M3 - Evangelische Hochschule Ludwigsburg

Projekt: Reformatorische Kirche für die Gesellschaft
Arbeitsmaterial zum didaktischen Baustein: Reformation und Bildung
Maria Rehm-Kordesee
Evangelische Hochschule Ludwigsburg
M3
MOKROSCH, Reinhold, 2006. Erziehung und Bildung aus lutherischer Perspektive. In: SCHMIDT-ROST, Reinhard, Norbert DENNERLEIN und Udo HAHN, Hrsg. Profilierte Bildung – Der Beitrag der christlichen Kirchen
zu den Bildungsaufgaben der Gegenwart. Hannover, 9-28.
Erziehung und Bildung aus lutherischer Perspektive
Was verstand Martin Luther unter „evangelischer Erziehung als Erziehung unter dem Evangelium“?
Ich bitte Sie, sich in das verträumte Kleinstädtchen Wittenberg im Jahr 1524 zurück zu versetzen. Luther
hatte in diesem Jahr seine erste Schulschrift „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie
christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ verfasst, in der er emphatisch dafür warb, dass eine allgemeine Schulpflicht eingeführt werde, weil Christen auch im weltlichen Stand eine gute Bildung und Ausbildung benötigten. Schon in seiner Adelsschrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ von 1520 hatte Luther dringend an die Einrichtung von Elementarschulen mit
Bibel- und Evangeliumsunterricht appelliert: „Die Universitäten bedürfen gewiss einer guten, kräftigen Reform... Aber vor allen Dingen sollte in den höheren und niederen Schulen die vornehmste und verbreitetste
Lektion die Heilige Schrift sein, und für die jungen Knaben das Evangelium. Und wollte Gott“, so forderte er
in geradezu gender-revolutionärer Art, „eine jede Stadt hätte auch eine Mädchenschule, in der die Mädchen täglich eine Stunde das Evangelium lernten, sei es auf deutsch oder lateinisch... Sollte nicht gerechterweise ein jeder Christ mit neun oder zehn Jahren das ganze Evangelium kennen, in dem sein Name und
Leben steht? Lehrt doch eine Spinnerin und eine Näherin ihre Tochter das Handwerk in jungen Jahren. Aber
heute kennen auch die großen Gelehrten, Prälaten und Bischöfe selbst das Evangelium nicht.“
Aber in den vier Jahren seit 1520 hatte sich fast nichts getan. Etwa vier Prozent der Kinder besuchten damals die Elementarschule, auf der Deutsch gesprochen wurde. Und die weiterführenden Latein- und Trivialschulen, auf denen Latein gesprochen werden sollte (allerdings konnten manche Lehrer gar kein Latein),
wurden nur von zwei bis drei Prozent der Jugendlichen besucht. Hätte man also in Wittenberg eine gesamtdeutsche Lehrerkonferenz aller Schularten und – stufen einberufen, so wären unter einhundert Personen gekommen. Mehr Lehrer gab es in Deutschland nicht. Darüber war Luther verzweifelt und tief erbost.
Mit drastischen Worten und Bildern klagte er jetzt 1524 die reine Nutzniesser-Mentalität der Erziehung an:
„Jedes Tier“, so wetterte er, „hegt und pflegt seine Brut... Nur der Vogel Strauß wirft seine Eier von sich und
kümmert sich weder um die Geburt noch um die Aufzucht...Genauso machen es Eltern heute, – zeugen und
erzeugen ihre Kinder, legen sie ab und tun nichts mehr dazu... Sie haben nichts gelernt als den Bauch zu
versorgen und können nicht die Seelen ihrer Kinder erziehen... Deshalb müsst Ihr Ratsherren deutscher
Städte sich dieses armen Häufleins jungen Volkes und dieses leckeren Bissleins, der lieben Jugend, annehmen und es ehrsam in der Erkenntnis Gottes erziehen.“ Und dann wiederholte er seine praktischen Reformvorschläge aus der Adelsschrift, z. B. dass „die Knaben täglich zwei Stunden... die Mädchen aber täglich
eine Stunde zur Schule gehen sollten“ – nicht weil die Mädchen (schon) damals klüger waren als die Jungen
und deshalb nur eine Stunde benötigten, sondern weil sie zu Hause mehr gebraucht wurden als die Jungen.
Luther kümmerte sich damals um die Elementarschulen, während Melanchthon für die Latein– und Trivialschulen eintrat. Das war eine perfekte Arbeitsaufteilung.
Sechs Jahre später, 1530, schrieb Luther seine zweite Schulschrift, eine umfangreiche „Predigt, dass man
Kinder zur Schule halten solle“ und wiederholte seinen Appell zur Schulpflicht, weil sich auch nach 1524
noch nicht viel getan hatte: „Ich bin der Meinung, dass auch die Obrigkeit schuldig sei, die Untertanen zu
zwingen, ihre Kinder zur Schule zu halten. Denn sie ist wahrlich schuldig, die obgesagten Ämter und Stände
zu erhalten, dass Prediger, Juristen, Pfarrherren, Schreiber, Ärzte, Schulmeister und dergleichen bleiben,
denn man kann ihrer nicht entbehren.“ Diese Schrift bringt aber faktisch keine neuen Argumente zum Verständnis einer „Erziehung unter dem Evangelium“ hinzu. Deshalb konzentriere ich mich auf diejenige von
1524 und eruiere aus ihr fünf Merkmale „evangelischer Erziehung und Bildung“.
Erstes Merkmal: Erziehung und Bildung unter dem Evangelium sind ein „weltlich Ding“ und dienen der Förderung verantwortlichen Christseins in der Welt. Luther klagte 1524 als würde er heute 2005 im Anschluss
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an die PISA-Studie klagen: „Wir machen zur Zeit in Deutschland hin und her die Erfahrung, dass man überall
die Schulen zugrunde gehen lässt... Überall wird kund, wie unchristlich und allein auf den Bauch gerichtet
unser Schulwesen ist... Das ist ein Werk des Teufels, der seine Lust an dem Zerfall der Schulen hat.“ Und
dann attackiert es frech und couragiert die Ratsherren direkt: „Niemand, aber auch niemand von Euch
weiß, was für ein schändliches, teuflisches Unternehmen das ist... Ihr fürchtet euch von Türken, Kriegen
und Hochwassern; denn da versteht ihr, was Schaden und Nutzen ist. Aber was hier (im Schulwesen) der
Teufel im Sinn hat, das sieht niemand, fürchtet auch niemand; das geht in aller Stille vor sich... Deshalb sage
ich: Gebt ihr einen Gulden für den Kampf gegen die Türken aus, so wäre es billig, dass ihr hundert Gulden
(für Schulen) geben würdet, auch wenn man nur einen einzigen Knaben damit so aufziehen könnte, dass es
ein rechter christlicher Mann würde.“ (Das sind Sätze, die ich am liebsten in jedem Kultusministerium mit
Ölfarbe an die Wand schreiben würde.) Und dann wird er noch drastischer: „Liebe Herren, muss man jährlich so viel aufwenden für Schießwaffen, Wege, Stege und Dämme..., damit eine Stadt zeitlich Frieden und
Ruhe habe? Warum sollte man nicht ebenso viel aufwenden für die bedürftige, arme Jugend, indem man
wenigstens einen geeigneten Mann oder gar zwei Schullehrer unterhielte?“ (ebd.)
Für uns ist dieser Aufruf heute selbstverständlich. Damals war er revolutionär. Schulen waren Sache der
Kirche. Denn Erziehung (vorrangig für Kleriker an Pfarr-, Dom- und Klosterschulen, für Laien an Elementar-,
Trivial-, Grammatik- oder Lateinschulen) wurde damals als heilsnotwendig verstanden. Kinder, Jugendliche
und Erwachsene, so hatte die spätmittelalterliche Theologie gelehrt, müssten durch Erziehung von Begierlichkeit (concupiscentia), Sünde (peccatum) und Irrtum (error) abgehalten und zum richtigen Gebrauch der
Vernunft (ratio), des Gewissens (conscientia) und des Willens (voluntas) angehalten werden. So argumentierten vor allem Thomas von Aquin, der „Fürst“ der Dominikaner, und Bonaventura, der „Fürst“ der Franziskaner. Das alles sei notwendig, so das Spätmittelalter, damit Menschen zum Heil finden würden. Und
deshalb war Erziehung im Spätmittelalter eine geistliche Angelegenheit und Sache der Kirche. Dem widersprach Luther entschieden: Erziehung war für ihn ein „weltlich Ding“ und obliege der weltlichen und nicht
der geistlichen Obrigkeit. Denn Erziehung richte sich auf den äußeren Menschen (homo exterior) und nicht
auf den inneren Menschen (homo interior). Sie solle christliche Bürger aufziehen. Deshalb sei sie eine Sache
des Gesetzes und nicht des Evangeliums. Für das Heil habe Gott mit seinem Evangelium gesorgt. Er sei
durch Christus und den Heiligen Geist in die Welt gekommen und habe jedem Menschen geistliches Heil
durch Rechtfertigung geschenkt. Aufgabe der Erziehung sei es jetzt allein, die von Gott befreite Vernunft,
das befreite Gewissen und den befreiten Willen jedes Einzelnen in konkreter Lebenssituation anwenden zu
helfen. Und das sei eben Aufgabe der weltlichen Obrigkeit. Es gehe in Erziehung und Bildung um die Förderung einer „bürgerlichen Gerechtigkeit“ (iustitia civilis) und nicht einer „göttlichen Gerechtigkeit“ (iustitia
Dei).
Ich kann es auch holzschnittartig in folgende Formel bringen: Das Spätmittelalter wollte zu Glaube und Heil
hinerziehen. Die Reformation wollte vom – bereits geschenkten – Glauben und Heil her zum christlichen
Leben in der Welt erziehen. Oder noch kürzer: Das Spätmittelalter wollte zum Reich Gottes hin, die Reformation vom Reich Gottes her erziehen. Das war „Erziehung und Bildung unter dem Evangelium“. Die
Schulmeister hatten nach Luther also die Aufgabe, ihre Schüler und Schülerinnen zu weltlichen und nicht zu
geistlichen Bürgern zu erziehen. Das, so war er überzeugt, würde Frieden und Gerechtigkeit bringen. Er
war überzeugt, dass das Humankapital viel mehr für den Frieden bedeute als das Absicherungs–, d.h. Militär– und Wohlfahrtskapital. Gebildete, christliche Menschen seien wichtiger als militärische Absicherung
und ökonomische Profite. Ja, er plädierte, wie wir sahen, für ein Verhältnis 1:100. Ein Gulden für Militär
und Wirtschaft, einhundert Gulden für die Bildung. Das ist ein Verhältnis, das wir heute allen Parteien ins
Stammbuch schreiben sollten.
Ein gebildeter Mensch, so war er 1524 überzeugt, verhindere das Chaos und diene der von Gott geschaffenen Ordnung im Reich der Welt. Sprache als „Gefäß des Geistes Gottes“, wie er sich ausdrückte, solle dabei
besonders gefördert werden. Solche Bildung führe, so hoffte er mit den Humanisten, zu einer friedlichen
Welt. Hat er sich geirrt? Luther wusste um die Sünde und Bosheit des Menschen. Deshalb setzte er auch
nicht allein auf Bildung – wie manche Humanisten. Aber er sprach der Bildung mehr Kraft zu als den Waffen. Das sollte von Lutheranern niemals vergessen werden.
Zweites Merkmal: Gottes Pädagogie geht menschlicher Pädagogik voraus. Erzieher sollten versuchen, an
Gottes Erziehung anzuknüpfen und sie nachzuvollziehen. Ein zweites Merkmal einer Erziehung unter dem
Evangelium ist die Vorgängigkeit der „Pädagogie Gottes“ vor der menschlichen Erziehung und Bildung: „Ist’s
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nicht alles durch Gottes Gnade so eingerichtet, dass die Kinder mit Lust und spielend lernen können?“ bekannte Luther 1524. Und bei anderer Gelegenheit formulierte er einen Satz, der mich besonders berührt:
„Gott, weil er Menschen ziehen wollte, ist Mensch geworden. Wollen wir Kinder ziehen, müssen wir mit
ihnen lallen.“ Besser kann man die Analogie zwischen Gottes Erziehung an uns und unserer Erziehung an
unseren Kindern nicht ausdrücken. Luther verstand die Menschwerdung Gottes als pädagogisches, d.h.
Erziehungs– und Bildungsgeschehen! Und unsere menschliche Erziehung solle, so forderte er, ein Nachvollzug bzw. eine Nachfolge der Deszendenz und Menschwerdung Gottes sein. Wie Gott uns Menschen ein
Mensch wurde, so sollen wir den Kindern ein Kind werden – natürlich ohne kindisch zu werden. Erziehung
ist damit Imitatio Dei in der Gestalt einer Imitatio Christi (Nachfolge Gottes durch Nachfolge Christi). Für
die Praxis bedeutet das: Lehrer und Lehrerinnen sollten ihre Schüler und Schülerinnen als Geschöpfe im
Lichte der Menschwerdung Gottes ehren; und sie sollten sich selbst als Nachfolger Christi und „Nachahmer
Gottes“ verstehen. Damit wird Erziehung zwar zu einem Bestandteil des Schöpfungs- und Erlösungswerkes
Gottes. Aber sie ist nicht heilsnotwendig, weil von der Erziehung das Schöpfungs- und Erlösungswerk ja
nicht abhängt. Gott lädt die Erzieher ein, an der Bildung der Kinder und Jugendlichen mitzuwirken. Aber er
macht sein Werk von ihnen nicht abhängig. Das schärfte Luther den Ratsherren in seiner Schrift immer wieder ein: „Gott klopft an und lädt uns ein, das junge Volk fein zu lehren und zu erziehen. So ist es nötig, dass
wir die Gnade Gottes nicht in den Wind schlagen und ihn nicht umsonst anklopfen lassen. Er steht vor der
Tür, wohl uns, wenn wir ihm auftun!“ Und ein paar Zeilen weiter schreibt er: „Gott bietet sich uns reichlich
an und streckt uns die Hand hin und gibt uns alles, was dazu gehört.“ (ebd.) Nach evangelischem Verständnis geht Gottes Erziehung jeder Erziehung voraus, – nicht nur der religiösen, sondern auch der allgemein
bildenden. Das ist und bleibt der Anspruch einer „Erziehung unter dem Evangelium“. Von daher könnte ich
auch Luthers These vom „Allgemeinen Priestertum aller Gläubigen“ auf christlich glaubende Lehrer ausdehnen. Auch sie üben als Lehrer und Lehrerinnen Priesterfunktionen aus. Sie sind – im Sinne Luthers –
säkulare Didaktikpriester in der Schule.
Ich möchte noch ein anderes Bild heranziehen: Wenn Gottes Pädagogie unserer Pädagogik vorausgeht,
dann haben wir als Lehrkräfte Hebammendienste zu leisten bzw. wir sind, wie Paulus es 2. Korinther 1,24
ausdrückt, „Gehilfen der Freude“ unserer Schüler und Schülerinnen (Paulus: „Wir wollen nicht Herr sein
über euren Glauben, sondern Gehilfen eurer Freude“). Es ist unsere Aufgabe, der geschenkten Geschöpflichkeit und Rechtfertigung im Bewusstsein unserer Schüler zum Durchbruch und zur Geburt zu verhelfen.
Drittes Merkmal: Evangelische Erziehung und Bildung im Sinne einer „Erziehung unter dem Evangelium“
soll – wie eine Hebamme – der von Gott geschenkten Freiheit im Adressaten zum Durchbruch verhelfen,
indem sie die Bedingungen christlicher Freiheit zum Verstehen bringt. In seiner Freiheitsschrift von 1520
hatte Luther die unvergleichliche These aufgestellt: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und
niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Jetzt in der Schulschrift von 1524 betonte er gegenüber den Ratsherren, dass Christen Bildung bräuchten,
um diese Dialektik des Christseins zu verstehen. Sie müssten sich die Bedingungen aneignen, um die von
Gott geschenkte Freiheit auch wirklich entdecken, anwenden und praktizieren zu können. Welche Bedingungen sind das? Ich nenne sieben Bedingungen, die nach Luther gelehrt werden sollten, um Gottes Rechtfertigungs– und Freiheitgeschenk verstehen und im Alltag anwenden zu können.
Es ist zum Ersten die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen unserer Zugehörigkeit zum „Reich der Welt“
einerseits und zum „Reich Gottes“ andererseits. Es ist die Einsicht, dass Christen schon jetzt dem Reich Gottes angehören und deshalb schon jetzt für sich persönlich nach der Bergpredigt (Du sollst dem Bösen nicht
widerstehen, und wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin;
Richtet nicht, damit nicht ihr gerichtet werdet; usw.) leben können. Als Angehörige des Reiches der Welt
sollen sie aber für andere notfalls Gewalt anwenden, um sie zu schützen. Es ist die Einsicht, dass Gott einerseits ein weltliches, andererseits ein geistliches Regiment führt. Die Einsicht in diese Zwei- Reiche- und
Zwei-Regimenter-Unterscheidung ist für Luther die erste Bedingung, damit Menschen ihre Freiheit von der
Welt für die Welt entdecken können.
Zum Zweiten ist die Erkenntnis, dass der Mensch als äußerer und innerer Mensch zu unterscheiden sei, so
schreibt Luther, eine zweite Bedingung, um die von Gott geschenkte innere Freiheit zu entdecken. Denn
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Gott handelt am inneren, weltlich Erziehung aber am äußeren Menschen. Sowohl die Schulmeister als auch
ihre Eleven müssten diese Unterscheidung beherrschen lernen.
Zum Dritten sei auch Paulus’ Unterscheidung zwischen altem und neuem Äon eine wichtige Bedingung, um
die innere Freiheit zu entdecken. Wenn Paulus bekannte: „Schon jetzt leben wir in der neuen, befreiten
Welt, aber gleichzeitig leben wir noch in der alten, sündigen Welt“ (vgl. z. B. 1. Thessalonicher 5), dann
wollte er zum Ausdruck bringen, dass wir nur in gebrochener, nicht aber in vollkommener Weise frei seien
von weltlicher Not, weltlichem Recht und weltlichen Gesetzen. Auch diese Unterscheidung, so betonte
Luther, müssten Schulmeister lehren und Schüler lernen, damit sie christliche Freiheit entdecken und verstehen können.
Zum Vierten ist ihm die Unterscheidung zwischen unserem Geschaffensein und unserem eigenen Schaffen
bzw. zwischen Geschöpf- und Schaffender-Sein wichtig. Nur wer diese Unterscheidung kenne und praktiziere, könne im rechten Sinn frei sein: nämlich ein freier Herr über alle Dinge und zugleich ein dienstbarer
Knecht aller Dinge.
Zum Fünften solle jeder Christ von Kind auf an lernen, dass er immer vor zwei Foren stehe, vor denen er
jeweils Rechenschaft ablegen müsse: „vor Gott“ und „vor der Welt“. Vor Gott müsse er über seinen Umgang mit Gottes Rechtfertigungsgnade und mit Bergpredigt, Dekalog und Gottes Gesetz, vor der Welt über
seine Aufgabe, so wenig Gewalt, Zwang, Strafgesetze etc. wie möglich zum Zweck des Friedens eingesetzt
zu haben, Rechenschaft ablegen. Solche doppelte Rechenschaft vor Gott und Welt mache ihm seine von
Gott geschenkte christliche Freiheit bewusst.
Zum Sechsten – und das ist wohl das wichtigste – müsse jeder Christ frühzeitig zwischen Gesetz und Evangelium unterscheiden lernen. Mit dem (göttlichen und weltlichen) Gesetz solle er handeln, regieren und
entscheiden, mit dem Evangelium solle er sich seiner Geschöpflichkeit, Rechtfertigung und Erlösung durch
Gott und Christus stets neu bewusst werden. Wer beides vermenge, würde Christus verraten und nie ein
rechter Christ werden. Deshalb sei diese Unterscheidung eine Grundbedingung, um in christlicher Freiheit
leben, handeln und entscheiden zu können. Sie müsse früh in den Schulen gelehrt werden.
Und zum Siebten müssten Christen zwischen ihrer eigenen und Gottes Gerechtigkeit unterscheiden können. Denn jeder Mensch trage seine eigenen weltlichen Gerechtigkeitsmaßstäbe, nach denen er weltliches
Verhalten misst und bewertet, und Gottes Gerechtigkeitsmaßstäbe, nach denen Vergebung, Nächsten– und
Feindesliebe an oberster Stelle stehe, seit seiner Taufe in sich. Er verfüge sozusagen über eine eigene und
eine fremde Gerechtigkeit (iustitia propria et iustitia aliena). Beide müsse er ständig ins Gleichgewicht bringen, wolle er Christ sein. Deshalb müsse auch diese Unterscheidung frühzeitig gelehrt und gelernt werden.
Solche Unterscheidungsfähigkeiten sind für Luther ein wichtiges und unaufgebbares Ziel und Merkmal einer
Erziehung und Bildung unter dem Evangelium.
Die von mir bisher genannten drei Merkmale „evangelischer“ Erziehung und Bildung gehören nach meinem Verständnis zur Propädeutik einer Erziehung zum Christsein. Sie sind Voraussetzungen, damit Kinder,
Jugendliche und Erwachsene überhaupt entdecken, dass sie Gottes Geschöpfe und gerechtfertigte, freie
Personen sind. Die nachfolgenden Merkmale sind pro- und postpädeutische bzw. nur postpädeutische Kriterien.
Viertes Merkmal: Evangelische Erziehung und Bildung unter dem Evangelium soll die Gewissen der Adressaten im Geist evangelischer Gewissensfreiheit schärfen. Gewissenserziehung gehört für Luther zu den
wesentlichsten Aufgaben evangelischer Erziehung und Bildung. Als er selbst am 18. April 1521 vor Kaiser
und Reich in Worms stand, hatte er dem Kaiser und 1500 Jahre Christentumsgeschichte mit seinem Gewissen widerstanden und erklärt: „Mein Gewissen ist in Gottes Wort gefangen, und ich kann und will nicht
irgend etwas widerrufen, weil es weder gefahrlos noch heilsam ist, gegen das Gewissen zu handeln. Ich
kann nicht anders, (hier stehe ich), Gott helfe mir. Amen.“ Über ihn wurde die Reichsacht verhängt. Als
Junker Jörg auf der Wartburg beschrieb er nun den didaktischen Vorgang, wie das Gewissen frei und allein
an Gottes Wort gebunden werden könne. Es sind fünf didaktische Schritte, welche Lehrer mit ihren Schülern durchschreiten sollten, falls diese Gewissenskonflikte hätten:
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a) Der erste Schritt sei die Einsicht, dass man aus eigener Kraft Gottes Gesetz, z. B. die Bergpredigt, nicht
erfüllen könne.
b) Daraus resultiere bei besonders sensiblen Menschen das Gefühl eines gequälten, geknechteten und bösen Gewissens. Ein Gewissen, das die Überforderung des Gesetzes spüre, „zittere, zucke, zappele und zage“. Es gleiche einem psychotischen Zustand: „Denen, die ein böses Gewissen haben, erscheinen alle Kreaturen verändert. Wenn sie auch mit bekannten Menschen reden und dieselben hören, erscheint ihnen sogar der Klang der Stimme als ein anderer, die Gesichtszüge scheinen verändert. Alles wird finster und erschreckt, wohin sie die Augen wenden.“ „Ihre Angst verzehrt Mark und Bein, Fleisch und Blut.“ „Wenn sie
einen Balken knarren hören, fürchten sie den Einsturz des ganzen Hauses; wenn sie eine Maus hören,
fürchten sie, der Teufel sei da und wolle sie töten.“ Sie „haben alle Augenblicke Sorge, Gott stehe mit einer
Keule hinter ihnen“.
c) Aus solcher Verzweiflungssituation könne er sich nicht selbst befreien, sondern nur von Gott durch den
Mund eines Mitmenschen befreit werden, der ihn an Gottes Taufzusage erinnere: „Erinnere dich doch!
Gott hat dir in der Taufe zugesagt, dass er dich begleiten und dir helfen werde. Er schickt auch andere Menschen. Du musst nicht alles allein machen!“
d) Dieser Umschlag könne (müsse nicht) zu einem befreiten, befriedeten, beruhigten, guten und getrösteten Gewissen führen. Emphatisch schreibt er: „Wo das Gewissen fröhlich und der Gunst und des Segens
Gottes gewiss ist, da ist auch ewige Freude, die jene Tropfen menschlicher Last und Beschwerde verschlingt
und aufzehrt wie die Mittagssonne den Tau.“ „Solche Ruhe des Gewissens ist ein geistlicher Friede.“
e) Und solcher Zustand eines getrösteten Gewissens hat ethische Konsequenzen: Der im Gewissen befreite
und mit sich selbst identisch gewordene Christ hat ein neues Verhältnis zu den ihn fordernden Gesetzen. Er
tut sie nicht mehr, um selbst ein guter Mensch zu sein oder zu werden, sondern allein um des Nächsten
willen. Und das bedeutet, dass er vieles anderen überlassen kann und selbst nur in seinem kleinen Bereich
versuchen soll, Gutes zu tun. Mit seinem „getrösteten Gewissen“ kann er sich beschränken. Wohlgemerkt:
Lehrer sollen Schülern niemals ein schlechtes Gewissen machen und erst recht nicht versuchen, ihnen ein
getröstetes Gewissen zu verschaffen; sondern sie sollen allein vorhandene Gewissenskonflikte ihrer Schüler
begleiten. Sie sollen nur für die Bedingungen sorgen, damit Kinder, Jugendliche und Erwachsene befähigt
werden, die gewissensbefreienden Zusprüche Gottes durch ihre Mitmenschen zu hören und anzunehmen.
Erziehung und Bildung unter dem Evangelium sind für Luther immer zugleich Gewissenserziehung und –
bildung.
Dieses vierte Merkmal hat zugleich einen pro- und einen postpädeutischen Charakter. Gewissensbegleitung
ist einerseits Voraussetzung, andererseits Folge der von Gott geschenkten Rechtfertigung und Befreiung.
Fünftes Merkmal: Evangelische Erziehung und Bildung unter dem Evangelium soll zu einem humanen,
selbstbestimmten Umgang mit Gesetzen, Normen und Werten anleiten. Nach Luther befindet sich der
evangelische Schulmeister bei der Erziehung seiner Schüler zu verantwortlichen, mündigen Bürgern und zu
einem verantwortlichen Umgang mit Gesetzen, Normen und Werten in einer äußerst günstigen Position: Er
könne davon ausgehen, dass seine Schüler aufgrund der Gewissensbefreiung und Rechtfertigung durch
Gott, d. h. der vorgängigen Pädagogie Gottes, fähig sind, zu guten christlichen Bürgern zu werden. Sie können erzogen werden, weil Gott sie dazu befähigt hat. Der Schulmeister brauche nur an Gottes Rechtfertigung im Schüler anzuknüpfen. Er brauche den Schüler nur anzuregen, seine christliche Freiheit verantwortlich zu gebrauchen und anzuwenden. Er spiele nur die Rolle eines Entwicklungshelfers bzw. einer Hebamme. In diesem Sinne ist sein emphatischer, bereits oben zitierter Aufruf an die Ratsherren zu verstehen: „Es
ist doch alles durch Gottes (vorgängige) Gnade so eingerichtet, dass Kinder mit Lust spielend lernen können... Gott bietet sich uns reichlich an und streckt uns die Hand hin, und gibt uns alles, was dazu gehört.“
Aber freilich sei, so betonte Luther immer wieder, die Eigenleistung des Schulmeisters nicht zu unterschätzen. Er müsse hart arbeiten, um als Geburtshelfer tätig zu werden. Wenn er die Sprachen Latein, Griechisch
und Hebräisch, Mathematik, Rhetorik und Musik, die Heilige Schrift und das Evangelium lehre, dann hätte
er das Ziel, seine Schüler als Christperson und als Weltperson zu qualifizieren – und das sei in der Tat härteste Arbeit. Dieses fünfte Merkmal verstehe ich postpädeutisch, weil der Lehrer seine Schüler anleiten soll,
mit der bereits geschenkten Rechtfertigungsgnade umzugehen.
Können wir heute nach 500 Jahren noch irgendetwas anfangen mit diesem Verständnis Luthers von Erziehung und Bildung unter dem Evangelium? Ich versuche im folgenden 2. Teil eine Antwort.
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2. Welche Bedeutung könnten „Erziehung und Bildung unter dem Evangelium“ aus lutherischer Perspektive heute haben?
Die Aktualität des lutherischen Erziehungs- und Bildungskonzeptes gipfelt m. E. in dem Erziehungsziel, dass
jeder zu der Einsicht kommen möge, dass er durch Gottvertrauen von weltlicher Abhängigkeit befreit und
unabhängig werden könnte, um frei zu werden für verantwortliche Entscheidungen, Handlungen und Urteile im Alltag. In der Sprache der Konfliktpädagogik: Jeder könnte (durch Gottvertrauen) befreit werden von
Konflikten und Problemen, um frei zu werden für eine verantwortliche Lösung von Konflikten und Problemen. Wieder in der Sprache Luthers: Jeder könne durch Gottvertrauen ein freier Herr über alle Dinge und
niemandem untertan und zugleich ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan werden.
Verantwortung aus Freiheit ist das Ziel evangelischer Pädagogik. Solches Ziel ist m. E. heute noch hoch aktuell. Eine Erziehung zum rechten Gebrauch der Freiheit für eine verantwortliche Lebensführung entspricht
auch Wolfgang Klafkis Konzept einer Erziehung zum verantwortlichen Umgang mit den Schlüsselproblemen
unserer Zeit.
Allerdings bleibt nach protestantischem Erziehungsverständnis Gott bzw. Gottes Rechtfertigung der Ermöglichungsgrund solcher „Freiheit von und für“. Deshalb ist sie auch als christliche Freiheit und Verantwortung
zu verstehen. Freilich ist sie materialiter keine andere „Verantwortung aus Freiheit“ als die säkulare. Aber
sie wird anders begründet. Christen praktizieren keine andere und in der Regel auch keine bessere „Verantwortung aus Freiheit“ als Nichtchristen. Aber sie haben eine andere Begründung.
Ich möchte abschließend versuchen, die Aktualität des lutherisch-evangelischen Erziehungsverständnisses
an mehreren Beispielen zu konkretisieren. Dabei unterscheide ich die Befreiung von alltäglichen Abhängigkeiten und Konflikten von einer solchen zu deren Lösungen.
Erstere nenne ich „Religiöse Propädeutik“, letztere „Religiöse Postpädeutik“. Zur Aktualität evangelischer
Propädeutik: Eine Erziehung mit dem Ziel der Erkenntnis, dass wir von Gott befreit worden sind von alltäglichen Abhängigkeiten, Konflikten und Problemen zu deren möglicher Lösung, befähigt uns zu Pluralismus
und kritischer Offenheit. Beides ist heute (über)lebensnotwendig. Ich möchte Luthers Erziehung zur Einsicht
in das Wesen christlicher Freiheit in die Sprache unserer Zeit übersetzen. Luther betonte damals, dass Schüler zu der Einsicht geführt werden sollten, dass sie einerseits Geschöpfe Gottes sind und von Gott erhalten
werden, dass sie andererseits aber auch ihr Leben selbst schaffen und gestalten müssten; dass sie schon
jetzt dem Reich Gottes angehören und deshalb sich mühen müssten, das Recht des Reiches Gottes im Alltag
so weit wie möglich auszubreiten; dass sie die Bergpredigt exemplarisch für sich praktizieren sollten, in der
Verantwortung für andere aber weltliches Recht anwenden müssten; dass sie als innerer Mensch von Gott
befreit und gerechtfertigt worden sind, als äußerer Mensch aber der Erziehung und weltlichen Obrigkeit
bedürfen; und dass Gott sie als Christperson mit dem Evangelium und als Weltperson mit dem Gesetz anspreche.
In der Sprache unserer Zeit könnte das heißen: Sie sollen zu der Einsicht erzogen werden, dass menschliche
Vernunft, Intelligenz, Gewissens- und Willensfähigkeit begrenzt sind und nicht überschätzt werden dürfen;
dass jedes Konzept, jede Ideologie und jede Überzeugung nur einen relativen und keinen absoluten Charakter haben kann; und dass sie, die Schüler, deshalb kritisch sein müssen gegenüber sich absolut setzenden
Ideologien, Religionen, Weltanschauungen, Rechtssätzen und Gesellschaften. Karl Ernst Nipkow redet von
der Fähigkeit zu „freisetzender Selbstunterscheidung“.
Erzieher sollten das Mögliche vom Unmöglichen, das Lehrbare vom Unlehrbaren unterscheiden und sich
damit vom Zwang zu absoluter Richtigkeit befreien. Sie müssen auf dogmatische und didaktische Verabsolutierungen verzichten und sich der Begrenztheit ihrer Erziehung und Erziehungsziele bewusst werden. Das
mache sie (selbst)kritikfähig und offen für andere Positionen in der pluralen Welt.
Das Eingeständnis des Scheiterns der Erziehung gehört dazu. Deshalb sollte ein „evangelischer“ Erzieher
keine absoluten Urteile über Weltanschauungen, Religionen, Konfessionen und Philosophien und auch
nicht über Schlüsselfragen unserer Zeit im Bereich von Ökologie, Ökonomie, Gen- und
Biotechnik, Pazifismus, Bellizismus o. ä. äußern. Persönliche klare Stellungnahmen und Zeugnisse sind zwar
dringend notwendig. Lehrer müssen Flagge zeigen, Farbe bekennen und eindeutig reden.
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Aber sie sollten das prinzipiell mit eschatologischem Vorbehalt tun. Sie sollten sich bewusst sein, dass
nicht sie das letztgültige Urteil sprechen, sondern ihr Schöpfer. Sie reden, urteilen und unterrichten als zur
Verantwortung befreite Geschöpfe allein aus subjektiver Überzeugung. Und diese subjektive Überzeugung
steht unter dem Vorbehalt, dass sie irren können. Deshalb sollten sie niemals mit dem Brustton absoluter
Überzeugung reden. Zu dieser Einsicht sollen sie auch ihre Schüler führen. Der Mythos von Adam und Eva in
1. Mose 3 hat genau mit dieser Überzeugung zu tun. Er möchte zum Ausdruck bringen, dass Menschen
niemals absolut eindeutig sagen können, was für alle Zeiten gut oder böse wäre. Sie können nur begrenzt
urteilen. Sie sind nicht allwissend. Das absolute Urteil bleibt allein Gott, dem Schöpfer vorbehalten. Menschen müssen zwar eindeutig, können aber nur begrenzt mit eschatologischem Vorbehalt urteilen und
handeln. Solche Einsicht in begrenzte Eindeutigkeit und damit Kritiknotwendigkeit ist das Ziel und Wesen
einer evangelischen Erziehungspropädeutik heute. – Und wie steht es mit der Aktualität evangelischer
Postpädeutik heute?
Zur Aktualität evangelischer Postpädadeutik: Eine Erziehung zur verantwortlichen Inanspruchnahme christlicher Freiheit zu humanen Entscheidungen, Handlungen und Urteilen kann befähigen, verantwortlich mit
den Schlüsselproblemen unseres Alltags umzugehen.
In Luthers Sprache lautete diese Aussage vor 500 Jahren: „Aus Gottes Rechtfertigung soll durch Erziehung
und Bildung ein rechter, christlicher Mann und eine rechte, christliche Frau gezogen werden, indem man sie
lehrt, aus getröstetem Gewissen zu urteilen, das Gesetz anzuwenden und Gottes weltliches Regiment zu
führen.“ In unserer Sprache heißt das: „Wir sollen unseren Schülern bei der Umsetzung ihrer christlichen
Freiheit zu verantwortungsvollem Handeln und Entscheiden Hilfestellung leisten. Viele brauchen diese Hilfe, weil sie zwar orientierungslos, aber verantwortungsbereit sind.“ Um ein Beispiel zu nennen: Viele sind
bereit, die Schöpfung zu respektieren und zu schützen – sowohl in der Ökologie als auch in der Bio- und
Gentechnik, bei verbrauchender Embryonenforschung, bei der Reproduktionsmedizin, der Sterbehilfe usw.
Immer wieder argumentieren sie mit der Schöpfung. An dieses Relikt christlichen Glaubens sollten evangelische Erzieher anknüpfen und versuchen, die eigene Geschöpflichkeit der Schüler zu deren Handlungsausgangspunkt zu machen. Vielleicht gelingt es, bei einigen zusätzlich ein Bewusstsein für die innere, von Gott
geschenkte Freiheit oder gar Rechtfertigung zu wecken und sie aufzufordern, aus solcher Freiheit heraus
Verantwortung zu übernehmen.
Evangelische Postpädeutik bedeutet natürlich auch, den Schülern zu helfen, mit christlich begründeten
Werten und Normen umzugehen. Wie sollen wir mit Jesu Aufforderung „Liebt eure Feinde! Widerstehet
dem Bösen nicht! Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin!
Verurteilt nicht! Sorgt euch nicht!“ umgehen? Wie können wir den Dekalog „Du sollst nicht töten, nicht
stehlen, nicht Ehe brechen, nicht falsch Zeugnis reden usw.“ erfüllen? Können wir Kindern, Jugendlichen
und Erwachsenen das abfordern? Es ist keine Abforderung. Der evangelische Erzieher ist genötigt, an die
Kraft des Geistes Gottes im Schüler zu glauben. Gott wird, so sollte er überzeugt sein, selbst dafür sorgen,
dass von ihm befreite Menschen verantwortliche Entscheidungen treffen. Er sollte von Gottes vorgängiger
Pädagogie im Schüler überzeugt sein. Solche Erziehung und Bildung nenne ich eine evangelische Postpädeutik, d. h. eine Erziehung zur Verantwortungsübernahme aus christlicher Freiheit heraus.
Zum Schluss: Erziehung und Bildung unter dem Evangelium – Anachronismus oder Provokation?
Erziehung und Bildung unter dem Evangelium heißt: propädeutisch die Schüler zu öffnen für ihre von Gott
geschenkte Freiheit und postpädeutisch ihnen zu helfen, aus dieser Freiheit heraus Verantwortung zu
übernehmen. Ist das heute ein Anachronismus? Ja natürlich! Freiheit versteht man heute nicht mehr als
Gottesgeschenk, sondern als eigene Leistung. Und Verantwortung versteht man nicht mehr als Folge von
Gottes Rechtfertigung, sondern als eigene Fähigkeit. Ein lutherischer Erziehungsstandpunkt ist heute ein
Anachronismus und zugleich eine Provokation. Ich möchte aber zu solcher Provokation aufrufen. Es lohnt
sich, im lutherischen Geist zu erziehen. Denn es lohnt sich, Schüler und Schülerinnen zu der Einsicht zu erziehen, dass sie freie Menschen und niemandem untertan sind und dass sie dienstbare Knechte und jedermann untertan sind.
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