Vizeminister in Bolivien ermordet

faulheit & arbeit
Sonnabend/Sonntag,
27./28. August 2015, Nr. 200
n Drucksachen
n Schwarzer Kanal
n Reportage
n ABC-Waffen
Wie die Deutschen 1939 an Krieg gewöhnt
wurden. Der kürzlich verstorbene Historiker
Kurt Pätzold über Nazipropaganda
Ein kritischer Beitrag in der FAZ über die
Entfernung »irritierender Kunstwerke«. In
der DDR entstandene waren nicht gemeint
Nach dem Rückzug der Islamisten: Eine Reise durch die syrische Wüste nach Palmyra.
Von Karin Leukefeld
Ganz Deutschland ist von Fußballfans
besetzt? Nein! Eine schweigende Minderheit wehrt sich. Von Michael Rudolf
PICTURE ALLIANCE/JOKER
»Man hat den Kapitalismus
in Demokratie umgetauft«
Gespräch
Mit Dieter Lattmann. Über die Erfahrung des hohen Alters,
Sterbehilfe, die »Aufarbeitung« der DDR-Vergangenheit, den Kampf
gegen Atomwaffen und das Ringen um die Künstlersozialversicherung
n Ihrem neuen Buch geht es um
das Leben Hochbetagter in einem Münchner Seniorenheim,
auch um die eigenen Erfahrungen mit Einschränkungen und
Gebrechen. Mehrfach taucht darin
die Forderung nach dem selbstbestimmten Lebensende auf. Sie scheint
mir weit über das hinauszugehen, was
der Bundestag im November 2015
beschlossen hat, nämlich die Straffreiheit für Menschen, die Angehörigen
Beihilfe zum Suizid leisten …
Meine Frau Marlen und ich sind ganz
entschieden für die Sterbehilfe eingetreten, und zwar mit der Begründung, dass
das Grundgesetz Artikel 14 das Eigentum
schützt, und so muss doch jeder Mensch
zumindest über den eigenen Körper selbst
bestimmen dürfen. Und nach Artikel 1 der
Verfassung ist die Würde des Menschen
unantastbar. Ich bin zum Beispiel der Auffassung, dass, wenn man seine Ausscheidungen nicht mehr kontrollieren kann, der
VOLKER DERLATH
I
Dieter Lattmann …
… ist Schriftsteller, war Gründungsvorsitzender des Verbandes deutscher
Schriftsteller (VS), von 1972 bis 1980
Bundestagsabgeordneter und jahrzehntelang in der Friedensbewegung
der BRD engagiert
Zeitpunkt gekommen ist, wo die Würde des
Menschen verletzt wird. Nach dem Grundgesetz müsste dann jeder, der es will, das
Recht haben, sein Leben zu beenden, so
wie das in den Niederlanden, in Belgien,
der Schweiz und einigen anderen Ländern
möglich ist. Viele derer, die hier im Seniorenheim Augustinum in München leben,
sehen das ähnlich.
Die Gegner eines leichteren Zugangs
zum assistierten Suizid in der Bundesrepublik warnen vor der Gefahr des
Missbrauchs. Können Sie deren Argumente nachvollziehen?
Da müsste man mir erst mal Fälle von Missbrauch vorlegen. Die Politiker behaupten
ja, die jüngeren Verwandten würden ihre
Eltern oder Großeltern oder auch unheilbar Kranke drängen, ihr Leben zu beenden. Dies ist aber eine ideologische Fiktion
Konservativer. Denn die alten Leute haben ihren eigenen starken Vernunftssinn,
und im allgemeinen haben sie auch eine
sehr gute und vertrauensvolle Beziehung zu
ihren Kindern und Enkeln und Urenkeln.
Auch Ihre Frau Marlen wollte sterben …
Ja, in den letzten Wochen vor ihrem Tod
am 25. September 2015 hat sie sich nichts
sehnlicher gewünscht, nachdem kurz zuvor
unser Sohn Andreas seiner Herzkrankheit
erlegen war.
Ich selbst habe trotz allem noch einiges
vor. Ich habe in den letzten Jahren versucht,
mich in meiner Rolle als nun sehr alter
Mensch zurechtzufinden. Alt zu sein ist
auch eine neue Erfahrung. Es ist ja nicht so,
dass alles nur negativ besetzt ist, sondern
das hohe Alter ermöglicht auch neue Tiefenerfahrungen. Wenn man dem Raum gibt,
dann entstehen nicht nur in Träumen, sondern auch in der Wirklichkeit noch einmal
humane Ideen und auch Beziehungen, die
einen weitertragen.
In dem Sinne fühle ich mich, obwohl
meine Frau und meine beiden Söhne nicht
Starke Friedensbewegung: Rund 300.000
Menschen nahmen am
10. Oktober 1981 an der
Demonstration in Bonn
gegen die Stationierung
von Pershing-II-Raketen
und Cruise Missiles mit
Atomsprengköpfen in
der BRD teil
Lebensbilanz
Gespräch mit Dieter Lattmann. Über die
Erfahrung des hohen Alters, Sterbehilfe,
die »Aufarbeitung« der DDR-Vergangenheit und den Kampf gegen Atomwaffen.
Außerdem: Im Land der Beduinen. Eine
Reise nach Palmyra. Foto­reportage von
Karin Leukefeld
n Fortsetzung auf Seite zwei
ACHT SEITEN EXTRA
GEGRÜNDET 1947 · SA./SO, 27./28. AUGUST 2016 · NR. 200 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT
WWW.JUNGEWELT.DE
Schießen
Putschen
Analysieren
Moralisieren
4
6
11
12
Staatsstreich in Brasilien: Letzter Akt
im Amtsenthebungsverfahren
gegen Präsidentin Rousseff
Die Sprache der Regierten: Didier
­Eribons Dokumentarroman
»Rückkehr nach Reims«
Krieg ohne Grenzen
DHA VIA AP
Türkei: Anschlag
auf Polizeizentrale
in Cizre fordert
viele Tote. Ankaras
Armee beschießt
kurdische Milizen in
Syrien. Von Nick Brauns
Die Polizeizentrale von Cizre wurde durch den Anschlag der PKK vollkommen zerstört
D
as Hauptquartier der türkischen Polizeikräfte in der
Stadt Cizre im Südosten des
Landes ist am Freitag durch einem Autobombenanschlag der Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK) vollständig zerstört
worden. Nach Angaben der staatlichen
Nachrichtenagentur Anadolu starben
bei dem Anschlag elf Polizisten, fast
80 weitere seien verletzt worden. Dagegen sprach die kurdische Nachrichtenagentur Firat unter Berufung auf
Augenzeugen von »Dutzenden« getöteten Beamten. Bilder zeigten ein
vollständig zerstörtes mehrstöckiges
Haus. Die Regierung verhängte eine
Nachrichtensperre.
In dem Gebäude waren unter anderem der polizeiliche Nachrichtendienst
sowie Aufstandsbekämpfungseinheiten untergebracht. Von hier aus operierten die aus türkischen Faschisten
und Dschihadisten gebildeten Sondereinheiten PÖH, die für den Tod von
mehr als 300 Zivilisten in Cizre verantwortlich gemacht werden. So waren
während monatelanger Ausgangssperren im vergangenen Winter 140 Men-
schen – darunter der Vorsitzende des
Volksrates von Cizre, Mehmet Tunc –
in den Kellern ihrer von den PÖH beschossenen Häuser verbrannt.
Mit dem Anschlag solle auf die Situation ihres in Isolationshaft gefangenen Vorsitzenden Abdullah Öcalan
hingewiesen werden, erklärte die Guerilla, die in den letzten Wochen bereits
rund ein halbes Dutzend Anschläge
auf Polizeizentralen in kurdischen
Städten verübt hatte. Seit April letzten
Jahres durfte Öcalan keinen Besuch
mehr von Verwandten, Anwälten oder
Reform des Sexualstrafrechts zielt
nicht auf besseren Schutz von
Frauen. Von Ulrike Heider
kurdischen Politikern empfangen, seit
Monaten fehlt von ihm jedes Lebenszeichen. Mehrere auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer stationierte Offiziere waren nach dem gescheiterten Militärputsch Mitte Juli wegen
mutmaßlicher Verbindungen zu den
Putschisten verhaftet worden. Zudem
kursieren Gerüchte, wonach die Ermordung des PKK-Vorsitzenden Teil
des Putschplans gewesen sein soll.
Bereits am Donnerstag war in der
Schwarzmeerprovinz Artvin die Wagenkolonne des Vorsitzenden der
kemalistisch-sozialdemokratischen
Republikanischen Volkspartei (CHP),
Kemal Kilicdaroglu, in ein Feuergefecht zwischen einer PKK-Einheit
und der Armee geraten. Der Oppositionsführer blieb unverletzt. Innenminister Efkan Ala beschuldigte
umgehend die PKK, einen Anschlag
auf Kilicdaroglu verübt zu haben. Das
wies die kurdische Guerilla am Freitag zurück: »Die Aktion richtete sich
definitiv nicht gegen die CHP und
Kemal Kilicdaroglu. Ziel waren die
Einsatzkräfte des türkischen Staates.«
Der Angriff der »Revolutionären Vereinigten Volksbewegung« (HBDH),
zu der sich die PKK mit neun marxistisch-leninistischen Organisationen zusammengeschlossen hat, habe
einem Konvoi der Armee gegolten.
Von der dahinter fahrenden Kolonne des CHP-Vorsitzenden habe die
­Guerillaeinheit nichts gewusst.
Im Norden Syriens beschossen die
türkischen Invasionstruppen in der
Nacht zum Freitag kurdische Stellungen nahe der Stadt Manbidsch. Die
»Volksverteidigungseinheiten« (YPG)
hätten sich nicht, wie von den USA
gefordert, auf das Ostufer des Euphrat
zurückgezogen, hieß es zur Begründung aus Ankara. An der Seite der türkischen Truppen vorrückende Kämpfer
der »Freien Syrischen Armee« setzten
nach Angaben der syrisch-kurdischen
Nachrichtenagentur Hawar bei einem
Angriff auf das Dorf Dandania bei
Manbidsch chemische Kampfstoffe
ein. Bilder zeigen Dorfbewohner mit
Hautverätzungen.
Siehe Seite 3
Vizeminister in Bolivien ermordet
Proteste von Bergleuten eskalieren: Rodolfo Illanes nach Geiselnahme totgeprügelt
I
n Bolivien ist am Donnerstag
(Ortszeit) der stellvertretende Innenminister, Rodolfo Illanes, von
protestierenden Bergleuten ermordet worden. Sprecher der Regierung
nannten die Tat einen »feigen und
brutalen Mord«. Der Präsident des
südamerikanischen Landes, Evo Morales, ordnete eine dreitägige Staatstrauer an.
Hintergrund der Eskalation sind
Proteste von Bergleuten, die sich gegen ein neues Kooperativengesetz
wehren. Dieses untersagt unter anderem, dass die Genossenschaften
ausländische Unternehmen an der
Ausbeutung von ihnen zugeteilten
Gebieten beteiligen. Durch diese Beschränkung will die Regierung die
Souveränität Boliviens über seine Bodenschätze sicherstellen.
Nachdem die Protestierenden mehrere Fernstraßen blockiert hatten,
war es in den vergangenen Tagen zu
Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften gekommen, in deren
Folge laut einem Bericht des katholischen Rundfunksenders Erbol zwei
Arbeiter ums Leben kamen. Als Reaktion darauf war Illanes am Donners-
tag morgen (Ortszeit) zu den Streikenden gefahren, um das Gespräch
mit ihnen zu suchen. Dabei wurde er
von einer Gruppe Bergleute als Geisel genommen. In Telefongesprächen
mit Medien und den Behörden wurde
gefordert, als Gegenleistung für die
Freilassung Illanes’ Verhandlungen
aufzunehmen. Die Regierung erklärte
sich unter der Bedingung, dass zuvor
die Straßenblockaden beendet werden, dazu bereit. Dennoch wurde der
Vizeminister gegen 17.30 Uhr Ortszeit
von den Geiselnehmern ermordet.
Staatsanwalt Edwin Blanco sagte am
Freitag, der Gefangene sei »totgeprügelt« worden und an schweren Kopfverletzungen gestorben.
Staatschef Morales erklärte in La
Paz, der Ermordete sei ein »Held der
Verteidigung der natürlichen Ressourcen«, während einige der Kooperativen durch Verträge mit ausländischen
Konzernen den Ausverkauf des Landes betrieben. Für die Bauerngewerkschaft CSUTCB forderte deren Exekutivsekretär Feliciano Vegamonte, den
in das Verbrechen involvierten Bergbaukooperativen die Konzession für
ihre Tätigkeit zu entziehen. (ABI/jW)
Waffenstillstand auf
den Philippinen
Oslo. Die philippinische Regierung
und die kommunistischen Rebellen
haben sich bei ihren Friedensgesprächen in Oslo auf einen unbefristeten Waffenstillstand verständigt.
Die Vereinbarung enthalte einen
Zeitplan für Gespräche über politische, wirtschaftliche und verfassungsrechtliche Reformen, sagte
José María Sison, der im Exil in
den Niederlanden lebende Gründer
der illegalen Kommunistischen
Partei. Beide Seiten hatten bereits
im Vorfeld der Verhandlungen eine
Waffenruhe ausgerufen.
Die letzten Gespräche zur Beendigung eines der ältesten Konflikte
Asiens waren 2013 ergebnislos
abgebrochen worden. Am Montag
startete in der norwegischen Hauptstadt eine neue Verhandlungsrunde
zwischen der Regierung und der
Nationalen Demokratischen Front
der Philippinen (NDFP). (AFP/jW)
Regierung knickt bei
Atomausstieg ein
AXEL HEIMKEN/DPA - BILDFUNK
Millioneninvestitionen und Groß­
übungen: Die Bundeswehr berei­
tet sich auf den Kriegsfall vor
Berlin. Die Bundesregierung geht
auf die Forderungen der Energiekonzerne ein, die Haftungsvereinbarungen zur Finanzierung des
Atomausstiegs über eine gesetzliche Regelung hinaus in einzelnen
Verträgen abzusichern. Die Energiekonzerne wollen nach einer
einmaligen Zahlung in einen sogenannten Atomfonds, über den die
Kosten des Ausstiegs abgewickelt
werden sollen, keine weiteren Verpflichtungen übernehmen. Die Arbeiten für eine gesetzliche Umsetzung liefen mit Hochdruck, sagte
eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums am Freitag. Neben dem
geplanten Gesetz könnten nach
ihren Worten auch Vereinbarungen
mit den Energieunternehmen getroffen werden. Die Regierung will
das Gesetzgebungsverfahren bis
zum Jahresende abschließen. E.onFinanzchef Michael Sen forderte
im Mai eine Vertragsvereinbarung.
Die Konzerne wollen weitere Kosten für sich verhindern.(Reuters/jW)
wird herausgegeben von
1.867 Genossinnen und
Genossen (Stand 12.8.2016)
n www.jungewelt.de/lpg