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POLITIK / KOMMENTAR
"Aufstehen gegen Rassismus"
... und seine Eigentumsordnung
(SB) ­ "Aufstehen gegen Rassismus", heißt es am Sonnabend in
Berlin. Das im März gegründete
Bündnis dieses Namens umfaßt
eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Gruppen, antifaschistischer
Initiativen und engagierter Einzelpersonen. In seinem Aufruf zur
Demonstration am 3. September
richtet es sich "gegen jede gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie Antisemitismus ... (S. 6)
POLITIK / KOMMENTAR
Ist TTIP gescheitert? Bremsen, um zu überholen
(SB) ­ Das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP, von seinen Gegnern auch als "Wirtschafts-NATO" bezeichnet, repräsentiert als ökonomisches
Pendant zur militärischen Expansion der westlichen Mächte deren
strategischen Entwurf, ihre Kapitalfraktionen in der globalen
Konkurrenz mit den ... (S. 8)
UMWELT / MEINUNGEN
Anthropozän - menschlicher
Einfluß geologisch und global
(SB) ­ Mit großer Mehrheit hat eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe dem Vorschlag zugestimmt, das geologische Zeitalter
des Holozäns formal ... (S. 10)
Elektronische Zeitung Schattenblick
Mittwoch, 31. August 2016
poonal ­ Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen
Lateinamerika
Frauen und Migration - Eine besondere Herausforderung
für den Schutz der Menschenrechte
von Markus Plate, San José
San José/Berlin, 28. August 2016,
npl) ­ Die weltweite Migration hat
in den letzten Jahren in absoluten
Zahlen deutlich zugenommen.
Mittlerweile lebt eine Viertelmilliarde Menschen außerhalb ihres
Geburtslandes. Der Anteil an
Frauen für die das zutrifft, steigt
beständig. Seit der Jahrtausendwende migrieren mehr Frauen als
Männer. Für sie ist Migration besonders schwierig: Frauen laufen
stärker Gefahr als Männer, auf ihrer Reise oder im Zielland zu Opfern von Menschenrechtsverletzungen zu werden, sie sind oft mit
Kindern unterwegs oder leiden
darunter, Familienangehörige daheim zurückzulassen. Dabei sind
die USA oder Kanada längst nicht
für alle aus Lateinamerika die
Zielländer. Auch die Migrationsbewegungen vom Land in die
Städte oder zwischen Ländern
Lateinamerikas sind seit vielen
Jahren groß.
nischen Bundesstaates Veracruz.
Wenn die Menschen hier nicht
bettelarm sind, leben sie in sehr
bescheidenen Verhältnissen. Viele junge Männer hat es in den
letzten zwanzig Jahren in Richtung USA gezogen. Aber das
klassische Bild von Dörfern ohne
junge Männer stimmt nicht mehr.
Denn immer mehr junge Frauen
verlassen die mexikanische Provinz. Wie Maricela Hernández
zieht es viele aber in mexikanische Großstädte, etwa nach Guadalajara, Mexiko-Stadt oder wie
im Fall von Maricela, nach Monterrey.
"Ich wollte meinen Eltern etwas
zurückgeben, für all das, was sie
mir gegeben haben. Meine Mutter hat hart gearbeitet, Bananen
und Apfelsinen verkauft, alles
was wir auf unserem Grundstück
hatten - damit sie mir den Bus zur
Schule, das Essen und Schulmaterialien bezahlen konnte. Es gab
hier nichts, wo ich hätte mit mei"Ich wollte meinen Eltern
nem Schulabschluss arbeiten
etwas zurückgeben"
können. Und meine Freundinnen,
die nach Monterrey gegangen
Maricela Hernández stammt aus waren, hatten plötzlich Schuhe
einer Indígena-Gemeinde in der und Klamotten. Und deswegen
Bergwelt im Norden des mexika- bin ich auch nach Monterrey,
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nicht nur für Kleidung, sondern
um meiner Mutter endlich etwas
zurückgeben zu können", so Maricela.
Erster Job: Hausangestellte
Ortswechsel: Costa Rica ist für
Maria Magdalena Romero Rueda
zur Heimat geworden. Magda,
wie sich die Vierzigjährige der
Einfachheit halber nennt, stammt
aus Nicaragua, aus einem Dorf in
der Provinz León. Mittlerweile ist
Magda schon seit zwei Jahrzehnten in San José und erzählt: "Ich
bin zuerst alleine gekommen.
Mein Mann kam eine Woche später, anfangs haben wir bei meiner
Schwester gewohnt, bis wir eine
Wohnung hatten. Meine Tochter
ist zunächst in Nicaragua geblieben. Ich habe darunter sehr gelitten. Und nach einem Jahr bin ich
dann hin und habe sie auch nach
Costa Rica geholt."
von Veracruz bei Familien in
Monterrey erlebt haben: "Andere
Frauen durften sich zum Essen
nicht mal hinsetzen, durften das
Essen der Familie nicht anrühren
sondern bekamen nur Reis und
Bohnen. Ich habe stundenlang für
die Familie gekocht und nichts
davon abbekommen. Der Kühlschrank war voller Früchte, aber
die Señora sagte, die sind für meine Kinder, wage es nicht, da was
wegzunehmen. Das ist nicht in
Ordnung, dass die Reichen alles
haben, dich schuften lassen und
dich dann so behandeln."
Dabei haben Frauen wie Maricela als sogenannte Binnenmigratinnen noch den Vorteil, dass sie
ganz legal überall dort in Mexiko
arbeiten können, wo sie einen Job
finden. Die vielen Frauen, die in
ein anderes Land gehen, haben es
da schon weit schwerer und setzen sich dabei erheblichen Gefahren aus. So werden aufihrem Weg
durch Mexiko laut Amnesty International sieben von zehn zentralamerikanischen Frauen Opfer von
sexualisierter Gewalt, Täter sind
Bandenmitglieder, aber auch Polizisten und Migrationsbeamte.
Und auch wenn es "nur" darum
geht, Migrant*innen auszunehmen, haben das organisierte Verbrechen und korrupte Staatsdiener*innen Frauen längst als lukrative Opfergruppe ausgemacht.
Jahren im Süden der USA. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen
hat sie das Projekt Mujeres Monarcas mitgegründet, nach den
Monarchfaltern benannt, jenen
Schmetterlingen, die jedes Jahr zu
Millionen zwischen den USA und
Mexiko migrieren. Ziel der Monarchfrauen ist es, in den USA Unterstützungsnetzwerke aufzubauen und Weiterbildungskurse für
Frauen anzubieten, so Yolanda:
"Viele Frauen haben ohnehin
schon Angst, im Falle von Gewalt
Hilfe zu suchen. Aber wenn in einem Land eine andere Sprache
gesprochen wird, dann ist das
noch viel schlimmer. Dann das
Geld. Wir Frauen kümmern uns
erst um unsere Kinder und unsere Eltern, bevor wir an unsere eigene Gesundheit oder unsere
Rechte denken. Wir werden
schlechter bezahlt als Männer, arbeiten länger, haben oft keine
Versicherung und ständig Angst
vor Razzien. Oft sind die Kinder
in den USA geboren und folglich
US-Staatsbürger. Die Eltern sollen aber abgeschoben werden.
Das Kind kann dann zur Adoption freigegeben werden, wenn ein
Richter meint, die Eltern gehörten
abgeschoben, aber das Kindeswohl sei in den USA besser gewährleistet. Das ist das Szenario,
das Frauen und Müttern am meisten Angst macht."
Was haben Maricela und Magda
gemein? Ihr erster Job in der neuen Stadt oder dem neuen Land ist
oder war eine Anstellung als
Hausangestellte. Das gilt für die
Mehrheit migrierender Frauen egal ob sie nun in ihrem Land aus
der Provinz in die Städte, von Nicaragua nach Costa Rica oder in
die USA migrieren. Die Migration ist der Grund, weshalb in weiten Teilen Lateinamerikas auch
Mittelschichtfamilien jemanden
haben, der für wenig Geld für sie Sprachbarriere bei Migration "Armut ist zunehmend weiblich"
putzt, wäscht, kocht, aufräumt. in die USA
Die Migrationsursachen sind
In den USA, dem Hauptzielland vielfältig. In Mexiko, Guatemala,
Lukrative Opfergruppe
lateinamerikanischer Migration, Honduras und El Salvador fliehen
kommt zu all diesen Problemen Menschen vor der ausufernden
Gedankt wird es den Frauen oft und Diskriminierungserfahrun- Gewalt oder der Korruption.
nicht. Im Gegenteil: Maricela gen noch die Sprachbarriere hin- Doch nach wie vor sind es Armut
Hernández berichtet, was Freun- zu. Die gebürtige Mexikanerin und Perspektivlosigkeit, die Mendinnen ihres Dorfes in den Bergen Yolanda Sorayda lebt seit vielen schen zum Migrieren zwingen.
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Mi, 31. August 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
Amanda Villatoro vom gesamtamerikanischen Gewerkschaftsbund CSA setzt dies in Beziehung
zur Migration von Frauen. Denn
alte Rollenkonzepte gelten auch
und gerade bei der Migration
nicht mehr: Mittlerweile sind viele Frauen, ob alleinerziehend oder
nicht, Familienvorstand und tragen die finanzielle Verantwortung
für ihre Kinder.
"Wenn wir von Armut als Migrationsursache reden, dann ist das
sehr klinisch formuliert. Armut ist
zunehmend weiblich. Deswegen
migrieren mittlerweile mehr
Frauen als Männer. Meist lassen
sie das zurück, was sie am meisten lieben: Ihre Kinder, ihre Familie. Deswegen ist es so wichtig,
dass wir Arbeit schaffen und dass
Arbeitsrechte erfüllt werden - gerade für Frauen. Und wir als amerikanischer Gewerkschaftsbund
arbeiten hart daran, gerade auch
die Rechte von migrantischen Arbeiter*innen zu stärken," so
Amanda.
Astradomes - Unterstützung
und Empowerment für migrantische Hausangestellte in Costa
Rica
Costa Rica ist das Hauptzielland
nicaraguanischer Migration. Drei
Viertel aller Nicht-Costa-Ricaner*innen stammt aus Nicaragua.
Schon laut offiziellen Zahlen ist
fast ein Zehntel der Bevölkerung
Costa Ricas im nördlichen Nachbarland geboren. Es dürften deutlich mehr sein. Die Mehrzahl von
ihnen sind Frauen. Und für viele,
wie für Maria Teresa Gutiérrez
aus Granada, ist die Arbeit in Privathaushalten die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Maria Teresa hat ein Jahrzehnt in
Mi, 31. August 2016
Angst und Schweigen gelebt, bis Der Text ist lizenziert unter Creative
ihr klar wurde, dass auch irregu- Commons Namensnennung-Weiterläre Migrantinnen Rechte haben. gabe unter gleichen Bedingungen 4.0
international.
Heute ist sie Vizepräsidentin der https://creativecommons.org/licenVereinigung der Hausangestell- ses/by-sa/4.0/
ten, Astradomes. Deren Arbeit für
Migrant*innen gilt als vorbildlich. Sie umfasst Angebote zur
Sensibilisierung, Weiterbildung
und Stärkung des Selbstbewusstseins von Frauen, dazu politische
Arbeit, Prozesshilfe und die Information der breiten Öffentlichkeit. Sie erzählt: "Anfangs hast du
Angst auf die Straße zu gehen,
vor der Polizei, vor den Migrationsbehörden. Du hörst von Kolleginnen, die mies behandelt wurden. Heute weiß ich, dass wir
Rechte haben. Dass auch Irreguläre das Recht auf einen 8-Stunden Tag, auf einen freien Wochentag und aufUrlaub haben. Aber es
gibt viele Frauen, die dieses Gesetz nicht kennen. Das nutzen viele Arbeitgeber aus. Wir von Astradomes kämpfen für die Rechte
von migrantischen Hausangestellten und leisten viel Informationsarbeit. Mir macht heute niemand mehr weis, dass ich keine
Rechte hätte. Ich bin Ausländerin,
aber ich bin vor allem ein
Mensch. Und Menschen haben
Rechte, egal, aus welchen Gründen, unter welchen Bedingungen
und wohin wir auch immer migrieren."
Der Audiobeitrag zu diesem Artikel kann angehört werden unter:
https://www.npla.de/podcast/immer-mehr-frauen-auf-der-flucht/
URL des Artikels:
https://www.npla.de/poonal/frauen-und-migration-eine-besondere-herausforderung-fuer-denschutz-der-menschenrechte/
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Quelle:
*
poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen
Herausgeber:
Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
Köpenicker Straße 187/188,
10997 Berlin
Telefon: 030/789 913 61
E-Mail: [email protected]
Internet: http://www.npla.de
http://www.schattenblick.de/
infopool/politik/soziales/
psfra638.html
SCHACH - SPHINX
Muntere Bauernburschen
(SB) ­ Ach, wie froh und königlich
zufrieden wäre der französische
Meister und Theoretiker Philidor
gewesen, wenn er 1940 in New
York in der Partie zwischen Marshall und Ragosin die Anwendung
seines obersten Lehrsatzes mit eigenen Augen hätte sehen können.
Leider war er zu dem Zeitpunkt
lange schon tot und begraben.
Doch daß der Bauer die Seele des
Schachspiels sei, davon hätte er
sich wahrlich überzeugen können,
denn Marshall zog elfmal hintereinander seine Bauern vor und,
man staune, gewann damit. Dabei
kommen gar nicht einmal so selten
in der Turnierwelt derartige Bauernvormärsche vor. Die Theorie
rümpft über solche Maßlosigkeit
natürlich die Nase und verweist mit
Tarraschscher Dogmatik auf die
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Elektronische Zeitung Schattenblick
gesunde Entwicklung der Figuren.
Und außerdem, wie sollten die Bücher füllenden Theoretiker auch
sonst ihr Brot verdienen? Indes,
das Schachspiel bietet mehr als nur
spanische oder sizilianische Gefilde. Für Neulandsucher und Pioniere gibt es aufdem Mutterboden der
Schachkunst noch vieles zu entdecken, was bisher noch niemandes Aufmerksamkeit fand. Warum
also nicht den seligen Geist Philidors beglücken und mit Bauern
siegen. Einen Offiziersaufstand
braucht wohl nur derjenige zu
fürchten, der ohne Seele ist. Wie
mächtig solch ein Knirps von einem Bauern sein kann, beweist das
heutige Rätsel der Sphinx. Meister
Kopajew hatte seinen Philidor of-
fensichtlich gründlich studiert. AlAuflösung des letzten
so, Wanderer, alle Macht den BauSphinx­Rätsels:
ernburschen, und wo es nicht ausreicht, opfert sich eben auch noch Der weiße König hätte sich mit
eine blaublütige Dame. Wie ge- dem Rückzug 6.Kc2-c1! zufriewann Weiß?
dengeben sollen, denn mehr als
ein Dauerschach hätte Morphy
nicht zur Hand gehabt, weil nämlich 6...Ld6xb4? 7.c3xb4 Tb8xb4
8.Dd2-g5 Da4-a3+ 9.Kc1- d2
Tb4-b2+ 10.Kd2-e1 Tb2xe2+
11.Ke1xe2 Da3-f3+ 12.Ke2-e1
Df3xh1+ 13.Dg5-g1 an fehlenden
Angriffsoptionen zugrundegegangen wäre.
Kopajew - Alatorzew
UdSSR 1957
http://www.schattenblick.de/
infopool/schach/schach/
sph05943.html
POLITIK / WIRTSCHAFT / MEINUNG
Internationale Presseagentur Pressenza ­ Büro Berlin
Gabriels Nein zu TTIP ist billig
von Justus von Daniels [1] für CORRECT!V [2], 30. August 2016
Berlin ­ 30.08.2016. Sigmar Ga­
briel will die Stimmen der SPD­
Basis retten, nicht den deutschen
Verbraucher. Sein Nein zu TTIP
ist fadenscheinig ­ und arrogant.
Denn nicht Gabriel verhandelt
über TTIP, sondern die EU­
Kommission. De facto ist noch
gar nichts gescheitert.
Der deutsche Wirtschaftsminister will mit einem Handstreich
eine Verhandlung für beendet erklären, an der auch 27 andere
EU-Länder beteiligt sind. Das ist
zunächst ziemlich arrogant. Aber
es zeigt vor allem seine große
Not mit den Freihandelsabkommen.
Sigmar Gabriel wollte die Botschaft unbedingt unters Volk
bringen. Obwohl er in einem Interview mit dem ZDF am Sonntag [3] gar nicht nach TTIP gefragt worden war, sagte er:
"TTIP ist de facto gescheitert."
Im Interview sollte Gabriel eigentlich erklären, wie die SPD
zu Ceta steht, dem Handelsabkommen mit Kanada. Das Abkommen ist fertig verhandelt,
Deutschland hat in der EU seine
Zustimmung versprochen. Jetzt
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droht die SPD auf dem Parteikonvent im September [4] mit
einem Beschluss gegen das Kanada-Abkommen. Für den deutschen Wirtschaftsminister wäre
es höchst peinlich, wenn er sich
aufgrund eines Parteibeschlusses
am Ende gegen Ceta stellen
müsste. Umgekehrt wäre seine
Zeit als SPD-Vorsitzender gezählt, würde er Ceta gegen den
Willen der Parteibasis durchboxen. Dafür opfert er jetzt scheinbar das TTIP-Abkommen. Er
will damit die SPD-Basis für die
Ceta-Entscheidung gnädig stimmen.
Mi, 31. August 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
Gabriel drückt sich
Gabriels Begründung gegen
TTIP ist fadenscheinig. Nach 14
Verhandlungsrunden bewege sich
nichts, man wolle sich nicht den
amerikanischen Bedingungen
unterwerfen, sagt Gabriel. Dass
die Verhandlungen zäh sind, weiß
Gabriel seit Langem. Die Verhandler haben die EU-Staatschefs
im Juli ermahnt, dass die großen
Konflikte nur auf politischer
Ebene ausgeräumt werden können. Gabriel lässt dies mit seiner
Aussage aber erst gar nicht zu.
Die EU-Handelsminister treffen
sich Ende September. Dort sollten eigentlich die Weichen gestellt werden. Gabriel wollte
nicht warten, wollte nicht die
harte politische Arbeit machen.
Er drückt sich.
Das Nein zu TTIP geht allein an die
SPD-Basis. Je größer Gabriel den Unterschied zwischen Ceta und TTIP
macht, desto eher hofft er darauf, dass
die Genossen ihm bei Ceta folgen werden. Ceta, so Gabriel, sei mit einer sozialliberalen kanadischen Regierung
verhandelt worden. Kein Grund zur
Sorge also. TTIP sei anders, da wollten die USA keine Kompromisse, sagt
Gabriel. Das ist populistisch.
Ein stillschweigender Plan?
[4] https://www.spd.de/service/termine/
Wenn der Wirtschaftsminister [5] https://correctiv.org/
nun offiziell die Regierungslinie [6] https://correctiv.org/ttip
verlässt, müsste ihn die Kanzlerin
Text steht unter der Lizenz Creaeigentlich entlassen. Oder ist sein Der
Commons 4.0
Spiel gar nicht so riskant? Gibt es tive
http://creativecommons.org/licenvielleicht einen stillschweigenden ses/by/4.0/
Plan? Gabriel prescht in der EU
mit seiner Ablehnung vor, hinter
*
der sich die Kanzlerin nun ge- Quelle:
meinsam mit der ebenso skepti- Internationale Presseagentur Presschen französischen Regierung senza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
verstecken kann.
E-Mail: johanna.heuveling@presEin Sieg der Kritiker ist das vor- senza.com
läufige TTIP-Nein Gabriels je- Internet: www.pressenza.com/de
denfalls nicht. Die Kritiker wollen beide großen Verträge verhindern, TTIP und Ceta. Sie wollen
die Struktur von internationalen
Handelsverträgen verändern. Gabriel dagegen will vor allem seinen Kopf retten.
Über den Autor
Die Reporter Justus von Daniels
und Marta Orosz recherchieren
langfristig für CORRECT!V [5]
zu den internationalen Freihandelsabkommen TTIP und Ceta.
Seit Anfang 2015 haben die beiden bereits zahlreiche Berichte,
Analysen und Enthüllungen verDe facto ist mit Gabriels Aussage öffentlicht [6].
noch nichts gescheitert. Denn
nicht die SPD verhandelt über
TTIP, sondern die EU-Kommissi- Anmerkungen:
on im Namen der Bundesregie- [1] https://correctiv.org/correctiv/rerung und 27 weiterer EU-Staaten. daktion/team/justus-von-daniels/
Nur die EU-Kommission kann die [2] https://correctiv.org/recherVerhandlungen offiziell beenden. chen/ttip/blog/2016/08/29/gabrielsGabriel legt es mit diesem Satz nein-zu-ttip-ist-billig/
deshalb sogar auf ein Scheitern [3] http://www.zdf.de/ZDFmediader großen Koalition an. Denn er thek/beitrag/video/2822508/ZDFstellt sich mit seiner Aussage ge- Sommerinterview-mit-Sigmargen die Politik der Bundeskanzle- Gabriel#/beitrag/virin, die zu TTIP zwar kaum etwas deo/2822508/ZDF-Sommerintersagt, es aber immer unterstützt. view-mit-Sigmar-Gabriel
Mi, 31. August 2016
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infopool/politik/wirtsch/
pwmg0058.html
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POLITIK / KOMMENTAR / HERRSCHAFT
"Aufstehen gegen Rassismus" ... und seine Eigentumsordnung
"Aufstehen gegen Rassismus", heißt es
am Sonnabend in Berlin. Das im
März gegründete Bündnis dieses
Namens umfaßt eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Gruppen, antifaschistischer Initiativen und engagierter Einzelpersonen. In seinem Aufruf zur Demonstration
am 3. September richtet es sich
"gegen jede gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit wie Antisemitismus, Islamfeindlichkeit,
Antiziganismus und jede andere
Form des Rassismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit" [1].
Als Trägerin derartiger reaktionärer und feindseliger Einstellungen wird insbesondere die Partei
"Alternative für Deutschland"
(AfD) genannt, die am darauffolgenden Sonntag bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern anstrebt, stärkste Fraktion im Schweriner Landtag zu
werden.
(SB) 30. August 2016 ­
Obwohl die mit rechtspopulistischen und deutschnationalen Forderungen aufwartende Partei erst
seit drei Jahren existiert, stehen
die Chancen, daß ihr dieser spektakuläre Erfolg gelingt, nicht
schlecht. Das Konzept der sogenannten Volksparteien CDU/CSU
und SPD, rechts von ihnen situierte Parteien durch das Besetzen
der Felder, auf denen sie Mehrheiten gewinnen könnten, unter
der Sperrklausel von fünf Prozent
zu halten, ist offensichtlich gescheitert. Zwar konnten die maßgeblich von Unionsparteien und
Sozialdemokraten gebildeten
Bundesregierungen die EU erSeite 6
folgreich als Expansionsraum
deutscher Hegemonialinteressen
nutzen und die fundamentale Krise des kapitalistischen Weltsystems weitreichend zu Gunsten
deutscher Unternehmen wenden,
doch das muß keineswegs so bleiben.
geblich auf Kosten der biodeutschen Bevölkerung leben, erfolgreich aufgegriffen. Dies kam insbesondere im rechten Dunstkreis
jener Volksparteien gut an, aus
denen sich auch maßgebliche Akteure der AfD-Führung rekrutieren.
Als der SPD-Politiker Thilo Sarrazin vor sechs Jahren mit seinem
Bestseller "Deutschland schafft
sich ab" den bis dahin partiell
noch von gesellschaftskritischen
Forderungen bestimmten Krisendiskurs eine bevölkerungspolitische und kulturalistische Stoßrichtung gab, vollzog er eine
ideologische Wendung, die in der
globalen Krisenkonkurrenz stets
virulent ist. Die AfD, die dank
dieser mit viel medialem Widerhall prächtig aufgegangenen Saat
nun reiche Ernte halten kann, ist
keineswegs aus dem Nichts oder
als Trojanisches Pferd neonazistischer Gruppen entstanden. Sie ist
genuines Produkt gutbürgerlicher
Besitzstandsinteressen und hat eine mittelständische Klientel, die
zwar Abstiegsängste kennt, häufig aber noch im Saft arrivierter
Versorgungs- und Einkommensstrukturen steht.
Daß CDU/CSU und SPD die neue
Konkurrenz fürchten müssen, ist,
wie nicht nur die sozialdemokratische Herkunft Sarrazins belegt,
zu einem Gutteil der eigenen Politik geschuldet. Neoliberalismus
und Sozialdarwinismus sind bis
weit in rot-grüne Kreise hinein
keine Fremdwörter, sondern legitime Strategien zum Erreichen
konkreter Wachstumsziele und
Wettbewerbsvorteile. Im Unterschied zur AfD bleibt das kulturalistische Ressentiment, das dort
insbesondere im antimuslimischen Rassismus manifest wird,
bei den etablierten Parteien jedoch meist unter der Decke des
freiheitlich-demokratischen Wertekanons. Das sieht in der exekutiven Praxis der EU-europäischen
Flüchtlingsabwehr und der deutschen Beteiligung an imperialistischen Kriegen durchaus anders
aus, doch läßt die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland und seine höchst profitable
Integration in den globalisierten
Kapitalismus bislang keinen offenen Bruch mit humanitären Zielen und grundlegenden Menschenrechten zu.
Was als EU-kritisches Projekt gegen die deutsche Steuerzahler angeblich schröpfende Alimentierung südeuropäischer Krisenstaaten begann und damit Gläubigerinteressen bediente, die eher nicht
die der aufArbeitseinkommen angewiesenen Bevölkerung sind, Indem die AfD dies zwar nicht
hat die von Sarrazin betriebene formal, aber inhaltlich tut, wähAbrechnung mit Gruppen, die an- rend sie keine Einwände gegen
www.schattenblick.de
Mi, 31. August 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
neoliberalen Leistungsrassismus
und den marktwirtschaftlichen
Workfare-Staat geltend macht,
bindet sie diejenigen Teile der Bevölkerung in das Projekt des deutschen Imperialismus ein, die seinem EU-europäischen Format
und seinen transnationalen Akteuren nicht zutrauen, dauerhaft
die eigenen Besitzstandinteressen
zu garantieren. Im Ergebnis stärkt
die neue Rechtspartei das Handlungsvermögen deutscher Kapital- und Funktionseliten, den Anteil der Lohnabhängigenklasse
am Nationalprodukt weiter zu
verringern und die Kapitalproduktivität dementsprechend zu
steigern. Das ist nicht nur aus
Gründen der ohnehin erforderlichen Bestandssicherung und eines Krisenmanagements, das sich
unverkennbar in Richtung permanenter Ausnahmezustand bewegt,
erforderlich, sondern erhält vor
dem Hintergrund der unter dem
Titel Industrie 4.0 propagierten
Rationalisierungsoffensive zukunftsweisende Bedeutung. Die
anstehenden Sozial- und Verteilungskämpfe werden auch diejenigen Teile der deutschen Bevölkerung, die sich dünken, qua Geburtsrecht privilegierter als 90
Prozent der Weltbevölkerung zu
sein, nicht verschonen.
Indem die AfD den Klassencharakter der herrschenden Eigentumsordnung nicht einmal symbolisch attackiert und allen daraus
erwachsenden Unmut gegen den
fremden, nicht der nationalen
Schicksalgemeinschaft zugehörigen Menschen wendet, bietet sie
sich als Bündnispartner für einen
noch entfesselteren, globale Ressourcenplünderung und deren militärische Flankierung mit großer
Selbstgerechtigkeit vollziehenden
Kapitalismus an. Den von der
Mi, 31. August 2016
AfD, den der Partei zuarbeitenden
Bewegungen Pegida und Hogesa
und einer rechtspopulistischen
Presse, die mit ihren Print- und
Online-Ausgaben Hunderttausende Menschen erreicht, propagierte Islamfeindlichkeit als bloßen
Auswuchs ethnizistisch-biologistischer NS-Ideologie zu verstehen hieße, den ihr eigenen Modernisierungs- und Innovationsschub zu verkennen. So beerbt der
europaweit Furore machende antimuslimische Rassismus zwar
die mörderischen Ideologien
christlicher Suprematie und europäischer Kolonialherrschaft, propagiert mit dem Alleinvertretungsanspruch liberalkapitalistischer Vergesellschaftung allerdings auch die ideologische Voraussetzung für einen weltweit organisierten Geschäftsbetrieb, von
dem derjenige am meisten hat, der
aufgrund seiner globaladministrativen Dominanz in der Lage ist,
seine politischen und rechtlichen
Bedingungen zu diktieren.
Wie die große soziale Bewegung
gegen Freihandelsabkommen mit
der Forderung nach einem gerechten Welthandel auf halbem
Wege haltmacht [2] oder der breite Aktivismus gegen ökologische
Zerstörung und Klimawandel die
notwendige Konsequenz scheut,
die soziale Frage in den Mittelpunkt zu stellen und kapitalistische Verwertung als solche zum
Problem destruktiven Verbrauchs
zu erheben, so könnte der antirassistische Kampf auf der Strecke
einer gesellschaftlichen Teilhaberschaft bleiben, die seine uneingeschränkt zu unterschreibenden
Forderungen korrumpieren. Was
bedingt den massiven Zulauf, den
rechtspopulistische bis rechtsradikale Bewegungen und Parteien
in den letzten Jahren genießen, an
www.schattenblick.de
allererster Stelle? Es ist die imaginierte wie echte Angst, im Verteilungskampf zu kurz zu kommen und Privilegien einzubüßen,
die bisher so selbstverständlich in
Anspruch genommen wurden,
daß gar nicht erst gefragt wurde,
was die eigene Beteiligung an einer Welt ausmacht, in der Milliarden Menschen unter akutem
Mangel an guten Nahrungsmitteln, sauberem Wasser, angemessener Wohnung und Freiheit von
Unterdrückung leben.
Scheitert schon die klassisch linke Position, die Gleichheit sozialökonomischer Bedingungen
weltweit durchzusetzen, daran,
daß viele Menschen dem wenigen, was sie sicher zu haben meinen, dem revolutionären Anspruch auf grundlegende Gesellschaftsveränderung gegenüber
den Vorzug geben, so verschärft
sich das Verhältnis zwischen relativ gesichertem Überleben und
akuter Not heute durch Krisen,
die im Unterschied zu früheren
Epochen in globaler Synchronizität verlaufen, so massiv, daß bislang vorhandene Fluchträume zusehends verschlossen werden. Die
60 Millionen Flüchtlinge dieser
Tage machen auch hierzulande
unmißverständlich klar, daß das
Glück im globalen Winkel in sein
unter diesen Verwertungs- und
Produktionsbedingungen unumkehrbares Endstadium getreten
ist.
Gegen den Rassismus von AfD
und Konsorten anzutreten greift
desto tiefer, als die Bedingungen
nationaler, ethnischer, religiöser,
geschlechtlicher und kultureller
Ausgrenzung und Benachteiligung ohne Rücksicht auf eigene
Vorteile analysiert und kritisiert
werden. Daß dies bei BündnisSeite 7
Elektronische Zeitung Schattenblick
partnern, die neoliberale und
grünkapitalistische Politik betreiben, eher nicht der Fall ist, liegt
auf der Hand. Die von linksradikalen Aktivistinnen und Aktivisten angestoßene Diskussion um
die Wirksamkeit und Korrumpierbarkeit eines solchen Bündnisses ist daher von zentraler Bedeutung, auch wenn sie nur marginal erscheint. Sie antizipiert eine Positionsbestimmung, die unausweichlich ist, wenn soziale
und gesellschaftliche Kämpfe
auch in Zukunft emanzipatorische
Ergebnisse zeitigen sollen. Am 3.
September in Berlin zu demonstrieren ist allemal sinnvoll, und
sei es nur, um im Rahmen des
Bündnisses "Aufstehen gegen
Rassismus" Positionen stark zu
machen, für die es in der Bundesrepublik durchaus Potential gibt.
Wenn die Gewißheit, daß der
Schmerz erlittener Ohnmacht und
Vernichtung alle Eigentumsansprüche aufhebt, die gegen andere Menschen und Lebewesen gerichtet werden können, um sich
greift, dann bleibt die Zukunft offen und die Barbarei ist noch zu
verhindern.
Anmerkungen:
[1] https://www.aufstehen-gegenrassismus.de/3-september/
[2] BERICHT/083: TTIP Nein
danke - Innovativverwertung humaner Ressourcen ... (1) (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0083.html
http://www.schattenblick.de/
infopool/politik/kommen/
herr1729.html
Seite 8
POLITIK / KOMMENTAR / RAUB
Ist TTIP gescheitert? - Bremsen, um zu überholen
(SB) 30. August 2016 ­ Das Trans-
atlantische Freihandelsabkommen TTIP, von seinen Gegnern
auch als "Wirtschafts-NATO" bezeichnet, repräsentiert als ökonomisches Pendant zur militärischen Expansion der westlichen
Mächte deren strategischen Entwurf, ihre Kapitalfraktionen in
der globalen Konkurrenz mit den
sogenannten BRICS-Staaten in
die Offensive zu bringen. Im Versuch, die Ideologie des Freihandels in den Rang eines unabweislichen Leitmotivs zu erheben und
entsprechende Abkommen durchzusetzen, drängen staatliche
Sachwalter hegemonialer Zugriffsentwicklung darauf, dem Kapital
neue Profitmöglichkeiten zu erschließen, indem Bereiche der
Gesellschaft in privatwirtschaftliche Profitmaximierung überführt
werden, die dieser zuvor nicht zugänglich waren.
So fundamental diese Interessen
angesichts der Verwertungskrise
des Kapitals auch sein mögen,
lassen die inneren Widersprüche
des ökonomischen Brückenschlags über den Atlantik
zwangsläufig Risse in der Konstruktion aufbrechen. Zum einen
sind die Europäische Union, die
USA und Kanada nicht nur Handelspartner, sondern zugleich
Konkurrenten auf dem Weltmarkt. So ist beispielsweise aus
US-amerikanischer Perspektive
das bereits geschlossene pazifische Freihandelsabkommen TPP
wesentlich wichtiger als die europäische Ergänzung TTIP, als deren eigentlicher Motor die EU anwww.schattenblick.de
zusehen ist. Auch werden in den
USA sehr viele Aufträge lokal
vergeben, was gegen die WTORichtlinien verstößt und der Praxis innerhalb der EU zuwiderläuft. Zum anderen sind die nationalen Kapitalfraktionen kein monolithischer Block, sondern verfolgen nicht selten divergierende,
mitunter sogar einander widersprechende Zielsetzungen, was
ihre internationale Präsenz betrifft. Auch können kleine und
mittelständische Unternehmen
hinsichtlich der geplanten Freihandelsabkommen durchaus zu
anderen Schlüssen als große Konzerne gelangen.
Beispielsweise versucht die USamerikanische Agrarlobby im
Rahmen der TTIP-Verhandlungen, die Gentechnikfrage in den
Mittelpunkt zu stellen, da sie gentechnisch verändertes Saatgut und
gentechnisch veränderte Lebensmittel großflächig in der EU verkaufen will. Für die europäische
Saatgutindustrie ist Gentechnik
jedoch längst nicht so wichtig,
zumal eine starke Verbraucherschutzbewegung im Namen von
Millionen Menschen Gentechnik
in diesem Sektor fundamental ablehnt. Umgekehrt möchte das
verarbeitende Gewerbe in
Deutschland, das zu den weltweit
exportoffensivsten gehört, die bereits in der EU durchgesetzten
Standards auch auf die USA übertragen. Das fürchtet jedoch das
dortige verarbeitende Gewerbe,
weil das hochproduktive deutsche
Kapital noch stärker auf den USamerikanischen Markt drängen
Mi, 31. August 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
und die Konkurrenz verschärft nach, es gebe für diese Verhandwürde.
lungen keine politische Unterstützung Frankreichs mehr. Grund sei
Angesichts dieser Gemengelage, "die derzeitige Einstellung der
für die sich zahlreiche weitere USA". Europa schlage viel vor
Beispiele einander widerspre- und bekomme im Gegenzug
chender Partialinteressen anfüh- "kaum etwas". Daher wolle
ren ließen, kommt den Gewerk- Frankreich im kommenden Moschaften, Umwelt- und Sozialver- nat die EU-Kommission aufforbänden, vor allem aber der Bewe- dern, die Verhandlungen zu stopgung gegen die Freihandelsab- pen und einen "Neustart" einzukommen, die in Deutschland stär- leiten. [2]
ker als als irgendwo sonst in der
EU Flagge zeigt, eine entschei- Wie die französische Regierung
dende Bedeutung zu. Sollte es ih- lehnt auch Gabriel Freihandelsabnen gelingen, diese Risse zu ver- kommen als solche keineswegs
tiefen und die Deutungsmacht der ab, die er sogar ausdrücklich beTTIP-Befürworter in der öffentli- fürwortet: Deutschland setze sich
chen Diskussion zu brechen, setzt als exportorientierte Nation für
dies die politischen Entschei- Freihandel ein. Als positives Beidungsträger unter Druck, Aus- spiel nennt er das Freihandelsabweichmanöver oder einen takti- kommen CETA mit Kanada, das
schen Rückzug einzuleiten, um fertig ausgehandelt ist und ganz
die Freihandelsabkommen nicht ähnliche Bestimmungen wie
komplett gegen die Wand zu fah- TTIP enthält. Bei seiner Spiegelren.
fechterei geht es dem Wirtschaftsminister offensichtlich darum, das
So hat Bundeswirtschaftsminister Abkommen mit Kanada zu retten,
Sigmar Gabriel im Sommerinter- um den USA und letztlich auch
view des ZDF das geplante Frei- TTIP eine Hintertür zu öffnen.
handelsabkommen TTIP in Frage Träte CETA in Kraft, könnten USgestellt: "Die Verhandlungen mit Konzerne über kanadische Tochden USA sind de facto geschei- terunternehmen beispielsweise
tert, weil wir uns den amerikani- EU-Mitgliedsstaaten auf Schaschen Forderungen natürlich als denersatz verklagen, sollten ihren
Europäer nicht unterwerfen dür- Geschäftserwartungen durch Gefen. Da bewegt sich nix." [1] setzesänderungen ein Strich
Auch in Frankreich wachsen seit durch die Rechnung gemacht
Monaten die Zweifel am Erfolg werden. Zudem wäre CETA ein
der Verhandlungen. Präsident Eisbrecher für TTIP, das zu einem
François Hollande hatte im Mai späteren Zeitpunkt mit einigen
damit gedroht, das Abkommen kosmetischen Änderungen leichabzulehnen. Sein Land werde ter als bislang nachgeschoben
"niemals akzeptieren, dass die werden könnte. [3]
Grundprinzipien für unsere Landwirtschaft, unsere Kultur, für die Was die TTIP-Verhandlungen mit
Gegenseitigkeit beim Zugang zu den USA betrifft, gibt Gabriel den
öffentlichen Ausschreibungen in aktuellen Stand durchaus angeFrage gestellt werden". Nun leg- messen wieder. Laut der kürzlich
te Außenhandelsstaatssekretär veröffentlichten Zwischenbilanz
Matthias Fekl mit den Worten des Wirtschaftsministeriums gibt
Mi, 31. August 2016
www.schattenblick.de
es bislang "in keinem der 27 bis
30 Kapitel, die das TTIP-Abkommen am Ende umfassen könnte,
eine Verständigung in der Sache".
So weigern sich die USA im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe, europäische Firmen mit
amerikanischen gleichzustellen,
und wollen an dem Prinzip "buy
American" festhalten. Umgekehrt
will die EU teilweise an Zöllen
für bestimmte Agrarprodukte wie
Rind-, Schweine- und Geflügelfleisch sowie Milchprodukte festhalten. Die USA sind hier nur zu
Zugeständnissen bereit, sollten
sie ihre Autoindustrie durch Importzölle gegen die europäische
Konkurrenz schützen können.
Das Ministerium schätzt die
Möglichkeit einer Einigung bis
Ende des Jahres als gering ein und
geht davon aus, daß sich die Konflikte eher noch verschärfen werden. Im US-Präsidentschaftswahlkampf hätten sich beide
Kandidaten kritisch zu Freihandelsabkommen geäußert.
Gabriels Positionierung, die nicht
zuletzt auch der Befindlichkeit in
der der eigenen Partei und in den
Gewerkschaften geschuldet ist,
rief seitens des Koalitionspartners
heftigen Widerspruch auf den
Plan. So erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert, die gesamte
Bundesregierung halte einen zügigen Abschluß des TTIP-Abkommens für ein zentrales Vorhaben. TTIP sei zwar eine Sisyphosarbeit, aber noch lange nicht gescheitert, erklärte der wirtschaftspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Joachim
Pfeiffer. "Ich erwarte von dem
Wirtschaftsminister, dass er sich
im Interesse der exportorientierten deutschen Wirtschaft an die
Spitze der Bewegung stellt und
nicht die Flinte ins Korn wirft."
Seite 9
Elektronische Zeitung Schattenblick
die deutsche Wirtschaft solle sich
stärker aufAsien orientieren und
von den USA keine Bedingungen
diktieren lassen. Europa müsse
sich unter deutscher Führung als
eigene Weltmacht etablieren. Sowenig sich die Bewegung gegen
die Freihandelsabkommen diesen
Streit unter imperialistischen
Blöcken strategisch zu eigen machen sollte, liefert er doch in taktischer Hinsicht durchaus Munition, die wachsenden Risse zum
Der Wirtschaftsminister handelte Bruch von TTIP und CETA zu
sich auch scharfe Kritik von Wirt- vertiefen.
schaftsverbänden ein. Die Verhandlungen seien "noch nicht ge- Nach der großen bundesweiten
scheitert", betonte der Hauptge- Demonstration am 10. Oktober
schäftsführer des Deutschen In- 2015 mit 250.000 Menschen in
dustrie- und Handelskammertags, Berlin und der Demonstration mit
Martin Wansleben. Gabriel sei gut 90.000 Menschen in Hannover anberaten, sich für die Interessen läßlich des Treffens zwischen
der Wirtschaft einzusetzen. Die Obama und Merkel am 23. April
EU-Kommission hält die Ver- 2016 ruft ein Bündnis von über 30
handlungen weiterhin für offen: Organisationen für den 17. Sep"Wenn die Bedingungen stim- tember zu zeitgleichen Protesten
men, ist die Kommission bereit, in sieben deutschen Großstädten
dieses Abkommen bis Ende des auf. Am 19. September sollen ein
Jahres unter Dach und Fach zu SPD-Konvent und vier Tage späbringen", sagte der Kommissions- ter die EU-Handelsminister auf eisprecher Margaritis Schinas in nem Treffen in Bratislava das ferBrüssel. Irritiert reagierte die US- tig ausgehandelte FreihandelsabRegierung: So erklärte der Spre- kommen mit Kanada billigen.
cher des US-Handelsbeauftragten Dort soll der Weg für die UnterMichael Froman, die Verhandlun- zeichnung und eine vorläufige Angen machten "in Wahrheit ständig wendung freigemacht werden. Da
Fortschritte". Es liege in der Na- letztere aktuell die größte Gefahr
tur von Handelsgesprächen, daß darstellt, käme eine Ablehnung
nichts vereinbart sei, bis alles ver- von CETA seitens der SPD-Delegierten einem Meilenstein gleich:
einbart sei.
Dann nämlich könnte Gabriel in
Solche Verbalakrobatik kann in- Bratislava nicht zustimmen.
dessen nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die transatlantischen Konflikte verschärfen. Die Anmerkungen:
USA haben mit TPP ihr vordringliches handelspolitisches Ziel er- [1] https://www.wsws.org/de/arreicht, und mit Großbritannien ticles/2016/08/30/ttip-a30.html
verläßt ein wichtiger Handelspartner demnächst die EU. Hier- [2] http://www.deutschlandzulande mehren sich Stimmen, funk.de/freihandelsabkommenUnd der stellvertretende
CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende
Michael Fuchs verwahrte sich dagegen, daß TTIP "mit unwahren
Behauptungen kaputt geredet
werden" solle. "Die Gewichte in
der Welt verschieben sich immer
mehr Richtung Asien. Wir haben
jetzt die Wahl: Wollen wir Handelsregeln weiter mitbestimmen
oder machen wir uns zu Zaungästen?"
Seite 10
www.schattenblick.de
ttip-in-bedraengnis.1818.de.html?d
[3] Siehe dazu:
RAUB/1088: Gabriels Schmierenkommödie in Sachen Freihandel (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1088.html
http://www.schattenblick.de/
infopool/politik/kommen/
raub1089.html
UMWELT / MEINUNGEN
Anthropozän menschlicher Einfluß
geologisch und global
Geologen leiten Schritt zur
formalen Anerkennung einer
neuen erdgeschichtlichen
Epoche ein
(SB) ­ Mit großer Mehrheit hat ei-
ne wissenschaftliche Arbeitsgruppe dem Vorschlag zugestimmt,
das geologische Zeitalter des Holozäns formal durch ein neues
Zeitalter abzulösen, da die
menschlichen Einflüsse weltweit
geologisch festzustellen sind. Für
die neue Epoche kursiert seit längerem auch schon ein Name, das
Anthropozän. Ob dieser Begriff
angenommen wird, wann der Beginn des neuen Zeitalters anzusetzen wäre und ob das Anthropozän
nur eine Stufe innerhalb der Epoche des Holozäns darstellt, sind
offene Fragen und Gegenstand der
Debatte in Fachkreisen.
Entscheidend für die Bestimmung eines neuen geologischen
Zeitalters - bleiben wir der Einfachheit halber beim AnthropoMi, 31. August 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
zän - ist nicht, daß der Mensch
die Umwelt verändert, sondern
daß er die Geologie beeinflußt.
So wie aus den Sedimentschichten die klimatischen Verhältnisse vergangener Erdzeitalter herausgelesen werden können, so
ist auch in den heutigen Ablagerungen, die irgendwann durch
den auflastenden Druck neuer
Sedimentschichten entwässert
werden, sich verfestigen und
schließlich versteinern, der
menschliche Einfluß nachweisbar.
stoff- und Phosphorkreislauf
auftreten. Zu den weiteren Indizien wird der Beginn des Klimawandels und Meeresspiegelanstiegs und die unkontrollierte Invasion fremder Arten gerechnet.
Viele Veränderungen seien geologisch langlebig und manche
sogar irreversibel. In den geologischen Schichten fände sich ein
Bündel an Signalen, beispielsweise durch Partikel von Plastik,
Aluminium, Beton, künstliche
Radionuklide, Flugasche und
biologische Überbleibsel sowie
durch Veränderungen in der IsoDiese Woche Montag hat die vor topenzusammensetzung von
sieben Jahren einberufene, inter- Kohlenstoff und Stickstoff.
nationale Anthropozän-Arbeitsgruppe (Anthropocene Working Bevor die Wissenschaft ein neuGroup, AWG) ihre Empfehlungen es geologisches Zeitalter ausruft,
auf dem 35. Internationalen Geo- muß die AWG noch einen forlogischen Kongreß, der vom 27. malen Vorschlag bei der SubAugust bis 4. September in Kap- kommission zur Quartärstratistadt stattfindet, vorgestellt. [1] graphie (Subcommission on
Quaternary Stratigraphy, SQS),
Der AWG zufolge ist das Kon- von der sie einberufen worden
zept des Anthropozäns, wie es war, einreichen. Nimmt die SQS
von dem Chemie-Nobelpreisträ- den Vorschlag an, reicht sie ihn
ger Paul Crutzen und dem US- offiziell an die nächsthöhere
Biologieprofessor Eugene Stoer- wissenschaftliche Verbandsebemer im Jahr 2000 genannt wird, ne, die Internationale Stratigra"geologisch real" und von einem phiekommission (International
Ausmaß, daß es in die geologi- Commission on Stratigraphy,
sche Zeitskala aufgenommen ICS) weiter. Als letztes muß
werden sollte. Der menschliche dann noch der Exekutivrat der
Einfluß habe zwar seit Tausen- Internationalen Geologischen
den von Jahren erkennbare geo- Union (International Union of
logische Spuren hinterlassen, Geological Sciences, IUGS) den
aber erst gegen Mitte des 20. Vorschlag ratifizieren. Der geJahrhunderts träten diese we- samte Vorgang dürfte mehrere
sentlich und nahezu zeitgleich in Jahre in Anspruch nehmen.
den Erdsystemen weltweit auf.
Mit der Bezeichnung AnthropoDie AWG macht die Verände- zän wird zwar eine Vielzahl von
rungen daran fest, daß die Ge- Debatten, die in der Umweltschwindigkeit von Erosion und und Klimaschutzbewegung geSedimentation deutlich zuge- führt werden, aufgegriffen, aber
nommen hat und umfangreiche keinesfalls kann man davon auschemische Störungen unter an- gehen, daß die an der Erarbeiderem im Kohlenstoff-, Stick- tung der neuen geologischen
Mi, 31. August 2016
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Epoche beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Arbeit verrichten,
um der Bewegung Rückhalt zu
geben. Die Wissenschaft beschreibt die Entwicklung nur und
konstatiert die Zunahme des
menschlichen Einflusses auf die
Natursysteme, aber sie nimmt
dazu keinen Gegenstandpunkt
ein. Welche Folgen so eine Einstellung haben kann, wird am
Beispiel von Paul Crutzen deutlich, der den Begriff "Anthropozän" nicht erfunden, aber ihn bekanntgemacht hat.
Crutzen befürwortet Geoengineering und hat entsprechende
Berechnungen publiziert. Er
schlägt vor, Schwefelpartikel in
die obere Atmosphäre zu injizieren. Dadurch würde ein genügend großer Teil der Sonneneinstrahlung ins Weltall reflektiert,
um auf diese Weise die globale
Erwärmung zu unterbinden. Der
Wissenschaftler ignoriert nicht
die Nebenwirkungen, die ein
solches Vorhaben auslösen würde, aber er wägt sie gegenüber
den Folgen, die der Klimawandel zeitigen wird, ab.
Wenn Crutzen und andere Wissenschaftler vom Anthropozän
sprechen, ist das zunächst einmal
rein deskriptiv gemeint. Das ist
einer der Gründe, warum Kritik
an der Bemühung um die Ausrufung eines menschengemachten
Zeitalters vorgebracht wurde.
Denn die vermeintliche wissenschaftliche Neutralität ist ihrerseits eine klare Stellungnahme,
beispielsweise hinsichtlich der
angeblichen Machbarkeit des
Geoengineerings, des dabei vermeintlich unverzichtbaren Einsatzes marktwirtschaftlicher
Kräfte, etc.
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Elektronische Zeitung Schattenblick
Der Politikwissenschaftler und
Marxist Elmar Altvater regt an,
das neue Zeitalter "Kapitalozän"
zu nennen, weil sich die destruktiven Produktivkräfte der kapitalistischen, dem Wachstumszwang unterliegenden Wirtschaft geologisch niederschlagen. [2] Altvater bezieht sich unter anderem auf den historischen
Geographen Jason Moore, der
das Buch "Anthropocene or Capitalocene? Nature, History, and
the Crisis of Capitalism" (London 2016) herausgegeben hat
und ebenfalls Vertreter einer
Kritik am Anthropozänbegriff
von links ist.
Dahinter steckt zugleich eine
grundsätzliche Kritik an Wissenschaft und den ihr zugrundeliegenden Produktionsbedingungen. Mason und Altvater werden
sicherlich nicht damit rechnen,
daß ihre Anregungen von der
Geologenzunft aufgegriffen und
angenommen werden. Der Nutzen ihrer Ausführungen liegt jedoch darin, einen vermeintlich
wertneutralen Begriff wie Anthropozän zu demaskieren und
zu verdeutlichen, daß bereits bei
der Namenssuche gesellschaftliche Widersprüche unter den
Tisch fallen.
formen stattfinden. Schon vor
mehreren tausend Jahren hat der
Mensch Spuren hinterlassen. Einige Wissenschaftler vertreten
deshalb die Ansicht, daß der Beginn des Anthropozäns bereits
vor 7.000 Jahren mit der Abholzung von Wäldern angesetzt
werden sollte.
Zeitgleich mit dem Kapitalismus
und besonders dem Aufkommen
seiner neoliberalen Phase ist allerdings auch die Weltbevölkerung explodiert. Damit einhergehend hat die Verwertung der
Um- und Mitwelt des Menschen
stark zugenommen. Sicherlich
muß die Antwort auf die Frage,
ob es nicht unter allen gesellschaftlichen Zusammenschlüssen zur massiven Umgestaltung
der Landschaft durch den Menschen gekommen wäre, also
auch jenseits von Kapitalismus
und Staatskapitalismus, spekulativ bleiben. Doch solange der
Mensch Stoffwechsel betreiben
muß, wird er Nahrung benötigen, und damit fangen die Probleme an. Selbst wenn es gelänge, beispielsweise die von der
kapitalistischen Produktionsweise begünstigte Massentierhaltung und den Monokulturanbau abzuschaffen, ohne daß deshalb Menschen zusätzlichen
Mangel erlitten, würden diese
weiterhin essen, trinken, atmen,
ausscheiden und dadurch zu einem erkennbaren geologischen
Faktor werden. (Im übrigen vermögen Massentierhaltung und
Monokulturanbau nicht zu verhindern, daß gegenwärtig rund
800 Millionen Menschen weltweit chronisch hungern und zwei
Milliarden mangelernährt sind.)
Hier könnte man noch einen
Schritt weitergehen als die Kritiker, ohne deshalb die Relevanz
ihrer Einwände und Forderungen
schmälern zu wollen. Die Verwertung der Um- und Mitwelt
hat zwar im Kapitalismus exzessive Ausmaße angenommen,
fand aber auch bei der Systemkonkurrenz im staatlichen gelenkten Sozialismus östlicher
Couleur statt und würde im Prinzip auch bei der Verbreitung ur- Wenn sieben Milliarden Mensprünglicher, indigener Lebens- schen in Stammeskulturen lebSeite 12
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ten, wären also auch die Folgen
dieser Lebensform geologisch
erkennbar. Wobei der Wissenschaft sicherlich keine so überwältigende Auswahl an Kriterien vorläge, an denen sie die Ablösung des Holozäns durch das
Anthropozän festmachen könnte. "Kapitalozän" bildete demgegenüber jedoch eine Einschränkung und würde seinerseits dazu beitragen, daß die
grundsätzliche Frage des Stoffwechsels und der damit einhergehenden Folgen ausgespart
wird. Gegen eine Gestaltung der
Umwelt durch den Menschen
spräche per se nichts, sofern es
gelänge, daß sich dies nicht zu
Lasten der Mit- und Umwelt
richtet - ein völlig illusorischer
Anspruch, der jedoch auf das
Problem der Voraussetzungen
der eigenen Existenz aufmerksam macht. Darum ist Anthropozän der geeignetere Begriff.
Den Kritikern bleibt es unbenommen, diesen auf eine Weise
zu verwenden, daß die gesellschaftlichen Widersprüche, die
sie mit ihrer Forderung nach
Ausrufung eines "Kapitalozän"
benennen, vielleicht sogar noch
treffender zur Sprache kommen.
Anmerkungen:
[1] http://www2.le.ac.uk/offices/press/press-releases/2016/august/media-note-anthropoceneworking-group-awg
[2] Näheres dazu unter:
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/meinung/umme252.html
http://www.schattenblick.de/
infopool/umwelt/meinung/
umme­254.html
Mi, 31. August 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
BUCH / SACHBUCH / REZENSION
No Such Thing As A Free Lunch
The Gates Foundation and the Price of Philanthropy
von Linsey McGoey
Die Frage, wem gemeinnützige
Stiftungen eigentlich am meisten
dienen, der Allgemeinheit, wie ihr
Name suggeriert, oder doch den
Gründern und Betreibern, was
viele vermuten, steht zwar schon
länger im Raum, gewinnt dieser
Tage jedoch durch die Kontroverse um die Clinton Foundation an
Aktualität. Hillary Clinton, die
sich anschickt, im kommenden
November zur ersten Präsidentin
der USA gewählt zu werden, wird
von Vorwürfen verfolgt, sie und
ihr Gatte Bill Clinton hätten die
nach dessen Ausscheiden aus dem
Präsidentenamt 2001 gegründete
Stiftung genutzt, um sich und ihre Amigos zu bereichern und politisch-gesellschaftlichen Einfluß
zu gewinnen.
Hillary Clinton steht im Verdacht,
sie habe als Außenministerin Barack Obamas lukrative Geschäfte
genehmigt bzw. eingefädelt, deren Nutznießer im Gegenzug der
Clinton-Stiftung Spendenbeiträge
in Millionenhöhe zukommen ließen. Zur "Pay-to-play"-Kontroverse um die Clinton Foundation
gehören unter anderem die Vergabe von Mobiltelefonlizenzen an
den irischen Medienmogul Dennis O'Brien in der Karibik im allgemeinen und Haiti im besonderen sowie der Export gigantischer
Mengen amerikanischer Waffen
und Munition an das königliche
"Regime" Saudi-Arabiens. Es
sieht alles danach aus, als habe
Mi, 31. August 2016
Clinton in den vier Jahren als USChefdiplomatin entgegen allen
Vorschriften aus dem Grund ihren
gesamten beruflichen und privaten Email-Verkehr über einen
Server im Keller des eigenen Privathauses in New York abgewickelt, das zwielichtige Treiben
zu vertuschen. In der komplizierten und politisch brisanten Angelegenheit laufen derzeit beim FBI
und Justizministerium mehrere
Korruptionsermittlungen unter
Beteiligung des für den Southern
District of New York und damit
für das Bankenviertel um die Börse an der Wall Street zuständigen
Chefanklägers Preet Bharara.
In ihrem Buch "No Such Thing
As A Free Lunch - The Gates
Foundation and the Price of Philanthropy" setzt sich die Kanadierin Linsey McGoey, die heute Soziologie an der University of Essex in England lehrt, mit der Bill
and Melinda Gates Foundation,
die von dem Microsoft-Mitbegründer 1999 ins Leben gerufen
wurde und mit Einlagen in Höhe
von 43 Milliarden Dollar die mit
Abstand größte Privatstiftung der
Welt ist, kritisch auseinander. Die
selbstgestellte Frage, "Macht
Philanthrophie die Reichen reicher und die Armen ärmer?", beantwortet McGoey, die als Beraterin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Auswirkung
von Projekten der Gates-Stiftung
in Afrika, Asien und Lateinameriwww.schattenblick.de
Linsey McGoey
No Such Thing As A Free Lunch
The Gates Foundation and the
Price of Philanthropy
Verso, London/New York, 2015
296 Seiten
ISBN: 978­1­78478­083­8
ka hautnah verfolgen konnte, mit
einem eindeutigen Ja.
McGoey zeigt die geschichtliche
Kontinuität zwischen den karitativen Anstrengungen des Ölmagnaten John D. Rockefeller und
des Stahlindustriellen Andrew
Carnegie Ende des 19. Jahrhunderts in den USA und denjenigen
Bill Gates', des Finanzspekulanten Warren Buffett und des Google-Chefs Eric Schmidt heutzutage auf. In der Industrialisierungsphase zwischen dem Amerikanischem Bürgerkrieg und dem Ersten Weltkrieg hatten die beiden
genannten "Räuberbarone" ähnlich dem Bankenkrösus Henry
Morgan und dem Eisenbahnbetreiber und Reeder Cornelius
Vanderbildt mit brutalsten Methoden riesige Firmenimperien
aufgebaut. Am Ende ihres Lebens, als zur Jahrhundertwende in
den USA der Widerstand der arbeitenden Bevölkerung gegen die
enorme Wohlstandsschere wuchs,
entdeckten Carnegie und Rockefeller bei sich eine soziale Ader.
Ersterer baute ein länderübergreifendes Netzwerk von Bibliotheken auf, um dem Volk Muse und
Bildung zu ermöglichen, letzterer
gründete die Rockefeller-Stiftung, die lange Zeit die führende
Wohltätigkeitsvereinigung war
und für das Stiftungswesen amerikanischer Art bis heute Vorbildcharakter hat. Schon damals gab
es Kommentatoren, die meinten,
Seite 13
Elektronische Zeitung Schattenblick
die Stiftungsgründer setzten sich
selbst Denkmäler und versähen
ihr teuflisches Lebenswerk mit einer christlichen Patina.
Die Rockefeller Foundation trug
später zur Entstehung der WHO
bei, während das von Morgan und
Gleichgesinnten gegründete
Council on Foreign Relations
(CFR), das bis heute mit seiner alle zwei Monate erscheinenden
Fachzeitschrift Foreign Affairs
die einflußreichste Denkfabrik
der Welt geblieben ist, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs USPräsident Franklin D. Roosevelt
die Blaupause für die Vereinten
Nationen vorlegte. Für New York
als Standort des UN-Hauptquartiers entschied man sich, als John
D. Rockefeller jun. das passende
Grundstück an der Pelican Bay im
Wert von 8,5 Millionen Dollar
spendete. Rockefeller profitierte
von der großzügigen Geste, gehörten ihm doch an der Upper
East Side von Manhattan zahlreiche Immobilien, die durch die
ausgelöste Nachfrage nach passenden Botschaftsgebäuden und
Wohnungen für Diplomaten und
ihre Familien aus aller Welt einen
beträchtlichen Wertanstieg erfuhren.
Ähnlich den Zuständen während
der Gilded Age in den USA
sacken die Schwerreichen im industrialisierten Westen durch Privatisierung und Steuervergünstigungen seit Jahrzehnten einen immer größeren Anteil am Volksvermögen ein. Aus ihrer Perspektive
stellt die Investition in Stiftungen,
mittels derer man direkt politischen Einfluß auf gesellschaftliche Bereiche wie Gesundheit und
Bildung ausüben kann, eine mehr
als sinnvolle Geschäftsentscheidung dar. McCoey stellt ihrerseits
Seite 14
die von Gates, Buffett et al. propagierte These, wonach die Konzernlenker mit Weitblick global
mit ihren Stiftungsgeldern mehr
Gutes tun als die gewählten Politiker, wären jene Summen einfach
als Steuern in die Staatskasse geflossen, erheblich in Zweifel. Sie
begründet ihre Skepsis beispielsweise mit einer ausführlichen Erläuterung des Einsatzes der Gates-Stiftung für das Privatschulwesen, das in den letzten eineinhalb Jahrzehnten das Bildungssystem in den USA revolutioniert
hat - leider nicht zum Besseren.
Mittels sehr häufigen Testens
niedrig-standardisierter Inhalte Stichwort "Common Core" - hat
man den Lebensalltag für Millionen Schüler und Lehrer zur
sinnentleerten Tortur gemacht.
Die Gates-Stiftung hat auch größere Summen in das sogenannte
E-Lernen gesteckt, das sich zu einem hochlukrativen Geschäftsfeld für Medienkonzerne wie
Pearson und Rupert Murdochs
News Corporation zu entwickeln
verspricht.
Die Gates Foundation steuert inzwischen mit rund zehn Prozent
mehr Geld als jede andere Einzelinstanz zum Jahresbudget der
WHO bei. McCoey würdigt die
produktive Arbeit, welche die
Stiftung in diesem Zusammenhang wie zum Beispiel mit ihrer
Impfkampagne gegen Malaria leistet, hat jedoch mit mehreren anderen Aspekten erhebliche Probleme. Sie kritisiert die fast ausschließliche Ausrichtung auf die
Bekämpfung von ansteckenden
Krankheiten, obwohl es die chronischen wie Krebs und Herzleiden sind, welche inzwischen auch
in der unterentwickelten Welt
jährlich die meisten Todesfälle
verursachen. McCoeys Erörterunwww.schattenblick.de
gen lassen die Schlußfolgerung
zu, daß es der Gates Foundation
hier vor allem um die Verbreitung
des seit Jahrzehnten für die Kranken überteuerten und ineffektiven, für die Pharmaindustrie
hochprofitablen amerikanischen
Gesundheitssystems inklusive der
Patentrechte für Medikamente
geht.
Bauchschmerzen bereitet McCoey auch die enge Kooperation
der Gates-Stiftung mit Konzernen
wie Monsanto und Coca Cola im
Bereich der Landwirtschaft und
Lebensmittelproduktion. Hinter
der Initiative, mittels genveränderten Saatguts eine "grüne Revolution" im afrikanischen Agrarwesen herbeizuführen, sieht sie
vor allem die Eroberung ausländischer Märkte durch multinationale Konzerne wie Nestlé. Die
Verfügungsgewalt, die Monsanto
beispielsweise im landwirtschaftlichen Sektor Indiens ausübt, hat
dort zu einer grausamen Selbstmordwelle unter den Kleinbauern
geführt. Unfähig, ihre Schulden
und die nächste Tranche für das
teuere Saatgut Monsantos zu bezahlen, haben sich auf dem indischen Subkontinent seit 1995
mehr als 300.000 Bauern umgebracht - in den meisten Fällen
durch das Trinken giftigen Pflanzenschutzmittels.
McCoey stört die Leistungsideologie, die Leute wie Bill Gates
propagieren. Sie erkennt im modernen Stiftungswesen den Ansatz, das herrschende Gesellschaftsmodell zu zementieren und
seine Infragestellung unmöglich
zu machen. Durch die gezielte
Vergabe von Forschungsgeldern
sind die modernen Philanthropen
dabei, eine unkritische, lediglich
am Wohle ihrer Geldgeber und
Mi, 31. August 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
der dahinterstehenden Großkonzerne ausgerichtete Wissenschaft
heranzuzüchten. Gegen diese Gefahr und für eine offenere Debatte über die Definition des Gemeinwohls, über Wege zur Reduzierung sozialer Ungleichheit sowie zur Erreichung einer gerechteren Globalgesellschaft in Zeiten
von Klimawandel, Artenschwund
und Ressourcenmangel ist Linsey
McCoeys "No Such Thing As A
Free Gift" ein flammendes und
spannendes Plädoyer. Die Gates
Foundation und ähnliche Einrichtungen sind Teil des Problems,
nicht der Lösung, nur wollen ihre
Betreiber dies natürlich nicht
wahrhaben.
http://www.schattenblick.de/
infopool/buch/sachbuch/
busar660.html
SPORT / BOXEN
Ausbruch aus dem
goldenen Käfig
Luis Ortiz und sein Promoter
gehen fortan getrennter Wege
(SB) 30. August 2016 ­Der
Schwergewichtler Luis Ortiz und
die Golden Boy Promotions gehen fortan getrennter Wege. Dem
Vernehmen nach hat sich der in
Miami lebende Kubaner mit einer
siebenstelligen Summe aus seinem laufenden Vertrag freigekauft und kann sich nun entweder
nach einem anderen Promoter
umsehen oder die Vermarktung in
die eigenen Hände nehmen. Wie
der Sprecher von Golden Boy,
Stefan Friedman, in einer Stellungnahme dazu erklärte, trenne
man sich einvernehmlich. Man
Mi, 31. August 2016
sei stolz auf die in gemeinsamer
Arbeit erreichten Ziele wie insbesondere den Interimstitel der
WBA und die erfolgreichen Titelverteidigungen. Man wünsche
Luis und seinem Team alles Gute
auf dem weiteren Weg.
Von Einvernehmen kann indessen
kaum die Rede sein, zeugt doch
die Trennung von einer Kontroverse, die nicht beigelegt werden
konnte. Ortiz und sein Promoter
hatten sich auf eine Titelverteidigung gegen den Pflichtherausforderer Alexander Ustinow am 17.
September geeinigt, die vor
großer Kulisse im Vorprogramm
des Kampfs zwischen Saul "Canelo" Alvarez und Liam Smith in
Arlington ausgetragen werden
sollte. Da der Sender HBO die
Höhepunkte der Veranstaltung im
Pay-TV überträgt, wäre dies der
Popularität des Kubaners sicher
zugute gekommen. Wie es hieß,
habe Ortiz aber auf Nachverhandlungen gedrängt und mehr Geld
gefordert.
Daß ein Zerwürfnis vorlag, hatte
sich bereits einige Tage zuvor
abgezeichnet, als die Veranstaltungsrechte am Kampf gegen
Ustinow in die Versteigerung
gingen, aber Golden Boy kein
Gebot abgab. So saß Wlad Hrunow im Auftrag des russischen
Promoters Andrej Riabinskij als
einziger Bieter im Raum und gab
das Mindestgebot 600.000 Dollar
ab.
Da Ortiz als Titelverteidiger 60
Prozent dieser Summe zustehen,
bekommt er 360.000 Dollar,
während für den weißrussischen
Herausforderer 240.000 Dollar
abfallen. Der Kampf könnte am
19. November in Las Vegas,
Moskau oder Minsk ausgetragen
werden, wobei Golden Boy dazu
anmerkte, daß der Kubaner
höchstwahrscheinlich weniger
als bei dem ursprünglich geplanten Auftritt bekommen würde.
Zum einen schlügen bei einem
Kampf im Ausland höhere Steuern zu Buche, zum anderen entfielen Nebeneinkünfte, die er bei
Sein Promoter lehnte jedoch eine einer Veranstaltung seines eigeNachbesserung der vereinbarten nen Promoters bekäme.
Summe ab und stellte ihn vor die
Wahl, entweder zu diesen Bedin- Ob es tatsächlich zum Kampf
gungen in den Ring zu steigen zwischen dem 37jährigen Ortiz,
oder sich aus dem Vertrag her- der in 25 Kämpfen ungeschlaauszukaufen. Das Team des Ku- gen ist, und dem zwei Jahre älbaners entschied sich für die teren Ustinow kommt, für den
zweite Möglichkeit und beglich 33 Siege und eine Niederlage
die von Golden Boy geforderte verbucht sind, steht derzeit noch
Summe in mehreren Raten. Der nicht fest. Was den Streit mit
Gründer, Mehrheitsaktionär und seinem ehemaligen Promoter
geschäftsführende Präsident des betrifft, dürften die beiderseitiUnternehmens, Oscar de la Hoya, gen Versionen erheblich vonfand nach Angaben aus seinem einander abweichen. Soweit
Umfeld diese Entwicklung absto- man es anhand der bekannten
ßend, sei aber zu dem Schluß ge- Faktenlage einschätzen kann,
kommen, daß das Leben zu kurz haben die Golden Boy Promotiist, um mit Leuten zusammenzu- ons bei der Vermarktung des
arbeiten, die getroffene Vereinba- Kubaners ihre Sache nicht
rungen nicht einhielten.
schlecht gemacht.
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Elektronische Zeitung Schattenblick
Nachdem Ortiz im Jahr 2014
durch einen Sieg in der ersten
Runde über Lateef Kayode den
vakanten Interimstitel gewonnen
hatte, wurde er positiv auf eine
verbotene Substanz getestet. Daraufhin wurde ihm der Titel aberkannt, eine Geldstrafe und eine
Sperre verhängt und die Wertung
des Kampfs annulliert. Golden
Boy stand jedoch weiter zu ihm,
verschaffte ihm nach Ablauf der
Suspendierung einen Aufbaukampf und im Anschluß daran die
Chance, sich den Interimstitel erneut zu sichern.
Im Vorprogramm des Kampfs
zwischen Gennadi Golowkin
und David Lemieux, der von
HBO im Pay-TV übertragen
wurde, besiegte Ortiz den überforderten Matias Ariel Vidondo
in der dritten Runde und verteidigte in der Folge den wiedergewonnen Titel zweimal erfolgreich. In beiden Fällen plazierte
der Promoter des Kubaners dessen Auftritte als Hauptkampf bei
HBO, und so konnte Ortiz sein
überragendes Können auf großer
Bühne präsentieren. Im Dezember dominierte er Bryant Jennings auf eindrucksvolle Weise
und schickte ihn in der siebten
Runde geschlagen auf die Bretter. Anfang März mußte Tony
Thompson im sechsten Durchgang die Segel streichen, worauf
viele Experten der Auffassung
waren, der Kubaner sei derzeit
der führende Akteur im Schwergewicht. [1]
Unter diesen Voraussetzungen
müßten sich andere Promoter im
Grunde um Luis Ortiz reißen,
dessen Zukunftspläne vorerst
noch im Dunkeln liegen. Sollte
der Kubaner beispielsweise bei
Lou DiBella unterschreiben,
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wäre er zweifellos eine Bereicherung im Team des Beraters
Al Haymon, der dank seines beträchtlichen Einflusses für einen
Anschub sorgen könnte. Sollte
Ortiz vor allem deswegen unzufrieden mit seiner Situation bei
Golden Boy gewesen sein, weil
ihm angesichts seines Alters
nicht mehr allzu viel Zeit bleiben dürfte, um doch noch Weltmeister im Schwergewicht zu
werden, wäre ihm die Ungeduld
nicht zu verdenken.
Angesichts seiner ausgereiften
technischen Fertigkeiten und
gewaltigen Schlagwirkung wäre
ihm durchaus zuzutrauen, einen
der amtierenden Titelträger vom
Thron zu stoßen. Mit dem Briten Tyson Fury hätte er leichtes
Spiel, ein Duell mit dem WBCChampion Deontay Wilder wäre sicher höchst attraktiv, und
auch der britische IBF-Weltmeister Anthony Joshua hätte allen
Grund, ihm tunlichst aus dem
Weg zu gehen. Indessen ist Joshua erst 26 Jahre alt und könnte
solange abwarten, bis Ortiz körperlich nachgelassen hat. [2]
Joshuas Promoter Eddie Hearn
hat jedenfalls keinerlei Interesse
erkennen lassen, seinen Champion mit Ortiz zusammenzuführen.
Gleiches gilt für Fury und Wilder, die den Namen des Kubaners niemals nennen, wenn sie
ihre Zukunftspläne darlegen.
Luis Ortiz ist vorerst schlicht zu
gefährlich, als daß ihm irgendein
Schwergewichtler ein Angebot
machen würde, der einen Gürtel
zu verlieren hat. Für Alexander
Ustinow sieht die Sache anders
aus, da ihm im Alter von 39 Jahren ebenfalls die Felle wegzuschwimmen drohen, sollte er
nicht in absehbarer Zeit einen
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Titelkampf bekommen. Zudem
ist er von nicht minder imposanter Statur wie der Kubaner und
so robust, daß er sich zumindest
gewisse Chancen ausrechnen
kann, diesen schweren Gang erfolgreich zu überstehen.
Sollte sich Luis Ortiz mit dem
Gedanken tragen, seine Karriere
in Eigenregie voranzutreiben,
wäre nicht abzusehen, wie das
seinen Aufstieg beschleunigen
sollte. Zieht man beispielsweise
in Betracht, wie lange Tyson Fury schon die Revanche mit Wladimir Klitschko verzögert hat,
stünde dem Kubaner eine womöglich jahrelange Wartezeit
mit ungewissem Ausgang ins
Haus. Deontay Wilder kuriert
derzeit seine Verletzungen aus
und wird wohl erst 2017 in den
Ring zurückkehren. Anthony
Joshua ist mindestens bis in den
Sommer nächsten Jahres verplant und wird sich auch danach
hüten, die Wege des Kubaners zu
kreuzen. Luis Ortiz braucht wohl
oder übel einen einflußreichen
Promoter, der ihm die entscheidenden Türen öffnet.
Anmerkungen:
[1] http://www.espn.com/boxing/story/_/id/17379144/luis-ortiz-splits-golden-boy-becomesfree-agent
[2] http://www.boxingnews24.com/2016/08/luis-ortizgolden-boy-promotions-partways/#more-215542
http://www.schattenblick.de/
infopool/sport/boxen/
sbxm2041.html
Mi, 31. August 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
SPORT / MEINUNGEN / KOMMENTAR
Nichts tun verboten ...
Selftracking als Schüler­ und Studentenpflicht?
SelfTracking-Armbänder und HealthApps haben ohne Zweifel Hochkonjunktur. Fitnessbranche, Gesundheits- und Lifestyleindustrie,
aber auch IT-Unternehmen und
Sportartikelkonzerne bringen ständig neue "Wearables" auf den
Markt. Das Versprechen auf gesteigerte "Gesundheit", "Leistungsfähigkeit" oder "Effizienz"
ködert in zunehmenden Maße auch
Schüler und Studenten, die ebenfalls einem harten Wettbewerb um
Noten, Lernleistungen und Karrierechancen ausgesetzt sind. Seit
einigen Jahren macht sich den
USA eine Entwicklung breit,
Schüler und Studierende zum
"freiwilligen" Tragen von SelfTracking-Armbändern zu verpflichten. In vielen Fällen sollen
diese digitalen, am Körper getragenen Meßgeräte, die zahlreiche
Vitalwerte und Bewegungsdaten
erheben können, nur im Sportunterricht angelegt werden. Einige
Bildungseinrichtungen verlangen
aber auch eine Überwachung rund
um die Uhr und fangen an,
Trackingsdaten und schulische
Leistungen bzw. Benotungen miteinander zu verschmelzen.
(SB) 30. August 2016 ­
gleich besser überwachen können.
IHT wirbt auf seiner Website damit, die individuelle Fitness der
Schüler mit den schulischen Leistungen korrelieren, die Unterrichtsführung optimieren, alle Beteiligten verbinden und die Schüler befähigen zu können, Gesundheit und Wohlbefinden selbständig
zu managen - "für das Leben"! [1]
Damit die Heranwachsenden frühzeitig lernen, woraufes im Leben
ankommt, wird ihnen schon im
zarten Kindesalter ein Überwachungsreif um das Handgelenk gelegt, der sie "vom Kindergarten bis
zum Schulabschluß", so die Zielvorgabe des "IHT Spirit Systems",
an die Fitness-Leine legt. Aufdiese Weise können auch Eltern und
Lehrer (und später die Gesundheitsbehörden oder Versicherer)
ständig überprüfen, ob die Schüler
noch Bewegungs- oder Gesundheitsdefizite abzuarbeiten haben.
Freies Spielen ohne Algorithmen
und Datenabgleiche findet indessen immer weniger statt. Die kindliche Aufmerksamkeit wird schon
früh auf Scores, Level oder Rankings gelenkt. "Fat Shaming" droht
insbesondere übergewichtigen
oder fettleibigen Kindern, die mit
In Partnerschaft mit dem US-Kon- den "positiven" Zahlenwerten oder
zern Interaktive Health Technolo- Verlaufskurven ihrer Klassenkagies (IHT) hat das deutsche DAX- meraden nicht mithalten können.
Unternehmen Adidas kürzlich
einen Fitnesstracker speziell für "Das Leben leben ohne Grenzen"
amerikanische Grundschulkinder lautet das Freiheitsversprechen der
präsentiert, mit dem SportlehrerIn- IHT-Werbetexter, was die Träger
nen die Kinder angeblich zu mehr offenbar vergessen machen soll,
Aktivitäten anspornen und zu- daß ihre Bringschuld in der EndMi, 31. August 2016
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losschleife der Selbstvermessung
in der Tat grenzenlos ist. IHT bringe alle Daten auf seiner Plattform
zusammen und ermögliche es den
"Entscheidungsträgern", so heißt
es auf der Website, Leistungspotentiale auszuschöpfen: "Die Erfassung und Korrelation von Herzfrequenz, Fitness-Tests und aller
Beurteilungen zu schulischen Leistungen - Tag für Tag, Jahr für Jahr,
bei jedem Schüler." [1] Im vergangenen Jahr sollen in den USA rund
600.000 Schüler das IHT-Netzwerk genutzt haben. Mit Hilfe von
Adidas soll 2016 die MillionenMarke überboten werden.
Lebensprotokollierung wird zunehmend zur Schüler- und Studentenpflicht. Anfang des Jahres sorgte die Oral Roberts University in
Tulsa (Oklahoma) für Schlagzeilen, weil sie ihren ErstsemesterStudenten auferlegt hat, Fitnesstracker zu tragen, um ihre sportlichen Aktivitäten überprüfen zu
können. Die private Uni rechtfertigt ihr Vorgehen mit einem ganzheitlichen Konzept, das sowohl die
Gesundheit von Körper und Geist
der Studenten als auch ihre akademischen Leistungen heben soll.
Dabei gehen die sportlichen Aktivitäten der Studenten (auch der unsportlichen) zu 20 Prozent in deren
Noten ein. Die Studierenden sollen
dazu gebracht werden, jeden Tag
mindestens 10.000 Schritte zu gehen bzw. 150 Minuten in der Woche aktiv zu sein sowie am Ende
des Semesters einen 1,5-MeilenLauf zu absolvieren. Die Meßwerte, darunter auch Daten über Gewicht, Schlafdauer und Aufenthaltsort, sendet das Gerät der Marke "Fitbit" automatisch an ein Management-System auf dem Server
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der Schule. Wer sich den Auflagen
der christlich-konservativen Uni
nicht unterwerfen möchte, muß
sich woanders einen Studienplatz
suchen.
Da die Oral Roberts University
(ORU) die erste Bildungseinrichtung ihrer Art in den USA ist, die
elektronische Bewegungsdaten
über ihre Studenten sammelt und
diese in direkten Zusammenhang
mit Lernleistungen bringt, befindet sich alles noch im Experimentierstadium. Schon melden sich in
den USA besorgte Stimmen zu
Wort, die davor warnen, daß Fitnesstracker bei Menschen, die
z.B. unter Eßstörungen leiden
oder anfällig dafür sind, dazu führen könnten, daß sie noch mehr
unter sozialen oder physischen
Streß geraten, dem Druck zum
Kalorienzählen oder -abarbeiten
Folge zu leisten. Eßstörungen
könnten nicht nur verstärkt, sondern vor dem Hintergrund von
Schlankheitswahn und höchst
zweifelhafter Schönheitsideale in
der Gesellschaft bei vielen überhaupt erst ausgelöst werden.
In Reaktion auf die Anforderungen
für Erstsemester an der ORU hat
Kaitlin Irwin von "Proud2BMe",
ein Abzweiger der National Eating
Disorders Association (NEDA) für
Jugendliche, eine Petition gestartet
und die Uni aufgefordert, das Fitbit-Tracking- und Bewertungsprogramm zu beenden. Das Erfassen
und Benoten der Aktivitäten von
Studenten fördere eine ungesunde
Umgebung, was zu unfairen Vergleichen zwischen Studenten führen kann, kritisiert Kaitlin Irwin.
Es schaffe für alle gesundheitliche
Einheitsstandards, sporne zu Leistungsüberziehungen an und übe
noch mehr Streß aufdas Leben von
College-Studenten und ihre BetäSeite 18
tigungen aus - als Last und nicht seine Gesundheit und schöpft seials Spaß an täglicher Aktivität. [2] ne Lernfähigkeit nicht zu hundert
Prozent aus. Mit einer solch "negaWas für manche Studierende in den tiven" Einstellung zum Leben sollUSA bereits zur Pflichtübung ge- te er am besten auch gar nicht stuworden ist, könnte sich auch in dieren dürfen. Oder, wie drückte es
Deutschland, wo Testläufe noch im Kathaleen Reid-Martinez, Leiterin
Modus der Freiwilligkeit stecken, der Oral Roberts University in
zum Ein- und Ausschlußkriterium Oklahoma, in einem Spiegel-Interentwickeln. Unter dem Motto "Mit view aus: "Wer den FitnessBeurer fit fürs Studium und fit im Tracker nicht tragen will, muss ja
Leben" stattet seit neustem ein Ul- nicht bei uns studieren." [4]
mer Gesundheitsunternehmen alle
Erstsemester der privaten praxis- Anmerkungen:
Hochschule in Köln und Rheine mit [1] https://ihtusa.com/
dem Aktivitätssensor "AS 81" aus, [2] https://www.change.org/p/
der mit verschiedenen Health-Apps oral-roberts-university-oral-rokompatibel ist. Mit dem Aktivitäts- berts-university-stop-grading-stuund Schlaftracker würden die Stu- dents-on-their-fitbit-activity
dierenden Schritt für Schritt durchs [3] http://www.praxishochschuStudium begleitet, heißt es in einer le.de/media/com_acymaiPressemitteilung. Das helfe dabei, ling/upload/187_160810_pm_bedie Gesundheit zu stärken und die urer.pdf. 10.08.2016.
Lernfähigkeit zu steigern. [3]
[4] http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/us-universitaet-stuWer nicht der "Jeder-Schritt- denten-muessen-fitness-armbandzählt"-Kirche beitritt, so läßt sich tragen-a-1075206.html.
schließen, schwächt "absichtlich" 02.02.2016.
DIENSTE / WETTER / AUSSICHTEN
Und morgen, den 31. August 2016
+++ Vorhersage für den 31.08.2016 bis zum 01.09.2016 +++
Nicht zu warm und leichter Wind
treffen Jean an einem Ort,
wo die Frösche fröhlich sind,
denn sie feiern immer dort.
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Mi, 31. August 2016