Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.
Den Haag, 6. September 2016
Semper reformanda - wie sieht Kirche im Jahr 2025 aus?
Impulse aus dem Reformationsjubiläum für die Kirche der Zukunft (30-40 Min)
Anrede
2017 jährt sich zum 500. Mal der sogenannte Thesenanschlag in Wittenberg. Können von so
einem Ereignis Impulse für die Zukunft ausgehen? Ich persönlich erwarte das! Wir werden
2017 nicht rückwärtsgewandt und historisierend ausgestalten, sondern weltoffen, international und ökumenisch. Vor allem von der Weltausstellung Reformation, die von Mai bis September 2017 in Wittenberg stattfindet, erhoffe ich mir Anregungen, wie wir Kirche im 21.
Jahrhundert gestalten können.
Offen gestanden habe ich mich gegen Ihr Thema aber anfangs ein wenig gesperrt. Die
Evangelische Kirche in Deutschland hat 2006 ein Impulspapier unter dem Titel „Kirche der
Freiheit“ veröffentlicht. Darin wurden Perspektiven für 2030 benannt, die Taufquote solle erhöht werden, Gemeindekirchen zugunsten von „Leuchtturmprojekten“ aufgegeben werden.
Konkrete Zahlen wurden benannt. Das Papier war nicht nur höchst umstritten, es ist insofern
auch belastend, als die hochgesteckten Ziele von „wachsen gegen den Trend“ 2030 ganz
offensichtlich nicht erreicht werden können.
Aber Sie haben Recht, es ist durchaus anregend, darüber nachzudenken, ob das Reformationsjubiläum im kommenden Jahr uns Impulse geben kann. Dazu will ich für unser Gespräch sieben Überlegungen einbringen.
1. Kirche wird von vielen gestaltet und zwar mitten in der Welt
Es gibt keinen „Kult um Luther“ mehr. Der Protestantismus und das Luthertum weltweit sind
souverän genug, die Schattenseiten ihres großen Vorbildes nicht auszublenden und vor allem, die Reformation nicht auf Luther und seine Person zu beschränken. Denn offensichtlich
ist: Die Reformation war eine Bewegung, die viele Jahrzehnte umfasste, beginnend schon
bei John Wyclif und Jan Hus bis hin zu Zwingli, Calvin und vielen anderen. 1517 ist ein SymProf. Dr. Dr. h.c. Margot Käßmann | Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017
Evangelische Kirche in Deutschland | Charlottenstraße 53–54 | D-10117 Berlin
Tel: +49 030 203 55 – 311 | Fax: +49 030 203 55 – 341 | [email protected] | www.ekd.de
2
boldatum. Und die Reformation wurde von vielen Menschen betrieben, Martin Luther ist die
Symbolfigur. Sehr schön zeigt das ein Altarbild des italienischen Künstlers Gabriele Mucchi,
das in der kleinen Kirche von Alt-Staaken am Rande Berlins zu sehen ist. In diesem Wandgemälde sind unter dem gekreuzigten Christus 12 historische Persönlichkeiten versammelt,
die im 16. Jahrhundert bei der Erneuerung der Kirche und des Weltbildes eine wichtige Rolle
gespielt haben: Nikolaus Kopernikus, Ulrich Zwingli, Johannes Calvin, Ignatius von Loyola,
Thomas Morus, Katharina von Bora, Martin Luther, Thomas Müntzer, Johannes Bugenhagen, Philipp Melanchthon, Lucas Cranach, Erasmus von Rotterdam. Das ist ein großartiges
Zeichen dafür, dass es um eine breite Bewegung ging, einen enormen Aufbruch. Anrührend
finde ich, dass sie alle versöhnt sind unter dem Kreuz auf diesem Bild und die Weite der Bewegung sichtbar wird.
Das hat seinen Grund in reformatorischer Theologie. Für Martin Luther wurde immer klarer:
Die Taufe ist das zentrale Ereignis und Sakrament. Hier sagt Gott einem Menschen Gnade,
Liebe, Zuwendung, Lebenssinn zu. Und alles Scheitern, alle Irrwege des Lebens können das
nicht rückgängig machen. Gehen wir zur Taufe zurück, brauchen wir keine Buße, kein Bußsakrament: Wir sind erlöst, wir sind längst Kinder Gottes. „Baptizatus sum“ – ich bin getauft.
In den schwersten Stunden seines Lebens hat Martin Luther sich das gesagt und daran Halt
gefunden.
Und: Jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, ist Priester, Bischof, Papst, hat Luther erklärt.
Von daher hat Luther auch den Respekt gegenüber Frauen entwickelt. Sie sind getauft und
damit stehen sie auf gleicher Stufe wie Männer. Das war in seiner Zeit eine ungeheuerliche
Position! Frauen galten als unrein, wenn sie nicht Jungfrau waren, Hexenwahn grassierte –
von dem sich Luther allerdings leider nicht entschieden distanzierte.
Zölibatäres Leben galt als vor Gott angesehener, gerader Weg zum Himmel. Viele Reformatoren gaben mit ihrem Schritt hin zur Ehe ein Beispiel dafür, dass auch Leben in einer Familie, mit Sexualität und Kindern von Gott gesegnetes Leben ist. Die öffentliche Heirat von bisher zölibatär lebenden Priestern, Mönchen und Nonnen, war ein theologisches Signal. Die
Theologin Ute Gause erklärt, dies sei eine Zeichenhandlung gewesen, die „etwas für die Reformation Elementares deutlich machen wollte: die Weltzuwendung und demonstrative Sinnlichkeit des neuen Glaubens.“1 Nun wird ja den Evangelischen eher unterstellt, dass sie weniger sinnlich seien als die römischen Katholiken oder die Orthodoxie. Die Reformatoren
aber wollten gerade deutlich machen: Weltliches Leben ist nicht weniger wert als priesterliches oder klösterliches. Es geht darum, im Glauben zu leben im Alltag der Welt.
Luther konnte dabei übrigens ungeheuer modern sein. Es geht darum, ob gestandene
Mannsbilder sich lächerlich machen, wenn sie Windeln waschen. Hören wir also mal kurz
original Martin Luther:
„Wenn ein Mann herginge und wüsche die Windeln oder täte sonst an Kindern ein verachtet
Werk, und jedermann spottete seiner und hielte ihn für einen Maulaffen und Frauenmann,
obwohl ers doch in …. Christliche[m] Glauben täte; Lieber, sage, wer spottet hier des ande-
1
Ute Gause, Antrittsvorlesung, unveröffentlichtes Manuskript, S. 2.
3
ren am feinsten? Gott lacht mit allen Engeln und Kreaturen, nicht, weil er die Windeln
wäscht, sondern weil ers im Glauben tut. Jener Spötter aber, die nur das Werk sehen und
den Glauben nicht sehen, spottet Gott mit aller Kreatur als der größten Narren auf Erden; ja
sie spotten nur ihrer selbst und sind des Teufels Maulaffen mit ihrer Klugheit.“2
Das heißt: Es kommt darauf an, dass ich mein Leben vor Gott und in Gottvertrauen lebe und
damit Rechenschaft gebe von der Hoffnung, die in mir ist. Beim Jubiläum 2017 ist deutlich:
Kennzeichen der evangelischen Kirche ist, dass aus theologischer Überzeugung Frauen
Pfarrerin sein können und auch Bischöfin, aber auch, dass unsere Kirche auf allen Ebenen
von Männern und Frauen, Ordinierten und Nicht Ordinierten, Jungen und Alten gestaltet und
geleitet wird. Solche Inklusion wird auch 2015 in einer immer stärker exkludierenden Welt ein
gewichtiges Zeichen sein!
2. In der säkularen Welt müssen wir Glaubensthemen übersetzen, Sprachkraft finden
2017 werden wir ein Reformationsjubiläum in einer Zeit der Säkularisierung feiern. Denken
wir allein an Eisleben, den Geburtsort Martin Luthers, an dem heute lediglich sieben Prozent
der Bevölkerung einer Kirche angehören. Hier in den Niederlanden wissen Sie auch ein Lied
davon zu singen! Die Säkularisierung macht es schwerer, zu erklären, was Glauben bedeutet. Ein immenser Glaubens- und auch Traditionsverlust ist zu verzeichnen.
Diese Herausforderung sollten die Kirchen der Reformation offensiv annehmen. Sie haben
sich ja aus dem geistlichen Leben und biblischem Nachdenken entwickelt. Die Übersetzung
der Bibel als Gesamtwerk in die deutsche Sprache, die Messe in der Sprache des Volkes,
Schriften in deutscher Sprache waren Luther ein zentrales Anliegen, damit Menschen selbst
von ihrem Glauben sprechen konnten. Dem „Volk aufs Maul schauen“ bedeutete dabei nicht,
ihm nach dem Mund zu reden, sondern die Bibel so zu übersetzen und so zu predigen, dass
die Menschen verstehen. Luthers Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache war nicht
die erste, das betonen Kritiker des Reformationsjubiläums gern. Aber es war eine, die die
Menschen mitgerissen hat, sie haben verstanden, wie Luther sagt, „dann man deutsch mit
ihnen redet“. Er hat dem Volk nicht nach dem Munde geredet, sondern begreift: „Man muß
die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum
fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen; da
verstehen sie es denn und merken, daß man deutsch mit ihnen redet.“3 Und darin ist Luther
genial. Deutsche Begriffe wie Freigeist, Lückenbüßer, Lockvogel, Feuerprobe sind alle aus
Luthers Feder. Bei der Revision der Lutherbibel für 2017 hat sich gezeigt, wie oft wir auf ihn
zurückgehen.
Das haben die Menschen begriffen. Die Bibelübersetzung wurde sofort zum Bestseller. Seine Übersetzung des Neuen Testamentes, die er auf der Wartburg innerhalb weniger Wochen
geleistet hatte, wurde schnell berühmt. „Innerhalb eines Jahres erlebte es ein rundes Dut-
2
3
EL WA 10, 296f. (Scharffenorth. S. 219)
Ebd. S. 150.
4
zend Nachdrucke, vom nahen Grimma bis ins ferne Basel. Bis zu Luthers Tod folgten nicht
weniger als zwanzig Neuauflagen…“4.
In säkularer Zeit ist es für die Kirchen wichtig, an die Sprachkraft als reformatorisches Erbe
anzuknüpfen, um Glauben zu vermitteln. Das beginnt schon bei der Bibel, die vielen in der
Tat ein Buch mit sieben Siegeln geworden ist. Es geht weiter mit der Theologie. 2017 feiern
wir Reformationsjubiläum in einer Leistungs- und Erfolgsgesellschaft. Luthers Frage nach
dem gnädigen Gott verstehen viele Menschen auf Anhieb heute nicht. Aber die Frage, ob ihr
Leben Sinn macht, treibt sie um. Was, wenn ich nicht mithalten kann, weil ich keinen Arbeitsplatz habe, nicht genug verdiene, nicht gut genug aussehe? Die Lebenszusage, die
Luther gefunden hat: Gott hat dir schon lange Sinn zugesagt, ganz gleich, was du leisten
kannst. Dies gilt es für unsere Zeit zu übersetzen.
Luther entdeckte, dass es nicht die menschliche Leistung ist, die vor Gott einen Anspruch
auf Heil erwirtschaftet. Vielmehr ist es Gottes Zuwendung aus Gnade. Was das bedeutet,
können wir noch heute mit der Redewendung „Gnade vor Recht“ verstehen. Ein Mensch, der
nach Recht und Gesetz zu verurteilen ist, darf doch auf Gnade oder auch Begnadigung hoffen. Das verstehen wir auch heute sehr wohl. Für Martin Luther war die entscheidende Erkenntnis, dass durch Jesus Christus diese Gnade allen, die an ihn glauben, zugänglich wird.
Gerade wenn der Mensch begreift, dass er selbst nicht in der Lage ist, ein vollkommenes
Leben nach den Geboten Gottes zu führen, kann er ganz auf Jesus Christus vertrauen. Das
bedeutet, auch da wo Recht und Gesetz verurteilen, was der Mensch tut, redet, denkt, verurteilt doch Gott nicht. Diese Erfahrung nennt Luther Rechtfertigung allein aus Glauben. Ein
solcher Mensch ist für ihn ein Gerechtfertigter. In der Konsequenz ist das eine Erfahrung der
Freiheit, der Befreiung aus der Angst. Aus dieser Freiheit heraus, wird der Mensch nun tun,
was er kann, um so zu leben, wie es Gottes Gebote vorgeben, wohl wissend, dass er daran
immer wieder scheitern kann.
In einer ökonomisch ausgerichteten Welt lässt sich die befreiende Erfahrung Luthers so beschreiben: Das Lebenskonto des Menschen ist vor Gott in den schwarzen Zahlen. Nichts,
was der Mensch tut, denkt, beabsichtigt, kann es in die roten Zahlen versetzen. Mit der Taufe befindet sich der Mensch als Kind Gottes in einem Segenskreis und kann gar nicht mehr
herausfallen. Die Antwort des Menschen auf diese befreiende Erfahrung ist der Glaube. Das
kann gerade in einer Zeit entscheidend sein, die, geprägt von einer Konsum- und Ablenkungskultur, oberflächlich zu werden scheint. Das Reformationsjubiläum 2017 wird die Herausforderungen der Leistungs- und Erfolgsgesellschaft mutig zu formulieren haben.
Nutzen können wir dazu die neuen Medien. Sicher, der Reformator Martin Luther hatte tiefe
biblische Einsichten und große theologische Gedanken. Aber ob die Reformation so erfolgreich gewesen wäre, wenn er nicht die Medien seiner Zeit genutzt hätte? Zum einen war der
Buchdruck verfügbar. Luthers Gedanken ließen sich schnell verbreiten. Und: Er schrieb auf
Deutsch und auch noch kurz! Von seinen wissenschaftlichen Kollegen wurde er dafür eher
belächelt: Was kann das wohl für ein guter Gedanke sein, der nicht lateinisch und in langen
Sätzen formuliert wird? Bis zu Luthers Zeiten fanden Diskussionen allenfalls in feinen abgeschirmten Zirkeln statt. Nun auf einmal kann „der kleine Mann“, ja sogar „die kleine Frau“
4
Heinz Schilling, Martin Luther, München 2012, S. 272.
5
mitdiskutieren! Martin Luther war ein Bestsellerautor. Von allem, was im 16. Jahrhundert auf
Deutsch veröffentlicht wurde, stammt ein Drittel aus der Feder Luthers. Er hatte ein „überragendes publizistisches Talent“ und: „Durch die Kraft seiner Sprache und die schöpferische
Phantasie seiner Bilder und Argumentation […] war Luther wie kein anderer geeignet, zum
‚Star‘ des ersten Medienzeitalters aufzusteigen“5, so Heinz Schilling.
Luthers Gedanken waren nicht mehr aus der Welt zu schaffen, schlicht, weil er sie schneller
verbreiten konnte, als die Zensur sich über ein Verbot einigte. Rund um den Reichstag zu
Worms gab es einen ersten Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen medialer Art. Während
noch von den päpstlichen Gelehrten darum gerungen wurde, eine detaillierte Stellungnahme
auszuarbeiten, wurde in Flugschriften von Lutheranhängern kolportiert wie es aus ihrer Sicht
war: Da stand der Held und hat nicht widerrufen. Das Bild vom wackeren Luther „Hier stehe
ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen“, es war sozusagen gesetzt.
Für mich ist das ein Beispiel dafür, dass wir die neuen Medien heute getrost nutzen dürfen.
Manche Karikatur von damals war gewiss nicht „politically correct“ in unserem Sinne heute.
Aber auch manche Äußerungen, zu denen sich Menschen in den sogenannten sozialen
Netzwerken hinreißen lassen, sind in keiner Weise sozial. Protestanten mögen ja den Streit
um die Wahrheit und das ist gut so. Niemals aber darf er die Würde einer Person herabsetzen – das gilt für damals wie für heute. Wir sollten bewusst und kritisch die neuen Medien
nutzen, um die gute Nachricht in der Welt zu verbreiten. Das sehe ich als aktuelle Herausforderung für unsere Kirche in Europa 2017 wie 2025.
3. Unsere Kirche bietet der mobilen Technologiegesellschaft Wurzeln und Halt
Mobilität und ständige Erreichbarkeit werden zunehmend zur Belastung. In einer solchen
Situation brauchen Menschen Wurzeln und Halt. Unser christlicher Glaube bietet das. Es ist
wichtig, dass Kinder und Jugendliche Zugang zu den alten biblischen Geschichten finden.
Da geht es um Glauben, aber auch um Beheimatung in der eigenen Kultur. Architektur, Literatur, Kunst in Deutschland sind ohne jede Bibelkenntnis gar nicht zu verstehen. Aber wir
erzählen nicht mehr. Da hat ein Kind nie etwas gehört von Josef etwa, der ein bisschen verwöhnt und hochnäsig war, der brutal verraten wurde, aber einen Weg fand im Leben, weil er
sich Gott anvertraute. Wie gut aber zu wissen, dass ich durchhalten kann, dass Versöhnung
möglich ist.
Die Erziehungswissenschaftlerin Sigrid Tschöpe-Scheffler führt die Unsicherheit vieler Eltern
in der Erziehung darauf zurück: “Sie managen, planen, kontrollieren – und erleben trotzdem,
dass es keinen Anspruch auf Glück und Gelingen gibt. Ein (anderer) Grund dafür ist wahrscheinlich der, dass wir heutzutage zu wenig gute Erzählungen von gelungenem Leben in
uns tragen, wie sie zum Beispiel die Bibel oder Märchen vermitteln: In jeder dieser Geschichten gibt es Krisen, die bewältigt werden müssen, am Ende gehen sie aber gut aus. Vielen
Eltern fehlt das Grundvertrauen ins Leben, das in diesen Erzählungen zum Ausdruck
kommt.“6 Es ist ein Verlust an Gemeinschaft, Tradition und Kultur, dass der gemeinsame
5
6
Heinz Schilling, Martin Luther, München 2012, S. 620.
Zeitschrift Brigitte, Dossier 07/2006.
6
Erzählfaden abgerissen ist. Wir müssen Geschichten, gerade auch die biblischen Geschichten weitererzählen.
Kinder und Jugendliche haben tiefe und religiöse Fragen. Ich finde, es ist ein Armutszeugnis,
wenn sie abgebügelt werden mit einem lapidaren „Weiß nicht!“. Viele Eltern meinen offenbar,
sie selbst hätten zu wenig Antworten, seien nicht kenntnisreich genug in Sachen Glauben.
Und deshalb delegieren sie die religiöse Erziehung an die Kindertagesstätte oder die Schule
oder sagen schlicht: „Mein Kind soll selbst mal entscheiden, welche Religion es haben will,
ich habe damit nichts zu tun.“ Aber ein Kind muss doch erst eine Religion kennenlernen, um
sich dann eines Tages dafür oder dagegen entscheiden zu können. Es einfach ohne Antwort
zu lassen, die Erziehung in Sachen Religion zu delegieren, ist inakzeptabel, finde ich.
Mit einem Kind und Jugendlichen diesen Gesprächsfaden der existentiellen Fragen aufzunehmen, das ist eine wunderbare Erfahrung, für alle, die erziehen. Denn so eine Frage nach
Leben und Tod, nach Gott und der Welt, die lässt sich ja nicht mal eben schnell beantworten.
Sie ist der Beginn eines gemeinsamen Nachdenkens, eines Weges von Fragen und Zweifeln, von Suchen und Finden. Und manchmal lassen sich dabei wohl auch die alten Geschichten neu entdecken, miteinander lesen. Was das bedeutet, können wir kaum unterschätzen. Kinder stellen ja unsere eigenen Fragen. Nur trauen wir uns nicht, sie derart direkt
zu stellen. Deshalb sind die Fragen der Kinder und Jugendlichen immer auch Fragen an uns
selbst: Was glauben wir? Wo stehen wir? Sie sind eine Chance, die existentiellen Fragen
nicht auszublenden, sondern offen anzunehmen, nicht vor ihnen wegzulaufen, sondern sich
Zeit dafür zu nehmen.
Dazu gehört für mich auch das Beten. Wie wichtig ist es, in Angst und schweren Zeiten ein
Gebet zu kennen. Das habe ich in der Seelsorge immer wieder erlebt. Es ist auch Armut,
nicht beten zu können. In dem alten Schwarz-Weiß-Film „Das doppelte Lottchen“ stehen die
beiden Mädchen vor der verschlossenen Tür, hinter der die Eltern beraten. Die eine sagt:
„Jetzt müssten wir beten“. Die andere sagt: „Komm Herr Jesus und sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast!“ Unpassend, ja. Aber immerhin, sie kannte noch ein Gebet,
das ihrer Angst Worte und Form geben konnte. Ich denke, Beten lehren, eröffnet neue Horizonte.
Neben den Geschichten des Glaubens und dem Beten sind es für mich die Rituale, in die
Kinder hineinwachsen sollten. Für Kinder haben Rituale eine große Bedeutung, ja sie lieben
Rituale, und Rituale prägen sie und ihre Erinnerung an die Kindheit auch als Jugendliche. Da
können Eltern so viel gestalten! Bei meinen eigenen vier Kindern habe ich erlebt, wie wichtig
die zuverlässige Wiederholung des Erlebten, das konsequente Aufgreifen des Rituals für sie
war.
Auch was Sterben und Tod betrifft, sind Rituale wichtig. Unsere Gesellschaften verdrängen
den Tod geradezu panisch. Alle wollen alt werden, aber niemand will alt aussehen. Alle haben Angst vor Krankheit und Tod, aber niemand spricht darüber. Deshalb fühlen sich viele
Alte, Kranke und Sterbende auch so einsam und abgedrängt. Wir als Erwachsene müssen
uns mit dem Tod auseinandersetzen und sollten Kindern eine Gelegenheit geben, es ebenfalls zu tun. Das gilt auch für Jugendliche, von denen viele sich intensiv mit der Todesfrage
7
auseinandersetzen bis hin zu Suizidgedanken. Rituale helfen uns, der Trauer Formen zu
geben, sie zu bewältigen.
Schließlich gehört das Singen zur christlichen Existenz. Mit einem Lied jubeln oder in Verzagtheit singen „Wer nur den lieben Gott lässt walten...“ das tut der Seele gut. Lieder können
in uns klingen, wenn wir nicht mehr sprechen können. Vor einiger Zeit titelte der Spiegel
„Das Jaulen der Trauerklöße. Die Deutschen verlernen das Singen.“ Wie wahr, können wir in
diesen Lamentogesang nur einstimmen. Ich erinnere mich gut, dass meine jüngste Tochter
mich beim Abiturgottesdienst ihrer Schwestern vor Jahren anraunzte: „Sing doch nicht so
laut, das ist ja peinlich.“ Dann wurde klar: Ich war fast die Einzige, die sang, außer dem Pastor... Singen aber ist Teil von Bildung! Das Singen neu lernen sollte ein Anliegen sein, weil,
wie der Musikwissenschaftler und Gesangspädagoge Karl Adamek das formuliert hat, „die
Seelen verstummen“, wenn das Singen bedroht ist. Menschen, die singen, sind nachgewiesenermaßen psychisch und physisch gesünder. So kann ich dem Verband Evangelischer
Kirchenchöre nur zustimmen, der erklärt: „Eine Antwort auf Pisa: Singen“.
Schließlich die Vorbilder. Kinder und Jugendliche suchen Orientierung an Erwachsenen. Sie
wollen wissen, was Erwachsene glauben, wo sie Halt finden, um für sich selbst einen Weg
zu finden in Identifikation oder auch Abgrenzung. Dabei müssen die Vorbilder nicht ohne
Risse sein! Doch auch heute suchen Kinder und Jugendliche erwachsene Menschen, an
denen sie sich orientieren können durch Identifikation oder Abgrenzung. Und es ist Teil reformatorischen Denkens, dass wir mit Kindern ins Gespräch kommen, sie ernst nehmen als
Individuum, als Subjekt und nicht nur als Objekt unserer Erziehung.
Auch 2025 brauchen Kinder Halt in Tradition, Geschichten, Gebeten, Ritualen und Vorbildern. Mehr als jede Generation zuvor wird die jetzt heranwachsende vor enorme ethische
Entscheidungen gestellt sein. Das Individuum muss Stellung beziehen, wo alte Wertvorstellungen ihre Selbstverständlichkeit verloren haben. Ich denke an Fragen der Gentechnologie,
der Fortpflanzungsmedizin, der Sterbehilfe, der Energiegewinnung. Deshalb brauchen Kinder klare eigene Wertvorstellungen, die ihnen helfen, eine klare Grundhaltung zu finden,
nicht auf sich selbst fixiert zu bleiben, sondern standhaft Position zu beziehen. Wie sang Bettina Wegner: „Menschen ohne Rückgrat haben wir schon genug…“.
4. Bildung bleibt zentrales Thema
Luther ging es in der Wahrnehmung der „Freiheit eines Christenmenschen“ darum, dass jede
Frau und jeder Mann eigenständig den Glauben an den dreieinigen Gott bekennen kann und
verstehend das Bekenntnis zu Jesus Christus bejaht. Die Voraussetzung für einen mündigen
Glauben war für Luther, dass jede und jeder selbst die Bibel lesen konnte und so gebildet
war, dass er den Kleinen Katechismus, das Bekenntnis für den alltäglichen Gebrauch, nicht
nur auswendig kannte, sondern auch weitergeben konnte und damit sprachfähig im Glauben
war. Grundlage dafür war eine Bildung für alle und nicht nur für wenige, die es sich leisten
konnten oder durch den Eintritt in einen Orden die Chance zur Bildung erhielten. Bildungsgerechtigkeit und Bildungsteilhabe. Glaube war für Luther gebildeter Glaube, also ein Glaube
nicht aus Konvention und nicht aus spiritueller Erfahrung allein, sondern durch die Bejahung
der befreienden Botschaft des Evangeliums. Der einzelne Christ muss sich vor Gott verant-
8
worten und ist als Einzelner von Gott geliebt. Die Kirche ist die Gemeinschaft der Getauften,
aber nicht mehr die Heilsmittlerin für den Einzelnen. Glaube als gebildeter und eigenverantwortlicher Glaube ist ein wesentlicher theologischer Beweggrund dafür, dass Luther sich vehement für eine öffentliche Bildung einsetzte, damit alle Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit zur Bildung erhielten. Luther verdanken wir in Deutschland die Volksschulen als
„Schulen für alle“ – es ist interessant, aber von seinem theologischen Ansatz her nur konsequent, dass er sich selbstverständlich auch für die Bildung von Mädchen einsetzte.
Der Schwerpunkt Bildung gilt für alle Reformatoren: Melanchthon war Lehrer aus Leidenschaft, ja, wird auch aufgrund seiner Bemühungen um eine Universitätsreform als „Lehrer
der Deutschen“ bezeichnet. Martin Bucer wird von Lutheranern wie von Reformierten als
Kirchenlehrer angesehen. Ulrich Zwingli lernte Griechisch, um das Neue Testament im von
Erasmus von Rotterdam editierten Urtext lesen zu können. Er selbst besaß die für damals
sehr große Zahl von 100 Büchern und gründete in seiner Glarner Pfarrei 1510 eine Lateinschule. Und dann das Genfer Kolleg, von Johannes Calvin gegründet, das die reformierte
Bildungsbewegung in viele Regionen Europas brachte!
Das war und bleibt reformatorisches Anliegen: Denken, Reflektieren, Nachdenken, Verstehen können, Fragen dürfen. Doch stattdessen wird der Religion bis heute oft die Haltung
unterstellt: Nicht fragen, schlicht glauben! Fundamentalismus – ob jüdischer, christlicher,
islamischer oder hinduistischer Prägung – mag Bildung und Aufklärung nicht. Jedweder
Ausprägung von Fundamentalismus stellt sich eine Kernbotschaft der Reformation entgegen:
Selbst denken! Frei bist du schon durch die Lebenszusage Gottes. Im Gewissen bist du niemandem untertan und unabhängig von Dogmatik, religiösen Vorgaben, Glaubensinstanzen.
Vielleicht ist einer der wichtigsten Beiträge der Reformation, dass es ihr um gebildeten Glauben geht, einen Glauben, der verstehen will, nachfragen darf, auch was das Buch des christlichen Glaubens betrifft, die Bibel. Es geht nicht um Glauben allein aus Gehorsam, aus Konvention oder aus spirituellem Erleben, sondern es geht um das persönliche Ringen um einen
eigenen Glauben. Gebildeter Glaube, der fragt, denkt, liest, ist die beste Antwort auf Fundamentalismus, der sagt: Glaub so oder stirb!
Heute können wir sagen, dass Bibellesen auf dieser Grundlage auch bedeutet, die Entstehung der biblischen Bücher wahrzunehmen, historisch-kritische Exegese zu betreiben. Gegenüber dem Fundamentalismus gehört dazu manches Mal Mut, auch noch 2025, fürchte
ich!
5. Kirche wird ökumenisch geprägt und dialogfähig mit anderen Kulturen sein
Wir haben im 20. Jahrhundert gelernt, Spaltung zu überwinden. Die Leuenberger Konkordie
von 1973 ist ein starkes Signal, dass und auch wie trotz aller Differenzen Reformierte, Lutheraner und Unierte sich gegenseitig als Kirchen anerkennen, die Ämter anerkennen und
miteinander Abendmahl feiern. Es geht um ein gelebtes Modell, Spaltung zu überwinden.
Das Verschiedene muss nicht trennend sein.
Und mit Blick auf die als Täufer und Schwärmer Verfolgten der Reformationszeit hat es 2010
einen Bußakt und eine Bitte um Versöhnung durch den Lutherischen Weltbund gegenüber
9
den Mennoniten als ihren geistlichen Erben gegeben. Wir brauchen solche gelebten Modelle
zur Überwindung von Spaltung!
Kürzlich hat mir allerdings Erzbischof Gänswein in einem Gespräch in Passau erwidert: „Wir
sind doch nicht Schuld an der Kirchenspaltung, das ist die Reformation!“ Der bereits genannte Historiker Heinz Schilling beschreibt deutlich, dass es „die neuzeitlichen Kräfte der Partikularität“7 sind, die das 16. Jahrhundert bestimmen und eine Universalität von Kirche oder
Reich am Ende dieses Jahrhunderts nicht mehr denkbar war. Das aber deutet Schilling nicht
als Niedergang. Ganz im Gegenteil: „Erst das Ende des Universalismus ermöglichte die kulturelle und politische Differenzierung Europas und die neuzeitliche Freiheitsgeschichte, langfristig dann auch den weltanschaulichen Pluralismus, ohne den moderne Gesellschaften
nicht denkbar sind.“8 Insofern können wir sagen, es geht nicht um Kirchenspaltung, sondern
um eine notwendige Erneuerung von Kirche und Staat, ja am Ende von Kirchen und Staat.
Auch von Gegenreformation sprechen wir ja heute nicht mehr. Schilling kommt mit Blick auf
unsere Zeit heute zu dem Schluss: „Die Erfolge, die heute die Päpste mit ihrer Inszenierung
der Religion nicht zuletzt unter der Jugend feiern, sind zugleich die Erfolge Luthers, der im
Moment drohender Verflachung die existentielle Kraft der Religion wiederbelebte. So könnte
sich auch die katholische Kirche eingeladen fühlen, 2017 zusammen mit den Lutheranern die
Reformation wo nicht zu feiern, so doch zu würdigen.“9
Die römisch-katholische Kirche heute ist nicht dieselbe, mit der der Luther und die anderen
Reformatoren im 16. Jahrhundert in einen so tiefen Konflikt gerieten. Schon das Konzil zu
Trient etwa verabschiedete sich von einem Ablass gegen Zahlung von Geld und das Zweite
Vatikanische Konzil im letzten Jahrhundert führte die Messe in der Volkssprache ein. Natürlich, viele der reformatorischen Anfragen etwa an Papsttum, Heiligenverehrung und Amtsverständnis bleiben bestehen. Ein rein abgrenzendes Reformationsjubiläum wäre daher nicht
sinnvoll.
Weihbischof Jaschke aus Hamburg hat erklärt, Luthers 95 Thesen würden heute auch von
römisch-katholischer Seite akzeptiert, und gesagt, er teile Luthers Kritik am damaligen Ablasshandel.10 Und 1999 wurde in Augsburg die Gemeinsame Erklärung der römischkatholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes zur Rechtfertigung unterzeichnet. Es
wurde festgehalten: So wie die beiden Kirchen ihre Lehre heute formulieren, werden sie von
den Verwerfungen des 16. Jahrhunderts nicht getroffen. Die Unterzeichnung der Gemeinsamen Offiziellen Feststellung zur Gemeinsamen Erklärung in Augsburg am 31. Oktober war
ein feierliches Ereignis. Es bedeutet nicht – und das war allen Beteiligten klar –, dass nunmehr die Lehrbegriffe der unterschiedlichen Traditionen auf einem gleichen Verständnis beruhen. Aber die Unterzeichnung wurde begrüßt als ein Schritt auf einem notwendigen Weg
der Annäherung. Ein Durchbruch schien nahe nach dem Motto: Diese Erklärung wird die
Unterschiede nicht beseitigen, hoffentlich aber zur Möglichkeit führen, einander gastweise
zum Abendmahl einzuladen. Dass es gelungen ist, zumindest gemeinsame Formulierungen
7
Heinz Schilling, Martin Luther, München 2012, S. 612.
Ebd. S. 615.
9
Ebd. S. 624.
10 Vgl.: Weihbischof kritisiert Ablasshandel zu Luthers Zeiten – Jaschke: Katholiken akzeptieren Luthers Thesen,
in: epd Zentralausgabe 212/31.10.2008, S.11f.
8
10
zu finden zu einer theologischen Frage, an der einst die Einheit zerbrochen ist, dafür können
wir dankbar sein.
Gewiss, die Glaubenskongregation der römisch-katholischen Kirche hat im Jahr 2000 mit der
Erklärung „Dominus Iesus“ erklärt, sie sehe sich weiterhin, trotz aller ökumenischen Fortschritte, allein als die eine wahre Kirche Jesu Christi an. „Die kirchlichen Gemeinschaften
hingegen, die den gültigen Episkopat und die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des
eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, sind nicht Kirchen im eigentlichen Sinn; die
in diesen Gemeinschaften Getauften sind aber durch die Taufe Christus eingegliedert und
stehen deshalb in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit der
Kirche.“ Dennoch sind die ökumenischen Entwicklungen vor Ort und auch in den Kirchenleitungen unübersehbar, denken wir etwa an die Charta Oecumenica, die von den europäischen Kirchen 2001 beschlossen wurde oder auch die Ökumenischen Kirchentage in Berlin
2003 und in München 2010, die ökumenisch gestaltet wurden.
Der Magdeburger Bischof Dr. Gerhard Feige, Vorsitzender der Ökumenekommission der
Deutschen Bischofskonferenz, hat im Kirchenmagazin mit Blick auf 2017 geschrieben: „Insgesamt wäre es entgegen sonst oftmals üblicher Selbstbespiegelungs- oder Profilierungstendenzen für katholische und evangelische Christen auf allen Ebenen sicher entkrampfend,
sich gegenseitig noch mehr im Lichte Jesu Christi zu betrachten und neidlos ins Wort zu fassen, was man aneinander schätzt und vielleicht sogar bewundert, worin man spezielle Begabungen erkennt und den Geist Gottes eindrucksvoll am Wirken sieht. Dabei würde bestimmt
auch auffallen, was an der evangelischen Kirche katholisch und an der katholischen Kirche
evangelisch ist, was man bewahrt, im Gegen- und Miteinander seit der Reformation wiederentdeckt oder von der anderen als Bereicherung empfangen hat.“11 Das klingt hoffnungsvoll
nach vorn gerichtet.
Um solche gegenseitige Bereicherung oder auch die kreative Kraft der konfessionellen Differenz erfahrbar zu machen, braucht es für 2017 Zeichen und Symbole. Der derzeitige Papst
ist genial darin, sie zu finden. Wie wäre es mit gemeinsamen ökumenischen Pilgerwegen?
Pilgern ist nicht rückwärts orientiert, sondern nach vorn gerichtet! So wird der Rat der EKD
mit der Deutschen Bischofskonferenz im Oktober 2016 nach Israel pilgern, zu den Quellen
sozusagen, zu Jesus Christus als dem Ursprung unseres gemeinsamen Glaubens. Und in
einem Briefwechsel zwischen dem Vorsitzenden des Rates der EKD, Bischof BedfordStrohm, und dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Marx, ist ebenso
festgehalten, dass am Vorabend des 2. Fastensonntages 2017 (Reminiszere) in Hildesheim
ein ökumenischer Versöhnungsgottesdienst stattfinden soll, der Elemente der Buße und der
Bitte um Vergebung enthält. Er kann in ökumenischen Gottesdiensten der Gemeinden
„nachgefeiert“ werden. Zudem beteiligt sich die römisch-katholische Kirche am Europäischen
Stationenweg und an der Weltausstellung Reformation in Wittenberg.
So besteht die Chance, dem Reformationsjubiläum 2017 eine deutlich ökumenische Dimension zu geben. Denn das ist doch glasklar: Bei aller Differenz und dem je eigenen Profil verbindet uns mehr als uns trennt. Gerade in einem immer säkularer werdenden Umfeld und
angesichts der Herausforderungen durch den notwendigen Dialog der Religionen erweist
11
Dr. Gerhard Feige, Ökumenische Bereicherung, in: Der Kirchentag. Das Magazin, 01/2014, S. 16f. S. 16.
11
sich dieser Satz als relevant. Das wird sich auch 2025 als entscheidend erweisen: Gemeinsam zu handeln. Ecclesia reformata semper reformanda – die Kirche der Reformation muss
sich beständig erneuern. 2025 können wir eine gewichtige Rolle spielen, weil Kirchen keine
nationalen Grenzen kennen und daher in der Lage sind, zwischen Kulturen und Nationen
Brücken zu bauen.
6. Es wird eine klare politische Position der Kirche geben
2017 wird das erste Reformationsjubiläum sein, bei dem es in Deutschland, ja, in den meisten Staaten der Welt eine klare Trennung von Kirche und Staat gibt und ein klares Bekenntnis zu Demokratie, Verfassung und Menschenrechten.
Luthers Freiheitsbegriff hat in der Weiterentwicklung zu mancher Freiheit heute geführt. Wir
sagen heute: Es ist gut, dass Staat und Religion getrennt sind – für beide Seiten! Eine Art
„Gottesstaat“ oder auch „Diktat der Religion“ fördert die Freiheit nicht. Gott sei Dank leben
wir in einer freien Gesellschaft, in der Menschen Mitglied einer Religionsgemeinschaft sein
können oder nicht. Das entspricht der „Freiheit eines Christenmenschen“.
Das hat auch politische Konsequenzen. Nach der Erfahrung des Versagens der Kirche und
auch ihrer Verführbarkeit in der Zeit des Nationalsozialismus wurde gelernt, dass Kirche zum
freien Wort greifen muss, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Das sind auch
Erfahrungen der Kirche in der DDR und Erfahrungen in aller Welt: in Südafrika, in Argentinien, im Iran etwa. Kirche muss widerständig sein wenn es um Menschenrechte, um Frieden,
um Gerechtigkeit geht.
Das Reformationsjubiläum 2017 muss auch die politische Dimension des reformatorischen
Freiheitsbegriffes aufzeigen, da wünsche ich mir Mut. Auch 2025 werden Fragen von Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung auf der Tagesordnung stehen. Und es
braucht christlichen Widerstandsgeist gegen Kapitalismus, Militarismus und Nationalismus!
7. Dialog mit anderen Religionen ist entscheidende Dimension kirchlicher Existenz
2017 ist das erste Gedenkjubiläum des Thesenanschlags nach dem Holocaust. Das Versagen der Christen gegenüber den Juden in der Zeit des Nationalsozialismus hat eine Lerngeschichte eingeleitet. Leider ist auch Martin Luther ein abschreckendes Beispiel christlicher
Judenfeindschaft. Dabei finden sich in seiner 1523 veröffentlichten Schrift „Dass Jesus
Christus ein geborener Jude sei“ für die damalige Zeit bemerkenswerte Ansichten: Stereotype Vorwürfe gegen die Juden, darunter den des Wucherzinses, weist der Reformator entschieden zurück. Dies seien alles „Lügendinge“. Es sei vielmehr das lieblose Verhalten der
Christen gewesen, das die Juden bisher davon abgehalten habe, sich zu bekehren, wofür
Luther durchaus Verständnis hat: „Wir haben sie behandelt, als wären es Hunde“, schreibt er
und unterstreicht, auch er wäre an ihrer Stelle „eher eine Sau denn ein Christ geworden“.
Durch diese Schrift Luthers entstand in jüdischen Kreisen die Hoffnung, es könne zu einem
Neuanfang im Verhältnis zwischen Juden und Christen kommen.
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Doch zwanzig Jahre später, 1543, erscheint ein im Duktus völlig anderer Text Luthers.
Schon der Titel „Von den Juden und ihren Lügen“ verrät, dass es sich um eine Schmähschrift handelt. Luther schlägt darin der Obrigkeit vor, dass sie jüdische Synagogen und
Schulen „mit Feuer anstecken“, ihre Häuser „zerbrechen“ und die Juden „wie die Zigeuner in
einen Stall tun“ solle. Zudem sollten ihnen ihre Gebetbücher genommen werden, worin „Abgötterei“ gelehrt werde, ihren Rabbinern solle verboten werden, zu unterrichten. Furchtbar.
Unerträglich. Diese so unfassbaren Äußerungen können nicht mit seiner Verbitterung, dass
Juden nicht zur Kirche der Reformation übertraten erklärt oder durch den „Zeitgeist“ gerechtfertigt werden. Sie werfen auf ihn und seine Reformation einen Schatten und sollten die Kirche, die sich nach ihm benannte, auf einen entsetzlichen Irrweg führen. Die Schmähschrift
von 1543 diente immer wieder der Rechtfertigung für Diskriminierung, Ausgrenzung und
Mord.
Der jüdisch-christliche Dialog hat neu entdecken lassen, was der Apostel Paulus über das
Verhältnis von Christen und Juden schreibt: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel
trägt dich“ (Römer, 11.18). Das war eine lange und bittere Lerngeschichte für die evangelische Kirche. Heute sagt die Evangelische Kirche in Deutschland: Wer Juden angreift, greift
uns an. Die Reformatoren selbst haben gesagt, die Kirche müsse sich immer weiter reformieren, dies ist ein entscheidender Punkt, der sich in der Lerngeschichte bewahrheitet hat.
Das gilt auch mit Blick auf Muslime. Wetterte Luther wider die Türken, so leben wir heute
gemeinsam in einem Land. Gleichzeitig sind Christen in aller Welt eine verfolgte Religionsgemeinschaft. Wir brauchen einen Dialog und er muss theologisch begründet sein.
Zum Reformationsjubiläum 2017 muss der Dialog der Religionen sich als Anliegen des Protestantismus erweisen, da sind wir mutig genug, uns zu verändern, auch um einen Beitrag
zum Frieden in der Welt zu leisten.
Zuletzt
Wir sollten nicht vergangenen Zeiten nachtrauern. Kürzlich begann ein leitender Kirchenmann seinen Vortrag mit dem Satz: „Wir werden ärmer, wir werden weniger, wir werden älter.“ Na wunderbar, habe ich gesagt, das ist ja ermutigend! Wie wäre es mit: Es mag sein,
dass wir weniger werden, aber Salz der Erde können wir immer noch sein. Es mag sein,
dass wir ärmer werden, aber es ist definitiv nicht erwiesen, dass eine reiche Kirche besonders kreativ ist. Und es mag sein, dass wir älter werden, aber damit sind wir auch klarer, entschiedener, mutiger. Keine Angst vor Veränderung, das ist die Botschaft des Reformationsjubiläums. Wie sagte Martin Luther: „Wir sind es doch nicht, die da die Kirche erhalten könnten. Unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen. Unsere Nachfahren werden's auch nicht
sein; sondern der ist's gewesen, ist's noch und wird's sein, der da sagt: „Ich bin bei euch alle
Tage bis an das Ende der Welt.“
Am Ende: Das Evangelium kann nur mit Humor gepredigt werden, wusste schon der Reformator Luther (Socken, Honig, Playmobil).