Das verschwundene Grab der Manns

Heiner Welter
Das verschwundene
Grab der Manns
Roman
LINDEMANNS
BIBLIOTHEK
Heiner Welter, Jahrgang 1948, Studium der Medizin, Literatur- und
Theaterwissenschaften 1968 – 75 an der Universität Köln. Nach medizinischem Staatsexamen und Promotion Ausbildung zum Chirurgen an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU): dort
Habilitation 1986, Professur 1994. Seit 1989 als Chirurg in leitenden
Positionen tätig. 1993 – 98 Studium der Neueren und Bayerischen Geschichte (W. Ziegler) an der LMU. Verheiratet seit 1977 mit der Literatuwissenschaftlerin, Theologin und Radiologin Dr. Gabriele Conradi.
Kinder Julia, Frederic und Benjamin. Lebt in Krailling. Autor zahlreicher medizinische Publikationen, Buchbeiträge und Ausbildungsfilme.
Heiner Welter
Das verschwundene
Grab der Manns
Roman
Den großen Frauen meines bescheidenen Lebens:
Barbara, Elfi und Gabi.
In alphabetischer Reihenfolge,
steter Liebe und großer Dankbarkeit.
1.
Der magische Park
Schon vor Wochen wollte ich eine neue Lesebrille in Auftrag
geben. Seither trug ich das Rezept des Augenarztes ständig in
meiner Brieftasche und ärgerte mich täglich über die nachlassende Sehkraft. Gleichwohl fehlte mir der Antrieb etwas dagegen zu unternehmen. Heute nun, nachdem mir schon bei der
morgendlichen Zeitungslektüre die Arme wiederum nicht lang
genug erschienen um scharf lesen zu können, plante ich endlich Abhilfe zu schaffen.
Da ich wieder einmal, was meine Arbeit mir nur selten erlaubte, mittags zu Hause essen wollte, war ich zu ungewohnter
Zeit mit meinem altersschwachen Wagen auf der großen Ausfallstraße unterwegs. Das Reklameschild eines Optikers nahm
ich erst kurz vor einer großen Kreuzung wahr, nachdem mich
eine Ampel zum Halten gezwungen hatte. Eine Parklücke bot
sich an. Schnell hatte ich das Fahrzeug abgestellt und hastete
über die Straße. Doch auf dem Weg zum Optiker sah ich rechts
von mir, wie ein ersehnter Rastplatz, die ersten Bäume des
Waldfriedhofs, der dem umliegenden Viertel seinen Namen
leiht.
Urplötzlich verspürte ich, ohne dass ich eine plausible Erklärung wusste, einen unausweichlichen Zwang diesen Ort,
den ich seit Jahren nicht mehr betreten hatte, sofort aufzusuchen. Lockten mich die zahlreichen Prominenten, die hier ihre
Ruhe gefunden hatten: von Stuck, Krone, Junkers, Kortner,
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Fritz Wunderlich, Michael Ende und fast alle bayerischen
­Ministerpräsidenten? Jeder Totenkult lag mir fern, aber in mir
stiegen Erinnerungen an zahlreiche Beerdigungen auf, die ich
gerade hier erlebt hatte, mit einem immer gleichen Herzklopfen, für das ich keine Erklärung fand.
Meine Gedanken wanderten zurück: Allzu gegenwärtig war
mir noch jener bitterkalte Januartag des Jahres 1984, an dem
der mächtige, alte Chirurg Zinkler in Gegenwart einer großen
Zahl seiner Schüler zu Grabe getragen wurde. In neuen, aber
zu engen Haferlschuhen fror ich von der ersten bis zur letzten
Minute dieser würdevollen Beisetzung, noch schlimmer aber
auf dem Rückweg, der sich ungewöhnlich dehnte. Ich verlief
mich in diesem Irrgarten, dem aus meiner Sicht hilfreiche gradlinig-geometrische Strukturen fehlen. Noch vor Ende der Kondolenz-Zeremonie war ich aufgebrochen, vielleicht auch um der
Schar der meist eitlen Günstlinge Zinklers auszuweichen, die
selbst noch dieses Ereignis nutzten, um sich wichtigtuerisch
und stets nach allen Seiten lächelnd zu präsentieren.
Der Alte hatte in alttestamentarischer Herrlichkeit über Karrieren entschieden; manchmal war es nur ein Zucken seiner
rechten Augenbraue, das sein Urteil widerspiegelte. Beteiligte
aber verstanden sofort und beugten sich seinem Willen.
Aber es gab noch einen weiteren Grund früher als üblich
aufzubrechen. An diesem Tag stand im Pathologischen I­ nstitut
eine Sitzung an, die ich keinesfalls versäumen durfte, so oft ich
auch von Universitätskarrieren in anderen Instituten oder
­Kliniken träumte. So beschleunigte ich meine Schritte, erreichte aber erst nach einem ermüdenden Umweg das große
Eingangsportal.
So intensiv es mich seinerzeit an meinen Arbeitsplatz zurückgezogen hatte, so mächtig war heute nun meine Sehnsucht,
diesen Ort wieder einmal aufzusuchen. Die neue Brille erschien
mir plötzlich unwichtig, das hatte Zeit bis zur nächsten Woche.
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So erreichte ich das Friedhofsportal, dessen beide Begrenzungen wuchtige Säulen darstellen, auf denen je eine Sphinx
thront, jeweils eine der anderen zugewandt. Kaum wollte ich
diesem Einlass zur Insel der Toten einen kurzen Blick schenken, scheuchte mich ein rasch einfahrender silbergrauer
­Leichenwagen von der Einfahrt zurück. Erst recht erschrak ich,
als gleich hinter ihm ein zweiter erschien. Ich erinnerte mich
an meine frühe Ausbildungszeit in Pathologie und Gerichtsmedizin. Damals nämlich standen sie, noch im bewährten
Schwarz, in großer Zahl im Hinterhof des Instituts, wo sich die
Gerüche einer benachbarten Essigfabrik mit denen der Sek­
tionssäle mischten.
Oft wurden Opfer von Massenunfällen oder Familientra­
gödien angeliefert oder abgeholt, deren Sterben und Tod am
nächsten Tag die Boulevardpresse vermarktete. So erschüttert
mich noch heute die Geschichte jener Kollegin, die nach dem
Unfalltod des Ehemannes in Depressionen verfiel und schließlich ihre beiden Töchter und dann sich selbst mit Narkotika
tötete. Immer noch sehe ich vor mir die sterblichen Überreste
der beiden Buben, die in Giesing auf den Schienen stehend
­einen vorbeirasenden Zug anstarrten, den Gegenzug auf dem
eigenen Gleis aber nicht bemerkten. Ein stark verschuldeter
Familienvater sah keinen Ausweg mehr und tötete seine sechsköpfige Familie mit einem Schlachtermesser, das er anschließend sich selbst in die Brust rammte.
Vor diesen Familientragödien verblassten die Einzelschicksale, sofern es sich nicht um Prominente wie die verunglückte
Frau eines bayerischen Ministerpräsidenten, den Selbstmord
der verlassenen Freundin eines bekannten Fernsehmoderators
oder die „Zweitsektion“ von Hitlers Stellvertreter handelte. Nicht
ohne Vergnügen las ich Jahre später das Buch unseres legendären Rechtsmediziners und Dauer-Dekans „Kalte Chirurgie“.
Wie er sah ich damals meine beruflichen Ambitionen im
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­ pannungsfeld zwischen Rechtsmedizin und Chirurgie, z­ wischen
S
kalter und messerscharfer Chirurgie.
Wie viele waren wohl seit der Eröffnung des Friedhofs im
Jahre 1907 über diesen Weg leblos transportiert oder manchmal, dachte ich, einfach entsorgt worden? Letzteres schon deshalb, weil die „Ruhefristen“ immer kürzer wurden. Der gut durchlüftete, lockere Boden des Waldfriedhofs erlaubte ein schnelles
Verwesen der Verstorbenen Das hatte mir erst kürzlich sein
neuer Direktor erklärt. Zehn Jahre Ruhezeit seien da schon
großzügig bemessen, wurde mir versichert.
Unweigerlich musste ich dabei auch an meinen Freund Franz
denken, der auf einem harmlosen Bergpfad an der Rotwand
gestürzt und zu Tode gekommen war. Leider erfuhr ich zu spät
von diesem Unglück und versäumte so seine Beisetzung. Ja,
jetzt wurde es mir klarer: Eben dieses Grab musste ich sogleich
besuchen, seiner gedenken, der auch meiner Frau Gertraud
schon in Studienzeiten nahegestanden war.
Vor dem rechten Pfosten des Portals verdeutlichte mir eine
angegraute Ansammlung von Schnee, der mit Splitt, Papierfetzen und Blättern des letzten Herbstes durchsetzt war, dass
die Wärme dieses Tages nur ein Vorbote des Frühlings war.
Noch war der unfreundliche Winter der Großstadt nicht überwunden.
Nach wenigen Schritten auf dem breiten Hauptweg des Friedhofs blickte ich wie geblendet zum strahlend blauen Himmel
hinauf. Das war der von mir so geliebte erste Föhnwind, der
nicht selten ein schmerzhaft grelles Licht verbreitet und den
Kopf mit eiserner Zwinge umfasst, um so einen dumpf dröhnenden, manchmal auch bohrenden Schmerz auszulösen.
Für mich war das gut erträglich, da der bevorstehende Frühling in mir eine wohltuende Hoffnung auf längere und wärmere Tage und damit auf mehr Lebensfreude weckte. Der Winter blieb für mich immer eine Zeit des Todes, der Frühling
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brachte mir Hoffnung auf neues Leben. Noch aber waren wir
nicht so weit: Zu sehr lag der ausklingende, lange Winter über
der noch weitgehend schlafenden Natur. Ein paar Föhntage
würden kaum ausreichen, das Eis auf meinen Laufwegen des
Kreuzlinger Forstes zu schmelzen. Zwar waren die wenigen
Schneeglöckchen, die ich in diesem Jahr schon gesehen hatte,
schon verwelkt oder gebrochen, aber sie standen auch an begünstigten, von der Sonne bevorzugt erwärmten Stellen.
In der Tiefe dieses Totenwaldes aber hielten sich herbstliche
Feuchtigkeit und winterliche Kälte bisweilen noch bis in den
späten Mai. Nicht einmal Gertrauds Onkel Pepperl besuchte
dann diesen Ort. Im Sommer aber konnte er halbe Tage hier
ausharren und sich mit seinen zweiundachtzig Jahren als ­Sieger
über die Verblichenen feiern. Onkel Pepperl nämlich ging dann
von Grab zu Grab, errechnete das Alter der Toten und glich
es mit dem eigenen ab. Nicht selten strahlte er dabei über das
ganze Gesicht und nickte zustimmend, empfand sich als Trium­
phator im Wettkampf ums Überleben. Vor Jahren hatte er mich,
noch während meiner Besuche in den Semesterferien, einige
Male mitgenommen und sprach dann offen mit mir über seine
Vorlieben und Obsessionen angesichts des massenhaft dargebotenen Todes. Wir standen uns sehr nahe, sonst hätte er sich
wahrscheinlich nicht in dieser Weise geöffnet.
Doch – entgegen allen Unterstellungen – war ich es wirklich nicht gewesen, der im Familienkreise über Onkel Pepperls
Friedhofsbesuche geplaudert hatte. Dennoch kamen sie auf und
provozierten so manche spöttische Bemerkung. Dies verletzte
mich sehr, denn Onkel Pepperl bedeutete mir viel, nicht nur
wegen seiner Liebe zum Totenreich. Nun dauerte es wohl
­Monate, bis der Onkel wieder Vertrauen zu mir aufbaute.
Diese Vorliebe für Friedhofsbesuche teilte in meiner ­Familie
niemand. Man war mehr dem Leben und seinen Festen zugewandt. Dies wurde mir schon in jungen Jahren bewusst, als ich
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noch in einer rheinischen Kleinstadt zu Hause war und dort
im Laufe der Jahre eine Vielzahl von Beerdigungen miterlebte.
Weder Mutter noch Großmutter wurde es zu viel, allen diesen
Einladungen nachzukommen. Selbst flüchtige Bekannte wollte
man mit zu Grabe tragen. Aber es ging dabei – das wurde mir
früh bewusst – weniger um das Aussegnungsritual und die
­eigentliche Bestattung als um die anschließende Leichenfeier.
Wie selbstverständlich wurde auch ich, etwa vom sechsten
­Lebensjahr an, in diese Festivitäten einbezogen. Als etwas anderes habe ich diese Beerdigungen nämlich nie empfunden.
10
2.
Erstes Erleben des Todes
So verstand ich das Sterben immer nur als einen Teil des ­Lebens,
wenn auch den Endteil, das Finale. Für mich war es deshalb
auch selbstverständlich, unseren Sohn Benno zur Beerdigung
seines Großvaters mitzunehmen. Das aber führte zu einem hefti­
gen Disput mit Gertraud. Zunächst nahm sie meine ­Entscheidung
scheinbar hin, einige Tage später aber folgten Vorhaltungen:
Der Sechsjährige sei durch das Verschwinden des Sarges in des
Grabes Tiefe psychisch belastet worden. Er schlafe derzeit
schlecht. Und dies sei natürlich meine Schuld, die des gefühllosen Vaters. Es dauerte Wochen, bis Gertraud von dem Thema
abließ. Benno erschien mir hingegen völlig unauffällig, ab­
gesehen von der Tatsache, dass er eines Tages unserem sanftmütigen Hund Julius ins rechte Ohr biss.
Nach dieser düsteren Erfahrung von Benno, die sich am
Wohnort des Großvaters im Rheinland abgespielt hatte, schilderte ich ihm häufig meine einprägsamen Erlebnisse in dieser
Region. Zu gerne erinnerte ich mich an meine Kindheit dort
und dabei besonders an die große Gaststätte meines Onkels
Hermann Ohnesorge in Kölns Innenstadt. Abend für Abend
stellte er den umschwärmten Mittelpunkt seiner illustren Gäste
dar. Dort sang ich schon als Achtjähriger mit Stammgästen
wie Werner Höfer oder Hennes Weisweiler Karnevalslieder,
und das nicht nur am Rosenmontag, wenn nämlich r­ egelmäßig
der Karnevalszug an unserm Hause vorbeizog. Wir konnten
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dann wählen, ob wir vom sechsten Stockwerk aus den b­ esseren
Überblick genießen oder aber im Erdgeschoss Bonbons und
Pralinen fangen wollten. Die Erwachsenen feierten in geschlossener Gesellschaft ganze Tage hindurch, ich selbst suchte mir
immer mal wieder eine ruhige Ecke zum kurzen Zwischenschlaf.
Aufgewacht erhielt ich neben alkoholfreien Getränken nicht
selten meine Lieblingsspeise, ein übergroßes Eisbein mit Sauerkraut und Kartoffelpüree. Die Erwachsenen aber sangen, während das Bier bis zum Aschermittwoch in Strömen floss. An
diesem Tag tauchte dann auch mein Großvater Friedrich ­wieder
auf, der meist zwischenzeitlich den Anschluss an seine Familie
verloren hatte. Das geschah zumindest alle zwei bis drei Jahre
in der Karnevalszeit.
Einige Jahre später – die Großeltern waren allesamt verstorben und das Studium hatte mich nach einer freudlosen Gymnasialzeit in einer Klosterschule des kargen Westerwaldes ins
Rheinland zurückgeführt – verbrachte ich in Onkel Hermanns
Gaststätte einen zunächst recht lustigen Abend. Plötzlich jedoch sprach der Onkel von seinem bevorstehenden Ende. Es
sei genug, er habe von diesem ganzen Leben die Nase voll, nun
sei wirklich bald Schluss. Aber man solle bei seiner Beerdigung
nur recht ausgelassen feiern, viel essen und trinken und keinen
noch so harten Witz auslassen.
So hatte ich den lebenslustigen, wohlbeleibten Onkel bisher
noch nie erlebt. Auch die Freunde am Stammtisch schüttelten
verständnislos den Kopf und schoben ihre Biergläser zur Tischmitte, gleichsam als wollten sie den Umtrunk beenden. Nein,
das durfte sein Ernst nicht sein, so könne er weder denken noch
handeln.
Das konnte doch nur eine Stimmungsschwankung sein. Oder
wollte er sich uns einmal ganz anders denn als Unterhalter präsentieren? War es vielleicht eine Altersdepression oder wollte
er uns nur erschrecken? Den Anwesenden glückte es jedoch
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schnell, ihn wieder auf andere Gedanken zu bringen: „Hermann, die nächste Runde! An deinem Achtzigsten laden wir
das ganze Freudenhaus hierhin ein. Dann lassen wir es hier so
richtig krachen!“
„Na, ob ich das wohl noch erlebe? Gut, aber was soll’s! Heute
trinke ich euch alle erst einmal unter den Tisch!“ Onkel Hermann lachte wieder so, wie wir ihn alle kannten. Bereits eine
Stunde später verließ ich die Runde, da eine Anatomie-­Prüfung
bevorstand und meine Wissensdefizite mir nicht verborgen geblieben waren. Onkel Hermann verabschiedete mich ausge­
lassen und prophezeite mir eine große Zukunft als „Damenschneider“. Verlegen lächelnd eilte ich nach Hause, um mein
lückenhaftes Anatomiewissen aufzubessern.
Etwa sechs Wochen später, an diesen letzten Abend in ­seiner
Gaststätte erinnerte ich mich nur noch unscharf, berichtete
mir meine Mutter von Onkel Hermanns Tod. Es hatten sich
wirtschaftliche Schwierigkeiten entwickelt, der Pachtvertrag
seines Lokals sollte nicht mehr verlängert werden. In dieser Situation hatte er sich erhängt. Im Wohnraum im sechsten Stock
über seiner Gaststätte, von dessen Balkon aus wir Jahr für Jahr
den Rosenmontagszug beobachtet hatten, hing er in seinen
letzten Minuten an einer robusten Deckenlampe. Aber, so
­betonte meine Mutter eindringlich, ich solle keinesfalls über
diesen Selbstmord sprechen, mit niemandem natürlich ... Dies
gab sie mir mit auf den Weg. Erst bei Onkel Hermanns Beerdigung erfuhr ich, dass sein Schwager Andreas Jahre zuvor in
Panik vor einer eingebildeten Krebserkrankung denselben, vermeintlich unausweichlichen Ausweg gewählt hatte.
Aber auch bei diesem, wie bei jedem früheren, Leichenschmaus sprach man nur kurz über den Tod und frühere Todes­
fälle. Sehr schnell fand man ins pralle rheinische Leben z­ urück,
schrie nach Bier und Braten, verriet, welcher brave Ehemann
aus dem näheren Biotop derzeit welche Nachbarin vögele, und
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sang bald darauf wieder die Lieblingshymne der Kegelbrüder:
„Nach der Tagesschau, nach der Tagesschau, geht es wieder auf
die Frau ...“
Wieder Jahre später, wie ich hatten mehrere jüngere Mitglieder der weiteren Familie der Sehnsucht nach dem Süden
nachgegeben und sich dort niedergelassen, empfand ich Beisetzungen im bayerischen Oberland ähnlich lebensfroh: ­Frisches,
kühles Weißbier, dampfende Knödel und saftiger Schweins­
braten ließen kaum länger andauernde Trauer zu. Gerade auf
dem Lande werden Leben und Sterben seit jeher als zusammengehörig gesehen und als Alltäglichkeit erlebt, obwohl der Kranke
auch hier immer häufiger zum Sterben ins Krankenhaus verbannt wird. Jedenfalls ließ man nach der Beisetzung sehr schnell
den verstorbenen Sepp oder Toni hochleben und prostete sich
permanent zu, bis schließlich eine bleierne Biermüdigkeit um
sich griff. So war ich bei einem Anlass dieser Art schließlich
hinter einer Gartenbank eingeschlafen, bevor mich Gertraud
übel gestimmt weckte und zum Aufbruch mahnte.
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3.
Letzte Ruhe im Waldfriedhof
Noch bei diesen Gedanken verweilend schreckte ich hoch, da
nicht weit von mir eine unangenehm helle, grell klingende
Glocke die Friedhofsruhe zerschnitt. Ja, das genau war jene
Glocke, die mir schon bei Zinklers Beisetzung so störend aufgefallen war. Selbst die wie immer konspirativ beieinanderstehenden Schüler fuhren damals zusammen und bemühten sich,
schnell die Aussegnungshalle zu erreichen.
Worüber mochten sie gesprochen haben? Wer von den e­ igenen
Schülern den nächsten vakanten Lehrstuhl erhalten solle oder
etwa über die derzeit besten Anlagemöglichkeiten für ihr Geld?
Wo sollte es hingebracht werden: in die Schweiz, nach Liechtenstein, San Marino oder Übersee?
Oder hatten sie etwa über ihre Freundinnen gesprochen,
über deren Vorlieben und Besonderheiten? Zutrauen konnte
man ihnen solche Gespräche auch unter den Arkaden der Aussegnungshalle.
Die Zinkler’sche Klinik erfolgreich zu durchlaufen, galt als
harte Männerschule. Ordinarius konnte nur werden, so lautete
jedenfalls das Gerücht, wer innerhalb der Klinikmauern mindestens ein uneheliches Kind gezeugt hatte. Entsprechend mühte
man sich.
Nun aber, nach dem Ruf der Glocke, versammelten sie sich
schnell vor dem Sarg des Verstorbenen, den ich noch unmittel­
bar nach seinem Tode in einem Ambulanzraum seiner alten
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Klinik aufgebahrt gesehen hatte. Er war nämlich nicht weit
von seiner alten Arbeitsstätte, mitten auf dem Sendlinger-­TorPlatz, tot zusammengebrochen. Die Notärztin versuchte vergeblich ihn zu reanimieren: Sie wusste nicht um seine Grund­
erkrankung, die eine erfolgreiche Wiederbelebung ausschloss.
Schwestern unserer Ambulanz hatten ihm den damals üblichen Kopfverband angelegt, der das Herunterfallen des Unterkiefers verhindert. So wirkte er auch im Tode würdevoll, ganz
so wie wir ihn gekannt hatten.
Orgelmusik – Reden hatte sich der Verstorbene verbeten –
begleitete die kurze Trauerfeier, bevor der Sarg auf einen Wagen gestellt und nach draußen auf den hart gefrorenen und mit
Schnee bedeckten Weg gezogen wurde. Nun sprach niemand
mehr, während unter den festen Winterschuhen der eisige Untergrund knirschte. Jeder schien in Gedanken fern vom eigentlichen Geschehen zu sein. Mir selbst ging es nicht anders; erst
als der lange Trauerzug anhielt, blickte ich mich um. Von früheren Besuchen her erkannte ich, dass wir uns in der Nähe der
Gräber zweier Literaten, denen ich mich lange schon ­verbunden
fühlte, befinden mussten.
In diesem Gräberfeld war 1920 auch Lena Christ beigesetzt
worden, die, nachdem sie wegen des Verkaufs eines gefälschten
Bildes vor Gericht geladen worden war, hier im Waldfriedhof
am 31.06.1920 – einem Tag, den es nie gegeben hatte – mit Gift
vor ihrem zukünftigen Grab, in dem schon der Stiefvater ruhte,
Selbstmord begangen hatte.
Nicht weit entfernt befand sich auch das Grab Frank Wede­
kinds, der 1918 an den Folgen einer Blinddarmoperation gestorben war. In früheren Jahren war ich immer wieder tief beeindruckt vor dieser Grabsäule gestanden, auf der ein Pegasus
siegreich über den Tod zu reiten schien.
Diesen Gedanken hing ich noch nach, als mir plötzlich klar
wurde: Ich hatte die Aussegnungshalle nun schon mindestens
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zweimal umrundet. Weshalb war ich nicht weiter in den Waldfriedhof hineingegangen? War ich in Trance? Ja, schoss es mir
plötzlich durch den Kopf, auch Baron von Schrenck-Notzing
war 1929 hier begraben worden, von dessen Hypnosesitzungen
auch Thomas Mann so tief beeindruckt war und die man in
erhaltenen Kurzfilmen sehen kann.
Die Bilder vom Januar 1984 ließen sich jedoch einfach nicht
aus meinem Gehirn verdrängen. Immer wieder sah ich die Karrieristen vor mir, die mein Freund Franz-Xaver Stutz zu vorgerückter Stunde als Olympioniken der Wissenschaft zu bezeichnen pflegte. Auch er glaubte lange, nur im ärztlichen Beruf
volle Erfüllung in medizinischen und wissenschaftlichen Belangen zu finden. Persönlicher Ehrgeiz sollte ebenso befriedigt
werden wie das Bedürfnis zu helfen und zu heilen. Nun diskutier­
ten wir oft die Frage, ob wir nicht unser Leben mit übergroßen
und falschen Zielen überlastet hätten. Waren nicht diese Fachkollegen klüger aufgestellt, die sich bedingungslos einem mächtigen Chef unterworfen hatten und ihm in Kadavergehorsam
gefolgt waren? Franz-Xaver sprach immer wieder von der Unmenschlichkeit der Fachidioten, die unsere Universitäten in
großer Zahl bevölkern. War es aber nicht doch vernünftiger
sich anzupassen und ganz nach jenem Bild zu leben, das die
namhaften Chefs vorgaben? Wie war das noch mit dem Eid des
Hippokrates? Mussten wir nicht unsere Lehrer verehren, von
ihnen lernen und ihrem Vorbild folgen?
Auch mich hatten die großen Entwicklungen der Wissenschaften, besonders der Chirurgie und Transplantationsme­
dizin, in der Zeit um 1967 begeistert.
Aber, da ich mich allmählich zwischen Klinik und Wissenschaft eingepfercht fühlte, begab ich mich seit Jahren z­ unehmend
auf Distanz zur gelebten Universitätsmedizin. Die offensicht­
liche Skrupellosigkeit gegenüber Patienten und Kollegen, verbun­
den mit einer grenzenlosen Geld- und Machtgier der leitenden
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Ärzte, nahmen mir die Ideale und Illusionen der frühen Assistentenjahre. War es bis vor wenigen Jahren noch ausschließlich Fachliteratur gewesen, so las ich inzwischen – sieht man
einmal von wenigen Ausnahmen ab – nur noch Belletristisches.
Ausgangspunkt meiner persönlichen Literatur-Exkursionen
war dabei Thomas Manns Novelle „Tonio Kröger“, die ich während der Pubertät mit Begeisterung gelesen hatte, da ich in ihr
die Einsamkeit und Verlassenheit erlebte, die auch ich in dieser Lebenssituation empfand. So sehe ich in mir einen Hans
Hansen, der aber anders lebt und reagiert, als sich der Dichter
diese Person vorstellte. Der pseudointellektuelle Tonio bleibt
mir dagegen völlig fremd. Mit den aufgezeigten Extremen kann
ich wenig anfangen. Existieren denn überhaupt solche Gegenpole und Vereinfachungen menschlicher Typen in einer Zeit
umfassender genetischer Vermischung in Europa? Von Globalisierung möchte ich gar nicht erst sprechen. Wo finden wir
wirklich diese einseitigen Charaktere, dazu noch geklont zu
­einem Äußeren, damit es dem Bild des Dichters entspricht?
Ist denn die Vereinfachung tatsächlich, wie oft behauptet
wird, ein Beweis für die literarische Größe des Werkes? Muss
der blauäugige Blonde heute noch beneidet werden, findet er
nicht eher Spott als Bewunderung, während Künstler und Wissenschaftler hoch angesehen sind, der Blonde aber eher dem
Umfeld ungesunder körperlicher Dressur und sportlicher Ex­
tremleistungen zugeordnet wird? Sollte dies vielleicht, wie Freund
Franz-Xaver es immer wieder betonte, nicht auch für die Medizin gelten?
So kamen mir die Prachtathleten der angewandten Medizin
in den Sinn, die ich in den letzten fünf Jahren, seitdem ich zunächst nebenberuflich für das Beratungsbüro meines Onkels
Franz-Josef Herrligkommer tätig war, kennenlernen konnte.
Auch diese „blonden“ Mediziner sah ich eher mit Distanz, konnte
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keine besonderen Sympathien für sie entwickeln, aber viel weniger noch Neid auf das von ihnen Erreichte.
Aus dieser Situation heraus wurde mir schnell deutlich, wie
schwer es ist, gewünschtem Erscheinungsbild und fachlicher
Kompetenz gerecht zu werden, beides miteinander zu ­verbinden.
Der Arzt, den wir als Headhunter für eine leitende Position
vorschlagen sollen, muss schließlich einiges bieten: fachliche,
wirtschaftliche und soziale Kompetenz, Einfühlungsvermögen,
Führungsqualitäten, aber auch ein ansprechendes und sympathisches Äußeres. Eine manchmal unlösbare Aufgabe, der man
nur durch Kompromisse gerecht werden kann.
Stand ich vor wenigen Jahren auf der Suche nach einer leitenden Stellung selbst noch vor Personalberatern, so bin ich
heute nicht mehr der Betroffene, finde mich aber in einer vergleichbaren Problematik wieder, nur auf der anderen Seite des
Tisches. Nicht immer ging es bei unserer Arbeit um derartige
Personalentscheidungen. Nicht selten galt es innerklinische
Organisationsformen zu durchleuchten und zu ändern, dann
wieder einzelne Klinik-Leistungen an externe Einrichtungen
zu übertragen. Wahrscheinlich wäre mir eine derartige Umstellung in Thematik und Arbeitsweise nicht gelungen, wenn
ich nicht in Onkel Franz-Josef, der im Freundeskreis mit der
ungewohnten Abkürzung Frajo angesprochen wurde, einen humorvollen und jederzeit hilfsbereiten Vorgesetzten gefunden
hätte, der aus jeder Lebenssituation ein positives Ergebnis zu
gestalten wusste.
So lernte auch ich bald meinen persönlichen Weg vom Universitätsassistenten zum Berater und Headhunter als logische
und sinnvolle persönliche Entwicklung zu erkennen und zu bejahen. Inzwischen fühle ich mich gefragt und genieße auch ein
wenig die Macht, die mir plötzlich zugefallen ist.
Und wieder läutete die schrille Glocke der Aussegnungshalle. Vor dem Eingang formierte sich ein Trauerzug, der aus
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nur drei Personen bestand. Der einfache, schmucklose Kiefern­
sarg war schnell auf ein Gefährt verladen, der dann von zwei
Totengräbern in großer Eile davongezogen wurde. Kein Blumenschmuck, die Trauergäste blickten wie peinlich berührt in
verschiedene Richtungen beziehungsweise auf den Boden. Eine
solche Situation erschüttert mich grundsätzlich mehr als der
Anblick eines Toten, den ich ja oft genug von Berufs wegen
erlebt hatte. Hier wird mangelnde Betroffenheit in demonstrativer Offenheit an den Tag gelegt.
Ganz anders war es bei der Beisetzung des Anfang der 1990er
Jahre verstorbenen früheren bayerischen Ministerpräsidenten
gewesen. Da dieser in meiner Nachbarschaft lebte, hatte ich
ihn in den letzten Jahren häufiger gesehen und gesprochen. Er
verkörperte für uns alle den gütigen Landesvater, den wir gern
noch länger als Ministerpräsidenten erlebt hätten. U
­ nvergessen
blieb mir die Anekdote, die man mit seinem Ausscheiden aus
dem höchsten Amt verband.
Sein Parteivorsitzender wollte ihn nach sechzehn Jahren als
Ministerpräsident beerben. Daraufhin antwortete er diesem:
„Mich kann nur ein Höherer abberufen!“ und zeigte zum Himmel hinauf. Daraufhin entgegnete der mächtige Parteivorsitzende: „Und ich bin der Höhere!“ So blieb er für mich weiter
der wirkliche Landesvater, bis zu seinem Tode, bis zu seiner Beisetzung, an der ich teilnehmen wollte, wenige Tage nachdem
er an einem Heiligabend im Kreise seiner Familie verstorben
war.
Bei dieser Beisetzung nun gab es keinen Zutritt zum I­ nneren
der Aussegnungshalle, in der sich Familie, politische Prominenz und geladene Gäste versammelt hatten. Für mich bestand
nicht einmal die Möglichkeit, auch nur in die Nähe dieses Gebäudes zu gelangen. Der Weg zum Grab schließlich war sehr
kurz, da sich das Ehrengrab der Stadt München am Hauptweg
nahe dem Eingang des Waldfriedhofs befindet. Der Sarg und
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die unmittelbar folgenden Personen, darunter natürlich auch
der amtierende Ministerpräsident, wurden durch Sicherheitsbeamte abgeschirmt.
Dieser Polizeischutz für einen Sarg erinnerte mich an eine
Erzählung Konstantins von Bayern, der die Beerdigung seiner
Großmutter kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs – es war
1946 – beschrieb. Aus Angst vor einer Entführung des Sarges
der Infantin durch spanische Monarchisten, die Monate zuvor
aus dem Konzentrationslager Dachau entlassen worden waren,
wurde Polizeischutz erforderlich. Nur führte dieser Trauerzug
nicht über einen Waldweg, sondern durch eine in Trümmern
liegende Münchner Innenstadt zur ebenfalls stark beschädigten Michaelskirche, wo der Zugang zur Fürstengruft erst durch
ein Räumkommando vom Schutt der eingestürzten Kirchendecke befreit werden musste.
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4.
Eine ungewöhnliche Begegnung
Diese Gedanken an Vergangenes wollte ich nun endlich abschütteln und verspürte dabei eine feste Entschlossenheit, von
dieser Aussegnungshalle weg tiefer in den Friedhof hineinzugehen. Wollte ich das Grab meines Freundes Franz auf kurzem
Wege erreichen, durfte ich mich jedoch nicht zu weit von der
Friedhofsmauer entfernen und musste dann deren Verlauf folgend mich nach etwa einhundert Metern nach links wenden.
Unterwegs könnte ich noch den kleinen Kuppelbau des Mausoleums der Zirkusfamilie Krone besuchen. Ein reizvolles Gebäude, in dessen Innerem ein Marmorelefant über die Ruhe
der Toten zu wachen scheint.
Um diese besondere Grabstelle aber zu erreichen, musste ich
den breiten Weg verlassen, der von der Aussegnungshalle nach
Westen und damit auch zum Grab des Freundes führt. Nicht
weit von der Friedhofsmauer kam ich so zum Grabfeld 12. Ich
atmete bewusst tief ein und aus, da mir schlagartig die Luft um
mich herum – allen physikalischen Gesetzen zum Trotz – gleichermaßen dünn wie ungewöhnlich warm erschien. Sekunden
später sah ich plötzlich zwischen mir und dem Mausoleum einen mittelgroßen Mann, bekleidet mit einem braunen, abgewetzten Ledermantel. Sein Gesicht war von mir abgewendet,
der Blick zu Boden gesenkt, während er mit seiner rechten Fußspitze einen Kreis in das Kieselsteinbett des Weges malte.
Als ich dem Fremden so nahe war, dass wir uns die Hände
hätten reichen können, drehte er sich schnell zu mir um und
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überraschte mich mit einem strahlenden Lächeln. Neben s­ einer
hohen Stirn fielen mir sogleich zwei parallel zueinander verlaufende Narben im linken Wangenbereich auf, die wohl aus
seiner Zeit bei einer schlagenden Verbindung herrührten.
In seinem offenen und hellen Gesicht leuchteten klare ­Augen,
deren Farbe ich zunächst nicht sicher ausmachen konnte. Seine
Lippen bewegten sich kaum, als er mich ansprach: „Ich sah Sie
schon von Ferne und hoffte, Sie würden Ihren Weg zu mir einschlagen und diesen Pfad hier beschreiten, der mir immer vertraut, lieb und gleichfalls in Schmerz verbunden bleiben wird ...“
Suchend streiften seine Augen über ein aufgelassenes Areal
zwischen Weg und Friedhofsmauer, das allenfalls Platz für drei
Gräber bieten würde.
„Wissen Sie, meine Sehkraft hat in den letzten Jahren deutlich nachgelassen. So verirre ich mich selbst dort, wo ich mich
ein Leben lang wie selbstverständlich bewegt habe. Ich sehe
ihn einfach nicht mehr ... finde ihn nicht mehr, diesen wunder­
schönen Grabstein mit den Mohnblumen.“
„Sie suchen ein Grab?“, fragte ich leiser und vorsichtiger, als
es sonst im Umgang mit Fremden für mich typisch war.
„Ja. Ja. Ein ganz besonderes ...“ Sein Gesicht hatte sich deutlich verändert. Der sinnliche Mund wandelte sich zu einem
schmalen Strich. Die buschigen Augenbrauen verfinsterten die
tief liegenden Augenhöhlen. Die beiden Schmisse der linken
Wangenregion schienen deutlicher hervorzutreten.
„Gerne helfe ich Ihnen bei der Suche, obwohl ich mich gerade hier nicht so sehr gut auskenne.“ Hilfsbereitschaft war mir
von meiner Mutter bereits seit jüngsten Kindertagen als wichtigste Tugend anerzogen worden. So wunderte es mich überhaupt nicht, dass plötzlich das Bild meiner Mutter vor mir stand
und ich ihre Stimme deutlich hörte: „Hans, hilf ihm nur. Ihm
geht es wie dir, auch er ist ein Suchender, hilf nur! Etwas b­ egann
sich in mir zu sträuben, denn ich hatte mich immer wieder
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g­ egen das gewehrt, was ich im Handeln der Mutter als HelferSyndrom empfunden und deshalb aus tiefer Seele abgelehnt
hatte.
Ich erschrak. Wie lange hatte ich nicht mehr an sie gedacht?
Und weshalb heute diese Erinnerung, diese Vision jener Frau,
die immer versucht hatte, Grundtugenden, wie sie es nannte,
in mir anzulegen? Die beruflichen Belastungen der letzten Wochen hatten mir keine Zeit gelassen, über derartig scheinbar
Fernes aus meiner Vergangenheit nachzudenken.
Mein Gegenüber schien ähnlich verwirrt, er erwiderte stockend: „Gerne, gerne, aber eigentlich müsste ich mich hier
selbst gut auskennen. Wie oft weilte ich schon hier, hier am
Grabe der Mutter und meiner jüngsten Schwester ...“
„Und Ihr Vater?“, entfuhr es mir gleichermaßen spontan wie
unsicher. Es war nie meine Art, so direkt ausforschend fremden Menschen zu begegnen. Weshalb dann jetzt diese Neugierde gegenüber einem Fremden, der mir zwar auf den ersten
Blick sympathisch, jedoch auch ungewöhnlich fern erschien?
Ja, fern, obwohl er vorgab, Konkretes in der Nähe zu suchen,
blickte er, nachdem er gesprochen hatte, regungslos in die Ferne,
ohne dabei etwas zu fixieren.
Ich versuchte, meine taktlose Frage zu überspielen und fragte:
„Wird Ihnen vielleicht schlecht? Sie sind in der letzten Minute
recht blass geworden. Kann ich Ihnen helfen? Vielleicht etwas
zu trinken besorgen?“
Tatsächlich erschien mir der Fremde von einer wächsernen
Blässe, die ich sonst nur von Leichen kannte. Wie oft hatten
sie scheinbar schlafend und entspannt auf unseren Sektionstischen gelegen, selbst wenn ihre letzte Stunde ihnen gewalttätig geschlagen hatte. Dieser Gedanke verwirrte mich noch mehr.
Ich wartete. Erst nachdem mehr als zwei Minuten vergangen waren und mein Gegenüber immer noch steinern in die
Ferne blickte, fixierte ich ihn mit zunehmender Dringlichkeit.
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Meine Augen fanden seinen Blick nicht. Dennoch schien
er allmählich in die Gegenwart zurückzukehren, reckte seinen
Hals weit aus dem Kragen seines Ledermantels, betrachtete
seine großen, aber dennoch feingliedrig wirkenden Hände und
schaute mich plötzlich belustigt und augenzwinkernd an: „Junger Mann, bedenken Sie nur, ich bin nicht mehr der Jüngste.
Erreichen Sie erst einmal mein Alter und bleiben Sie dabei
geistig klar und aktiv! Denken Sie nur, ich habe an zwei Weltkriegen teilgenommen, na gut ..., mehr oder weniger aktiv. Aber
ich habe jene Zeiten durchlebt, gehungert und organisiert ...
na, Sie wissen schon. Krankheiten haben meine Existenz und
die meiner Lieben gefährdet, Familientragödien kamen hinzu.
Und nun, nach zwei Weltkriegen, die ich erleben musste, frage
ich Sie, kann sich Deutschland noch einmal erholen?“
„Nach zwei Weltkriegen, die Sie erlebten ...?“, entfuhr es mir.
Ich stockte und sprach in meiner Verunsicherung ungewohnt
langsam: „Ich nehme an, während der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges könnten Sie schon gelebt haben, aber kann
man, ich denke mal, kann man als Kleinkind, kann man da
wirklich ...?“ Ich geriet nun sogar in ein törichtes Stottern. „...
kann man wirklich als Kleinkind dies alles erleben und verarbeiten? Außerdem, wenn ich Sie so betrachte, nicht einmal so
alt hätte ich Sie geschätzt, dass Sie Weltwirtschaftskrise und
Inflation hätten erleben können.“
„Wie alt bin ich denn?“, entgegnete mir der Fremde herausfor­
dernd. Tatsächlich traf er mich mit der unerwarteten und unan­
genehmen Frage. Leider war es mir gelungen, ­andere Menschen
in ihrem Alter zutreffend einzuordnen. So waren mir etwa bei
der Einschätzung des Alters von Patienten immer wieder peinliche Fehler unterlaufen. Fehlte mir Menschenkenntnis, beobachtete ich meine Mitmenschen zu ungenau? War dies eine
Kontaktstörung und vielleicht auch meine Triebfeder aus der
Inneren Medizin in Rechtsmedizin und Pathologie zu w
­ echseln?
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Doch bevor ich mich an einer Schätzung versuchen konnte,
sprach der Fremde schon weiter: „Sie brauchen kein Misstrauen
zu hegen, ich verstelle mich nicht ...“
Mich überlief ein kalter Schauer. Genau diese Frage hatte
ich mir zuvor selbst gestellt. Wie konnte der Fremde meine Gedanken erahnen? Sollte es wirklich etwas wie Telepathie ­geben?
„Machen Sie sich keine unnötigen Gedanken, ich würde
mich niemals über eine Fehleinschätzung Ihrerseits lustig machen. Ich glaube nur, dass Sie mich und meine Zeit a priori
nicht richtig einschätzen können. Was wissen Sie denn vom
Ersten Weltkrieg? Haben Sie vielleicht bei der Bayerischen Kavallerie gedient oder ich? Lange vor den Materialschlachten
hatte ich Ordnung und Drill wie selbstverständlich in mich
aufgesogen, nur Gott und dem Gewissen verantwortlich!“
Mir wurde es zunehmend unwohl. Unruhe beschlich mich,
da ich nicht so recht wusste, ob ich hier einem geistig Verwirrten oder aber einem Menschen gegenüberstand, der seinen Spaß
mit mir trieb. So versuchte ich, möglichst emotionslos mehr
über den Unbekannten zu erfahren: „Sind Sie so sicher die Zeit
des Ersten Weltkriegs genau zu kennen? Könnte es nicht so
sein, dass Sie sich nur zu intensiv mit der Geschichte dieser
Jahre beschäftigt haben und nun mehr in dieser Epoche als in
unserer leben? Aber, nun sagen Sie mir doch bitte, was Sie wirklich an diesem schönen Ort der Ruhe und Einsamkeit suchen.“
Der Blick des Fremden schweifte über die Gräber der n
­ ächsten
Umgebung, seine Augen wirkten unstet und flackernd, bevor
sie den kleinen Kuppelbau in etwa fünfzig Metern Entfernung
fixierten.
„Dies dort ist das Grabmal – vielleicht sollte man es auch
eher ein Mausoleum nennen – der Familie Krone. Sie kennen
doch diese Zirkusfamilie, nicht wahr?“
Der kleine, aber eindrucksvolle Rundbau hatte mich schon
vor Jahren fasziniert. Beim ersten Besuch glaubte ich vor einer
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schlichten Kapelle zu stehen. Doch der Name über dem Eingang, den man leicht übersehen konnte, da das Innere alle Aufmerksamkeit auf sich zog, verdeutlichte die Natur des ­Gebäudes:
eine Familiengruft. Im Innenraum überraschte den Unvoreingenommenen dieser liegende Elefant aus Marmor: Assam, Carl
Krones Lieblingselefant. Die Bronzetafeln an der mit erlesenem
Stein getäfelten Innenwand wurden erst dann erkennbar, wenn
sich die Augen an die Dunkelheit des Raumes gewöhnt hatten.
Auf ihnen waren die Porträts der prominenten Verstorbenen
scherenschnittartig abgebildet.
Aber darüber wollte ich eigentlich bei aller Begeisterung für
Mausoleen und interessante Grabmale mit dem Fremden nicht
sprechen: „Welches Grab suchen Sie aber nun wirklich? Wo
sind Ihre Mutter und Schwester beigesetzt worden? Liegen diese
Begräbnisse länger zurück, und ist das Grab deshalb vielleicht
aufgelassen worden? Sie sollten dort drüben“, dabei zeigte ich
in Richtung der benachbarten Aussegnungshalle, „dort ­drüben
sollten Sie die Friedhofsverwaltung aufsuchen. Dort gibt es Friedhofsbücher, die bis 1907, das war ja das Jahr der Einweihung
dieses Waldfriedhofs, zurückreichen. Jedes Grab ist registriert,
durchnummeriert, die Grabsteine sind sogar skizziert und w
­ erden
im Falle der Aufhebung quasi ausgetragen. Das hatte schon
unser Baumeister und Friedhofsplaner Hans Grässel veranlasst,
dessen Ehrengrab Sie gleich hinter dem Friedhofsportal links
finden werden.
Ja, alles perfekt organisiert wie am Jüngsten Tag: Keine Seele
wird vergessen!“
Die Mimik des Fremden signalisierte eine Mischung aus Verlegenheit und Resignation: „Unterstellen Sie mir wirklich, ich
sei nicht mehr in der Lage das Grab meiner Mutter zu finden?
Wie oft bin ich hier gewesen, wie oft sind wir alle hier an der
Friedhofsmauer gestanden. Allein die vielen Besuche ­unmittel­bar
nach der Beerdigung meiner Schwester, damals im ­Sommer
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1910, als wir uns erstmals hier versammelten. Alle schienen
wir vereint in diesem Schmerz, der meinen Bruder Tommy dazu
veranlasste, unser aller Existenz aus geschwisterlichem Solidaritätsgefühl heraus infrage zu stellen. Zu dieser Äußerung ließ
sich der sonst so rationale Bruder wenige Tage nach der Beisetzung hinreißen. Und das, nachdem er zuvor alles für den
letzten Weg der Schwester organisiert hatte. Hier, genau hier
ist er gestanden, nahe dieser Friedhofsmauer, die heute die
Grenze zu einem Jahrmarkt zu sein scheint: Hören Sie nur!
Bitte, seien Sie mal ganz leise!“
Ich hatte nichts gesagt und auch nichts Bemerkenswertes
vernommen. Während er den linken Zeigefinger fest auf seine
nun wieder wulstig vorquellenden Lippen presste, wies er mit
dem rechten zur benachbarten Durchgangsstraße: „Hören Sie
nur mal dieses eigentümliche Rauschen, näher kommend, immer lauter werdend, um dann, huiiii, rasch wieder zu verschwinden. Bevor Sie nahten, guter Mann, fiel es mir bereits auf. Und
ich grübelte über die Ursache. Derartiges erinnert mich an Karussells, die ich vor dem schrecklichsten aller Kriege gelegentlich zusammen mit den Kindern meines Bruders besuchte. Aber
wer denkt heute noch an solch’ vordergründige Vergnügen, da
unser Vaterland in Trümmern liegt und es nur noch darum
geht zu überleben. Was also soll dieser Lärm, was rauscht so
Unheil verheißend an uns vorbei?“
Hinter meinen Schläfen begann es zu klopfen. Mein viel zu
regelmäßiger Atem begann mich zu stören, so als hätte er ­etwas
mit dem Lärm der Straße gemeinsam, während mein Gegenüber fortfuhr, verständnislos den Kopf zu schütteln. Er maß mit
ausladenden Schritten die Abstände zwischen den Gräbern
dieser Reihe und einem imaginären Punkt aus.
„Es scheint wie 1937 zu sein. Auch damals hatte die Friedhofsverwaltung unseren Grabstein einfach abgeräumt, den Grabhügel zertreten und lediglich etwas Blumenerde ­zurückgelassen.
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