schlepptau der Grande Armée ihr Geschäft betrieb.
"Was wollt ihr zwei einsamen Landstreicher?" Sie war eine kräftige, vollbusige
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Frau, mit einem Filzhut auf dem blonden lockigen Haar. Auf ihrem Gesicht
hatte das Alter bereits seine Zeichen gesetzt, aber sie machte einen unverwüstlichen, resoluten Eindruck. "Madame Lurie, erkennen Sie mich nicht wieder?" "Etienne? Ist deine Uniform in der Wäsche, daß du in Zivilkleidung herumläufst?" "Nein." "Wie, nein? Du bist doch nicht etwa abgehau'n." "Doch."
"Sollen deine Musikanten jetzt ohne dich die Marseillaise schmettern, wenn sie
durch's Brandenburger Tor marschieren?" "Das werden sie schon hinkriegen."
"Was machst du nur für Dummheiten! Dafür werden Sie dich noch erschießen.
Und wer ist der da?" Ich stellte mich vor.
Etienne fragte "Warum fahren Sie dem Zug hinterher, Madame Lurie?" "Ich
hatte einen Schaden am Wagen, musste ich erst reparieren lassen. Die Deutschen sind geschickte Handwerker, auch wenn sie versucht haben, ein armes
Franzosen Weib übers Ohr zu hauen. Außerdem musste ich unterwegs meine
Ware aufstocken." "Haben Sie noch ein Glas von der Gänseleber Pastete?"
"Extra für dich aufgehoben. Und dazu frisches Weißbrot, und ein Stück Roquefort? Sagen Sie mal, Monsieur, Sie kümmern sich wohl gar nicht um unsern
kleinen Tambour?" "Ich tue, was ich kann."
"Er ist in Ordnung", sagte Etienne, "er hat mich mitgenommen." "Und das ist
auch nötig", sagte Madame Lurie zu mir gewandt, "wissen Sie, unser guter
Junge findet nämlich kaum den Weg von der Haustür auf die Straße." "Ach,
kommen Sie, Madame Lurie, sprechen Sie nicht so über mich", sagte Etienne
verlegen. "Ist doch so." "Ist schon besser geworden", versicherte er.
Sie fragte "Dann bist du also immer noch auf der Suche nach deinem ...
Kameraden?" "Ja. Oberst Branquart's Kürassier Regiment waren mit Marschall
Lannes zusammen, aber ich habe sie verloren, als ich ... geflüchtet bin, ich
habe mich zu lange still verhalten." "Na, das war richtig", sagte Madame, "du
wirst sie schon wiederfinden, alles trifft sich in Berlin." Sie war sich offenbar
ziemlich sicher, daß Napoleon den preußischen König besiegen wird.
"Wohin wollen Sie jetzt?", fragte ich. "Dahin, wo es am meisten nach Pulver
riecht. Es muss da einen Ort namens Auerbach geben." "Auerstädt." "Oder so.
Da soll's morgen hoch hergehen. Ich muss es heute Abend noch schaffen, vor
der Schlacht sitzt den Soldaten das Geld besonders locker. Ich hab' extra viel
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Branntwein eingekauft."
Dann krabbelte sie nach hinten auf ihren Wagen und holte die Pastete, das
Brot und den Käse. Man hörte sie in ihren Waren wühlen. "Haben Sie auch eine Flasche Wein für meinen Begleiter?", rief Etienne. "Natürlich. Einen Fourage première, Jahrgang zweiundsiebzig, ein Bombenjahr!" Etienne lächelte mir
zu. "Es ist ein einfacher Landwein vom letzten Jahr, er wird Ihnen schmecken." Ich nickte.
Ich wollte bezahlen, Madame sagte "Oh, tut mir leid, Monsieur, aber die
Deutschmark steht derzeit schlecht im Kurs." Ich sagte, ich hätte kein anderes
Geld, Etienne verzog das Gesicht. Sie drohte "Ihr seid mir die rechten Landstreicher: ein armes Franzosen Weib schamlos ausnutzen. Wenn ihr mir je
wieder über den Weg lauft, dann zahlt ihr eure Zeche, oder ich drehe euch
den Griff ab. Habt ihr verstanden!" Wir beteuerten es wie die Schuljungen,
und Madame reichte uns den Proviant.
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, ließen wir die Marketenderin davon
fahren, bis sie unserm Blick entschwunden war. Ich sagte "Wenn sie auf diesem Weg zu den Franzosen gelangen will, dann sollten wir uns nach links halten, denn die Preußen stehen westwärts." "Hat dieser Unteroffizier nicht gesagt, Napoloen wäre bei Jena?", erinnerte sich Etienne. "Ja, ich weiß. Womöglich wird es zwei Kampfschauplätze geben." "Oh, dann haben wir ja sogar die
Wahl", sagte er bitter. Ich schaute auf meine Notizen und versuchte daraus
einen Lageplan zu erkennen.
"Das ergibt alles keinen rechten Sinn", stellte ich missmutig fest und schaute
ziellos in die Umgebung. Etienne schien bloß irgendwohin zu wollen, er sagte
"Dort drüben ist eine Erhebung, das ist doch Ihre Richtung, Charles. Vielleicht
können wir von da aus was sehen." Ich war einverstanden.
Wir durchquerten ein Wäldchen, wo es gespenstisch still war, und ich bekam
ein mulmiges Gefühl. Ich flüsterte Etienne zu "Hast du eigentlich eine Waffe?"
"Nein, wozu?" "Vielleicht, weil wir uns im Krieg befinden", sagte ich mit einem
Anflug von Verständnislosigkeit angesichts seiner Frage. "Aber es ist nicht
mein Krieg", entgegnete er kühl.
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Wir kamen heil am anderen Ende heraus und überquerten ein Feld, das drüben von Bäumen und Sträuchern gesäumt war. Schon den ganzen Tag war es
grau und diesig gewesen, jetzt am späten Nachmittag senkten sich dünne Nebelschwaden herab. Wir hatten den Hügel aus den Augen verloren und hielten
an, um uns zu orientieren.
Ich erschrak ziemlich heftig und musste mein Pferd im Zaum halten, als plötzlich eine Gruppe völlig verdreckter und zu Tode verängstigter Soldaten an uns
vorbei rannte. Es waren Preußen, und sie hatten alles weggeworfen, das sie
noch irgendwie behinderte, keiner trug eine Waffe, keiner Gepäck, selbst die
Mützen hatten sie vom Kopf gerissen. Einige schleppten sich nur mit Mühe
weiter, weil sie verletzt und verwundet waren; manche wurden von Kameraden gestützt oder besser gesagt: mitgeschleift. Man konnte das schmerzliche
Weinen dieser Männer hören, blankes Entsetzen war auf ihren Gesichtern eingebrannt. Ich rief einem zu "Woher kommt ihr?", aber keiner schaute nach
links oder rechts, sie wollten alle nur fort, hin zu einer rettenden Ferne und
Weite; sie wirkten wie Tote, die der Hölle entronnen waren.
Wir standen noch eine Zeitlang und versuchten, unserer Erschütterung Herr
zu werden. Ich bemerkte, wie sich Etienne Tränen aus den Augen wischte. Ich
fragte "Wollen wir umkehren und verschwinden?" Er schüttelte den Kopf. "Ich
kann nicht, Charles. Ich muss da hin." "Gut", sagte ich, obwohl ich nicht verstand, was er meinte. Vielleicht sollte uns dieser Anblick ja nur einigermaßen
auf das vorbereiten, was uns erwartet.
Ich vermutete, daß diese armen Soldaten von Jena herkamen, wo ihnen die
Franzosen den Garaus gemacht hatten; wie viele mochten es wohl nicht
geschafft haben zu entkommen? Wir ritten ein, zwei Stunden ohne viel zu reden, und ich hatte das Gefühl, wir bewegen uns kreuz und quer durch die Gegend. Daß wir von jener Schlacht nicht den leisesten Geschützdonner vernommen hatten, zeigte nur, wie weitläufig das ganze Kampfgebiet sein musste.
Als es dunkel wurde, suchten wir nach einer Lagerstelle für die Nacht. Abermals hatten wir Glück und fanden eine kleine Hütte, die offenbar früher einem
Schäfer als Quartier gedient hatte, der Pferch für die Tiere war niedergerissen
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und von Gestrüpp überwuchert. Das Dach hatte eine offene Stelle, und wir
machten genau darunter ein Feuerchen, so daß der Rauch abziehen konnte.
Wir verzehrten unsern Proviant, ich trank von dem Wein. Etienne hatte reichlich Holz zusammengetragen, und als wir eine angenehme Wärme spürten,
fassten wir wieder Mut.
Ich schaute Etienne an und dachte ich bei mir, was für ein hübscher Bursche
er doch ist. Er tat so, als würde er meinen Blick nicht bemerken. Ich fragte ihn
"Warum hat dich Madame Lurie einen Tambour genannt?" "Ich war Trommler
im Korps von Marschall Lannes." Jetzt wurde mir auch klar, weshalb er keine
Waffe hatte. Er sagte "Ich kann auch die Piccoloflöte spielen, die hab' ich behalten." Er holte die kleine Flöte hervor und spielte die Marseillaise, es klang
unbeschwert und ergreifend zugleich, ich musste schmunzeln.
"Wann hast du zuletzt auf einer Parade gespielt?", wollte ich wissen. "In
Würzburg, als wir beim Kaiser vorbeimarschiert sind." "Davon habe ich gelesen. Napoleon hat patriotische Worte an das Siebente Infanterie Regiment gerichtet." Etienne sagte "Das sind die größten Strolche der Armee. Sie sind alle
froh, von zu Hause weg zu sein, die meisten werden wegen irgendeiner Übeltat gesucht, die Armee schützt sie, solange sie dabei sind. Sie schleppen alle
eine Henne auf dem Tornister mit sich, und wenn sie keine Eier mehr legt,
kommt sie in den Topf. Sie erzählen sich den ganzen Tag Witze und lachen
über alles, was ihnen über den Weg läuft, aber sie zögern keinen Augenblick,
einer Frau das Kind zu entreißen und abzustechen, bloß damit es nicht schreit,
wenn sie vergewaltigt wird. Das sind Napoleons Freunde."
Er nahm wieder seine Flöte zur Hand und spielte eine sanfte Weise. Ich trank
einen Schluck aus der Flasche und starrte ins Feuer. Als er aufgehört hatte,
fragte ich ihn "Du warst also gar nicht bei den Kanonieren?" "Nein." "Weshalb
bist du überhaupt zu Armee gegangen?" Er antwortete nicht gleich, dann sagte er "Weil ich meinen Bruder zurückholen will." "Ist das der Kamerad, von
dem Madame Lurie sprach?" Er nickte. "Wie gesagt: mein Bruder", bekräftigte
er.
"Wenn ich dich recht verstehe, konntest du nicht verhindern, daß er in den
Krieg zieht?" "Nein. Aber er ist nicht freiwillig gegangen, er wurde gepresst."
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"Angeworben." "Gepresst. Man hat ihn ... nein, ich konnte es nicht verhindern." "Und nun willst du ihn finden." "Ja. Zuletzt war er bei Oberst Branquart, aber manche Einheiten wurden auch schon neu zusammengestellt, vielleicht ist er inzwischen woanders." Ich sagte "Was ist, wenn er ebenfalls versucht hat, zu desertieren?" "Kann ich mir nicht vorstellen. Er ist dafür nicht
der Typ, er ist viel zu brav, um etwas Verbotenes zu tun. Aber er gehorcht
manchmal nur aus gutem Glauben. Ich bete zu Gott, daß er keinen Menschen
töten muss." "Ist er älter als du?" "Zwei Jahre." "Und wenn du ihn findest?"
"Dann werden wir zusammen fliehen, wenn es sein muss, bis nach Amerika."
Nach einer Pause sagte ich "In Weimar wohnt ein Mädchen, sie heißt Delaja,
ich kenne sie gut, sie ist ein kluges und schönes Mädchen mit vielen Talenten.
Wenn ich es recht bedenke, würde sie ganz gut zu dir passen." Etienne sah
mich verwundert an, dann musste er lachen. "Charles, Sie wollen mich verkuppeln, mitten im Krieg." "Ich weiß, ich hätte es besser formulieren sollen,
aber es lag mir schon eine ganze Weile auf dem Herzen."
"Delaja, sagen Sie. Ist das ein russischer Name?" "Ja. Ihre Mutter und ihr
Großvater stammen aus Russland." Etienne sagte unvermittelt "Glauben Sie,
Napoleon wird bis nach Russland marschieren?" "Wenn er die Preußen ganz
bezwingen will, muss er zumindest bis nach Königsberg, und das liegt bereits
an der russischen Grenze. Wenn er sich im Siegesrausch befindet, genügt nur
ein kleiner Auslöser, damit er darüber hinweg schreitet."
Etienne sagte "Aber keiner hat Russland bis jetzt erobern können." "Nein",
erwiderte ich, "das hat noch keiner geschafft. Trotzdem hat man es immer
wieder versucht. Es muss etwas an diesem Reich sein, das die fremden Herrscher immer wieder reizt, es anzugreifen." Etienne fragte "Waren Sie schon
mal in Russland?" Ich verneinte. Er sagte "Ein Onkel von mir war als Kaufmann in Sankt Petersburg, er hat davon geschwärmt wie von einem Festmahl." "Ihr könntet ja auch nach Russland gehen", meinte ich. "Wer?" "Dein
Bruder und du und Delaja." "Sie lassen nicht locker, was?"
Ich fragte "Gesetzt den Fall, Napoleon würde tatsächlich dort einmarschieren,
würdest du ihm folgen?" "Wenn ich Pascal bis dahin nicht gefunden habe, natürlich." Ich wollte einwenden, daß sein Pascal womöglich dann schon lange
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nicht mehr am Leben sein könnte, aber das verkniff ich mir, er musste ja
selbst schon daran gedacht haben.
Frühmorgens wurde ich geweckt von der Kälte, die unter meinen Mantel kroch
und mich in die Zehen zwickte. Und von einem dumpfen Grollen, das sich
schon seit einer Weile in meinen Schlaf geschlichen hatte. Ich rüttelte Etienne
wach und sagte "Horch! Es hat angefangen."
Jetzt orientierten wir uns einfach am Gefechtslärm, der stetig zunahm, was
auch darauf hindeutete, daß immer mehr Soldaten und Geschütze zum Einsatz kamen. Immer stärker bebte die Erde. Wir glaubten bald, hinter diesem
Wäldchen, jenseits der nächsten Erhebung müsste man das ganze Schlachtfeld vor Augen haben, doch der Weg zog sich in die Länge, und am Himmel
waren noch keine Qualmwolken von massenhaftem Gewehrfeuer und Explosionen zu sehen.
Dann ließ der Lärm sogar kurzzeitig nach, um plötzlich an einer Stelle weiter
links oder weiter rechts wieder anzuschwellen. Ich sagte "Zum Kuckuck, wir
müssten doch längst da sein." Etienne schwieg nur noch, ich sah, wie er die
Zähne zusammenbiss und geradeaus starrte. Auf einmal rief er "Achtung,
Charles! Da vorn kommen welche." Es waren drei Reiter, die im vollen Galopp
auf uns zu steuerten.
Ob es nun daran lag, daß wir keine Uniformen trugen und nicht mit den Waffen herumfuchtelten, oder ob wir ihnen ohnehin völlig egal waren, jedenfalls
schienen sie uns gar nicht zu beachten. Aber ich hatte den einen wohl
erkannt, ich rief "Leutnant Gradenecker! Warten Sie einen Moment!" Sie hatten Mühe, ihre Pferde anzuhalten. Außer dem Leutnant war natürlich Viktor
dabei, der eine riesige Pelzmütze aufhatte und zwei Gewehre überm Rücken
trug, sowie einer in Kavallerie Uniform, den ich nicht kannte.
"Karl! Was machen Sie hier?", fragte der Leutnant atemlos. Die Pferde
schnaubten und gebärdeten sich wie wild. "Wir wollten nach Auerstädt." Er
musterte uns ungläubig. "Wollen Sie sich und Ihren Begleiter in den Tod
stürzen?" "Wir wollten das Geschehen verfolgen." "Teufel auch!", sagte der
Leutnant, und Viktor schüttelte den Kopf. "Wie sieht es denn aus?", fragte ich.
142
"Wir werden untergehen." "Herr Leutnant", sagte der dritte Mann, "wir sollten
uns beeilen."
Der Leutnant fragte mich "Haben Sie unterwegs die Kutsche der Königin gesehen?" "Die Königin?", rief ich erstaunt, "Nein. Ist sie denn hier?" "Kommen Sie
mit, Karl", sagte er, "da vorn erwartet euch nur die Katastrophe." Viktor und
der andere hatten schon wieder ihre Pferde angetrieben. Wir wendeten und
schlossen uns an.
Der Leutnant rief zu mir herüber "Es heißt, Königin Luise wäre von Weimar
aus aufgebrochen, um zu ihren Truppen zu eilen." "Um Himmels Willen", sagte ich, "wie kommt sie denn auf so was." "Vielleicht hat sie gedacht wie Sie,
Karl", erwiderte er beinahe verächtlich. "Wir müssen sie finden und zur Umkehr bewegen. Der dort ist Hauptmann Fehrsen. Wer ist der Junge?" "Ein Deserteur von Marschall Lannes." Der Leutnant warf einen forschen Blick auf ihn.
"Wollen Sie ihn ausliefern?" "Was? Nein. Er fühlt sich nicht wohl allein. Und
ich mich auch nicht." Der Leutnant lachte, dann sagte er "Hauptsache, er ist
kein Spion."
"Und die Königin ist mit der Kutsche unterwegs?", fragte ich. "So viel ich weiß,
ist es die Feldchaise vom Weimarer Herzog." "Wie konnte man sie in Weimar
nur weglassen?" "Man hatte ihr davon abgeraten. Aber schließlich ist sie die
Königin, ihr Wille ist Befehl." Ich sagte "Wir waren in Blankenhain im Hauptquartier, mir schien, man hatte dort wenig Überblick über die Lage." "Den hat
man anderswo auch nicht", erwiderte er, "alles richtet sich nach dem Herzog
von Braunschweig (das war der Kommandeur der verbündeten Armeen), aber
den hat offenbar das Kriegsglück längst verlassen. Der alte Fritz wird sich im
Grabe umdrehen, damit er die Schmach nicht mitansehen muss."
Ich hatte das Gefühl, der Schlachtenlärm würde uns nacheilen, ich sagte "Irre
ich mich, oder kommt das immer näher?" "Napoleon wird die Verfolgung aufnehmen, diesmal wird er alles niedermachen, was nicht schneller ist als er.
Wenn wir Pech haben, werden uns die Franzosen einholen. Hauptmann Fehrsen!", rief er nach vorn, "Da 'rüber in den Wald!"
Er meinte ein Gebiet mit Buchen und Eichen, kalter Dunst waberte zwischen
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den Bäumen. Der Leutnant glaubte, die Königin habe die offene Landschaft
gemieden. Luise war ein (weiblicher) Oberst des Kalkreuther Dragonerregiments, zwar nur ehrenhalber, aber sie hatte bei einigen Übungen und Manövern an der Seite ihres Gemahls bewiesen, daß sie einen Sinn für militärisches
Verhalten besaß, soweit man das einer Frau überhaupt zugestehen konnte.
Der Hauptmann sagte "Verteilen Sie sich, meine Herren, und rufen Sie, wenn
Sie etwas entdecken." Etienne blieb an meiner Seite, Madame Lurie hatte
wohl recht, als sie meinte, er würde sich allein leicht verirren. Das Wummern
der Geschütze drang bis hier in den Waldboden. Da hörten wir Viktors Bärenstimme und folgten seinem Ruf.
Zwischen den Bäumen war die Chaise der Königin mit dem rechten Vorderrad
in ein tiefes Loch geraten und die Achse war angeknackst, der Wagen hing
schief, eine Tür war aus den Angeln gerissen. Der Kutscher versuchte vergeblich etwas zu richten. Die Königin schaute ihm zu, vornübergebeugt, die Hände auf die Knie gestützt. Sie trug ein fesches Dragoner Kostüm mit hohen
Stiefeln und langen Lederhandschuhen und einen Hut mit einem Besatz aus
Zobelfell. Sie sah aus wie eine verwegene Räuberbraut, aber in ihren Augen
standen die Tränen.
*****
Der ganze Roman erhältlich auf: www.fuchsgotha.de/tandlop
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Susanne Riedinger
Der Sternenhimmel im Juni
Deutschland 1938. Ulrike ist eine junge Frau und lebt in einer Kleinstadt in
Thüringen. Der Reichskanzler und Führer Adolf Hitler und seine Partei haben
alle Macht an sich gerissen. Vor dem Hintergrund von wirtschaftlichem Aufschwung, drohender Kriegsgefahr und Verfolgung politischer Gegner erlebt
Ulrike die Ausbreitung des faschistischen Geistes im täglichen Leben.
Sie kümmert sich um den trunksüchtigen Erich und dessen Sohn "Karlchen",
der stets zu Streichen aufgelegt, aber ansonsten ein lieber Junge ist. Während
sich zwischen ihrer Freundin Anna und dem Hitlerjugend Funktionär Wolfgang
eine Beziehung entwickelt, bleibt Ulrike vorerst allein. Eines Tages taucht ihre
Tante Gertrud auf und das Wiedersehen verändert Ulrikes Schicksal in ungeahnter Weise.
Dem Stil der großen Vorbilder Hans Fallada und Heinrich Böll verpflichtet,
schildert diese Erzählung das Leben der einfachen Leute mit Herz und einer
Brise Humor.
*****
145
LESEPROBE
Richard Weber kommt gegen dreiviertel zehn am Marstall an. Er ist mit dem
Auto gefahren. Lothar Aufhaus, der Schultheiß der Borsberg Gemeinde, hatte
gesagt, er werde von der Reitschule ein Pferd für ihn mitbringen. Sollte das
nicht klappen, wäre Weber auch nicht böse, ihm wäre es ohnehin lieber, er
würde bis zum Schlackenhaus, dem Gasthof auf halber Höhe des Seebergs,
fahren und dann mit den Hundeführern und Schützen mitlaufen.
Die Jagdgesellschaft ist fast vollzählig. Weil es auf dem freien Platz vor dem
Marstall ungemütlich ist, ist ein Teil der Jäger über die Straße und in den Park
gegangen, von wo aus man das Geschehen im Blick behält. In kleinen Gruppen stehen die Leute und plaudern, viele der Gäste sehen sich zwei dreimal im
Jahr, wobei die Hubertusjagd ein willkommener Anlass ist. Die Pferde werden
auf der Wiese zusammengehalten, die Hundemeute balgt sich ein Stück abseits um ein Stück Fleisch, das Wetter verspricht großartig zu werden. Zwischen den Wartenden löst sich aus einer Flinte ein Schuss und geht in eine
Baumkrone. Einige werden erschreckt, ein paar Frauen schreien kurz auf. Als
man erkennt, daß es ein Versehen war, geht ein Gelächter durch die Menge.
Dr. Ullrich, Direktor der Metallfabrik in Ohrafurt, ist der diesjährige Jagdherr,
Oberleutnant Matthies ist Master, und Schulleiter Reckmann Piqueur. Die drei
stehen am Marstalltor um einen Feldtisch herum und besprechen den Ablaufplan. Matthies ergänzt laufend die Teilnehmerliste. Es sind einige prominente
Personen anwesend. Staatssekretär Ortleb aus Weimar, der Landesbauernführer Staatsrat Plenckert, Landrat Dr. Gille, Oberbürgermeister Dr. Meyer. SA
Standartenführer Winckler ist nach längerer Krankheit wieder wohlauf und
macht einen sehr guten Eindruck. Der Präsident des Rennvereins Major a.D.
von Seefeld ist da, und natürlich auch Kurt "Kurtchen" Hopf, der Kreisjägermeister, der eigentliche Organisator des Ganzen.
Etliche sind in Begleitung ihrer Ehefrauen gekommen, von denen manche
selbst ganz passable Jägerinnen und vor allem die besseren Reiterinnen sind.
Auch die Kreisfrauenschaftsleiterin Margit Fürbitter ist der Einladung gefolgt.
Der aus Berlin stammende Schauspieler Oskar Heister, ein Freund von Gustaf
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Gründgens, hält sich zur Zeit wegen Filmaufnahmen in Georgensmühl auf und
nimmt auf Vermittlung der Goethegesellschaft ebenfalls an der Jagd teil. Die
Begleiterinnen der Fürbitter, von denen die meisten Mitarbeiterinnen der Mütterschule in der Friedrich Jacobs Straße sind, haben sich bereits um Oskar
Heister geschart, der gerade erklärt, wie wenig er vom Jagen, umso mehr
aber davon verstehe, was der Waidmann das "Heranpirschen ans Wild" nennt.
Obwohl die Pferde und erst recht die Hunde kaum zu zügeln sind, und die Hubertusjünger darauf brennen loszuziehen, und obwohl die Zeiger der Marstallturmuhr auf zehn Minuten nach zehn stehen, gibt Jagdherr Dr. Ullrich noch
immer nicht das Signal zur Eröffnung. Denn es fehlt Herzog Karl Emmanuel,
ohne den keine derartige Veranstaltung beginnen kann. Im vorigen Jahr wurde gemunkelt, der Herzog habe zuerst seinen Chauffeur im Auto am Marstall
vorbeifahren lassen, um zu sehen, ob die Lage und Stimmung für sein Erscheinen angemessen fortgeschritten seien, aber auf so was achtet man nicht
ernsthaft und nimmt es wie selbstverständlich hin, daß Karl Emmanuel nicht
nur als letzter, sondern auch einige Minuten später eintrifft. Endlich kommt er
doch vom Museum her geritten auf dem edlen Wallach mit Namen "Stahlhelm" und mit einem kleinen Tross, zusammengesetzt aus Angehörigen der
Familie, Bekannten, Gästen und ein paar jagdkundigen Begleitern, unter ihnen auch ein ehemaliger Schulkamerad Eckarts.
Nach der Begrüßung und Bewillkommnung durch die Jagdleitung, und nachdem die Herrschaften und Damen von der Parkseite sich wieder vor dem Marstall versammelt haben, gibt Dr. Ullrich den Jagdhornbläsern das Zeichen zum
Auftakt. Im Halbrund, in schmucker Lodenuniform mit Hut und Hirschbartschmuck, einen Arm in die Seite gestemmt, erheben die Bläser die glänzenden
Hörner zum Munde. Es erklingen der "Gästegruß" und zwei weitere Stücke, die
keine regelrechten Hornsignale sind, aber dennoch gefallen, und Dr. Ullrich
weist kurz darauf hin, welches Wild geschossen werden darf und daß die Aufteilung der Jägergruppen, Helfer, Treiber und so weiter laut dem Einladungsschreiben gilt. Danach ertönt der "Aufbruch zur Jagd", und einige der Hunde
beginnen zu jaulen.
Die Gesellschaft setzt sich in Bewegung, um vom Platz der alten Sternwarte
aus zu den einzelnen Abschnitten des Reviers zu ziehen. Lothar Aufhaus hat
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Doktor Weber das versprochene Reitpferd mitgebracht. "Ich dachte, wir
fangen beim Schlackenhaus an", sagt Weber, und Aufhaus erwidert "Ist schon
wieder alles umgeändert." 'Warum dann überhaupt auf die Einladung verwiesen wird', denkt Weber und sagt "Dann halte ich mich an dich. Habe sowieso
nicht vor, groß was zu erlegen." "Das soll heißen, daß du nichts vor die Flinte
kriegst, wenn ich dabei bin." "Aber woher, du hast letzte Woche erst den
Hirsch geschossen." "Ein Schmales war es. Den Hirsch hole ich vielleicht heute." "Bitte schön, ich überlasse ihn dir."
An der alten Sternwarte gibt es dann doch eine kleine Verzögerung, weil manche nicht wissen, welcher Gruppe sie sich anzuschließen haben und andere
offensichtlich schon in eine Richtung verschwunden sind, die ihnen gar nicht
zugewiesen war. Dr. Ullrich nimmt das alles gelassen, denn er weiß, daß sich
am Ende alles wie von selbst zurechtfindet. Doktor Weber, Lothar Aufhaus,
Herr Sandhorst und ein Mann von der Arbeitsfront namens Kerkwitz, der anscheinend über den Ablauf am besten Bescheid weiß, bleiben zusammen und
schlagen den Weg ein, der oberhalb des Töpfleber Grabens entlang führt.
Die Stimmen der anderen, das Getrappel der Pferdehufe und das Gekläffe der
Hunde verlieren sich allmählich zwischen den Bäumen des Mischwaldes.
Schließlich hört man schon ziemlich entfernt abermals ein Horn den "Aufbruch" blasen und dann nur die Rufe der Treiber, das "Hoho" und "Hola" und
"Hussa". Dann fällt der erste Schuss und es folgen bald die nächsten. "Wir
müssen zunächst an die Rotspring", sagt Kerkwitz, "das ist unsere erste Hindernisstation." "Hindernis?", fragt Weber, und Aufhaus sagt "Na irgend so ein
Holzgestell, Richard, du kennst das doch vom letzten Mal." Kerkwitz sagt
"Wenn Sie einverstanden sind, führe ich den Punktezettel für unser Haus."
"Wie, für unser Haus?", fragt Lothar. "Sind die Herren denn nicht auch von der
Arbeitsfront?" "Nee. Das ist Doktor Weber, das ist der Stadtkämmerer Sandhorst, und ich bin Schultheiß Aufhaus von der Borsberg Gemeinde."
"Oh", sagt Kerkwitz und fährt, sich halb entschuldigend, fort "ich bin erst seit
voriger Woche in der Stadt. Versetzt worden. Das hier ist sozusagen mein erster offizieller Auftritt. Ich habe mir das Organisatorische genau eingeprägt,
aber meine Kollegen, die habe ich nicht zu Gesicht bekommen." "Und weshalb
dachten Sie dann, daß wir es sein könnten?" "Der Jagdleiter sagte zu mir:
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'Schließen Sie sich denen dort an'. Aber wahrscheinlich hat er meine Frage
überhört." "Naja, dann nehmen Sie mit uns Vorlieb, und übernehmen Sie das
ruhig mit dem Zettel." "Es ist jedesmal was anderes", sagt der Stadtkämmerer
Sandhorst, der die ganze Zeit geschwiegen hat und schüttelt den Kopf.
Wie der Schultheiß vorausgesagt hat, sind an der Rotspring, auf dem Rasenstreifen zwischen Wald und Brachfeld, hintereinander zwei Holzbarrieren aufgebaut worden, über die man mit dem Pferd hinwegspringen soll. Dass die
Jagd mit solchen reiterischen Turnübungen gespickt ist, preist Kurt Hopf, der
Kreisjägermeister, als gute alte Tradition, die bisher stets zur Auflockerung
beigetragen hatte, und Kurtchen Hopf bildet sich was darauf ein, jedesmal ein
paar neue Hindernisse zu erfinden, was ihm jedoch nicht gelingt und lediglich
darauf hinausläuft, daß er die alten an neuen Plätzen aufbaut.
Betreut werden sie von jungen Burschen (und Mädchen, die mehr oder weniger die Burschen betreuen), die sich damit ein paar Groschen verdienen. Ihre
Hauptaufgabe besteht darin, den Reitern und Reiterinnen zu erklären, in
welcher Art und Weise das Hindernis zu überwinden sei und nach dem Durchgang das Ergebnis auf dem besagten Zettel einzutragen. Der Kreisjägermeister hat sie persönlich in diese Aufgabe eingewiesen, ja "geschult" wie er sagt,
und er bildet sich auch auf sein pädagogisches Geschick etwas ein. Den größten Wert legt er darauf, daß die Verantwortlichen an Ort und Stelle tadellos
auftreten, und sich nicht etwa einen Gaudi aus ihrer Funktion machen, oder
gar rauchend oder "trinkenderweise" ihrer Pflicht nachkommen.
Gegen die Mädchen hat er nichts einzuwenden, allerdings müssen sie in BDM
Kleidung erscheinen. Zudem lässt er nur solche zu, die wenigstens die dringendsten Maßnahmen der ersten Hilfe bei Unfällen beherrschen, weshalb sie
auch mit Sanitätstaschen ausgerüstet sind. Die sollen jedoch nur im Notfall
verwendet werden, und am besten auch dann erst zum Vorschein kommen,
weil sich nämlich gezeigt hatte, daß manche der Jäger eine Verletzung nur
vortäuschten, um von einer der jungen Maiden verarztet zu werden. Den Burschen schärft er ein "Lasst euch nicht auf Diskussionen über die Bewertung
ein. Ich kenne meine Pappenheimer, die versuchen natürlich, das beste für
sich herauszuschlagen. Wir sind objektiv und gewähren weder Vor noch Nachteil." Die Bewertung erfolgt für die ganze Gruppe nach einem einfachen Pun-
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ktesystem, und allenfalls lässt man es durchgehen, wenn einer für einen anderen ein zweites Mal über die Barriere oder den Graben springt, was aber
selten vorkommt.
Kurz bevor die Gruppe an der Rotspring angelangt ist, kommen von rechts
drei andere Reiter aus dem Gebüsch auf den Weg, lachend, als hätten sie sich
verirrt und würden sich darüber königlich amüsieren. Überhaupt lassen sie
wenig waidmännische Ernsthaftigkeit erkennen. Sie sind so plötzlich aufgetaucht, daß des Schultheißen Aufhaus' Pferd scheut, und von den anderen
ihrerseits jemand aufschreit. Es ist eine der beiden Damen, die in des Herzogs
Gefolge gekommen waren, und der dritte im Bunde ist kein anderer als Oskar
Heister, der Schauspieler aus der Reichshauptstadt, der in Georgensmühl seinen Film dreht.
Der Arbeitsfrontmann Kerkwitz, der um das Abschneiden seiner Jagdgruppe
besorgt ist, sagt ruhig aber nachdrücklich "Auch wenn Sie versuchen, uns den
Weg abzuschneiden, wir sind zuerst an der Station dran." Oskar Heister
braucht einen Moment, um sich vom letzten Spaß zu erholen und erwidert
dann "Wer will Ihnen denn den Weg abschneiden, mein Herr? Wo wir doch gar
nicht ahnen konnten, daß es hier überhaupt einen Weg gibt." Damit wendet er
sich zu seinen Begleiterinnen um, die herzlich lachen. "Noch dazu eine Station", meint die eine.
Die beiden jungen Frauen sind hübsch, sie wirken wie Schwestern, wie
Schneeweißchen und Rosenrot in eleganter Tracht aus Loden und Leder, die
eine mit Hut mit kühn geschwungener Krempe, die andere mit spitzer Kappe
und Vogelfeder über dem Haar. Und Heister zwischen ihnen wie der Königssohn, oder, da er nicht mehr der jüngste ist, besser gesagt, wie der Vater, der
für den Sohn auf Brautschau unterwegs ist. Insofern scheint seine Entscheidung noch lange nicht getroffen, welcher der Schönen er den Vorzug geben
soll. Und wer weiß, vielleicht nimmt er sie auch für sich, und womöglich sogar
beide.
Kerkwitz, der kein Kinogänger ist, und der gerade mal den Rühmann kennt,
und von dem auch nicht den Vornamen weiß, und dem diese Turtelei im Walde zuwider ist, der aber an einem der Pferdesättel der Damen das herzogliche
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Wappen entdeckt und sich einen Reim darauf gemacht hat, will eine fruchtlose
Unterhaltung vermeiden und sagt "Dann lassen Sie uns vorbei, und Sie können sich meinetwegen anschließen, wir nehmen Sie das Stück mit." Irgendwie
befürchtet er nun, sich unberechtigterweise zum Wortführer der Kameraden
gemacht zu haben, deshalb schaut er sie der Reihe nach an und vergewissert
sich, daß sie damit einverstanden sind. Den Stadtkämmerer Sandhorst, der
auf Fremde nicht gut zu sprechen ist, woher auch immer sie kommen und was
sie treiben, reicht der Kerkwitz für heute schon aus, er lässt den Heister und
seine Verehrerinnen völlig unbeachtet und ruft dem Arbeitsfrontmann zu "Reden Sie nicht so lange, tun Sie es einfach, damit wir vorankommen. Eine
Stunde vorbei und kein Stück Wild vor die Flinte gekommen", sagt er wieder
kopfschüttelnd.
"Hoffentlich ist es nicht der falsche Weg", meint Heister mit einem spöttischen
Unterton, und als sie ihnen folgen, sagt er "Nun, da wir wieder auf ebener
Erde wandeln, und uns die Herren Jäger zu der Station führen, sollten wir uns
mit ein wenig Zielwasser stärken, damit das Rohr auch ruhig in der Hand
liegt." Er holt eine reich verzierte Pulverflasche hervor, in der sich freilich kein
Pulver, sondern Cognac befindet und bietet Schneeweißchen und Rosenrot
davon an, und eine von ihnen, die Brünette, nimmt einen Schluck, während
die andere dankend ablehnt und sagt "Es ist doch kein Schießstand, sondern
ein Hindernis, das es zu überwinden gilt." "Ach, und ich dachte, wir wären auf
einer Jagd und nicht beim Springreiten, doch wie dem auch sei, ich liebe es,
Hindernisse zu überwinden, wie Sie sich ausdrücken, Dorothea." "Lisa." "Lisa,
natürlich, ich habe mich versehentlich zur falschen Seite gewendet."
Doktor Weber, Kerkwitz, Aufhaus und der Stadtkämmerer nehmen die beiden
Hürden im ersten Anlauf, und bekommen die Punkte aufgeschrieben. Oskar
Heister hat die Situation sofort überblickt und wendet sich vertrauensvoll an
das Mädchen, das im Schatten der Linde kniet, neben sich eine Sanitätstasche, ein aufgeschlagenes Buch und eine ausgebreitete Jacke, auf der bis
eben ihr Freund saß. "Meine Kleine, was bin ich froh, daß ich Sie hier finde.
Ich habe mir den Finger verstaucht, würden Sie mir freundlicherweise einen
Stütz- oder einen Streckverband oder wie das heißt anlegen." Das Mädchen
freut sich, seine Fertigkeiten anwenden zu dürfen und umwickelt Heisters Zeigefinger - stütz oder streck, hin oder her - mit einer meterlangen Mullbinde,
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so daß der Finger einer weißen Birne gleicht.
"Sie machen das gut", sagt er, "glücklicherweise ist es der linke und nicht der
Abzugsfinger." Dabei schaut er ihr süßlich in die Augen, und sie fragt "Wie ist
das passiert?" Doch bevor er ihr den Vorfall schildern kann, hört man Dorothea lauthals rufen "Oskar, helfen Sie mir, 'Güldenstern' macht Sperenzchen."
"Herrje, Sie müssen ihn ordentlich an die Kandare nehmen." "Mach' ich ja,
aber er will nicht." "Natürlich will er nicht." Die kleine Sanitäterin wickelt fleißig. Dorotheas Pferd dreht sich im Kreis und will partout nicht über das Gerüst
springen. "Dann lassen Sie ihn laufen", ruft Heister, "er wird sich schon wieder
einkriegen." "Fragt sich nur wo", murmelt Kerkwitz, der wie die anderen die
Szene beobachtet hat.
"Danke, meine Kleine", sagt Heister, und das Mädchen meint "Herr Heister,
würden Sie mir ein Autogramm geben, schreiben geht doch, oder?" Oskar
Heister ist außer sich vor Freude, daß sie ihn erkannt hat. "Aber selbstverständlich, es ginge auch noch anderes", sagt er und wirft ihr einen huldvollen
Blick zu, "schade, daß mir's gerade jetzt an Zeit gebricht, aber Sie sehen ja,
man muss sich um alles kümmern, wo soll ich hinschreiben, hier?" Sie reicht
ihm das Buch. "Gleich vorn, bitte." Er schaut auf den Titel. "Franziska Ebersbach, Die Glocken von Genua, das klingt vielversprechend, ich hoffe, durch
meinen Namenszug wird es noch besser." "Bestimmt. Und wenn Sie sich
wieder mal was getan haben ...", sie überlegt was dann am besten sein könnte, und Heister ergänzt "Dann denke ich an Sie und gleich tut's nicht mehr
weh." "Ja, genau."
Güldenstern ist mit Dorothea auf dem Rücken weit übers Feld davongesprengt, und dann gelingt es ihr, ihn zu zügeln, und im Bogen kommen sie
wieder zurück. Kerkwitz sagt schnell "Wir sollten uns fortmachen, bevor die
auf die Idee kommen, sich an uns dranzuhängen." "Gott behüte", meint Sandhorst, "als Dianas Gefährtinnen mögen sie ja taugen, aber nicht für eine richtige Jagd, das ist und bleibt Männersache." "Sehen Sie, Dorothea, was habe
ich gesagt, er braucht nur ein bisschen Auslauf, um sich abzureagieren."
"Aber wovon?" "Können wir jetzt weiter?", fragt Lisa, die anfängt sich zu langweilen, "in welche Richtung?", wendet sie sich an einen der Burschen, und der
antwortet "Am besten den anderen nach."
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"Meine Herren", ruft Heister, und Sandhorst flucht, "würde es Ihnen etwas
ausmachen, uns mitzunehmen?" Kerkwitz dreht sich um und sagt "Eigentlich
schon." Doch Dorothea ist an der Gruppe vorbeigezogen und gerade neben
dem Schultheiß Aufhaus. Ihr Pferd schnaubt aus weit offenen Nüstern, und die
Reiterin hat eine kräftig gesunde Gesichtsfarbe bekommen und ihre Bluse
unter dem Lederwams ist bis zum dritten Knopf aufgegangen und bietet einen
Anblick, dem Aufhaus nicht widerstehen kann. "Hier entlang?", fragt sie ihn
immer noch ein bisschen atemlos und zugleich schon wieder voller Tatendrang. Aufhaus sagt "Ja. Aber Vorsicht, da vorn kommt eine Senke, da geht
es steil hinab." "Wo's hinab geht, geht's auch wieder hinauf. Oskar! Wo bleiben Sie denn? Er hat kein Durchhaltevermögen", sagt sie zum Schultheiß, und
der erwidert "Im Film lassen sie immer andere reiten." "Da haben Sie recht."
Heister und Lisa trotten auf ihren Pferden hinterdrein. Er holt abermals die
Pulverflasche hervor und fragt diesmal Kerkwitz, der seltsamerweise auch am
Ende reitet, als wollte er die anderen antreiben, "Ein Schlückchen gefällig?"
"Danke, ich trinke nicht." Er nimmt allein einen Zug und sagt leise zu Lisa "Er
trinkt nicht, da wird er wohl unweigerlich verdursten." Und dann zu Kerkwitz
"Wie kommt es, daß Sie nicht trinken, haben Sie Angst, aus der Rolle zu fallen?" Kerkwitz sieht ihn unschlüssig an, er weiß nicht recht, was der Mann von
ihm will und er findet, daß dies Thema nicht hierher gehört. Aber die beiden
erwarten offenbar ernsthaft eine Antwort, und wenn er sie schuldig bliebe,
könnte es so aussehen, als wollte er etwas verbergen. Also sagt er "Ich bin ich
selbst, ich spiele keine Rollen."
"Ich schon", sagt Heister, und Lisa, als sie Kerkwitz' Schulterzucken sieht, erklärt "Herr Heister ist Schauspieler, haben Sie 'Die Rache der fünften Nacht'
gesehen'?" "Nicht daß ich wüsste. Und was spielen Sie da? Etwa einen Trunkenbold?" "Na na." Ein "Na na" ist für Kerkwitz ein Zeichen, daß er gleich noch
ein Argument nachlegen kann, um sich gegen diesen arroganten Menschen zu
behaupten. "Meiner Überzeugung nach ist der übermäßige, ja eigentlich schon
der willkürliche Alkoholverzehr eines deutschen Mannes unwürdig, von Frauen
ganz zu schweigen." "Ich trinke keinen Alkohol", sagt Lisa. "Ich habe auch
niemanden Bestimmten angesprochen."
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Heister ist souverän genug, um die Anspielungen gelassen zu nehmen, er reizt
Kerkwitz mit hochtrabenden Worten: "Sollte es nicht genauer heißen: der unwillkürliche Alkoholverzehr? Denn es ist doch das unwillkürliche Verhalten, das
Fehlen eines festen Willens, das den Menschen wankelmütig und schwach
macht, und ihn dazu treibt, in seiner Haltlosigkeit Zuflucht zum Trunke zu suchen?" Kerkwitz beißt an. "Auf den ersten Blick könnte man das annehmen",
sagt er, "ich glaube, es gibt zwei Arten von Trinkern." "Doch so viele?", meint
Heister, und Lisa sagt "Lassen Sie ihn nur ausreden."
"Die einen sind jene, denen tatsächlich jegliche Entscheidungsfähigkeit abhanden gekommen ist, die sich nur blind und besinnungslos besaufen, damit es,
entschuldigen Sie die drastische Ausdrucksweise, nicht aufhört, oben hinein
und unten heraus zu laufen. Das sind Kranke, denen allenfalls der Arzt abhelfen kann. Die anderen aber sind jene, die glauben, sie könnten ihre Persönlichkeit und ihr Leben aufwerten, indem sie sich in einen rauschhaften Zustand bringen, von dem sie eine Freisetzung und Steigerung ihrer innewohnenden Kräfte erhoffen." "Von ihrer Potenz", sagt Heister. "Von allem, wovon
sie meinen zu wenig zu besitzen."
"Hm", macht Heister, "ich nehme mal an, daß Sie mich zu einer dieser beiden
Arten rechnen." "Ist das wahr?", fragt Lisa, und Kerkwitz erklärt "Ich kenne
Sie überhaupt nicht und maße mir daher kein Urteil an. Ich denke, als Schauspieler könnten Sie jede Rolle überzeugend darstellen und niemand würde Ihr
wahres Gesicht erkennen können." "Oh danke für das Kompliment." Lisa fragt
"Gibt es eigentlich eine Schule, wo man die Schauspielerei lernen kann? Oder
muss man ein angeborenes Talent dafür haben?" "Eine gute Frage, meine Liebe. Es gibt eine Ausbildung dafür, aber die ist vergebens, wenn man das Talent nicht mitbringt." "Glauben Sie, ich könnte das auch?" "Das passende Äußere hätten Sie jedenfalls schon mal." Kerkwitz meint "Es muss ja nicht unbedingt eine Sprechrolle sein." Lisa strafft energisch die Zügel und sagt "Ich
werde einmal sehen, was bei denen da vorn los ist." "Ja, tun Sie das, meine
Liebe, und fragen Sie, wann es denn nun endlich zur Jagd geht."
Lisa treibt ihren Braunen an und überholt den Stadtkämmerer, der die ganze
Zeit gedankenversunken auf seinem Gaul daherzuckelt und der einen Schreck
bekommt, als sie neben ihm vorbeirauscht. Mit ihr zugleich nähert sich der
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Spitze des kleinen Zuges vom Hang, der zum Schmiedebrunnen hinaufführt,
ein Jäger zu Pferde, der kurz mit Aufhaus und Doktor Weber spricht und dabei
mit den Armen einige Bewegungen in Waldrichtung beschreibt. Aufhaus dreht
sich im Sattel um und ruft Kerkwitz zu "Die Treiber haben eine Rotte Wildschweine aufgescheucht, er sagt, sie könnten hier herüber kommen." "Wildschweine", sagt Oskar Heister erregt und greift nach dem Gewehr, das er wie
ein Cowboy in einem Lederschaft stecken hat. "Nur langsam", sagt Kerkwitz,
"wahrscheinlich drehen sie ab, wenn sie uns bemerken." "Soll das etwa heißen, wir wären nicht gut genug?" Der andere schaut ihn hoffnungslos an. "Das
soll nur heißen, daß Sie sich mit ihrem Gewehr vorsehen, solange Sie auf dem
Pferd sitzen." "Sie haben aber etwas anderes gesagt."
Kerkwitz lässt ihn stehen und schließt nach vorn auf, um sich mit Aufhaus zu
verständigen. Während sie beratschlagen, hört man Dorothea vom Grund der
Senke, von der Aufhaus gesprochen hatte, rufen "Wer holt mich hier wieder
heraus?" Lisa schaut zu Heister, der schüttelt den Kopf. Doktor Weber löst
sich von der Gruppe und reitet vorsichtig bis zum Rand des Kessels, der ein
stillgelegter und verfallener kleiner Steinbruch ist. Dorothea und ihr Güldenstern stehen unten wie gefangen und suchen nach einem Ausweg. "Reiten Sie
dort hinüber zu den großen Steinblöcken", ruft Weber ihr zu, "rechts vorbei
geht ein schmaler Graben hinaus, da müssten Sie durchkommen." "Und wenn
nicht?" "Versuchen Sie's erst mal." Sie sieht ängstlich zu ihm hinauf, während
Güldenstern sich anscheinend auf ihre nächste Ungeschicklichkeit freut. "Bleiben Sie da oben stehen, falls mir was zustößt." "Ja." Sie geht zu den Sandsteinen. Weber sagt "Am Ende von dem Graben wenden Sie sich nach links,
wir treffen uns auf der Wiese am Waldrand." Heister meint "Ob Sie das allein
schafft."
Man hört die Treiber, die ganz in der Nähe durch das Unterholz streifen. Dann
fallen mehrere Schüsse. Der Boden wird erschüttert von den Sprüngen flüchtender Tiere, Äste krachen, altes Laub wird aufgewirbelt, eine Wolke strengen
Wildgeruchs verbreitet sich. Heister fragt angespannt "Sind das die Schweine?" Kerkwitz peilt durch das Fernglas. "Sieht eher aus wie Rotwild." "Ein
Fuchs bloß?" "Unsinn. Ein Hirsch." "Hoffentlich nicht der Hubertushirsch." "Sie
sollten wirklich besser auf der Bühne bleiben", meint Kerkwitz. "Wieso? Es ist
doch sehr amüsant hier, und man kann die Menschen studieren ohne daß sie
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es merken."
Da springt ein Schmaltier zwischen den den Bäumen hervor. Kerkwitz hat in
Sekundenschnelle das Gewehr im Anschlag. Das Tier bremst ab, knickt in den
Vorderläufen ein und macht eine jähe Wendung. Heister sagt auf einmal "Wo
ist eigentlich Lisa?" Kerkwitz stutzt, nimmt die Waffe herunter und sagt "Verflucht noch mal, wenn hier jeder rumtanzt wo er will, dann können wir gleich
Schnecken einsammeln." Heister lacht. "Schnecken, großartig. Ich habe in Locarno einmal welche gegessen, vorzüglich." Das Schmaltier ist fort, es war nur
ein einzelnes. Lisa ist auch fort, sie taucht natürlich später an Dorotheas Seite
auf, als diese aus der Grube herausgefunden hat.
Alle treffen sich wieder auf der Wiese. Über Jagdbeute kann man sich nicht
freuen, aber der Ausblick über die Landschaft bis hin zu den Fahnerschen Höhen ist herrlich. Man macht eine Pause. Kerkwitz redet etwas von ein Stück
zurückreiten, weil man die nächste Station verpasst hat. Aufhaus sagt "Jetzt
lassen Sie die albernen Stationen sein, wenn Sie unbedingt wollen, schreibe
ich Ihnen die Punkte auf den Wisch." "So machen es alle", gibt Kerkwitz
standhaft zurück.
Heister und die Damen sitzen im Gras, er leert die Neige aus seiner Pulverflasche, schüttelt sie dann und meint "An diese Station sollten wir bald mal kommen." "Sind das Schafe da unten?", fragt Lisa und zeigt mit dem Finger auf
eine Herde weit unten am Hang. "Lassen Sie sich das Fernglas von dem Herrn
Jägermeister geben und Sie können es herausfinden." "Das sehe ich auch so."
"Warum fragen Sie dann?" Lisa schweigt, dann sagt sie "Wie ungestört die da
grasen. Da sieht man, daß die Welt doch besser geworden ist." Heister schaut
sie ungläubig an. "Na ja", sagt sie, "früher musste der Schäfer aufpassen, daß
nicht der böse Wolf die kleinen Lämmchen reißt. Heute gibt es die Schafe immer noch, aber nicht mehr die Wölfe, und also ist ein bisschen weniger
Schlechtigkeit in der Welt." "Das ist ja richtig poetisch. Man könnte hinzufügen, daß es Gott sei Dank in der Welt auch immer noch solche bezaubernden Geschöpfe wie Sie beide gibt." "Ihr hättet mich doch auch da herausgeholt?", fragt Dorothea, die in Gedanken bei dem letzten Malheur ist. "Unweigerlich", sagt Heister, "und wenn es nicht gelungen wäre, hätte ich gemeinsam mit Ihnen ausgeharrt." "Wenn wir da festgesessen hätten die ganze
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Nacht", sagt Dorothea fast schwärmerisch.
"Und ich?", fragt Lisa. "Sie auch. Mitgegangen, mitgefangen." "Du hättest niemals allein losreiten dürfen", ermahnt Lisa. "Was kann ich dafür, daß Güldenstern ständig durchbrennt, ich habe zu Rüdiger gesagt gib' mir ein anderes
Pferd, aber nein, es musste ja ..." Ihre Stimme wird plötzlich übertönt von
einem lauten Motorenlärm. Ein Schatten streicht über die Personen, und über
die Baumwipfel kommt in vollem Tempo ein Flugzeug gesaust, lässt sich über
der Wiese ein paar Meter sinken und zieht anschließend im Steigflug wieder
nach oben. Einige lose Grasbüschel sind aufgeflogen, dem Stadtkämmerer
Sandhorst weht es den Jägerhut vom Kopf. Die Pferde schnauben beunruhigt,
nur Güldenstern grast seelenruhig weiter.
Oskar Heister macht einen Satz zur Seite, schreit "Fliegerangriff!", und wirft
sich flach auf den Boden. Dorothea muss über ihn lachen, und Lisa bleibt fassungslos der Mund offen stehen. "Was ist das?", fragt sie den Schultheiß Aufhaus. "Der Russe!", schreit Heister. "Wirklich? Hat er sich verflogen?" "Warum
machen Sie den Frauen solche Angst." "Weil ich selbst welche habe", jammert
Heister gespielt. "Er muss immer im Mittelpunkt stehen." "Oder wenigstens
liegen."
Das Flugzeug dreht eine zweite Runde und kommt wieder flach über den Wald
herüber, aber diesmal nicht so tief herab. Es wippt mit den Flügeln, und Lisa
schreit "Es stürzt ab." "Nein", sagt Doktor Weber, "das soll ein Gruß sein."
"Für wen?" "Für uns." "Er grüßt uns mit den Flügeln?" "Soll er bei dem Affenzahn vielleicht ein Taschentuch raushalten." "Und was hat er gesagt, ich meine, wie lautet der Gruß?", fragt Dorothea. "Na wie schon", meint Heister, der
noch immer auf dem Bauch liegt, "nastrowje towarischtschi." "Häh?" "Oh, Herr
Heister, Ihr Repertoire ist unerschöpflich." "Danke."
Der Flieger ist hoch hinauf gestiegen und vollführt ein paar imposante Manöver, schraubt sich steil nach oben, bleibt fast stehen, kippt, trudelt wie im
freien Fall und fängt sich im kühnen Schwung, knattert flach über die Felder,
gewinnt über Diemelsbrück an Höhe und kurvt im weiten Bogen wieder heran.
Zwei-, dreimal überfliegt er die Wiese, als hätte er Bekanntschaft geschlossen
mit der kleinen Gesellschaft. Aufhaus winkt ihm zu, und der Pilot erwidert den
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Gruß wie gehabt. "Jetzt hat er's wieder gemacht", sagt Lisa begeistert, "er hat
uns verstanden." "Das ist Assi Hahn", sagt Aufhaus, und den Frauen zur
Erklärung fügt er hinzu "das ist unser Starpilot, ein richtiger Draufgänger."
"Was für eine Maschine ist das?", fragt Kerkwitz. Aufhaus schirmt sich die
Augen mit der Hand ab und schaut genau hin, dann sagt er "Wenn mich nicht
alles täuscht, ist es die neue Go hundertneunundvierzig." Kerkwitz meint "Die
soll doch der General Utmers in Frankfurt zum Luftrennen vorführen, soviel
ich weiß." "Na, dann sollte dieser Tausendsassi jetzt aber ein bisschen vorsichtiger fliegen", sagt Heister. "Da kennen Sie Assi Hahn aber schlecht." "Das
gebe ich zu." "Jedenfalls, Herr Reichsschauspieler, bekommen Sie hier einen
Eindruck von der Leistungsfähigkeit des Gothardauer Flugzeugbaus, da können Sie denen in Berlin was erzählen." "Donnerwetter, bin stark beeindruckt."
Lisa meint "Können Sie das nicht in Ihren Film einbauen?" "Eine gute Idee,
Fräulein Wengenberg, leider spielt unser Film im Dreißigjährigen Krieg." "Ja
und? Ist das denn kein Kriegsflugzeug? Ha, da schauen Sie!" Im selben Moment ist der Flieger über den Siebleber Teich geflogen und hat etwas Schweres abgeworfen, das ins Wasser platscht und eine hohe Fontäne verursacht.
"Ist er jetzt etwa abgesprungen?" Kerkwitz meint "Eine richtige Bombe war
das aber nicht." "Eine Bombe? Um Gottes Willen." "Könnte eine Atrappe gewesen sein", sagt Aufhaus. Das Flugzeug entfernt sich und zieht als kleiner
dunkler Punkt über das Vorland.
Niemand außer dem Stadtkämmerer Sandhorst hat bemerkt, daß durch den
rasanten Überflug die Wildschweinrotte im Wald völlig auseinandergetrieben
wurde und ein Keiler am Wiesenrand entlang wetzt, den Sandhorst nach einem kurzen prüfenden Blick durchs Fernglas aufs Korn nimmt. Zweimal kracht
es aus seiner doppelläufigen Büchse, und diesmal schreckt auch Lothar Aufhaus zusammen. "Das reißt ja gar nicht mehr ab mit der Aufregung", sagt
Heister, und Dorothea ruft "Haben Sie ihn getroffen, Herr ... wie heißt der
eigentlich?" "Sandhorst." "Darf man Weidmannsheil wünschen, Herr Sandwurst?"
Sandhorst, der ohnehin nicht groß ist, steht halb versteckt im hohen Gras,
und nur die Rauchfahne verrät ihn. Das Schwein ist entkommen, aber es
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scheint getroffen worden zu sein. Die Jäger untersuchen den Anschuss. "Hier
ist Schweiß, und hier noch mehr", sagt Aufhaus. Lisa sagt "Weil es so schnell
gerannt ist." "Schweiß bedeutet in der Waidmannssprache Blut", erklärt ihr
Kerkwitz. "Aha", erwidert Lisa, so als wollte sie sich das genau merken. "Es ist
hier entlang." "Könnte sein, es ist zum Eulengrund hinunter." "Ich würde gern
wissen, wie Sie darauf kommen, können Sie seine Gedanken lesen?" Heister
sagt "Ja, schweinische Gedanken." Aufhaus sagt sachlich "Der Abhang zum
Eulengrund ist hier ganz gelinde, das heißt, weniger beschwerlich für ein
waidwundes Tier. Unten im Grund gibt es ein paar geschützte Stellen, wo
nicht mal die Hunde vordringen können." "Ah, da könnte es sich ausruhen."
"Oder sterben." "Ach, Herr Heister, manchmal sind Sie so zynisch." "Wildschweine gehören nun mal nicht zu meinem bevorzugten Umgang. Aber ich
möchte freilich nicht Ihre Gefühle verletzen, Lisa, deshalb nehme ich die
Vermutung zurück. Wahrscheinlich wird es gar nicht bis in den Eulengrund
kommen."
Aufhaus, Doktor Weber, Kerkwitz und Sandhorst beraten das weitere Vorgehen. Sandhorst soll die Fährte verfolgen, die anderen reiten über die Krumme
Leite, den alten Zufahrtsweg zu den Sandsteinbrüchen, in den Eulengrund.
Falls Sandhorst feststellt, daß das Schwein eine andere Richtung eingeschlagen hat, soll er Zeichen geben. "Und wie?", fragt er. Kerkwitz holt eine Pistole
aus der Jackentasche. "Hier nehmen sie die. Geben Sie drei Schüsse ab, zwei
hintereinander, und nach einer Pause den dritten, dann kommen wir zu Ihnen." "Die tragen Sie einfach so in der Tasche?" "Das ist eine Walther achtunddreißig, die neueste, die hat diese Drehsicherung, sehen Sie, damit kann
nichts passieren." "Hat das einen Grund, daß Sie damit ausgerüstet sind?",
fragt Aufhaus. "Gewissermaßen ja. Ich habe den Auftrag, die Schießeigenschaften zu prüfen, die Waffe soll so bald wie möglich in Serie gehen. Wenn
Sie wollen, meine Herren, können Sie sie nachher auch gern ausprobieren."
Sandhorst wundert sich immer mehr über diesen Mann von der Arbeitsfront,
doch einstweilen steckt er die Pistole genauso lässig in die Tasche, wie sie
Kerkwitz hervorgezogen hatte.
Dorothea kommt durch das Gras auf sie zu gelaufen, neben ihr ist ein Junge
der Hitlerjugend, der ein Fahrrad schiebt. Sie ruft "Der Junge hat gesagt, es
gibt Mittagessen , oben am ...", sie sieht fragend zu dem Jungen, und der sagt
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"Am Schlackenhaus". "Gulaschsuppe aus dem Kessel", sagt Dorothea, "also
ich bin dafür, daß wir uns erst mal stärken." "Gehen Sie nur mit", sagt Aufhaus zu Lisa und Heister, "wir kommen so schnell wie möglich nach." "Oh ja",
freut sich Lisa, "ich habe auch schon mächtig Kohldampf." Dann dreht sie sich
noch mal um und ruft "Vielen Dank für Ihre lehrreichen Unterweisungen." Und
Heister sagt "Ich werde Ihnen Freikarten für meinen Film schicken." Kerkwitz
brummt "Freikarten. Glaubt er, ich könnte mir den Eintritt nicht mehr leisten."
Sandhorst ist zwischen den Bäumen verschwunden, über den Hügel herüber
hört man das Gelächter der beiden Damen und wie wild eine Fahrradklingel
schellen. Die drei anderen reiten langsam erst am Waldrand, dann auf einem
alten, ausgetretenen Pirschpfad am Berg hinab. Es ist ziemlich schattig und
kühl, je tiefer sie in den Grund kommen. Kerkwitz sagt "Es fällt gar nicht auf,
daß es hier am Seeberg solche Täler gibt." "Die meisten sind durch den Steinabbruch entstanden", sagt Aufhaus. Dann kommen sie an Haufen von großen
Steinblöcken vorbei. Die ältesten sind dunkel verwittert, manche mit Flechten
und Moos überzogen, andere haben helle Bruchstellen. An einigen sind die geraden Rohrkanäle der Sprengladungen zu sehen. Welche, die erst vor wenigen
Jahren gebrochen wurden, sind ockerfarben, und wo die Sonnenstrahlen
durchs Baumlaub auf die Steine fallen, bekommt ihre Oberfläche einen angenehmen, warmen Ton. Es sind auch kalkweiße und rostrote dabei. Sie sind
übereinandergetürmt, als sollten sie einmal fortgeschafft werden und sind
dann doch liegengeblieben. "Ist das Buntsandstein?" "Zechstein. An manchen
der Felsen kann man deutlich erkennen, daß es sich um Ablagerungen wie in
einem Gewässer handelt. Übrigens ist dieses Gestein ein begehrtes Baumaterial. Die alten Thüringer Landgrafen haben damit unter anderem die Wartburg
gebaut. Er steht dem Elbesandstein in nichts nach."
"Und jetzt wird er nicht mehr abgebaut?" "Im Moment wird Beton, Zement
und Schotter gebraucht, das wissen Sie doch selbst, wenn Sie bei der Arbeitsfront sind." Weber fragt Kerkwitz "Haben Sie auch was mit dem Autobahnbau
zu tun?" "Nicht direkt. Meine Hauptaufgabe besteht darin, den Kreisschulungswalter bei der Neuordnung der Werkscharen zu unterstützen. Aber ich
kümmere mich auch um die Einführung eines Ingenieurstudiums mittels Fernunterricht, das künftig anlaufen soll. Ja, und was die Autobahn betrifft, ich
helfe dabei mit, die Sparbrief-Aktion für den neuen Volkswagen anzukurbeln,
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da haben Sie sicherlich davon gehört." "Den für tausend Mark." "Für weniger
als tausend und umgerechnet für fünf Mark im Monat." "Das wollte ich meinem Sohn schon schmackhaft machen", sagt Weber. "Tun Sie das, ich werde
Sie auch gern beraten." "Da haben Sie ja alle Hände voll zu tun", sagt der
Schultheiß. "Und dann auch noch Pistolen einschießen." "Da bin ich nur durch
Zufall dazugekommen, weil ich einen der leitenden Ingenieure bei den Gustloffwerken kenne."
Ein Schuss fällt. Aufhaus macht eine Handbewegung, daß sie stillstehen
sollen. Sie lauschen fast eine Minute, und Weber kommt es so vor, als hörte
er Stimmen und Geschrei. Dann knallt es zweimal nacheinander. "Dreimal,
das könnte Sandhorst gewesen sein", meint Aufhaus. "Aber es war falsch herum", sagt Kerkwitz, "wir hatten vereinbart, zwei zusammen und dann ein
einzelner." "Bei Sandhorst kann man damit rechnen, daß er's verwechselt."
"Ehrlich gesagt, klang es nicht wie meine Walther." "Hm. Also was machen
wir." Weber äußert die Vermutung, die Schüsse seien "aus der Richtung" - er
deutet mit dem Arm nach links - gekommen und hätten nur oberhalb des
Eulengrundes im Wald widergehallt. "Wie soll Herr Sandhorst dorthin gekommen sein?", fragt Kerkwitz, und Weber zuckt mit den Schultern.
Er ist bereits ein Stück in den Grund hineingeritten, mehr um sich zu vergewissern, als daß er wüsste, wohin sie sich nun wenden sollten. "Willst du
jetzt da lang weiter?", fragt ihn Aufhaus. "An den Steinbrüchen kommt kein
Schwein durch, da würde es sich höchstens die Knochen brechen." Aus einem
der Wege, die nach rechts abzweigen, hört Weber Motorengeräusch, es klingt
wie von einem Lastwagen und als würde er festsitzen. Der Motor heult immer
wieder auf, ohne daß ein Gang geschaltet wird. Weber macht sie darauf aufmerksam, und Aufhaus sagt "Von uns kann das keiner sein." "Lass' uns
trotzdem nachsehen", erwidert Weber.
Als sie um die Kurve des Weges biegen, sehen sie den Lastwagen, der mit einem Hinterrad im Morrast steckt und sich bis zur Achse eingewühlt hat. Es ist
ein ziviles Fahrzeug mit einer Verdeckplane über der Ladefläche. Der Fahrer
hält die Tür offen und schaut nach hinten, während er Gas gibt. Er trägt SS
Uniform. An dem Rad steht ein zweiter SS Mann. Hinten versuchen drei Leute,
den Lastwagen anzuschieben und zugleich den Schlammspritzern zu entge-
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hen, die aus dem feuchten Boden aufgeschleudert werden. Diese drei Männer
haben Häftlingskluft an, grobe, zum Teil gestreifte Sachen, einfache Kappen
auf dem Kopf und alte, klobige Galoschen an Füßen, zwei von ihnen haben
breite Lederhandschuhe. Einer stemmt sich mit dem Rücken gegen die Ladewand und verzieht vor Anstrengung das Gesicht, aber das Auto kommt nicht
vorwärts.
Der SS Mann am Rad legt Reisig unter, damit es Haftung bekommt. Jetzt erscheint an der anderen Seite ein weiterer SS Mann, die beiden sind Rottenführer, sie tragen Stahlhelme und Maschinenpistolen quer auf dem Rücken.
Der Fahrer springt aus dem Wagen, bückt sich unter die Ladefläche und sucht
nach einer Möglichkeit, aus dem Schlamm herauszukommen. Der Motor geht
aus. "Scheiße", sagt der Mann, der offenbar der Leiter des Trupps ist, "warum
fahren Sie mitten da durch, Günzel, daneben ist genug trockene Erde, nein,
Sie müssen das einzige Schlammloch weit und breit mitnehmen." "Der Karren
ist abgerutscht, die Steine sind nicht gut verteilt." Die Häftlinge verschnaufen,
der Kommandeur überlegt, der andere Rottenführer zündet sich eine Zigarette
an. Einer der Häftlinge sagt "Wenn wir wieder zurückstoßen?" "Das wäre einen
Versuch wert." "Aufpassen, daß nicht das Vorderrad reingerät", sagt Günzel.
"Mensch, das weiß ich selber", sagt der Kommandeur und will wieder ins
Fahrerhaus steigen.
Der eine Häftling hat die Jäger bemerkt, schaut über den Kommandeur hinweg und macht eine leichte Kopfbewegung. Der Kommandeur dreht sich um.
Sie sitzen auf den Pferden. Lothar Aufhaus sagt "Guten Tag, die Herren, gibt
es Probleme?" "Heil Hitler", entgegnet der Kommandeur, "wer sind Sie?" "Ich
bin Schultheiß Aufhaus." "Hauptscharführer Barkmann, es gibt keine Probleme, Sie können getrost weiterziehen." Da erst bemerkt er ihre Gewehre. "Sind
Sie zur Jagd hier?" "Hubertusjagd. Hat Ihnen das niemand gesagt?" "Wir sind
nicht zur Jagd hier", erwidert Barkmann, die Frage missverstehend. Aufhaus
steigt ab, Weber und Kerkwitz ebenfalls. Der Rottenführer zieht unruhig an
seiner Zigarette, einer der Häftlinge späht zur Seite, als habe er dort etwas
liegengelassen.
Der Hauptscharführer geht ihnen ein paar Schritte entgegen. Aufhaus sagt
"Das ist Gemeindegrund, Sie haben sicher eine Erlaubnis, hier herumzuwirt-
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schaften?" "Sind Sie der Gemeindevorsteher?" "Nicht der von hier, aber ich
kenne ihn gut." "Wie schön für Sie, selbstverständlich habe ich eine Erlaubnis." "Kann ich mal sehen?" Barkmann tut nicht dergleichen, und Aufhaus sagt
mit einem Blick auf den Lastwagen "Ich meine, was Sie geladen haben."
"Wenn es Sie interessiert." Aufhaus tritt zwischen die Häftlinge, deren Klamotten muffig und nach Schweiß riechen. Auf der Ladefläche liegen schöne Sandsteinbrocken. "Die sind für den Reichsstatthalter", sagt der eine Rottenführer,
der eine flachgedrückte Boxernase hat. "Halten Sie sich 'raus", zischt ihn
Barkmann an. "Sch-sch-schon was geschossen?", fragt der junge Häftling und
kneift beim Stottern die Augen zusammen. Der mit der Boxernase tritt ihn unauffällig gegen's Bein. "Nichts Großes", sagt Aufhaus.
"Dann weiterhin viel Erfolg", meint der Kommandeur, "Sie sollten nicht hier
stehenbleiben, falls die Kiste noch mal wegrutscht." Aufhaus geht zurück, der
Hauptscharführer schwingt sich hinters Lenkrad. Bevor er startet, hört man
jemanden leise "Hilfe" rufen. Aufhaus sieht die Leute an, keiner rührt sich. Der
SS Mann startet schnell den Motor, aber er springt nicht gleich an. "Warten
Sie mal, Herr Hauptscharführer", ruft Aufhaus. "Was ist denn?" "Das kam von
da", sagt Kerkwitz. Einer der Häftlinge rennt zur Einfahrt des Steinbruchs, der
Boxernasenmann reißt seine Maschinenpistole herum und schreit "Bleib'
stehen!" Der Häftling gehorcht sofort und sagt mit verzerrtem Lächeln "Da ist
nichts. Gar nichts."
"Idiot", faucht Barkmann und ist mit drei Schritten bei den anderen. "Ist noch
jemand hier?" Barkmann schwenkt den Arm zum Steinbruch. "Einer ist da, der
kommt auch gleich, musste sich bloß mal erleichtern." Weber denkt 'Warum
sagt der das auf einmal so vertrauensselig?'. Da vernehmen sie wieder ein leises schmerzliches Stöhnen. "Dem ist was zugestoßen", meint Kerkwitz. "Wir
werden gleich nach ihm sehen", entgegnet Barkmann, ohne sich von der
Stelle zu bewegen. Aufhaus sieht zu Weber, der sagt "Ich kann Ihnen helfen,
ich bin Arzt." "Vielen Dank, wir kommen allein zurecht."
"Haben Sie die Schüsse gehört?" Barkmann überlegt einen Moment. "Wir haben schon den ganzen Vormittag welche gehört. Es ist vielleicht besser, ihr
verschwindet jetzt", sagt er wie zu kleinen Jungen. "Hoppla, nicht in dem Ton.
Hier ist kein Militärgelände", sagt Aufhaus sehr selbstsicher und setzt ein biss-
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chen verärgert hinzu "wir gehen erst, nachdem wir uns überzeugt haben, daß
da alles in Ordnung ist." "Das kann ich leider nicht zulassen, daß ihr da hin
geht." "Duzen Sie uns gefälligst nicht, wir sind Staatsbeamte." "Das ist mir
gleich, Sie bleiben wo Sie sind." Er gibt dem anderen SS Mann einen Wink,
und der stellt sich mit der Waffe mitten in den Weg. Einer der Häftlinge, der
ziemlich grimmig aussieht, hat sich einen Knüppel geschnappt und erwartet
offenbar eine handfeste Keilerei.
"Machen Sie sich nicht lächerlich, meine Herren", sagt Aufhaus. "Herr Kerkwitz, bleiben Sie bei den Pferden, ich sehe mit Doktor Weber nach." "Ja." Sie
gehen an dem Posten mit der Waffe vorbei. Am Sockel einer Geröllhalde liegt
ein Mann in Häftlingskleidung. Er hält die Hand über die Augen, weil die Sonne direkt auf seinen Kopf strahlt; er wimmert leise vor sich hin. Weber kniet
sich neben ihn. "Können Sie mich verstehen? Nicken Sie." Der Mann reagiert
nicht. Weber sieht an ihm herunter. An den Knien ist die Hose zerfetzt, an
mehreren Stellen schmutzig. An der Brust ist auf der Jacke ein roter Winkel
aufgenäht. Webers Blick geht über die Halde zu dem Abhang an der Felswand.
Man sieht dort eine Spur aufgekratzter Erde, als wäre jemand von oben herabgerutscht. Der Hauptscharführer und die anderen stehen daneben. Er ist
Webers Blick gefolgt und sagt "Muss wohl von da 'runtergefallen sein."
Der junge Häftling bringt eine zusammengefaltete Decke. "So-so-sollen wir
die unterlegen?" Der Hauptscharführer brüllt ihn an "Was mischt du dich ein,
du Blödian! Geh' zur Seite, oder du kriegst eins in die Fresse." "Geben Sie die
Decke her", sagt Weber und schiebt sie dem Liegenden unter den Kopf. Der
verdreht die Augen und röchelt. "Da drüben liegt seine Mütze." "Her damit",
sagt Barkmann, und der Boxernasenmann reicht sie ihm. Er stülpt sie dem
Verletzten über. "Wir wollten ihn gerade holen", sagt Barkmann, "Sie haben
uns aufgehalten, hoffentlich ist es nicht zu spät." "Was ist vorgefallen?" "Das
müssen Sie schon ihn fragen, falls er wieder wird." "Waren Sie nicht hier?"
"Nicht in dem Moment, wo es passiert ist." "Und Ihre Leute?" "Darüber werde
ich Ihnen nichts sagen. Was soll die ganze Fragerei? Ich denke, Sie können
ihm helfen, also tun Sie's."
Weber fühlt seinen Puls und spricht ihn nochmals erfolglos an. Da sieht er,
daß sich an seiner Körperseite eine kleine Blutlache auf dem steinigen Boden
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gebildet hat. Er greift unter ihn und zieht seine blutige Hand wieder hervor. Er
versucht, ihn auf die Seite zu drehen, der Mann widersetzt sich nur mit einem
schwachen Jammern. Weber beugt sich über ihn und betrachtet seinen Rücken, auch Aufhaus schaut hin. Die beiden verständigen sich wortlos. Die
Häftlingsjacke ist hinten fast über die ganze Fläche blutdurchtränkt, und man
erkennt zwei Löcher im Stoff. Weber legt ihn vorsichtig zurück und fragt
"Woher kommen Sie?" Barkmann ist wohl überrascht von der Frage, deshalb
antwortet er prompt "Aus Weimar." "Von Buchenwald?" "Ja. Das ist ein Unglücksfall."
Weber steht auf. "Wir werden ihn nach Gothardau ins Krankenhaus schaffen."
"Sie werden ihn nirgends hin schaffen, er gehört zu uns." "Wollen Sie mir befehlen?" "Wenn es nötig ist, ja." "Ich bin zur Zeit der amtierende Kreisarzt.
Wenn es um die Rettung von Menschenleben geht, bin ich weisungsberechtigt,
und es wird gemacht, was ich sage, so verlangt es das Gesetz des Deutschen
Reichs, und auf dessen Gebiet befinden wir uns alle. Wenn Sie sich weigern,
machen Sie sich strafbar. Haben Sie mich verstanden? Sie werden jetzt sofort
die Steine abladen, und wir werden den Mann so behutsam wie möglich auf
den Laster legen." Dem Hauptscharführer zuckt es übers Gesicht, dann
schnauzt er die Häftlinge an "Na, macht schon, runter mit den Klumpen." Die
Häftlinge und ein Rottenführer schleppen den Verletzten auf der Decke zum
Lastwagen. "Wird er das überstehen?", fragt Aufhaus. "Sieht nicht gut aus",
meint Weber. "Ich fahre mit, nimmst du mein Pferd?" "Ruf' mich heute abend
an." "In Ordnung." Weber setzt sich neben Barkmann auf den Beifahrersitz.
Hinten halten sie den Mann fest, damit er so wenig wie möglich durchgeschüttelt wird, als der Laster auf der holprigen Straße aus dem Eulengrund heraus
fährt.
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Die ganze Erzählung erhältlich auf: www.fuchsgotha.de/riedinger
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alle Rechte bei Alexander Fuchs
D 99867 Gotha
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Immer auf der Hut vor dem Fehlertäufel
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