Nr. 7 | 28. August 2016 NZZ am Sonntag Leibniz 300 Jahre tot, immer noch genial 16 Übler Mieter In Hartmanns Roman nistet sich Böses ein 9 Russland Wie steht es um die grosse Lesenation? 12 «White Trash» Wurzeln der amerikanischen Unterschicht 26 Bücher am Sonntag N Z Z- LI B RO.C H Die «Löwenbraut»-Saga geht weiter! NEU Paula, Frieda und Milly, die jüngeren Schwestern von Susanne Meisser, alle geboren im Chur der 1880er-Jahre, haben eine Fülle von Briefen und anderen Lebenszeugnissen hinterlassen. Anhand dieser von Hans Peter Treichler eingesehenen Dokumente, aufbewahrt in einem Horgener Familienarchiv, lassen sich die Schicksale der Schwestern über Jahre hinweg verfolgen. Die vier Frauen wagen den Schritt aus der beengten Atmosphäre einer vielköpfigen Churer Beamtenfamilie, der zwei von ihnen bis in die Pionierwelt der kanadischen Wälder führt. Hans Peter Treichler Schwesternwelten Spuren und Schicksale auf zwei Kontinenten 368 Seiten, 50 s/w Abbildungen, gebunden mit Schutzumschlag Fr. 48.–* / € 48.– ISBN 978-3-03810-200-7 Weiterhin lieferbar sind die beiden ersten Bände der Familienchronik: Hans Peter Treichler Die Löwenbraut Familiengeschichte als Zeitspiegel der Belle Epoque 6. Auflage 372 Seiten, gebunden ISBN 978-3-03823-491-3 Hans Peter Treichler Ein Seidenhändler in New York Das Tagebuch des Emil Streuli 304 Seiten, gebunden ISBN 978-3-03823-596-5 «Der Historiker Hans Peter Treichler hat die bestens verbriefte Familiengeschichte des grossbürgerlichen Horgener Seidenfabrikanten-Clans Streuli-Hüni und der mittelständischen Meissers in Chur über drei Generationen breit aufgefächert. Er ist ein gefragter Vermittler von Schweizer Geschichte.» Tages-Anzeiger NZZ Libro, Buchverlag Neue Zürcher Zeitung Postfach, CH-8021 Zürich. Telefon +41 44 258 15 05, Fax +41 44 258 13 99, [email protected]. * Unverbindliche Preisempfehlung. Erhältlich auch in jeder Buchhandlung und im NZZ-Shop, Falkenstr. / Ecke Schillerstr., Zürich Inhalt Post aus nahen und fernen Zeiten Gottfried Wilhelm Leibniz (Seite 16). Illustration von André Carrilho Früher war nicht alles besser. Aber einiges war schon schön. Handgeschriebene Briefe zum Beispiel. Elektronische Post ist gut und recht und im Vergleich zur Zustellung per Taube oder Bote unschlagbar effizient – aber wie sollen künftige Editoren den Buchfreunden dereinst die Masse der heute dauernd verschickten Nachrichten zugänglich machen? Wie sehr die lesende Welt von editorischen Efforts profitiert, zeigt die frisch herausgegebene Korrespondenz zwischen Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze (S. 4) – und dass zwei hochkarätige Philosophen keine Garanten für einen gescheiten Austausch sind, belegen die Briefe von Hannah Arendt und Günther Anders (S. 18). In beiden Fällen aber eröffnen einem die Briefe intime Zugänge zu vergangenen Zeiten und fremden Leben. Auch Gottfried Wilhelm Leibniz hat rege korrespondiert (rund 15 000 Briefe lagern in seinem Nachlass), nebenbei aber auch noch eine Rechenmaschine erfunden, Pläne für ein U-Boot entwickelt und an einer Universalsprache getüftelt. Auf S. 16 bieten wir Gelegenheit, das Wissen über das Genie aufzufrischen, auf manch anderer Seite aber wenden wir uns ganz der Gegenwart zu: Wir folgen den Strömen der Migranten (S. 22) bis zur Frage nach ihrer Integration (S. 20), wir blicken auf den Büchermarkt des postsowjetischen Russland (S. 12), und wir lesen bei Lukas Hartmann (S. 9) von einem Amokläufer – ein Thema, das den Autor seit 1976 beschäftigt. Nein, früher war nicht alles besser. Wir wünschen anregende Lektüre. Claudia Mäder Belletristik Kurzkritiken Sachbuch 4 15 Michael Angele: Der letzte Zeitungsleser Von Claudia Mäder Eva Holz, Susanne Perren (Hrsg.): Diese Urner Von Kathrin Meier-Rust Randolf Menzel, Matthias Eckoldt: Die Intelligenz der Bienen Von Kathrin Meier-Rust Martin Dahinden: Schweizer Küchengeheimnisse Von Simone Karpf Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932–1956 Von Manfred Papst 6 Colm Tóibín: Nora Webster Von Simone von Büren 7 Jan Jacob Slauerhoff: Das verbotene Reich Von Martin Zingg 8 Katja Lange-Müller: Drehtür Von Claudia Mäder 9 Lukas Hartmann: Ein passender Mieter Von Charles Linsmayer Alice Neel: Painter of Modern Life Von Gerhard Mack 10 Alfred Hayes: Alles für ein bisschen Ruhm Von Angelika Overath 11 Thomas Lang: Immer nach Hause Von Stefana Sabin Kurzkritiken Belletristik 11 Stefano Benni: Die Pantherin Von Gundula Ludwig Hazel Brugger: Ich bin so hübsch Von Manfred Papst Hermann Kinder: Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit Von Manfred Papst Margriet de Moor: Schlaflose Nacht Von Claudia Mäder Sachbuch 16 Thomas Sonar: Die Geschichte des Prioritätsstreits zwischen Leibniz und Newton Hans Poser: Leibniz’ Philosophie Eike Christian Hirsch: Der berühmte Herr Leibniz Von André Behr 18 Hannah Arendt, Günther Anders: «Schreib doch mal hard facts über Dich». Briefe 1939 bis 1975 Von Manfred Koch 19 Sayed Kashua: Eingeboren Von Claudia Kühner Manuel Menrath: Mission Sitting Bull Von Kathrin Meier-Rust Essay 12 Harte Zeiten für das «Leseland» 25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion beschreibt die Slawistin Sabina Meier Zur, wie sich Russlands Bücherwelt verändert hat Agenda Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Heinrich Heine 20 Françoise Giroud: Ich bin eine freie Frau Von Sandra Leis Herfried Münkler, Marina Münkler: Die neuen Deutschen Von Victor Mauer 21 Oliver Hilmes: Berlin 1936 Von Eckhard Jesse 22 Patrick Kingsley: Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise Von Holger Heimann Joakim Eskildsen: American Realities Von Simone Karpf 23 Michael Hermann: Was die Schweiz zusammenhält Von Urs Rauber Uwe Schultz: Giacomo Casanova oder die Kunst der Verführung Von Michael Fischer 24 Peter Achten: Abschied von China Joachim Rudolf, Elisabeth Tester: China Von Harro von Senger 25 Klara Obermüller: Spurensuche Von Beatrice von Matt Gustave Flaubert, Maxime du Camp: Über Felder und Strände Von Janika Gelinek 26 Max Schweizer (Hrsg.): Die Schweiz im Welthandelsdorf Von Katharina Bracher Das amerikanische Buch Nancy Isenberg: White Trash: The 400-Year Untold History of Class in America Von Andreas Mink In seinem neuen Roman fängt Lukas Hartmann (S. 9) die Verunsicherung der aktuellen Gesellschaft ein. 27 Thomas B. Schumann (Hrsg.): Deutsche Künstler im Exil 1933–1945 Von Manfred Papst Bestseller August 2016 Belletristik und Sachbuch Agenda September 2016 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Claudia Mäder (cmd., Leitung), Simone Karpf (ska.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Urs Rauber, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hanspeter Hösli (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Manuela Graf (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected] 28. August 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Briefe Die Korrespondenz zwischen Gottfried Benn und dem Kaufmann Friedrich Wilhelm Oelze liegt erstmals vollständig vor. Sie umspannt die Jahre von 1932 bis 1956 und ist ein faszinierendes Zeitzeugnis MitKlarsicht, Herzlichkeit undbitterem Humor Gottfried Benn – Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932–1956. Hrsg. von Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof. Klett-Cotta/Wallstein, Stuttgart und Göttingen 2016. 4 Bände, 2234 Seiten, zahlr. Abb., Fr. 248.90. Von Manfred Papst Als in den Jahren 1978 bis 1980 die Briefe Gottfried Benns an Friedrich Wilhelm Oelze (1891–1978) erstmals erschienen, in Benns Hausverlag Limes, herausgegeben von Harald Steinhagen und Jürgen Schröder, war sofort klar: Diese Korrespondenz zählt zum Abgründigsten, Faszinierendsten und Überraschendsten, was die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Diese Bosheit, diese Illusionslosigkeit! Diese Verbindung von Klarsicht, unverstellter Herzlichkeit und bitterem Humor! Es handelte sich damals jedoch um eine Einbahnstrasse: Oelze, studierter Jurist, Kunstsammler und ein so gebildeter wie publizitätsscheuer Kaufmann, wollte seine Gegenbriefe nicht gedruckt sehen. So hat er es testamentarisch verfügt. Gegenüber dem Germanisten Ha4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. August 2016 rald Steinhagen soll er sein Verdikt jedoch kurz vor seinem Tod mündlich widerrufen haben. Wir nehmen es dankbar zur Kenntnis und sehen keinen Anlass, das Faktum anzuzweifeln. Der Forschung dient es allemal. Nun liegt also das gesamte Material, dessen die Editoren habhaft werden konnten, vor: 748 Briefe von Benn an Oelze, 569 von Oelze an Benn. Ergänzt wurden die Schreiben durch zahlreiche Manuskripte und Typoskripte, Bücher, Artikel und Fotos, die Oelze ab 1946 akribisch archivierte. Er schickte dem darbenden Dichter auch Christstollen, Zigaretten, Kaffee und Rum. Diese Realien haben sich naturgemäss nicht erhalten. Am Anfang war die Fanpost In beiden Konvoluten gibt es jedoch noch andere Lücken. Das kann nicht erstaunen, befinden wir uns in den Jahren 1932 bis 1956 doch in Zeiten von Krise und Krieg, von Trümmerlandschaften und schwierigem Wiederaufbau. Zudem hat Benn in den ersten Jahren der Korrespondenz Oelzes Briefe nicht aufbewahrt – zunächst aus Nachlässigkeit, dann wohl aus Angst vor Hausdurchsuchungen. Er hat seinen Briefpartner auch wie- derholt aufgefordert, möglicherweise belastende Dokumente zu vernichten. Zum Glück hat dieser sich offenbar nicht daran gehalten. Dass das denkwürdige Gespräch zwischen den beiden überhaupt in Gang gekommen ist, erscheint im Nachhinein wie ein Wunder. Denn auf den ersten Brief Oelzes – man darf ihn getrost als «Fanpost» bezeichnen – reagierte der fünf Jahre ältere Benn abweisend: «Mir eine grosse Freude, wenn Ihnen meine Aufsätze gefallen haben. Eine mündliche Unterhaltung würde Sie enttäuschen. Ich sage nicht mehr, als was in meinen Büchern steht.» Glücklicherweise hat Oelze sich von dieser Abfuhr nicht entmutigen lassen. Er hatte Benn auf dessen Aufsatz «Goethe und die Naturwissenschaften» hin geschrieben; er selbst war ein bedeutender Goethe-Kenner und -Sammler. Das Verhältnis der beiden Geistesgrössen war nie symmetrisch. Benn blieb der Lehrer, Oelze – seiner umfassenderen Bildung und seinem elitären Kulturbegriff zum Trotz – der Schüler. Und selbstverständlich blieb man beim «Sie». Bemerkenswert immerhin, dass Benn sich, darin dem Jüngeren folgend, 1936 auch vermuten, dass er ideologisch zunächst ähnlich in die Irre ging wie Benn. Doch bald schon konnten die Briefpartner mit der Vulgarität des Nationalsozialismus nichts mehr anfangen und gingen in die innere Emigration. Ihre Beziehung war von Krisen behaftet. Diese traten vor allem in den Jahren 1936 bis 1939 zutage, obwohl Benn in den Zeiten seiner Isolation, also von 1934 bis zum Kriegsende, auf Oelze angewiesen war. Oelze war seinerseits auf Benn fixiert, er amtete als sein Adlat und Archivar. Das war für den Dichter manchmal anstrengend. Aber er vertraute Oelze rückhaltlos, auch wenn dieser nicht verbergen konnte, dass er weder mit Benns frühen expressionistischen Gedichten noch mit dessen gelassenem Parlando der späten Jahre viel anfangen konnte. Sein Benn: Das war der formstrenge klassizistische Lyriker der 1920er bis 1940er Jahre. DEUTSCHES LITERATURARCHIV, MARBACH Mehr Ruhm, weniger Briefe seinen zahlreichen Liebesaffären. Er zeigt sich als Nihilist, der nach seiner fatalen kurzen Anbiederung an den Nationalsozialismus und seinen grauenvollen Schriften zu Züchtung und Rasse jegliche Illusionen verloren hat. Oelzes Briefe aus den frühen 1930er Jahren haben sich nicht erhalten. Was wir aus Sekundärquellen wissen, lässt jedoch Getroffen haben sich Gottfried Benn (l.) und Friedrich Wilhelm Oelze nur selten. Hier anlässlich des 70. Geburtstags von Benn. DEUTSCHES LITERATURARCHIV, MARBACH personalisiertes blaues Briefpapier beschaffte. Das war schon eine Geste, die andeutete, dass man sich auf Augenhöhe begegnete, im Bewusstsein gemeinsamer Einsamkeit. Getroffen haben Benn und Oelze sich nur selten. Benn diktierte die Regeln, obwohl er sich dem Klischee gemäss auch gern klein machte – bescheidener Pfarrerssohn aus der Mark Brandenburg und Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin mit bescheidener Praxis trifft betuchten Bremer Patrizier. Persönliche Kontakte, auch Telefonate liess er nur selten zu. Spontane Besuche verbat er sich. Die Beziehung blieb im Wesentlichen eine briefliche. Aber was für eine! In seinen Briefen an Oelze gab Benn sich ganz. Nun war er ja ohnehin ein passionierter Korrespondent; denken wir nur an seine Briefe an Elinor Büller, Tilly Wedekind und Ursula Ziebarth. Wenn schöne Frauen im Spiel waren, machte Benn sich so wortreich wie bereitwillig zum Affen, drei Ehen hin oder her. Das Einzigartige an Benns Briefwechsel mit Oelze sind seine Intensität und Vielfalt. Benn inszeniert sich hier – einmal mehr – als einsamer schweigender Wolf, gibt gleichzeitig aber Kunde von Postkarte von Oelze an Benn vom 31. Dezember 1951 – die beiden Korrespondenten blieben zeitlebens beim «Sie». In den Briefen an Oelze probiert Benn oft Formulierungen aus, die er später in seinem Werk verwenden wird. Er spricht so unverstellt wie nirgends sonst über seine Poetologie. Und vor allem ist er launig, lustig, ja bisweilen richtig boshaft. Da ist zum Beispiel seine Abrechnung mit Goethes «Novelle» im Brief vom 27. Januar 1936: Witziger kann man gegen «Geheimratsbehaglichkeit» und «Abrundungsbedürfnis» nicht vorgehen. Auch seinen ewigen Kontrahenten Thomas Mann schont Benn nicht. Als Leser ist er maliziös. Vor allem aber ist hier seine Abkehr vom «Dritten Reich» so akribisch dokumentiert wie nirgends sonst. Da zieht Benn seinen Freund Oelze auf jede Gefahr hin ins Vertrauen. Nach dem Kriegsende kühlt sich die Beziehung merklich ab. Die Briefe werden seltener in dem Masse, wie Benn bekannt und rehabilitiert wird. Er ist wieder wer. Seine «Statischen Gedichte», 1948 in Peter Schifferlis Zürcher ArcheVerlag erschienen, begründen seinen späten Ruhm. 1951 wird er mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet und entsprechend herumgereicht. Nach Jahren des Publikationsverbots erscheinen in rascher Folge seine späten Schriften. Benn sonnt sich im späten Ruhm. Aber viel Zeit bleibt ihm nicht mehr. Oelze ist nun nicht mehr sein Alter Ego, sein Vertrauter in der Isolation, sondern einer von vielen. Wie er ihn auf Distanz hält, grenzt bisweilen ans Kränkende. Oelze hat seine Rolle in Bezug auf Benn stets heruntergespielt. Als Anreger, Frager, Stichwortgeber hat er sich verstanden. Damit hat er recht und unrecht zugleich. Natürlich ist Benn im nunmehr integral publizierten Briefwechsel der Frechere, Freiere, Witzigere. Aber Oelze ist auch nicht auf den Mund gefallen. Er argumentiert beherzt mit dem Berliner Melancholiker und Querkopf. Und vergessen wir eines nicht: Er ist es, der Gottfried Benn diese Briefe abverlangt hat, so wie der Zöllner in Brechts Ballade mit dem Philosophen Lao-Tse verfahren ist. Deshalb soll auch Oelze bedankt sein – und zwar sehr herzlich. ● 28. August 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 IMAGE SOURCE / GALLERY STOCK Belletristik Roman Dem Iren Colm Tóibín ist mit «Nora Webster» ein eindringliches Buch gelungen. Es erzählt davon, wie eine Frau und Mutter von vier Kindern nach dem Tod ihres Mannes ins Leben zurückfinden will DerTraueristnichtzuentrinnen Colm Tóibín: Nora Webster. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser, München 2016. 384 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 29.–. Von Simone von Büren Als der Körper von Jesus Christus in Colm Tóibíns Roman «Marias Testament» (Hanser 2014) vom Kreuz genommen wird, ist Maria bereits verschwunden. Unfähig, das Leiden ihres Sohnes länger zu ertragen, hat sie sich von Golgatha weggeschlichen. Die Pietà existiert hier nur mehr als Vorstellung einer traumatisierten Mutter. Auch Tóibíns neuster Roman «Nora Webster» kreist um eine Frau und Mutter, die grossem Leiden entkommen möchte. Nach dem Tod ihres Mannes, eines beliebten Lehrers im südirischen Enniscorthy, überlegt sich Nora, mit ihren vier Kindern aus dem von bevormundenden Kondolenzbesuchern belagerten Haus wegzuziehen, in dem noch Maurices Kleider hängen und die Söhne stottern und das Bett nässen. Aber dann verkauft sie vorerst nur das Ferienhaus am Meer, um ihre spärliche Witwenrente aufzustocken. Denn sie versteht, dass es eine Illusion ist zu denken, dass durch eine äussere Veränderung «die Bürde, die jetzt auf ihr lastete, sich verflüchtigen, dass die Vergangenheit wiederhergestellt werden und zwanglos in eine schmerzfreie Gegenwart einmünden könnte». Langsames Loslassen Um Leiden und Trauern ist kein Herumkommen. Das wird schnell klar in Tóibíns wunderbar stillem Roman, der die ersten drei Jahre nach Maurices Tod umspannt. In schlichter, direkter Sprache beschreibt der 61-jährige Ire darin das Trauern als etwas Kontinuierliches, Schwieriges und Unspektakuläres. Anhand einer Folge konkreter Situationen und nüchtern festgehaltener Empfindungen zeigt er, wie es sich mit der Zeit wandelt: Wie 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. August 2016 Nora anfangs von jeder Erinnerung an den Verstorbenen bedroht wird und wie sie doch an nichts anderes denken kann als an ihren Verlust. Wie sie allmählich die Gedanken an «die grosse schlaflose Zeit» von Maurices Sterben zu ertragen beginnt. Wie kaum merklich das Loslassen kommt, wenn Nora bei einer alten Exzentrikerin Gesangsstunden nimmt und der von Maurice belächelten «Grammophon-Gesellschaft» beitritt, in der Musikliebhaber sich über ihre Lieblingsplatten unterhalten. Und wie irgendwann die Erinnerungen zu einem Ort des Trostes und der liebevollen Verbindung mit dem Verlorenen werden. Es gibt in dieser sensiblen Auseinandersetzung mit Trauer weder Zusammenbruch noch Drama. Mögliche dramatische Elemente – Kindsmissbrauch, eine IRA-Mitgliedschaft oder ein angedrohter Protest gegen Diskriminierung an der Schule – münden stets in eine unspektakuläre Normalität. Gerade in diesem Alltäglichen zeigt sich jedoch die individuelle Versehrtheit, die wiederum verweist auf die kollektive Versehrtheit einer ganzen Nation durch den Nordirlandkonflikt, der sich im Hintergrund des Romans anbahnt und von den Websters am Fernsehen verfolgt wird. Noras älterer Sohn fotografiert diese Nachrichtenbilder vom Fernsehschirm ab und belichtet sie doppelt zu verschwommenen «Andeutungen von Feuer und laufenden Gestalten». Damit hat Tóibín ein starkes Bild geschaffen für die Erfahrung von Indirektheit und Distanz in Noras Beziehung zur Welt. Etwas von dieser Distanz stellt er bereits her, indem er den Roman aus der personalen Drittpersonen-Perspektive erzählt, die zwar Einblicke in Noras Erleben gibt, aber sie immer auch als ein wenig fremd von aussen betrachtet. Distanz manifestiert sich weiter in Noras sozialen Interaktionen, die sie als eigenartig inszeniert empfindet und zu denen sie nichts beizutragen hat. Und am offensichtlichsten wird sie in Noras Fliehen oder bleiben? Im Irland der 1960er Jahre sucht eine junge Witwe nach einem Weg, mit ihrem Verlust umzugehen. Beziehung zu ihren Kindern. Die alleinstehende Mutter versorgt letztere gewissenhaft, scheint gleichzeitig aber Mühe zu haben, deren Empfindungen wahrzunehmen oder auf sie einzugehen. Sie nimmt sich vor, den Kindern nicht zu viele Fragen zu stellen, und bemisst «ihren Erfolg bei den Jungs danach, inwieweit es ihr gelang, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten». Freiräume verteidigen Diese mütterliche Nüchternheit wird verstärkt durch die Tatsache, dass der Roman in den späten 1960er Jahren spielt, in denen in Enniscorthy, der katholischen Kleinstadt, in der Tóibín selbst aufgewachsen ist, vieles verdrängt und verschwiegen wird, was heute ausgesprochen und therapiert würde. Aber darüber hinaus mag es kein Zufall sein, dass der Autor seiner Protagonistin den Vornamen einer der emanzipiertesten Frauen und kontroversesten Mütter der Weltliteratur gegeben hat: der Titelfigur in Henrik Ibsens Stück «Nora oder Ein Puppenheim». Denn es wird im Verlauf der Lektüre klar, dass Nora Webster modernere Ansichten und andere Interessen hat als ihr verstorbener Ehemann, dass sie vielleicht gar nicht so gerne Mutter ist und dass sie womöglich – wäre sie freier gewesen – ein ganz anderes Leben gewählt und ganz andere Talente entwickelt hätte. Abends, wenn sie «endlich das Zimmer ganz für sich allein» hat, stellt sie sich jedenfalls gerne vor, wie es wäre, «die junge Frau auf der Plattenhülle zu sein, genau jetzt sie zu sein, mit einem Cello neben sich, während jemand sie fotografierte». Aber eben, es gibt bei Tóibín kein dramatisches Ausbrechen. Es gibt stattdessen das klarsichtige Bewusstsein, dass manchmal die grösste Errungenschaft darin besteht, sich in hartnäckigem Bemühen kleine Freiräume in den äusseren Zwängen zu erkämpfen und diese gegen Anfechtungen und Schicksalsschläge entschieden zu verteidigen. ● Roman Autor und Schiffsarzt: Der Niederländer Jan Jacob Slauerhoff (1898–1936) ist neu zu entdecken OdysseerundumsReichderMitte ckungen und Eroberungen Portugals im Fernen Osten gefeiert. Die biografischen Daten zu Camões sind spärlich, und darum kann sich Slauerhoff einige erzählerische Lizenzen nehmen. Camões bewegt sich in «Das verbotene Reich» als Zerrissener durch die Welt, mit skeptischer Distanz zu allem, was ihn umgibt. Er, der aus niederem portugiesischem Adel stammt, überwirft sich mit seinem Vater und verliebt sich in die schöne Diana – für die sich jedoch auch der Kronprinz interessiert. Auf Geheiss des Königs muss er Portugal verlassen, er wird in die ferne Kolonie Macao geschickt, wo er als Soldat dienen soll. Nahe am verbotenen Reich. Diana zuliebe ist er zum Dichter geworden, und wegen seiner Liebe zu ihr wurde er aus der Heimat verjagt. Das schärft seinen ohnehin kritischen Blick auf die Enge der damaligen Gesellschaft. Im wiederholten Wechsel der Erzählperspektiven lässt Slauerhoff seinen Helden selber zu Wort kommen oder schildert ihn von aussen – und zeigt zugleich die korrupte und brutale portugiesische Kolonialmacht, die sich darum bemüht, am Rande des Kaiserreichs Handelsstützpunkte zu errichten. In Macao glaubt Camões einmal in der Gouverneurstochter Pilar seine Geliebte Jan Jacob Slauerhoff: Das verbotene Reich. Aus dem Niederländischen von Albert Vigoleis Thelen. Weidle, Bonn 2016. 176 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 15.90. Von Martin Zingg Er galt lange Zeit als «poète maudit» der niederländischen Literatur und ist inzwischen ein Klassiker: Jan Jacob Slauerhoff (1898–1936). Schon früh, heisst es, sei er sehr belesen gewesen, ein Allesverschlinger, und weil er sich mit der Enge seines Landes nicht anfreunden konnte, wollte er dieses um jeden Preis verlassen. In jenen Jahren waren die Niederlande eine Kolonialmacht: Slauerhoff studierte Medizin und wurde Schiffsarzt. Lange war er unterwegs auf der Java-China-Japan-Linie, später in Südamerika – und daneben schrieb er, der immer wieder krank war, Romane, Erzählungen, Gedichte und ein Theaterstück. Zu seinen bekannten Werken gehört «Das verbotene Reich», das 1932 erschienen ist. In dessen Mittelpunkt steht der portugiesische Dichter Luis de Camões, der von 1524 bis 1580 gelebt und das portugiesische Nationalepos «Die Lusiaden» geschaffen hat. Darin werden, durchaus in Anlehnung an die Odyssee, die Entde- wiederzuerkennen, natürlich ist sie längst einem Mann versprochen – und vielleicht ist sie tatsächlich Diana, seine imaginäre Diana. So wie ein irischer Bordfunker aus dem 20. Jahrhundert, wie dieser geschlagen mit einem wechselhaften Leben, für Momente eins wird mit Camões. In der Hitze der Entbehrungen werden die Konturen des Erzählten immer wieder unscharf. Slauerhoff inszeniert diese Entgrenzungen auf raffinierte Weise und lässt dabei vieles offen. Das «verbotene Reich», stellt sich am Ende heraus, ist nicht nur China, es ist weit grösser und schliesst so manches ein, was dem Helden möglicherweise zu seinem Glück verholfen hätte. Übersetzt hat diesen Roman einer der grossen Unbekannten der deutschen Literatur, Albert Vigoleis Thelen (1903– 1989), der mit dem Roman «Die Insel des zweiten Gesichts» (1953) seinerseits ein bedeutendes Werk geschaffen hat. Dass seine Übertragung einige Altersspuren trägt, kann nur einen kurzen Moment lang irritieren. Denn die leichte Patina rückt den ungewöhnlichen Roman in genau jene Distanz, in welcher Slauerhoff auch seine Figuren hält – und respektiert damit die Erzählweise des niederländischen Autors, von dem man sich noch weitere Übersetzungen wünscht. ● Foto: © Marco Okhuizen/laif Foto: © Annaleen Louwes Foto: © Bernhard van Dierendonck ANZEIGE Lukas Hartmann Ein passender Mieter Roman · Diogenes 368 Seiten, Leinen, sFr 32.–* * unverb. Preisempfehlung Sensibel verknüpft der Autor das Porträt einer Frau in der Krise mit der Geschichte eines Getriebenen. Ein Roman über die Kräfte, die eine Familie zusammenhalten und diejenigen, die sie auseinandersprengen. Connie Palmen Du sagst es Roman · Diogenes 288 Seiten, Leinen, sFr 30.–* Connie Palmens Roman über das berühmteste Schriftstellerpaar der modernen Literatur, Sylvia Plath und Ted Hughes – eine leidenschaftliche, tragische Beziehung. Leon de Winter Geronimo Der neue großartige Roman von Leon de Winter: verblüffend, rasant – ein literarisches Meisterwerk. Geronimo bringt die Grenzen zwischen Realität und Phantasie ins Wanken! Roman · Diogenes 448 Seiten, Leinen, sFr 32.–* Diogenes 28. August 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Ist immer gut, wer Gutes tut? In ihrem Roman «Drehtür» lässt Katja Lange-Müller eine ausgemusterte Krankenschwester über die Beweggründe ihres Handelns nachdenken GeschichtenvomhehrenHelfen Katja Lange-Müller: Drehtür. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 216 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 18.-. Von Claudia Mäder Dass es Kräfte gibt, die das Böse wollen und das Gute schaffen, weiss jeder, der seinen Goethe gelesen hat. Wer den neuen Roman von Katja Lange-Müller studiert, erfährt, dass es auch umgekehrt geht und das Gute gern zum Bösen führt. Ein Mädchen nimmt drei Kätzchen ins Bett, um sie zu wärmen — und erdrückt die Tiere im Schlaf. Eine Frau schleppt einen koreanischen Koch von der Strasse in ihre Wohnung — und bringt ihn in die Bredouille, weil er sich unerlaubterweise vom Gelände seiner Botschaft entfernt hat. Eine umtriebige Novizin startet eine Reinigungsaktion für die dritten Zähne ihrer greisen Mitschwestern — und sorgt dafür, dass die alten Nonnen wochenlang nur noch «entrindetes Weissbrot mit Tee» zu sich nehmen können. Eine Vielzahl solcher scheinbar zusammenhangsloser Episoden bildet den Kern des Buches. In seinem Zentrum steht mit Asta Arnold eine Art Alter Ego der Autorin: Die mehrfach ausgezeichnete Katja Lange-Müller hatte in Berlin als Krankenschwester gearbeitet, bevor sie zum Schreiben kam; Asta Arnold hat über 20 Jahre im Dienst internationaler Hilfsorganisationen gestanden, bevor sie, am Münchner Flughafen gestrandet, ihre Geschichten zu erzählen beginnt. Allmählich alt geworden, ist Asta von ihren Kollegen in die deutsche Heimat wegspediert worden. Einen «Aus-Flug» hat man ihr geschenkt, befindet die Protagonistin, die im ganzen Verlauf des Buches rauchend hinter einer Drehtür steht, durch die sie gehen müsste, um in ein neues Leben zu gelangen. Doch statt an die Zukunft denkt die Krankenschwester allein an die Vergangenheit, und die Gegenwart ist ihr nur mehr ein Abklatsch alter Gesichter und Geschichten. Menschen, die jenseits der Drehtür vorbeiziehen, erinnern Asta an Personen, die ihren Lebensweg gekreuzt haben, und lassen sie, die sich seit einiger Zeit zum Sprechen nicht mehr in der Lage fühlt, in beredte gedankliche Erzählungen abdriften. Den Auftakt macht der eingangs erwähnte Koch, an dem die junge Asta ihren Drang zum Helfen einst stillte; ihm folgen diverse scharf gezeich- nete Figuren in manchmal komisch untermalten und immer meisterlich erzählten Binnengeschichten. So wie der rauchenden Asta beim Nachdenken die langen deutschen Wörter in ihre Grundbausteine zerfallen und dadurch neue Bedeutungen annehmen, so zerspringt auch ihr Leben in einzelne Episoden, die alle ein grosses Thema sezieren: das hehre Helfen. Warum unterstützt der Mensch seine Artgenossen? Folgt er einem biologischen Reflex? Oder seinem Willen zur Macht? Hilft man, um sich erhaben zu fühlen? Oder um mindestens etwas Sinn zu haben im Leben? Und wenn es so wäre, stellt die zweifelhafte Gesinnung etwa ein positives Resultat infrage — und umgekehrt? Astas Erinnerungen umkreisen philosophische Grundfragen, und nicht von ungefähr steht dem Buch ein NietzscheMotto voran. Schade nur, dass es zuweilen auch die Autorin mit dem Helfen etwas übertreibt und Asta zwischen den Geschichten Gedanken ausformulieren lässt, die sich der Leser gerne selber machen würde. Der Roman lebt von der Wucht der Erzählungen, ganz wie Asta, für die es kein Weiter mehr gibt, als der Strom der Geschichten versiegt. ● ANZEIGE Wo wollen Sie im Alter leben? – Selbstbestimmt leben am Bodensee Peter Lehmann (68) fühlt sich im Augustinum Meersburg frei und zugleich rundum versorgt das Augustinum Meersburg entschieden und muss sagen: Das war eine sehr gute Wahl.“ Der 68-Jährige musste in seinem Leben schon mehrere gesundheitliche Rückschläge erleiden. Noch vor der Pensionierung fasste er den Entschluss: Ich möchte selbstbestimmt leben und zugleich die Sicherheit haben, dass sich jemand um mich kümmert, wenn es mir eines Tages gesundheitlich dauerhaft schlechter gehen sollte. „Ich bin ganz ehrlich: In der Schweiz hätte ich mir diesen Komfort kaum leisten können“, erzählt Peter Lehmann, pensionierter Postangestellter aus dem Kanton Bern. Geboren und aufgewachsen im Kanton Solothurn, hätte er nicht erwartet, eines Tages in Deutschland zu wohnen. „Aber ich habe mich bewusst für Peter Lehmann hat auch die sogenannte Pflegekosten-Ergänzungsregelung (PER) des Augustinum überzeugt: Im Falle der Pflege ist der eigene Beitrag zu den Pflegekosten auf derzeit maximal 500 Euro im Monat begrenzt – unabhängig davon, in welchem Maß Pflege benötigt wird. Eine weitere Besonderheit: Wer pflegebedürftig werden sollte, wird im eigenen Appartement gepflegt und muss sein gewohntes Umfeld nicht verlassen. Seit seinem Einzug hat sich für Peter Lehmann einiges verändert: Egal ob Schwimmen im hauseigenen Schwimmbad oder Übungen im Fitnessraum – es vergeht kaum ein Tag ohne Sport, seit er vor drei Jahren ins Augustinum gezogen ist. Ein besonderes Highlight ist für Peter Lehmann die Umgebung, die er oft mit dem E-Bike erkundet: Vor dem Appartement erstrecken sich Obstwiesen, daneben führen Weinberge hinunter zum historischen Kern Meersburgs – und aus der Ferne grüßt der Säntis. Der Schweiz blieb Peter Lehmann natürlich verbunden: Immer wieder besucht er Freunde oder wird selbst im Augustinum besucht – weit ist es schließlich nicht ins Nachbarland. Hausbesichtigung in unseren 23 Residenzen jeden Mittwoch um 14 Uhr ohne Voranmeldung Zentrale Interessentenberatung Tel. +49 800 / 22 123 45, www.augustinum.de Interessentenberatung Meersburg Tel. +49 7532 / 4426-1810 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. August 2016 Roman Lukas Hartmann beschreibt brillant, wie das Ende der Liebe zum Anfang des Unglücks wird WennsichzuHausedasBöseeinnistet Von Charles Linsmayer Wie kommt ein Virtuose des historischen Romans dazu, einen ganz im Heute situierten Familienroman zu schreiben, der wie kaum ein anderes Buch dieser Jahre die fatale Verunsicherung auf den Punkt bringt, der Gesellschaft und Individuen aller Generationen mehr und mehr verfallen? Die Frage kann nur stellen, wer verkennt, dass Lukas Hartmann als Sozialarbeiter zu schreiben begann, dass seine Romane im historischen Gewand stets aktuelle Probleme wie Fremdenhass oder Gewalt thematisierten, dass die Beurteilung des komplexen Gegenwärtigen noch am ehesten einem zuzutrauen ist, der die gesellschaftliche Befindlichkeit vom Mittelalter bis zur Wende von 1989 literarisch aufarbeitete und der schon 1976, im Klappentext des Erstlings, angab, er arbeite an einem Roman mit dem Titel «Der Amokläufer». Aus der Luft gegriffen hat Hartmann auch diese Geschichte nicht. 1999 trieb im Oberaargau ein Triebtäter sein Unwesen, überfiel junge Frauen, verletzte und beraubte sie und konnte erst nach langem verhaftet werden. Hartmann verpflanzt das Geschehen in eine Stadt, die Zürich (Sozialarchiv) oder Bern (Lauben) heissen könnte, und in eine Familie, die nur am Rand in den Fall verwickelt ist, aber daran fast zugrunde geht. Margret und Gerhard Sandmaier, er Professor, sie Hausfrau und Sprachlehrerin für Asylbewerber, verkraften die Trennung vom einzigen Sohn Sebastian nur schwer, fallen aber aus allen Wolken, als sich der an dessen Stelle aufgenommene Mieter, der Velomechaniker Beat Schär, als der seit Monaten gesuchte Messerstecher entpuppt. Sebastian, der Theologiestudent, beobachtet erschrocken, was mit den Eltern passiert, nachdem ihnen «das unmöglich Scheinende, das Böse so nahe gerückt ist». Margret meint, dem Täter helfen zu müssen, besucht ihn im Gefängnis, greift ihn in einem Anfall von Aggressivität tätlich an und landet in der psychiatrischen Klinik. Gerhard will sie von einem Albdruck befreien, indem er den Anbau, in dem der Täter wohnte, abreissen lässt, erreicht aber gerade damit, dass Margret die Ehe, deren langsames Absterben Hartmann auf berührende Weise protokolliert, für gescheitert erklärt. Doch nicht nur diese, auch Sebastians Beziehung geht in die Brüche, und am Ende finden Mutter und Sohn wie gestrandete Opfer einer Katastrophe in einer kleinen Wohnung wieder zusammen. «Wie schnell sich doch die Liebe verwandelt», erkennt Margret, der die Ehe zum Gefängnis wurde, wo man «den Notausgang nehmen muss, um sich selbst zu retten». Sebastian aber, der Karl Barths «Dogmatik» studiert hat, ist es nicht gelungen, die Hingabe an die Ge- liebte mit der Begegnung mit Gott in Einklang zu bringen. Er erkennt, dass «wer zutiefst einsam ist, verstossen wurde», nicht lieben soll, «denn Liebe, wenn sie vorher nie zu spüren war, ist ein verbotenes Wort, eines, das unerträglichen Schmerz bedeutet». Barth hinterlässt ihm zuletzt nicht die Lösung des «Rätsels Liebe», sondern das «Vernichtende», das «Nichtige» als «letzte Wirklichkeit gegenüber Gott». Kein Wunder denn, dass Sebastian sich von der Theologie ab- und der Medizin zuwendet. «Konnte es danach je wieder so etwas wie Normalität geben?», fragt Margret, nachdem sie ungewollt in einen Strudel hineingerissen wurde, den ein Gewaltverbrecher ausgelöst hat und der ihren Sohn zur Aussage verleitet: «Das Leben ist nicht rot, nicht gelb, nicht blau, es ist ein grosses Durcheinander.» Eine Quintessenz, die umso nachdenklicher stimmt, als sie in einem Roman formuliert wird, in dem jede Figur absolut authentisch wirkt, in dem Gespräche von packender Dramatik geführt werden und in dem bis zuletzt die souveräne Gestaltungskraft eines Autors spürbar bleibt, der die These vom Ende der Liebe als Anfang des Unglücks auf eine vollkommen unaufdringliche Weise in eine spannende Geschichte zu bannen vermag. ● Epochenbilder Die Porträts der Malerin Alice Neel #### CREDIT Lukas Hartmann: Ein passender Mieter. Diogenes, Zürich 2016. 364 Seiten, Fr. 33.90, E-Book 27.–. Dass die drei sich miteinander wohlfühlen, kann man sich nicht unbedingt vorstellen: Das Mädchen wirkt unsicher. Die Frau schaut herausfordernd, der Mann will in Ruhe gelassen werden. Verbindend ist nur, dass sie keine Lust haben, der Malerin Porträt zu sitzen. Und dass sie schwarze Lackschuhe tragen. Ihnen hat Alice Neel ihr besonderes Augenmerk gewidmet, die Fussstellungen erzählen ebenso viel über die Familie wie der Rest des Bildes. Die 1900 geborene und 1984 verstorbene New Yorker Künstlerin hat sich in der Blütezeit der Abstraktion auf die Darstellung von Menschen konzen- triert. In ihren Haltungen und Gesichtszügen sah sie einen Ausdruck der eigenen Zeit. Sie sprach deshalb auch nicht gerne von Porträts, sondern von «Bildern von Menschen», welche eine «Epoche in einer Weise widerspiegeln, wie nichts anderes es könnte». John Green war Kulturkritiker, Jane Wilson Malerin, und ihre Tochter Julia wurde später die Leiterin der Keith Haring Foundation. In ihrem Familienbildnis von 1970 fängt Neel die kulturelle Atmosphäre jener Jahre ein. Gerhard Mack Alice Neel: Painter of Modern Life. Hrsg. v. J. Lewison. Hatje Cantz, Ostfildern 2016. 240 S., 130 Abb., Fr. 54.90. 28. August 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Endlich liegt der packende, 1958 im Original erschienene Zweitling des US-Autors Alfred Hayes auf Deutsch vor. In knapper Sprache erzählt er die Geschichte einer unmöglichen Beziehung Gefangenindereigenen Mutlosigkeit Alfred Hayes: Alles für ein bisschen Ruhm. Deutsch von Matthias Fienbork. Nagel & Kimche, Zürich und München 2016. 144 Seiten, Fr. 25.90, E-Book 20.–. Von Angelika Overath KEYSTONE – FRANCE/GETTY IMAGES Im deutschsprachigen Raum gehört Alfred Hayes zu den vergessenen Autoren. 1911 als Sohn einer jüdischen Familie in London-Whitechapel geboren, studierte er in New York, arbeitete eine Zeitlang als Reporter und lebte nach dem Zweiten Weltkrieg in Rom, wo er Drehbücher für den neorealistischen Film schrieb (so war er Co-Autor von Vittorio De Sicas «Fahrraddiebe»). Er hat Gedichte und Romane verfasst, gestorben ist er 1985 in Kalifornien. 2015 wagte Nagel & Kimche mit «In Love» eine Wiederentdeckung des psychologisch sezierenden Autors. Nun ist ein zweiter Roman, «Alles für ein bisschen Ruhm» (Originaltitel: «My Face for the World to See») erschienen, wieder in einer wunderbaren Übersetzung von Matthias Fienbork. Seelischer Neoprenanzug Der Text führt in das Film-mondäne Los Angeles der späten 1950er Jahre. Ein erfolgreicher, von seinem Leben zwischen New York und Hollywood aber angeödeter Drehbuchautor beobachtet während einer Party von einer Terrasse aus, wie eine junge, betrunkene Frau am Meer einen Selbsttötungsversuch unternimmt. Er kann die Bewusstlose aus dem Wasser fischen und wiederbeleben. Später kauert sie unter den aufgekratzten Gästen am Kamin: «‹Wer hat sie eigentlich mitgebracht?› – ‹Benson, richtig? Sie wird eine Woche lang nach Salz schmecken.›» Dem Retter ist die Sache peinlich, er findet das Mädchen nicht attraktiv und leiht sich vom Gastgeber eine frische Hose aus; seine ist schmutzig vom nassen Sand. Zwei Tage später ruft die junge Frau ihn an, um sich zu bedanken. Er lädt sie zum Essen ein. Und ein Spiel beginnt, dem beide nicht trauen. Sie ist eine erfolglose 26-jährige Filmschauspielerin, die in Los Angeles in einer kargen, sauberen Wohnung lebt, zusammen mit einem aus dem Müll geretteten Kater; er ist ein 36-jähriger bestverdienender Autor, der selbstverständlich, in einem seelischen Neoprenanzug, durch die Filmschickeria gleitet. Er verachtet das Milieu, in dem er reich wird, hat aber keine Lust mehr darauf, arm zu sein. In meist kurzen Kapiteln, Schnappschüssen, werden diese zwei so unterschiedlichen Leben zusammengeführt. Die Geschichte ist aus der Ich-Perspektive des Mannes erzählt; durch die vielen raffinierten direkten und indirekten Dialoge aber gewinnt die rätselhafte Figur 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. August 2016 Das Hollywood der 1950er Jahre bildet die Kulisse für die zaghafte Liebe, die sich zwischen den Protagonisten in Hayes’ Roman entwickelt. der Frau zunehmend an Kontur. Sie hat eine Liebe zu einem verheirateten Mann hinter sich und genug von dieser Spezies gehetzter heimlicher Liebhaber. Er, seit 15 Jahren in New York verheiratet, sieht in Hollywood nicht nur die Möglichkeit, schnell viel Geld zu verdienen, sondern vor allem die Chance, immer wieder einige Monate allein zu sein. «Allein. Es war die eine aktive Leidenschaft, die mir geblieben war, die einzig wirkliche Obsession.» Dieses Alleinsein aromatisiert er durch beiläufige Ehebrüche. Fast glücklich Das Mädchen und der Mächtige verbringen einige scheue Wochen miteinander, kleine Ausflüge in seinem Auto, Restaurantbesuche, vorsichtiger, halbherziger Sex. Einmal gehen sie zusammen zum Stierkampf. Sie muss sich übergeben; ihn rührt ihre Empfindlichkeit. Zwischen den beiden ist keine Leidenschaft, aber eine eigentümliche Nähe wächst. Er beobachtet, wie sie durch ihn offener wird, heiterer. Und zunehmend findet er sie schön, ja «unheimlich schön». Sie zeigt ihm, wie viel Empfindsamkeit zu unterdrücken er schon gewohnt ist. Durch ihr Ehrlichsein – sie erzählt, dass sie irre Verfolgungsvisionen gehabt habe, dass sie eine Therapie mache – und ihr ungeschütztes Fragen beginnt er, über sich nachzudenken. Oft antwortet er beiläufig oder widerstrebend, aber sie setzt nach. Zunehmend wird er sich der gemütlichen Verlogenheit und demütigenden Leere seiner so erfolgreichen Exis- tenz bewusst. «Ein Echo der alten Misere stieg in mir hoch. Sie hatte es ausgelöst, sie hatte es wieder angefacht.» Er hasst sie dafür und sucht doch ihre Nähe. Denn ihre Jugend, ihre Unbedingtheit öffnet ihm ein Möglichkeitsfenster und bringt den depressiv Abgeklärten zum Träumen. «Ich musste nur aufbrechen: eine Frage der Entscheidung. Ich sah mich wundersamerweise auf einem Berg in Peru. Bärtig, verändert, ein anderer Mensch.» Doch dieser scheinbar souveräne, ein wenig zynische Held kann sich zwar alles kaufen, aber keinen Mut. Oder könnte eine Lebenswende mit ihr doch gelingen? Die beiden sind fast glücklich. Ohne dass er es will, entwischt ihm ein «Ich liebe dich», das ihn erschreckt, verwirrt. Und befreit: «Mir war, als wäre endlich eine Last von mir gewichen. Als öffneten sich langsam mehrere Türen, eine nach der anderen.» Und sie gehen sofort wieder zu. Ein Telegramm seiner Gattin unterrichtet ihn, dass ihr Vater gestorben sei. Dieser Schock habe sie zum Nachdenken gebracht. Sie wolle ihre Ehe mit ihm retten; sie sei auf dem Weg zu ihm nach Los Angeles. In einer hinreissenden letzten Restaurantszene – die beiden Liebenden duellieren sich mit blitzenden Sätzen – wird klar, wie elend abhängig der Mächtige von seiner aussichtslos guten Existenz ist. Und wie einig mit sich die um ihr Leben kämpfende junge Frau. Ihr Scheitern kennt den Goldgrund der Hoffnung. Grandios nimmt die Geschichte ihre schlimmstmögliche Wendung. ● Roman In seinem neuen Buch durchleuchtet Thomas Lang die schwierige erste Ehe von Hermann Hesse Fern vom Idyll Kurzkritiken Belletristik Stefano Benni. Die Pantherin. Aus dem Italienischen von Mirjam Bitter. Wagenbach Salto, 2016. 96 S., Fr. 22.90. Hazel Brugger: Ich bin so hübsch. Kolumnen. Kein & Aber Pocket, 2016. 176 S., Fr. 13.90, E-Book 11.90. In seiner Heimat ist der Bologneser Erzähler, Dramatiker und Kolumnist Stefano Benni höchst erfolgreich. Als Satiriker mit schrägem Witz und als profilierter Gegner Berlusconis hat er sich einen Namen gemacht und zweieinhalb Millionen Bücher verkauft. Im deutschen Sprachraum ist er indes auch nach fünf Büchern bei Wagenbach noch ein Geheimtipp. Das könnte sich mit diesem schönen kleinen Band ändern, der die beiden Erzählungen «Die Pantherin» und «Aixi» enthält. Die Titelgeschichte dreht sich um eine geheimnisvolle Schöne, die eines Nachts in einem düsteren Billardsaal aufkreuzt – einem Ort, an dem sich sonst ausschliesslich die männliche Halbwelt trifft. Doch die Besucherin tritt gegen jeden einzelnen Spieler an. Ohne ein Wort zu sagen, reiht sie Sieg an Sieg. Erst als sie auf den mutmasslich besten Spieler, einen Engländer namens Jones, trifft, nimmt sie die Sonnenbrille ab. Hazel Brugger, 1993 in San Diego geboren als Tochter einer Deutschen und eines Schweizers, ist hierzulande wohl die bekannteste literarische Stimme ihrer Generation. Als Slam-Poetin, Kolumnistin und Moderatorin ist sie längst ein Begriff. Ihr erstes Buch versammelt eine Auswahl ihrer Beiträge aus dem «Magazin» des «Tages-Anzeigers» und anderen Publikationen, enthält aber auch bisher ungedruckte Texte. Sie amüsieren, weil sie frisch, frech und auf einen eigenen Ton gestimmt sind. Manchmal würde man sich wünschen, dass die Autorin, die jede Form von Humor für aggressiv hält, sich nicht zu sehr auf ihre Rolle als «böseste Frau der Schweiz» versteift. Aber dass hier ein Talent am Werk ist, steht fest. «Wussten Sie, dass mehr als ein Zehntel der online verkauften Muttermilch mit Kuhmilch gestreckt ist? Potz Blitz.» «Was?! Würste krebserregend? Ich glaub, es hackt.» So legt sie los. Hermann Kinder: Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit. Weissbooks, 2016. 208 S., Fr. 26.90, E-Book 17.–. Margriet de Moor: Schlaflose Nacht. Deutsch v. Helge von Beuningen. Hanser, 2016. 128 S., Fr. 23.90, E-Book 18.–. Zwei Jahre nach seiner erschütternden autobiografischen Erzählung «Der Weg allen Fleisches» legt der Konstanzer Hermann Kinder ein weiteres überzeugendes Buch vor. In «Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit» schildert er das Leben seines Jugendfreundes E., der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit aufwuchs und eine Karriere als Schauspieler anstrebte, aber an sich zerbrach und sich 1963 das Leben nahm. Das bewegende Erinnerungsbuch ist montiert aus Tagebüchern und anderen Papieren des verstorbenen Freundes sowie Reflexionen des Autors. Die Textsorten sind typografisch gegeneinander abgehoben. In ihrer Vielstimmigkeit runden sie sich zu einem kaleidoskopischen Porträt, das stets in Bewegung zu sein scheint. Kinder lässt in seinem Buch eine ganze Epoche auferstehen. Vierzehn Monate war sie verheiratet, seit dreizehneinhalb Jahren lebt sie allein. Das Zahlenverhältnis ist unproportional, aber was die Ich-Erzählerin erlebt hat, entzieht sich dem rationalen Zugriff: Ihr Mann hat sich ohne erkenntlichen Grund mitten aus dem Leben heraus erschossen. Die holländische Autorin Margriet de Moor lässt die Zurückgebliebene in schlaflosen Nächten beim Backen nach Ruhe suchen; sie beschreibt, wie die Witwe nach Antworten forscht, die es nicht gibt, und wie sie Mann um Mann trifft, um ihren Körper vor dem Verfall zu bewahren – und irgendwann auch wieder zu lieben? Die jüngste Männerbegegnung, deren Verlauf die Novelle schildert, legt diese Möglichkeit nahe, doch bleibt alles offen, denn de Moor erzählt faktisch und umschreibt so wunderbar sanft jenes «irgendetwas, das zwischen den simplen Tatsachen verborgen lag». Thomas Lang: Immer nach Hause. Berlin Verlag, Berlin 2016. 380 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 20.–. Von Stefana Sabin Nachdem er eine Buchhändlerlehre absolviert und auch schon Gedichte und Erzählungen veröffentlicht hatte, gelang Hermann Hesse 1904 der literarische Durchbruch mit dem zivilisationskritischen Bildungsroman «Peter Camenzind». Als erfolgreicher Dichter heiratete Hesse die Schweizer Fotografin Maria Bernoulli, genannt Mia, und liess sich mit ihr in einem abgelegenen badischen Dörfchen am Bodensee nieder, wo sie ein einfaches, naturverbundenes Leben führten. Es war eine Idylle – aber diese Idylle war trügerisch. Dies suggeriert Thomas Lang in seinem Hesse-Roman, in dem er diese erste Ehe als Rahmenhandlung benutzt. Langs Hesse reist viel – Heilkuren für seine Magen- und Kopfschmerzen oder lebensreformerische Experimente oder Fernreisen –, und wenn er zu Hause ist, entzieht er sich dem Familienleben. «Er will bei Mia sein und gleichzeitig nur weg von allem.» Die Kinder nerven ihn, die Frau wird ihm zunehmend fremd, die Ehe zerbricht. «Er spürt, wie die Fäden schlaff werden, die ihn mit seinem Alltagsleben verbinden», so der Autor, «und er geniesst das.» Eigentlich ist dieser Hesse auf einer inneren Reise zu sich selbst – so jedenfalls porträtiert ihn Lang und gibt seinem Roman einen Titel, der Novalis zitiert: «Immer nach Hause». Dieser Titel weist auf Hesses Sehnsucht nach einem ideellen Zuhause und zugleich auf seine reale Unruhe hin. «Und ich bleibe ein Wanderer, der immer an den besseren Ort gelangen will und niemals dort ankommt», denkt Langs Hesse über sich selbst. So ist es der Dichter als Selbstsucher, der im Zentrum des Romans steht. Lang beschreibt Hesses Befindlichkeit zwischen bürgerlichem Verantwortungsgefühl und reformatorischer Lebensvorstellung und macht dabei die Gratwanderung zwischen Schreibwut und Schreibhemmung als Reflex darauf nachvollziehbar. Der Roman deckt die Zeitspanne zwischen 1907 und 1918 ab und stellt dank vieler Vorund Rückbl end en («wir springen einmal zurück» oder «wir springen noch einmal in der Zeit») doch einen ganzen Lebensentwurf vor. Tatsächlich zeichnet Lang ein Porträt des Dichters, das den Hesse-Afficionados gefallen und alle anderen neugierig machen wird. ● Gundula Ludwig Manfred Papst Manfred Papst Claudia Mäder 28. August 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Essay In der Sowjetära stellte Russland den Westen mit seiner Buchproduktion in den Schatten. Seit dem Systemwechsel vor 25 Jahren hat sich indes auch im Bereich der Literatur vieles verändert – und wenig zum Guten. Von Sabina Meier Zur HarteZeitenfür das«Leseland» Im Zentrum von Moskau gibt man sich von Sanktionen und Rubelzerfall unbeeindruckt. Die Modernisierung schreitet gnadenlos voran. Auf der einen Seite neue Velowege, Uferpromenaden, hippe Stadtparks und neuerdings lateinische Beschriftung in der Metro. Auf der anderen: der Abriss von alter Bausubstanz, höllische Staus und wuchernde Überbauungen. Die Lokale sind voll, die Moskauer feiern und bestellen grosszügig.LängstistderlesendeMetropassagier durch den auf dem Smartphone chattenden ersetzt, wie überall auf der Welt. Stolz nannte sich die Sowjetunion einst das «Lesende Land» und triumphierte mit schwindelerregend hohen Bücherauflagen, selbstverständlich auch für Gedichtbände. Auch die grossen Romane des 19. Jahrhunderts von Gogol, Tolstoi und Dostojewskij haben ihre Strahlkraft bis heute nicht verloren. Aber was ist 25 Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion aus dem grossen Bücher- und Leseland geworden? Antwort erhält man von der Literaturkritikerin Galina Jusefowitsch, die sich als «Leuchtturm im Meer der Bücher» sieht. Die zierliche Frau mit den hellwachen dunklen Augen schreibt für «Medusa», eine der wenigen unabhängigen russischsprachigen Online-Nachrichtenseiten, die derzeit aus Riga operiert, um dem Zugriff der russischen Justiz zu entgehen. Mumifizierte Klassiker 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. August 2016 Der russische Büchermarkt ist zehnmal kleiner als jener der USA, und dies, obwohl Russland nur um die Hälfte weniger Einwohner hat. finden, so etwas wie eine kleinere, bescheidenere «Kammerliteratur». Als ob diese Statuskrise und die schwierige Marktsituation nicht genug Herausforderung wären, bekommt die Buchbranche auch noch Gegenwind von ganz anderer Seite. Seit der Auflösung der Sowjetunion gibt es eigentlich keine staatliche Zensur mehr – aber seit ungefähr 15 Jahren wurde eine Reihe von Gesetzen gegen Extremismus erlassen. Inwiefern diese «Gummiparagraphen» als Zensur wirken, ist umstritten, aber sie rufen eine Vielzahl von bizarren Effekten hervor. Potenziell kann jeder Ladenbesucher zum Denunzianten werden. Skandale fördern Verkauf So protestierte ein Kunde eines grossen Moskauer Buchladens, weil er auf einem Buch eine Swastika sah und dies als faschistische Propaganda betrachtete. Bei dem Buch handelte es sich aber um den weltberühmten Holocaust-Comic «Maus» von Art Spiegelmann, der 2013 mit einiger Verspätung in russischer Übersetzung erschienen war. Trotzdem wurde «Maus» in vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem aufgebrachten Publikum aus allen Läden entfernt. «Diese Idiotie der Buchläden», sagt Warja Gornostaewa, die Cheflektorin des renommierten Corpus Verlags, «verhalf dem Buch umso mehr zu grosser Aufmerksamkeit. Denn andere Leser setzten sich wiederum für das Buch ein. Ironischerweise nütze der Skandal dem Verkauf so gut wie eine gezielte Marketingstrategie.» Gornostaewa ist überzeugt: «Die Selbstzensur wirkt stärker als die Gesetzgebung.» Ihrer Meinung nach müsse man eigentlich im Moment nur zwei Themen vermeiden: aktu- ▲ Was sie berichtet, ist einleuchtend. Im Vergleich zum «paradiesischen» Sozialismus, in dem eine Dostojewski-Ausgabe noch 1986 in einer Auflage von 900 000 erscheinen konnte und weder Kneipen noch Konsum, geschweige denn bunte Zeitschriften die Aufmerksamkeit des Lesers ablenkten, hat das Lesen heute seinen einzigartigen Status eingebüsst. Anders als in Westeuropa vollzog sich dieser Prozess rasant und abrupt. Mit dem Ende der Sowjetunion 1991 brachen sämtliche Strukturen wie das Bibliothekswesen, die Vertriebswege, die staatlichen Verlage ersatzlos zusammen. Seit den letzten 15 Jahren befindet sich die Bücherbranche zwar wieder im Aufbau, aber die allgemeine Wirtschaftskrise trifft sie empfind- lich: Fast um 20 Prozent ist die Gesamtauflage 2015 eingebrochen, und an die 40 Buchläden mussten in Moskau im vorigen Jahr schliessen. Bücher sind teuer geworden, das hängt u.a. auch mit den um 40 Prozent gestiegenen Preisen für Papier zusammen. Auf E-Books satteln die Verlage jedoch nur langsam um, bloss zwei Prozent der Bücher erscheinen elektronisch. Ein Grund dafür ist die in Russland im grossen Umfang betriebene Online-Piraterie, gegen die kaum strafrechtlich vorgegangen wird. Der Abwärtstrend hat auch mit einer gesamthaften Marginalisierung des Buches zu tun. So ist etwa der in Westeuropa wachsende Trend der privaten Lesegruppen in Russland nicht zu beobachten. In vielen Millionenstädten wie Krasnodar gibt es keinen einzigen guten Buchladen. An dieser weit verbreiteten Leseunlust vermag auch die traditionell sehr umfangreiche Schullektüre nichts zu ändern. Jusefowitsch kritisiert, dass seit Jahrzehnten immer nur die gleichen Werke der grossen Autoren gelesen werden. Diese «Mumifizierung der Klassiker» führe zum Abbruch der Lesetätigkeit nach der Schule. Bücher lesen und schreiben bringt derzeit einfach kein Ansehen: Der russische Büchermarkt ist zehnmal kleiner als jener der USA, und dies, obwohl Russland mit 146 Millionen nur um die Hälfte weniger Einwohner hat. Die russische Literatur ist heute vergleichsweise überschaubar. Es gibt nur vier Literaturpreise, und auf den Shortlists kreisen immer wieder dieselben Namen. Unter ihnen sind unbestritten grosse Schriftsteller – Michail Schischkin, Andrei Makanin, Ljudmilla Ulitzkaja –, aber man solle sich nicht der Illusion hingeben, dass hinter diesen ein Heer von unentdeckten Genies stünde, befindet Galina Jusefowitsch. Die Literaturkritikerin kann diese Situation vielschichtig erklären. Seit dem 19. Jahrhundert war die russische Literatur mehr als «nur» Literatur, sie ersetzte faktisch viele andere Diskurse: Soziologie, Philosophie, Psychologie, Ethik, Politologie, ja sogar Sexualwissenschaft spielten sich ausschliesslich auf dem literarischen Feld ab. Diese übermächtige Bedeutung hat sie nun verloren; sie muss eine prinzipiell neue Rolle HORACIO VILLALOBOS / CORBIS VIA GETTY IMAGES Jenseits von Buchmessen (Frankfurt, 2014) haben zeitgenössische russische Autoren neben den Klassikern einen schweren Stand. 28. August 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Essay ▲ elle Putin-kritische Bücher und Forschungen zu Faschismus und Hitler. Diese riefen ebenfalls hysterische Reaktionen hervor, wie das «Maus»Beispiel zeige. Jedoch habe der Corpus Verlag soeben problemlos eine seriöse Stalin-Biografie sowie die monumentale Gulag-Studie der angesehenen polnisch-amerikanischen Historikerin Anne Appelbaum herausgegeben. Rigoros reguliert werden demgegenüber Kinderbücher, seit 2010 das Gesetz «Zum Schutz der Kinder vor Informationen, die schädlich für ihre Gesundheit und Entwicklung sind» erlassen wurde. 2013 wurde dieses Gesetz ergänzt durch den Zusatz, dass Kinder auch vor «Informationen zu nicht traditionellen sexuellen Beziehungen», sprich Homosexualität, geschützt werden müssen. Im Klartext werden Themen wie Gewalt, Drogen, Tod, Sexualität und Suizid stark zensiert und streng nach Alter kategorisiert. Das Gesetz kommt selektiv und unvorhersehbar zum Einsatz. Den Verlagen drohen aufgebrachte Eltern, Shitstorms, Möchtegern-Politiker und Bürokraten, die sich zu Experten aufplustern. Faktisch wurden auf Initiative von empörten Eltern lediglich ein paar Aufklärungsbücher aus den Buchläden verbannt. Aber das widersprüchliche Gesetz habe eine wichtige Wirkung in der russischen Gesellschaft, die schon seit Sowjetzeiten gelernt habe, sehr sensibel auf solche Top-down-Signale zu reagieren, meint Mascha Gessen, eine russisch-amerikanische Journalistin und Putin-Kritikerin. Die deutsche Literaturagentin Maria Schliesser, die mit Lizenzen für Kinderbücher handelt, bestätigt, dass das Interesse an schwierigen Themen schwinde, man wolle lieber mit Märchenwelten unterhalten werden. Nur wenige kleine engagierte Verlage greifen Themen wie Krankheit und Tod auf. Der Kinderbuchverlag Samokat (deutsch: Trottinett) spielt mit den strikten Altersvorgaben, indem er einen Doppelumschlag erfunden hat. Der äussere Umschlag markiert z.B. den Roman «Tschick» von Wolfgang Herrndorf als «Buch nicht für Kinder», der innere spricht gezielt Jugendliche an. Diese Camouflage-Bücher machen Eltern zu Komplizen der Verlage, denn verschworene Gemeinschaften funktionieren in Russland sehr gut. Je grösser Verschworene Gemeinschaften funktionieren in Russland gut. Je grösser der Druck des Systems, umso enger rücken Andersdenkende zusammen. THE LIFE PICTURE COLLECTION / GETTY IMAGES Beim bärtigen Bücherbär Tempi passati: Einst stand man in Russland Schlange für Bücher (Moskau, 1941). der Druck des Systems, umso enger rücken die Andersdenkenden zusammen. Eine solche Gemeinschaft der Eingeweihten ist der Moskauer Buchladen Falanster, benannt nach «Phalanstère», den kommunalen Wohngemeinschaften des Frühsozialisten Charles Fouriers (1772–1837). Die Bücher in dieser Bücherhöhle stapeln sich auf den Tischen und quellen aus den Regalen. Kein Schild führt zu dem Laden im zweiten Stock eines der letzten unsanierten Gebäude in einer Seitengasse im Zentrum Moskaus. Diese Bastion der Bücher existiert nun bereits seit 14 Jahren und trotzt Zensur und Marktdiktatur. Obwohl der Buchladen als Kooperative konzipiert ist, in der alle Mitarbeiter gleichgestellt sind, gilt der politisch linksengagierte Boris Kuprijanow als Kopf des Kultbuchladens. Der umtriebige bärtige Bücherbär ist eine oppositionelle Gallionsfigur des Moskauer Kulturlebens. «Es ist tückisch», sagt er in einem Interview mit Mascha Gessen, «weil es schwierig ist, Zensur von persönlichen Vorlieben zu trennen. Wir refusieren z.B. dumme, schlechte und rechtsextremistische Bücher. Das ist nicht Zensur, sondern persönlicher Geschmack. Aber wenn jemand ein Buch verweigert, weil er fürchtet, damit Probleme zu bekommen, dann ist das zumindest Zensur-Bereitschaft.» Genau das ist der Fall mit dem Buch «Dialoge» von 2015, in dem der berühmteste politische Aktivist Alexei Nawalny sich mit Adam Michnik, der Ikone der polnischen antikommunistischen Dissidentenbewegung, unterhält. Alle Buchläden boykottierten das politisch riskante Buch, angeblich aus wirtschaftlichen Gründen. In der 12-Millionen-Metropole Moskau kann man es ausschliesslich im Falanster erwerben. Zensur hat viele Gesichter. So wurden die Bücher der letztjährigen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in den grossen Läden nur verschämt in der hintersten Ecke aufgestellt, gilt sie doch in Russland als kritische Stimme. Auch Druckereien können ein Buchprojekt zu Fall bringen, wenn sie sich weigern, ein Manuskript zu drucken, das sie um ihre Drucklizenz bringen könnte. Manchmal kommt auf einen anonymen Anruf hin die Polizei zur Inspektion vorbei und konfisziert ein Buch, z. B. über den Koran. Noch hat niemand gewagt, Kuprijanow anzuklagen, allerdings wurde sein Geschäft 2005 in Brand gesetzt. Später erfuhr er, dass die Brandstifter der Kreml-nahen Jugendorganisation «Junges Russland» nahestanden. Goldenes Zeitalter in Sicht? Keine rosigen Zeiten für die Literatur in Russland also. Und was ist mit den Sachbüchern? Wenn man in Russland von Büchern spricht, meint man immer die Belletristik, Sachbücher sind die Mauerblümchen. Bis anhin konnte man mit ihnen in Russland weder Geld noch Ansehen erwerben, geschweige denn, dass es dafür irgendwelche Stipendien oder Vorschüsse gibt. Mittlerweile gibt es aber die ersten spezialisierten Verlage und Autoren für die Non-Fiction, wie sie auf Russisch genannt wird. Galina Jusefowitsch gewinnt dem etwas Positives ab: «Ich bin überzeugt, dass uns das ‹Goldene Zeitalter› der Sachbücher noch bevorsteht.» l Sabina Meier Zur ist Slawistin und lebte von 2006 bis 2014 in Moskau. Onlineshop für secondhand Lektüre mit über 60 000 Büchern Kontakt: [email protected] http://blog.buchplanet.ch 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. August 2016 http://facebook.com/buchplanet.ch http://www.twitter.com/buchplanet Sara Grob Betriebsleiterin buchplanet.ch Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch ANZEIGE Kolumne Charles LewinskysZitatenlese LUKAS MAEDER Wenn Köchinnen zusammenkommen, sprechen sie von ihrer Herrschaft, und wenn deutsche Schriftsteller zusammenkommen, sprechen sie von ihren Verlegern. Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein neuster Roman «Andersen» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen. Kurzkritiken Sachbuch Michael Angele: Der letzte Zeitungsleser. Galiani, 2016. 160 Seiten, Fr. 23.90, E-Book 15.–. Eva Holz, Susanne Perren (Hg.): Diese Urner. 16 Porträts vom Gotthard. Limmat, 2016. 231 Seiten, Fr. 37.90. Ein Sonntagmorgen ohne Zeitung? Unvorstellbar. Zumindest für Michael Angele, der sich den Lesestoff nach dem Joggen zusammen mit Croissants beim Bäcker zu besorgen pflegt. Zeitungen, das beschreibt der stellvertretende Chefredaktor des «Freitag» in seinem Essay, sind mehr als reine Informationsträger. Mit ihnen sind Rituale verbunden, und in ihnen steckt das Potenzial für grosse Gefühle: Im besten Fall regt einen ein Blatt nicht nur an, sondern auch auf, häufig folgt auf die Freude über eine reich bestückte Ausgabe das schlechte Gewissen gegenüber all den ungelesenen Texten, manchmal wird die Lust zur Last und das dicke Bündel zur Bürde, aber immer ist einem seine Zeitung «Zugang zur Welt» und «Heimat» zugleich. All das wird verschwinden, daran lässt Angele keinen Zweifel. Der Verlust ist gross, aber immerhin ist diese feine Ode ein kleiner Gewinn für Freunde schöner Lektüren. Bald werden wir das Kirchlein von Wassen nicht einmal mehr von weitem sehen. Umso besser zu erfahren, dass es Menschen gibt, die gerne, ja sogar mit Verve im Transitkanton leben: nicht nur seit Generationen verwurzelte, wie etwa der junge Steinbildhauer Gedeon Regli in Hospental, die Schauspielerin und Käserin Madlen Arnold oder das Urner Urgestein Franz Steinegger. Sondern auch «Lachonigi», wie man in Uri die Zugezogenen nennt: die beiden schwulen Gastronomen etwa, die in Gurtnellen ein Sternerestaurant eröffnet haben. Oder die in Zürich aufgewachsene Kristin T. Schnider, der man den karibischen Vater deutlich ansieht und die sich heute als Gemeindepräsidentin von Wassen persönlich um die acht Flüchtlinge im Dorf kümmert. Sie alle werden uns von Innerschweizer Autorinnen und Autoren und mit Fotos von Franca Pedrazzetti aufs Lebendigste vorgestellt. Randolf Menzel, Matthias Eckoldt: Die Intelligenz der Bienen. Knaus, 2016. 366 S., Fr. 36.90, E-Book 23.90. Martin Dahinden: Schweizer Küchengeheimnisse. Nagel & Kimche, 2016. 176 Seiten, Fr. 31.90. Das Gehirn einer Biene ist kaum grösser als ein Sandkorn. Doch der Grad der Vernetzung dieses Miniaturgehirns übertrifft den eines Computers bei weitem. Die Bienen bilden für Randolf Menzel ebenso den End- und Höhepunkt einer Intelligenzentwicklung im Tierreich (nämlich bei Spinnen, Krebsen und Insekten), wie es der Mensch bei den Säugetieren tut. Der Neurowissenschafter erforscht das Bienengehirn seit 50 Jahren. Jene Lernfähigkeit, die er für das Mass für Intelligenz hält, hat er auf stupende Weise auch im Bienenhirn entdeckt! Wie Menzel (mit Hilfe des Autors Matthias Eckoldt) die Geschichte seiner eigenen Karriere und Forschung – inklusive eigene Fehler! – mit der Geschichte der Bienenforschung von Aristoteles bis heute verknüpft, ist nicht nur äusserst lehrreich. Es ist, trotz wissenschaftlicher Komplexität, auch wunderbar zu lesen. Wer geniesst an warmen Sommertagen nicht gern ein Vanille- oder Früchteeis im Cornet? Nur die wenigsten aber wissen wohl, dass der Erfinder der überzeugenden Kombination von Speiseeis und Waffelcornet ein Schweizer ist. Mitte des 19. Jahrhunderts kam der nach London ausgewanderte Tessiner mit dem klingenden Namen Carlo Gatti auf diese Idee, die bis heute Gross und Klein beglückt. Solche und ähnliche «Schweizer Küchengeheimnisse» versammelt Martin Dahinden, Schweizer Botschafter in den USA, in diesem Buch. Neben den unterhaltsamen Geschichten zu den Speisen finden sich immer auch die Rezepte zum Nachkochen, die z.T. bis in die Frühe Neuzeit zurückreichen, etwa bei der «Kappeler Milchsuppe». Natürlich dürfen auch Anekdoten und Fakten zu den Klassikern nicht fehlen wie zum Birchermüesli oder zum Maggi-Bouillonwürfel. Heinrich Heine «…also meiner, weisst du, meiner will immer wieder dasselbe gekocht haben. Bloss weil es bei den Gästen einmal gut angekommen ist. Verlangt immer das exakt gleiche Rezept von mir. Und dann wundert er sich, wenn es mir beim Kochen langweilig wird.» «Ja, das kenne ich auch. Und wenn den Kunden der dritte Aufguss dann nicht schmeckt, machen sie einem Vorwürfe und sagen: ‹Man darf den Leuten eben nicht jedes Mal dasselbe servieren.›» «Sie wissen einfach nicht, was sie wollen.» «Doch: möglichst viel Umsatz.» «Das ist ja das Schlimme: Zahlen können sie lesen, aber von wahrer Kochkunst haben sie keine Ahnung.» «Sonst würden sie sich ja selber an den Herd stellen. Aber ein Eunuch weiss eben auch nur theoretisch, wie man Kinder zeugt.» «Höhöhö.» «Lacht nicht so laut, um Himmels willen! Wenn sie uns hören, schmeissen sie uns raus. Und wenn man schon endlich einmal eine Herrschaft gefunden hat…» «Ach was, sie brauchen uns mehr als wir sie. Was wollen sie den Leuten denn servieren, ohne uns? Bei den unverlangt eingesandten Kostproben ist doch nie etwas Essbares dabei.» «Wenn sie wenigstens dankbar dafür wären, dass wir in ihrer Küche stehen! Aber wenn ein Gericht einmal so gut ankommt, dass man es kaum schafft, all die bestellten Portionen rechtzeitig auszuliefern, dann glauben sie doch tatsächlich, sie seien selber an dem Erfolg schuld.» «Klar. Die Leute gehen ja auch wegen dem Klavierstimmer ins Konzert.» «Wegen des Klavierstimmers.» «Jetzt fang nicht auch noch an wie meine Herrschaft!» «Meiner meint doch tatsächlich, meine letzte Kreation sei nur deshalb so erfolgreich geworden, weil er so viel Werbung dafür gemacht habe!» «Sie überschätzen sich total. Meinen alles besser zu wissen als wir Kochkünstler.» «Ich habe eine tolle Methode, damit mir meiner nicht reinredet: Ich schlage für eine neue Kreation immer einen völlig unmöglichen Namen vor. Dann ist er ein paar Wochen lang so damit beschäftigt, mir den auszureden, dass er gar nicht mehr dazu kommt, sich bei den Zutaten einzumischen.» «Aber wisst ihr, wer noch viel lästiger ist als alle Herrschaften zusammen?» Alle, im Chor: «Die Gastrokritiker!» Claudia Mäder Kathrin Meier-Rust Kathrin Meier-Rust Simone Karpf 28. August 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Wissenschaft Vor 300 Jahren starb mit Gottfried Wilhelm Leibniz ein Universalgenie von schwer fassbarer Schaffenskraft. Dass diverse seiner mathematischen und philosophischen Entdeckungen unser Denken bis heute prägen, zeigen drei Neuerscheinungen Der Mann, der alles wi Thomas Sonar: Die Geschichte des Prioritätsstreits zwischen Leibniz und Newton. Geschichte – Kulturen – Menschen. Mit einem Nachwort von E. Knobloch. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg 2016. 596 S., Fr. 55.–, E-Book 40.90. Hans Poser: Leibniz’ Philosophie. Über die Einheit von Metaphysik und Wissenschaft. Felix Meiner, Hamburg 2016. 528 Seiten, Fr. 42.90, E-Book 30.–. Eike Christian Hirsch: Der berühmte Herr Leibniz. Eine Biografie. C.H. Beck, München 2016. 659 Seiten, Fr. 42.90. Von André Behr Für einen festen Platz in der Geschichte der Menschheit reicht in der Regel bereits eine einzige tragende Erkenntnis. Gottfried Wilhelm Leibniz, dessen Todestag sich am 14. November zum 300. Mal jährt, hat in seinen 70 Lebensjahren als unermüdlicher Denker und Schreiber fast zu allen Wissensgebieten seiner Zeit Fundamentales beigetragen, inklusive Theologie und Technik. Allein sein im Leibniz-Archiv in Hannover aufbewahrter Hauptnachlass umfasst etwa 100 000 doppelseitig und meist eng beschriftete Blätter, von denen bis heute erst die Hälfte veröffentlicht vorliegt. Weltweit bekannt ist Leibniz heute vor allem für seine Beiträge zur mathematischen Analysis, die Monadenlehre sowie der Idee von der prästabilierten Harmonie, die er in seinem Buch «Essais de Theodicée» darlegte. Darüber hinaus leistete Leibniz jedoch noch sehr viel mehr, obwohl er als brillant promovierter Jurist zuerst in Diensten des Mainzer Kurfürsten stand und ab 1676 am Hannoverschen Hof hauptamtlich mit der Historiografie des Welfengeschlechts beauftragt war, oft in diplomatischer Mission herumreiste und auch die Bibliothek zu betreuen hatte. So entwarf Leibniz beispielsweise meisterhaft die erste Rechenmaschine, die mit allen vier Grundrechenarten klarkommt, erkannte die Vorzüge eines Dualsystems, entwickelte die Dezimalklassifikation, erfand die Endloskette zur Förderung von Erz im Bergbau, ein Gerät zur Messung der Windgeschwindigkeit und entwarf Pläne für ein Unterseeboot. 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. August 2016 Zudem widmete er sich den Sprachwissenschaften, verfasste eine Naturgeschichte der Erde, wurde im Jahr 1700 zum ersten Präsidenten der von ihm angeregten Berliner Akademie der Wissenschaften und plädierte auch andernorts für die Errichtung solcher Zentren. Bis hin zu den Jesuitenmissionaren in China war er bestens vernetzt, wovon die etwa 15 000 erhaltenen Briefe in mehreren Sprachen zeugen. Die Vielseitigkeit und Produktivität des 1646 in Leipzig geborenen Leibniz ist kaum nachvollziehbar. Bereits als Zwölfjähriger hatte sich der hochbegabte Sohn eines Professors der Moralphilosophie visionär daran gemacht, eine «Art Alphabet der menschlichen Gedanken» aus Grundbegriffen und Grundaussagen allen Denkens zu entwickeln, wie er schrieb. Zeitlebens setzte er konsequent auf die Vernunft und arbeitete an einer Universalsprache, mit der alles Wissen abgebildet werden kann. Es war die Suche nach einem umfassenden Zeichensystem, der sogenannten «Characteristica universalis». Das berühmteste dieser Zeichen dürfte wohl das Integralzeichen sein, ein elegant geschwungenes «S», das auf die Technik der Summation unendlich kleiner Teilstrecken und -flächen anspielt. Man trifft weltweit in allen Schulen darauf, wenn die Formeln der sogenannten «Differential- und Integralrechnung» auf dem Programm stehen, in denen übrigens auch das kleine «d» der Differentiale von Leibniz stammt. Hinter beiden Symbolen steckt die tiefe Einsicht, wie man Steigungen von Kurven und Flächen unter einer Kurve berechnet, was wesentlich die Entfaltung der modernen Mathematik anschob. Leibniz vs. Newton Die mathematischen Arbeiten von Leibniz beleuchtet das Buch des an der TU Braunschweig lehrenden Professors Thomas Sonar, eine der drei Neuerscheinungen im Jubiläumsjahr 2016, die sich bestens ergänzen, wenn man sich ein umfassendes Bild des Universalgelehrten machen will. Der 58-jährige Spezialist für numerische Gasdynamik hatte sich bereits 2011 mit dem Standardwerk «3000 Jahre Analysis» als Mathematik- Gottfried Wilhelm Leibniz (rechts) war bestens vernetzt, der AKG-IMAGES ssen wollte Holzstich (1713) zeigt ihn im Gespräch mit Prinz Eugen von Savoyen. historiker profiliert, nun fokussiert er auf den legendären Prioritätsstreit zwischen Leibniz und dem vier Jahre älteren Isaac Newton (1642–1726). Im Zentrum steht die Frage, welcher der beiden Gelehrten die oben erwähnte Infinitesimalrechnung erfunden hat. Wie viele Kontinentaleuropäer sah auch Thomas Sonar zu Beginn seiner Untersuchungen in Newton den üblen Zeitgenossen, zumal dessen Charakter bekanntlich zumindest fragwürdige Facetten aufgewiesen hatte. In Wahrheit hatte der Engländer mit seiner «Fluxionsrechnung» zwar zehn Jahre vor Leibniz einen Infinitesimalkalkül gefunden, diesen aber nie veröffentlicht. Leibniz wiederum hatte davon keine Kenntnis und verfolgte ohnehin einen anderen Ansatz. Der Streit wurde von Mitarbeitern der beiden befeuert, Leibniz und Newton selbst blieben in ihren wenigen Briefen jeweils voller Höflichkeiten und gegenseitiger Anerkennung. Als Folge der aufgebauschten Querelen verloren die Engländer in diesem Zweig der Forschung für lange den Anschluss, während der Formalismus von Leibniz vor allem dank der kongenialen Ausarbeitung durch die Brüder Jakob und Johann Bernoulli und dann Leonhard Euler bald die Welt eroberte. Wie Newton hielt allerdings auch Leibniz manche seiner kühnsten Ideen zurück, weil er die Zeit dafür nicht für reif empfand. Bei der Transkription eines Manuskripts stiess der Wissenschaftshistoriker Eberhard Knobloch 1993 auf entsprechende Bemerkungen in einem Text, in dem Leibniz bereits einen logisch widerspruchsfreien Weg aufgezeigte hatte, mit dem «unendlich Kleinen» umzugehen – 200 Jahre bevor andere darauf kamen. Der Prioritätsstreit gibt dem Buch von Thomas Sonar den Titel, darüber hinaus erfährt man jedoch auch sehr viel über die Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts und zu den Lebensumständen aller Protagonisten. Zudem kommt Sonars didaktisches Geschick zum Tragen. Was an Formeln auftaucht, wird erklärt, sodass jeder mit Mittelschulbildung den Ausführungen mit Genuss folgen kann. Wer freilich eine umfassende Darstellung von Leibniz’ Denken wünscht, soll- te ergänzend zum Werk «Leibniz’ Philosophie» von Hans Poser greifen. Dass man bei der Aufarbeitung von Leibniz’ Nachlass in den philosophischen Teilen wie Eberhard Knobloch noch auf gänzlich Überraschendes stösst, scheint Hans Poser eher unwahrscheinlich. Jetzt gehe es bei der Sichtung um die Feinheiten, sagt der 79-jährige deutsche Mathematiker und emeritierte Philosophieprofessor der TU Berlin, um Streichungen und Präzisierungen, die wichtige Aufschlüsse über seinen Denkprozess geben können. Das 19. Jahrhundert habe Gottfried Wilhelm Leibniz klar als Idealisten gesehen, heute sei man da viel vorsichtiger. Emotional verschlossen Leibniz’ Leistung ist es laut Hans Poser gewesen, eine einheitliche Beantwortung der damals offenen Fragen zu geben und sich etwa damit auseinanderzusetzen, was das Ich ist und wie es zur körperlichen Seite passt. Darüber hinaus suchte er innovativ nach einer Erweiterung der Logik, damit formale Strukturen behandelbarer werden. Leibniz war der erste deutsche Philosoph der Neuzeit, der Weltgeltung erlangte und dessen Gedankengut für mehr als ein halbes Jahrhundert die deutsche Aufklärung bestimmte. Wie man sein gesamtes Werk modern lesen kann, zeigen Posers Aufsätze der letzten Jahrzehnte, die bestechend klar sind und nun erstmals gesammelt vorliegen. Wie jeder Mensch war selbstverständlich auch ein Leibniz nicht perfekt. Der deutsche Journalist und Schriftsteller Eike Christian Hirsch scheut sich als Biograf («Der berühmte Herr Leibniz») nicht, gewisse Mängel zu benennen. Emotional verschlossen, agierte Leibniz beispielsweise in praktischen Dingen ungeschickt und nervte manche mit seinem Drang, sich überall einzumischen, selbst wenn es ihm an Urteilsvermögen fehlte. Am Ende der langen Recherche gesteht Hirsch jedoch gerne, dass ihm dieser berühmte Mann lieb geworden ist. Genauso geht es einem auch als Leser von Hirschs fachlich verlässlicher und sehr gut geschriebener Biografie, die zum Leibniz-Jubiläum aktualisiert und neu aufgelegt worden ist. ● 28. August 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Philosophie Hannah Arendt und Günther Anders waren kurz verheiratet und haben lange korrespondiert. Ihr jetzt veröffentlichter Briefwechsel bezeugt vor allem eine traurige Entfremdung EndeeinerDenkgemeinschaft kümmern», und sei wohl in Sicherheit. Kurz vor seinem Selbstmord an der spanischen Grenze hat Benjamin Hannah Arendt noch sein Manuskript «Thesen über den Begriff der Geschichte» übergeben. Sie rettete es mit ihrer kleinen Familie 1941 nach Amerika. Arendt und Anders machten unterschiedliche Karrieren in den USA. Nach mühsamen Anfängen begann sie bald, auf Englisch zu publizieren und wurde 1951 mit ihrem Buch «The Origins of Totalitarianism» zu einer weltweit bewunderten Vordenkerin der politischen Theorie. Er hingegen litt an dem Land und der Sprache, schlug sich durch mit Gelegenheitsjobs und kehrte 1950 enttäuscht von der Neuen Welt nach Europa zurück. In Wien eine eher kümmerliche freie Schriftstellerexistenz fristend, wurde indessen auch er als Kritiker der modernen Zivilisation mit ihrer unbeherrschbar gewordenen Technik so berühmt, dass er ihr amüsiert schreiben konnte, es sei doch unglaublich, «wie wir mit Philosophieren headlines machen». Darauf ging sie nicht ein. Arendts Briefe an Heinrich Blücher zeigen, dass sie den «lieben Günther» für ruhmsüchtig, ja grössenwahnsinnig hielt. Hannah Arendt – Günther Anders: «Schreib doch mal hard facts über Dich». Briefe 1939 bis 1975. Texte und Dokumente. Hrsg. v. Kerstin Putz. C.H. Beck, München 2016. 254 Seiten, Fr. 42.90. Von Manfred Koch Vernunftehen halten meist nicht lange, selbst wenn zwei Philosophen sie miteinander eingehen. Im Juni 1929 heirateten Hannah Arendt und Günther Stern (der sich bald darauf Günther Anders nannte, fast ein Anagramm von «Arendt»). Die beiden hatten sich vier Jahre zuvor in den Marburger Seminaren ihres gemeinsamen Lehrers Martin Heidegger kennengelernt. Heidegger war damals Arendts Geliebter gewesen, eine geheimgehaltene, auf Dauer unmögliche Beziehung, aus der Arendt durch einen Wechsel des Studienorts förmlich flüchtete. Die räumliche Distanz konnte ihre emotionale Bindung an Heidegger freilich nicht schwächen. Sie liebte ihn weiter, im klaren Bewusstsein, ihm fernbleiben zu müssen. Die Ehe mit Günther Anders versprach in dieser Situation eine Stabilisierung ihrer zerrissenen Gefühlswelt. Der Ex-Kommilitone sollte ihr «Heimat» gewähren, Leidenschaft war nicht im Spiel. «Ich habe geheiratet, irgendwie ganz gleich wen, ohne zu lieben», bekannte sie später. Gegenseitiges Beschweigen Nur etwas mehr als ein Jahr waren sie nach Anders’ Erinnerung ein richtiges Paar. Aber sie wohnten und arbeiteten bis 1933 zusammen, zuletzt in Berlin, wo sie beide unter dem Eindruck der heraufziehenden NS-Diktatur zu politisch engagierten Zeitgenossen wurden. Als Juden mussten sie Deutschland kurz nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 verlassen. In Paris teilten sie noch einmal eine Unterkunft, gingen nun aber zunehmend getrennte Wege. Arendt lernte 1936 ihren künftigen zweiten Ehemann Heinrich Blücher kennen, Anders emigrierte noch im selben Jahr weiter in die USA. Die jetzt veröffentlichte Korrespondenz der beiden setzt ein mit Briefen, die Arendt nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, bedroht durch die anrückenden deutschen Truppen, an Anders nach Kalifornien schrieb (die Antwortbriefe sind, wie überhaupt ein erheblicher Teil der Korrespondenz, verlorengegangen). Auf der abenteuerlichen Flucht durch Südfrankreich hilft ihr der Ex-Ehemann, wie er nur kann: Er überweist Geld und beschafft vor allem die für die Einreise in die USA erforderlichen Bürgschaftspapiere für sie, ihre Mutter und Blücher. Arendt bedankt sich und schildert in dem ihr eigenen lakonischen Ton Furcht und Elend des Exilantendaseins: «Die einzige Frage, die sich stellt, ist, wie 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. August 2016 COURTESY OF THE HANNAH ARENDT PRIVATE ARCHIVE Zweierlei Exilkarrieren Ehepaar ohne Leidenschaft fürs Gegenüber: Hannah Arendt (1944) und Günther Anders (mit Hund in Kalifornien). man überlebt.» Jammern gilt nicht, lieber hält sie mit trockenem Humor die glücklichen Paradoxien der Mängelwirtschaft fest: In dem Dorf, in dem sie gerade gelandet ist, gibt es noch Obst und Gemüse, weil das Benzin für die Transportfahrten zu den städtischen Märkten ausgegangen ist. Man hat reichlich Fleisch zu essen, weil das Vieh wegen fehlenden Futters geschlachtet werden muss. Mehr als um sich selbst ist sie besorgt um die Freunde, die ebenfalls über Spanien zum Ausreisehafen Lissabon fliehen wollen. Man zuckt zusammen, wenn man in einem der Briefe über Walter Benjamin, einen Grosscousin von Anders, liest, er habe «Leute, die sich um ihn Die Freundlichkeit der wenigen Briefe aus den Jahren 1955–1975 (Arendts Todesjahr) ist Fassade. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen, vermieden es deshalb auch, auf das Werk des anderen einzugehen. Ein beiläufiges Lob seines Essays über die Atombombe ist fast schon alles, was Arendt sich als Kommentar zu seiner Philosophie abringt (wenige Jahre später schreibt sie ihrem Mann, Günther Anders schwimme «selig im Atomtod»). In der Gegenrichtung das gleiche Bild: Zu ihren grossen Büchern äussert er sich überhaupt nicht, gelegentlich stichelt er nur gegen ihren Mentor Karl Jaspers. Ansonsten geht es um das Arrangement von Treffen während Arendts Europabesuchen (die überwiegend nicht zustande kommen), um Krankheiten («Fingerarthritis») und – die gemeinsame Aversion gegen Theodor Adorno, den «Glatzgreis mit Knopfaugen». So ist dieser Briefband in erster Linie ein Dokument zur Geschichte des Exils, gerade auch seiner Nachwirkungen in den verletzten Seelen der Überlebenden. Arendt und Anders waren in den ersten Jahren ihrer Ehe immerhin eine gute Arbeitsgemeinschaft (wie drei im Anhang abgedruckte Texte aus der gemeinsamen Werkstatt – darunter eine Interpretation von Rilkes «Duineser Elegien» – belegen). Wer weiss, ob nicht eine «normale» Trennung bei aufrechterhaltener Freundschaft zu einem schriftlichen Gedankenaustausch geführt hätte, den wir heute zu den Glanzstücken der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts zählen würden? ● Kolumnen Mit hintergründigem Witz berichtet Sayed Kashua vom palästinensischen Alltag in Israel Anpassung reicht nicht, um dazuzugehören Sayed Kashua: Eingeboren. Mein israelisch-palästinensisches Leben. Berlin Verlag, Berlin 2016. 350 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 21.–. Von Claudia Kühner Über Jahre hat der heute 41-jährige palästinensisch-israelische Autor Sayed Kashua die Leser der linksliberalen Zeitung «Haaretz» mit Kolumnen über seinen Alltag erheitert. Das Besondere war, dass er sie auf Hebräisch schrieb, schreiben konnte – als einziger unter den arabischsprachigen Autoren. Denn als 14-Jähriger war Kashua als erster arabischer Junge in eine «jüdische» Schule für Hochbegabte gekommen und studierte später in Jerusalem. Nur sein arabischer Akzent ist geblieben. Mehrere von Kashuas Romanen sind bereits auf Deutsch erhältlich, hiesige Kinos haben den Film «Mein Herz tanzt» gezeigt, der von seinen Erfahrungen in jener Schule erzählte. Seine Sitcom «Arabische Arbeit» wurde in Israel zum TVRenner. Nun ist auf Deutsch auch eine Auswahl von Kashuas Kolumnen erschienen, die er zwischen 2006 und 2014 geschrieben hat. Mit Witz und Ironie erzählt er darin von kleinen Missverständnissen, Eheproblemen, Kinder-Sorgen oder missratenen Ausflügen – Situationen, wie sie jeder kennt. Vordergründig alles im grünen Bereich, keine Bomben, kein Terror, nicht mal Politik, allenfalls einmal feiner Spott auch über kleine linke Heucheleien. Kein «Haaretz»-Leser musste sich schlecht fühlen, weil er sich bei der Lektüre amüsierte. Und so wurde Kashua ein höchst erfolgreicher Schriftsteller, vor allem bei den jüdischen Lesern – wäh- rend ihn die Palästinenser als Anpasser verachteten. Doch heute liest man diese Kolumnen anders. Inzwischen lebt Kashua nicht mehr in Israel, sondern in den USA. Schaut man genauer hin, erkennt man den Grund dafür in jedem Text. Ob Kashua kein Hotelzimmer oder keinen Handwerker bekommt, weil er einen Akzent hat, ob seine Tochter in der Schule lernt, dass nur jüdische Kinder «Wurzeln» im Land haben – täglich erinnern ihn die kleinen Demütigungen daran, dass er und seine Familie bei aller Anpassung nie dazugehören werden. Kashua hat schliesslich realisiert, dass dieser Tatsache mit Humor nicht beizukommen ist. Er ging 2014, als die Gewalt eskalierte. Mit sich nahm er die bittere Erkenntnis, dass er vergebens dagegen angeschrieben hat – auf Hebräisch. ● Geschichte Wie ein Mönch aus Einsiedeln die Sioux-Indianer zum Katholizismus bekehrte Der Bulle im Schafstall Jesu Christi Manuel Menrath: Mission Sitting Bull. Die Geschichte der katholischen Sioux. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2016. 372 Seiten, Fr. 52.–. Von Kathrin Meier-Rust Wenn die heute in den USA lebenden rund 60000 Lakota- oder Sioux-Indianer zum grossen Teil katholisch sind, geht dies auch auf einen Pater aus dem Kloster Einsiedeln zurück. Martin Marty, 1834 in Schwyz geboren, studierte in Einsiedeln und wurde dort Mönch. 1860 schickte ihn sein Abt nach Amerika, um einem Tochterkloster in Indiana aufzuhelfen. Nach getaner Aufbauarbeit verliess Marty dieses jedoch unvermutet für die «Heidenmission». «Mit Gottes Hülfe» wollte er nun «die wildeste und verrufenste Nation des nördlichen Amerika in den Schafstall Jesu Christi einführen». Gemeint waren die Sioux, und Marty wurde berühmt als «Apostel der Sioux». Die 20-jährige Missionstätigkeit Martys von 1876 bis zu seinem Tod 1896 steht im Mittelpunkt einer vorzüglichen Untersuchung des Luzerner Historikers Manuel Menrath. Es war exakt die Zeitspanne zwischen dem grossen Sieg der Indianer bei Little Big Horn und ihrer endgültigen Niederlage bei Wounded Knee, eine Zeit der blutigen Verfolgung, in der Chief Sitting Bull praktisch chancenlos um das Überleben seiner Kultur kämpfte. Denn – und das ist die eigentliche Geschichte, um die es hier geht – die Indianer sollten nun zwar nicht mehr ausgerottet werden, sondern in Reservaten überleben. Doch ihre Bräuche, ihre Sprache und Lebensweise sollten dies nicht. Diesem Ethnozid, wie der Historiker es unverblümt nennt, widmete sich Pater Martin aus tiefster Überzeugung – schliesslich ging es um die Rettung von Seelen. Wie sich völliges Unverständnis für die Urbevölkerung mit dem aus Europa mitgebrachten katholischen Kulturkampf mischte, wie eng Missionierung mit Kolonisierung verknüpft war, wie gründlich sich Missionare und Missionierte fast durchwegs missverstanden – dies alles erklärt dieses kluge Buch mit gebotener wissenschaftlicher Akribie (es handelt sich um eine Dissertation), aber immer ausgezeichnet lesbar. Die 30 Seiten zu Martys Obsession, gerade den grossen Häuptling Sitting Bull persönlich zu bekehren, bilden dabei einen Höhepunkt. Obwohl der Missionar oft verkündete, das Ereignis stehe knapp bevor, gelang es in Wahrheit nie. Schon deshalb nicht, weil Sitting Bull zwei Frauen hatte und durchaus nicht einsah, warum in aller Welt er eine davon verstossen sollte, wie es dieser Schwarzrock von ihm verlangte… ● »Nie hat es eine Zeit gegeben, die so grosse Möglichkeiten und zugleich so grosse Gefahren bereithielt.« Klaus Schwab Ob selbstfahrende Autos, 3-D-Drucker, Künstliche Intelligenz: Die Vierte Industrielle Revolution hat bereits begonnen. Klaus Schwab, Gründer des Weltwirtschaftsforums, zeigt in seinem weltweiten Bestseller, welche politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Herausforderungen diese Revolution mit sich bringt. Weitere Informationen und Leseproben unter www.pantheon-verlag.de 240 Seiten mit Abb. Paperback CHF 20,50 (empf. VK) Auch als E-Book erhältlich © World Economic Forum (Autorenfoto), iStockphoto (Fond) ANZEIGE 28. August 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Autobiografie Françoise Giroud (1916–2003), Ikone des französischen Journalismus, schreibt von bewegten Zeiten Siewargleichzeitig FrauundMann Françoise Giroud: Ich bin eine freie Frau. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Zsolnay, Wien 2016. 239 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 23.–. Von Sandra Leis Ihr beruflicher Werdegang liest sich wie eine Tellerwäscherkarriere: Mit 14 macht Françoise Giroud eine Ausbildung für Stenografie und Maschinenschreiben. Bei der Stellensuche gibt sie sich als 18-Jährige aus und heuert bei einem Buchhändler als Schreibkraft an. Später wechselt sie ins Filmgeschäft und arbeitet als Skriptgirl. 1946 schliesslich, da ist sie 30 Jahre alt, gelingt ihr der Sprung in den Journalismus: Giroud wird Chefredaktorin der Frauenzeitschrift «Elle» – obwohl sie nach eigenen Angaben von Journalismus keine Ahnung hat. Doch kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs fangen alle Zeitungen bei null an und suchen nach Schreibtalenten und Führungspersönlichkeiten. Eine noch grössere Überraschung erlebt Françoise Giroud sieben Jahre später: Der französische Starintellektuelle Jean-Jacques Servan-Schreiber fragt, ob sie zusammen mit ihm das Nachrichtenmagazin «L’Express» gründen wolle. Mit Ausnahme von Frauenzeitschriften hat es damals keine Zeitung gegeben, der eine Frau vorstand. Mehr noch: Es gab bei «Le Monde» oder «Le Figaro» überhaupt keine Redaktorinnen. Jean-Jacques Servan-Schreiber und Françoise Giroud arbeiten Tag und Nacht für den «Express»; bald sind die beiden auch privat ein Paar. Für sie ist er der Mann ihres Lebens. Er aber tauscht sie nach sieben Jahren gegen eine Jüngere aus und enthebt sie ihrer redaktionellen Aufgaben. Man schreibt das Jahr 1960, sie ist knapp 44 Jahre alt, steht vor einem Scherbenhaufen und will sich das Leben nehmen. Der minutiös vorbereitete Suizid misslingt, sie liegt im Koma und wird schliesslich von ihrem Arzt dazu aufgefordert, sich alles von der Seele zu schreiben. Entstanden ist ein autobiografisches Dokument, das weder Klagelied noch Abrechnung ist, sondern eine luzide Bestandsaufnahme. Ihr Verhältnis zu JeanJacques Servan-Schreiber beschreibt sie so: «Ein einzigartiges Zusammenspiel von Ereignissen, Charaktereigenschaften, Träumen, Vorlieben und Zielen hatte Zu einer Zeit, da es noch kaum weiblichen Redaktorinnen gab, wirkte Françoise Giroud als Mitgründerin von «L’Express» (Paris, 1953). uns vereint und verschweisst und uns gelegentlich Zugang zu den höchsten Sphären der Liebe gewährt.» An anderer Stelle schreibt sie schonungslos über ihr, wie sie es nennt, Doppelleben, denn sie lebt gleichzeitig als Frau und als Mann: «Ich konnte als Frau leben, mich also nach seinem Zeitplan richten, seinem Lebensstil unterwerfen, an seine Launen gewöhnen (…) und bei alledem glücklich sein, weil ich gleichzeitig als Mann lebte. Ich war finanziell unabhängig (…), hatte eine leitende, keine dienende Funktion.» Empfehlen allerdings mag sie ein solches Doppelleben niemandem. Veröffentlicht hat Françoise Giroud ihre Autobiografie nie. Der Text sei Migration Herfried und Marina Münkler zeigen Lösungsansätze für die Integration von Flüchtlingen auf Mehr Ratio, weniger Emotionalität Herfried Münkler, Marina Münkler: Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft. Rowohlt, Berlin 2016. 336 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.–. Von Victor Mauer Von Staatsversagen sprach ein Mitglied der deutschen Bundesregierung, als im letzten Herbst täglich Zehntausende auf der Balkanroute nach Deutschland strömten, die Grenzen nicht gesichert, Recht und Gesetz nicht durchgesetzt und Asylanträge nicht bearbeitet wurden. Deutschland feierte seine Willkommenskultur, eine Form der gesellschaftlichen Selbstüberredung, und schämte sich seiner brennenden Flüchtlingsheime. Während daheim die Angst zum politisch einträglichen Geschäft für eine totgesagte Partei in einer gespaltenen Gesellschaft wurde, hatte Deutschland als moralisierende Grossmacht in einer zerrissenen Europäischen Union wieder Weltmachtstatus. Über allem thronte die Glaubensformel «Wir schaffen das». 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. August 2016 «Die neuen Deutschen» ist nicht das Buch zum Katastrophenfilm der Krise. Vielmehr setzt es da an, wo der Flüchtlingsstrom endet und die eigentliche Herausforderung beginnt: nach dem Ankommen und der Aufnahme, also bei der Integration. Der Titel ist geschickt gewählt, weist er doch darauf hin, dass erfolgreiche Integration nicht nur die Neuankommenden, sondern auch die Alteingesessenen und damit die Identität einer ganzen Gesellschaft verändert. Die Integrationsbereitschaft der einen bedarf der Akzeptanz der anderen. Neben der staatlichen und der wirtschaftlichen ist die zivilgesellschaftliche Ebene von entscheidender Bedeutung für das Gelingen von Integration. Analytische Rationalität statt aufgeregte Emotionalität versprechen Herfried und Marina Münkler, der Professor für Politische Theorie an der HumboldtUniversität zu Berlin und die Professorin für Literaturwissenschaft an der TU Dresden. Herausgekommen ist ein abgewogenes Plädoyer für Weltoffenheit und gegenseitige Ent-Fremdung, das die Her- ausforderungen benennt und nach einigem Anlauf, bei dem man bisweilen den roten Faden sucht, Lösungsvorschläge unterbreitet. Unterteilt ist der glänzend geschriebene Band in fünf Kapitel. Wie so häufig bei Münkler finden sich auf einer Seite mehr Ideen als bei den meisten Autoren in einem ganzen Buch. Kultur- und ideengeschichtliche Überlegungen zu menschlichen Wanderungsbewegungen seit den frühen Hochkulturen, zu Philosophien des Nomadismus und der Sesshaftigkeit, zur Begegnung mit dem Fremden, zum Leben im Exil und zu Narrativen der Gastfreundschaft schlagen Brücken zu den aktuellen Debatten über den Begriff der Nation, über kulturelles Selbstverständnis, die unterschiedlichen Facetten von Parallelgesellschaften und die Angst vor «Überfremdung». Nicht jeder wird in den vorgestellten «Identitätsmerkmalen des Deutschseins» den propagierten «Solidaritätsgenerator Nation» erkennen können, lässt sich doch problemlos ein halbes Dutzend weiterer Staaten unter dem Geschichte 1936 organisierte NS-Deutschland die Olympischen Sommerspiele. Oliver Hilmes blickt hinter die Kulissen des Sportfests GeblendeteWeltöffentlichkeit ULLSTEIN Oliver Hilmes: Berlin 1936. Sechzehn Tage im August. Siedler, München 2016. 303 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.90. «wild» und «rasend», ungeeignet für ein Publikum. Trotzdem hat sie ihn nicht vernichtet. Eine enge Freundin hat ihn im Nachlass gefunden und – im Einverständnis mit der Tochter – vor drei Jahren bei Gallimard publiziert. Die autobiografischen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1960 sind zweierlei: Zum einen analysieren sie die herrschenden Geschlechterverhältnisse sowie die Entwicklung der französischen Medien und der Politik in einem journalistisch pointierten Stil. Zum anderen beschreibt die Autorin mit geradezu poetischen Qualitäten ihre frühen Jahre und die Menschen, die ihr nahestehen. Allem voran ist dieser Text auch eine Hommage an ihre Mutter, mit der sie bis zu deren Tod zusammengelebt hat und die sich um die beiden Kinder von Françoise Giroud gekümmert hat. Die Tonlagen sind heterogen und fügen sich doch zu einem stimmigen Ganzen, das die analytische und die emotionale Seite der Autorin zum Leuchten bringt. Und zeigt: Diese Autobiografie ist getragen von Stil, Eleganz und Humor. Sie dokumentiert, wie Françoise Giroud in der Mitte ihres Lebens am Ende der Kräfte ist und schliesslich wieder aufsteht. ● Dach der genannten Kriterien (vom Bekenntnis zum Grundgesetz bis zur Bereitschaft zu Selbstsorge und Leistungswillen) versammeln. Ganz praktisch wird es im letzten Kapitel, in dem überzeugende Imperative einer erfolgsorientierten Integrationspolitik herausgearbeitet werden: von der Aufmerksamkeit für die Frauen der Flüchtlinge und Migranten über die Bedeutung von Schulen als Räume der Integration bis zur Warnung vor einer überzogenen Regulation des Arbeitsmarktes. Spätestens hier wird aber auch deutlich, vor welch enormen Herausforderungen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft stehen. Gerade deshalb hätte dem Buch eine Diskussion über das Warum der grenzenlosen Aufnahme gutgetan – und zwar jenseits des humanitären Imperativs aus der Sprechstunde bei Anne Will, jenseits der als Rebellion des Provinziellen gegen das Urbane diskreditierten genuinen Sorgen bis weit in die Mitte der deutschen Gesellschaft und jenseits des Versuchs, Merkels planloses Agieren als strategisches Projekt zu verkaufen. ● Von Eckhard Jesse Vor 8 Tagen gingen die 31. Olympischen Spiele der Neuzeit in Rio de Janeiro zu Ende, vor 80 Jahren die 11. in Berlin. Oliver Hilmes, Zeithistoriker und als Biograf von Alma Mahler-Werfel, Cosima Wagner wie von Ludwig II. Bestsellerautor, fängt die Atmosphäre dieser bis dahin grössten und teuersten Spiele vom 1. bis 16. August 1936 anschaulich ein. Jedes Kapitel ist einem Tag gewidmet. Und jedes beginnt mit dem aktuellen Bericht des Reichswetterdiensts für Berlin. Von wolkenlos-sonnenüberfluteten Spielen kann keine Rede sein. Dieser Eindruck mag im Nachhinein durch den suggestiven Olympiafilm Leni Riefenstahls entstanden sein. Gewiss, das eine oder andere sportliche Ereignis kommt zur Sprache, der vierfache Triumph Jesse Owens etwa, der Stabverlust der hoch favorisierten deutschen 4-mal-100-Meter-Frauenmannschaft. Doch sind die Spiele nur Staffage für Hilmes’ Blick hinter die Kulissen. Der Autor flicht Tagesmeldungen der Staatspolizeistelle Berlin ein sowie Anweisungen der Reichspressekonferenz, oft mit Belehrungen darüber, rassische Gesichtspunkte zu vermeiden. Und immer wieder finden sich Auszüge aus den Tagebüchern von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, die ein etwas anderes Licht auf manche Vorgänge werfen. «Wir Deutsche erringen eine Goldmedaille, die Amerikaner drei, davon zwei durch Neger. Das ist eine Schande. Die weisse Menschheit müsste sich schämen.» Mit den Olympischen Spielen, einem so bisher nie dagewesenen Medienereignis (es gibt öffentliche Fernsehstuben in Berlin, Potsdam und Leipzig), blendet das «Dritte Reich» die Weltöffentlichkeit. Der Schweizer Jazzmusiker Teddy Stauffer begeistert im «Delphi-Palast» in- und ausländische Gäste: «Goody Goody ist der Soundtrack dieses Sommers.» Bars, Strassencafés und Tanzpaläste platzen aus allen Nähten. Die Kästen mit dem Aushang des antisemitischen Hetzblattes «Der Stürmer» werden vorübergehend abmontiert. Das im Sommer 1936 unweit von Berlin errichtete Konzentrationslager Sachsenhausen nimmt so gut wie niemand wahr. Dem Autor gelingt es, die «Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen» einzufangen: Verführung wie Gewalt. Manchmal tut er des Guten zu viel, fehlt die Verbindung zu den Spielen. So ist von der jüdischen Schriftstellerin Mascha Kaléko die Rede, die ihre postlagernden Liebesbriefe täglich abholt und sich von ihrem Ehemann innerlich mehr und mehr löst. «Die Olympischen Spiele ...? Ach, die sind ihr Olympiaplakate statt «Stürmer»-Aushänge: Im Sommer 1936 zeigt sich Berlin von seiner Sonnenseite. völlig gleichgültig. Mascha Kaléko hat andere Sorgen.» Hilmes’ Suche in Archiven, Biografie, Chronologien und Dokumentationen hat zahlreiche Trouvaillen zutage gefördert. Nennenswert sind etwa die Erlebnisse des sportbegeisterten amerikanischen Schriftstellers Thomas Wolfe, der auf Einladung des Rowohlt Verlags in Berlin gastiert – seine Eindrücke durchziehen das Buch wie ein roter Faden. Wolfes anfängliche Begeisterung weicht grosser Skepsis, als er von Mildred Harnack, der 1943 durch die Guillotine Hingerichteten, ihm unbekannte Informationen erhält, zu Konzentrationslagern etwa. Wolfes autobiografisch gefärbter Roman über seine Berlin-Zeit, «Es führt kein Weg zurück», durfte während des Kriegs in deutscher Übersetzung nur in der Schweiz erscheinen. Die «Sechzehn Tage im August» sind einerseits bei allem Klatsch und Tratsch ein informatives Sachbuch, andererseits ein erzählerisches Werk von hohem Rang. Der Autor versteht es, das Berliner Panorama aus verschiedenen – nicht nur prominenten – Blickwinkeln eindrucksvoll zu beleuchten, wobei ausschmückende fiktive Elemente verzichtbar gewesen wären. Wer ein Sportbuch erwartet, kommt nicht auf seine Kosten; auf seine Kosten kommt, wer wissen will, wie der inszenierte Berliner Sommer 1936 die Zeitgenossen bewegt hat. ● 28. August 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Reportage Als Migrationskorrespondent des britischen «Guardian» hat Patrick Kingsley über ein Jahr hinweg 17 Länder bereist. Seine Eindrücke verwebt er nun zu einem eindringlichen Buch WoschondieSchaufensterpuppen Schwimmwestentragen Patrick Kingsley: Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise. Aus dem Englischen von Hans Freundl und Werner Roller. C.H. Beck, München 2016. 332 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 20.–. Von Holger Heimann Der Zug von Millionen gepeinigter Flüchtlinge nach Europa ist zur Chiffre unserer Zeit geworden. Viele Berichterstatter waren in den Krisenregionen unterwegs. Aber kaum jemand dürfte genauer recherchiert und kenntnisreicher über die Not der Flüchtlinge, die Skrupellosigkeit der Schlepper und das Ver- sagen der Politik geschrieben haben als der junge, gerade einmal 26-jährige britische Journalist Patrick Kingsley. Sein Buch, für das er seit Anfang 2015 drei Kontinente und 17 Länder bereist hat, erzählt von den einzelnen Menschen im Strom der Migranten und hat doch das Ganze im Blick. Der einfühlsame Reporter ist für die britische Zeitung «The Guardian» als sogenannter Migrationskorrespondent schon an der Seite der Flüchtlinge, als in Europa noch kaum jemand das Ausmass der Tragödie erkennt. In Libyen trifft Kingsley Schleuser, die zu reichen Männern geworden sind. Auf Facebook werben sie ganz ungeniert für die Überfahrt nach Italien «mit einer grossen, schnel- USA Die Realität hinter dem amerikanischen Traum Der amerikanische Wahlkampf ist in vollem Gange. Mit viel Pathos, durchorchestrierten Veranstaltungen und perfekt inszenierten Reden werben Hillary Clinton und Donald Trump derzeit um Wähler. Es gibt aber auch Amerikaner, an denen dieser Wahlzirkus wohl vorbeiziehen wird – einige von ihnen hat der dänische Fotograf Joakim Eskildsen in seinem Band «American Realities» festgehalten. Rund 50 Millionen Menschen leben in den USA unter der Armutsgrenze. Weit weg vom Mythos des «American Dream» kämpfen sie ums Überleben. Eskildsen besuchte verschiedene Regionen 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. August 2016 der USA und zeigt uns ein anderes Gesicht dieses Landes. Etwa jenes des dreijährigen Eli Stockstill aus Plaquemines Parish (Louisiana), der viel Zeit auf dem Shrimp-Boot seiner Grosseltern verbringt. Die beiden Fischer verloren nach der durch die BP verursachten Ölkatastrophe im Jahr 2010 ihr Haus. Seither leben sie in der kleinen Kabine ihres Fischerbootes. Diese und andere eindrückliche Schicksale erzählt der Band mit rund 50 Farbfotos und erklärenden Texten. Simone Karpf Joakim Eskildsen: American Realities. Steidl, Göttingen 2016. 120 Seiten, Fr. 47.90. len Touristenyacht – auch für Familien empfohlen». Von schmucken Schiffen kann aber keine Rede sein. Kingsley erlebt mit, wie es gelingt, eines der seeuntüchtigen, von der Mannschaft verlassenen und völlig überfüllten Boote zu orten und die Passagiere zu retten. Er trifft in einem Aufnahmelager auf Sizilien einen der wenigen Überlebenden, der knapp dem schlimmsten Schiffsunglück mit 900 Toten entkam. Und er lernt, dass das vom Bürgerkrieg zerrüttete Libyen ein Land zwischen zwei Meeren ist – und dass das Wüstenmeer der Sahara unter den Migranten noch mehr Tote fordert als das Mittelmeer: Manche verirren sich und verdursten, andere werden von Banden entführt, ausgeraubt und umgebracht. In Izmir, der türkischen Schlepperhauptstadt, decken sich die Flüchtlinge mit dem Nötigsten ein. Viele Schaufensterpuppen tragen hier daher längst keine Anzüge oder Kleider mehr, sondern leuchtend orange Schwimmwesten. Auf dem Balkan huschen verängstigte Menschen nachts durch unwegsames Gelände und halten angespannt Ausschau nach Lücken in den Sicherungssystemen an den Ländergrenzen. Kingsley ist überall als aufmerksamer Beobachter dabei. Aber nicht allein das ist frappierend, sondern vor allem auch, wie es ihm gelingt, die vielen unterschiedlichen, packenden und berührenden Geschichten zu einer grossen Erzählung, tatsächlich einer Odyssee unserer Zeit, zu verweben. Ein Einzelschicksal wird dabei besonders hervorgehoben und im Buch immer wieder aufgegriffen. Der Reporter begleitet den 40jährigen syrischen Familienvater Haschem, den Assads Polizei ohne Grund ins Gefängnis warf, bei seiner Flucht bis nach Schweden. Immer ist er niedergedrückt von der Sorge zu scheitern – auch noch kurz vor dem Ziel. Mal tarnt sich der übernervöse Mann deshalb in einem französischen Zug als Leser von «Le Monde», ein andermal – auf dem Weg durch Deutschland – hält er sich die «Süddeutsche Zeitung» vors Gesicht, um so als vermeintlich ganz gewöhnlicher, ortskundiger Reisender nicht aufzufallen. Diese eindringliche Reportage macht die Verzweiflung der Menschen spürbar, die ihre alte Heimat verlassen, weil sie dort keinerlei Perspektive sehen, oft sogar um ihr Leben fürchten müssen. Ihre Not, so lehrt Kingsleys Buch, ist stärker als unsere Abschottung. Sie werden deshalb weiterhin aufbrechen und Wege finden – an eilig errichteten Zäunen und Absperrungen vorbei – auf der Suche nach einem besseren Leben. Wir können die Flüchtlinge nicht aufhalten, sondern uns nur bemühen, ihre Ankunft besser zu organisieren, resümiert Patrick Kingsley. Sein Buch ist ein leidenschaftlicher Aufruf dazu. ● Gesellschaft Der Politgeograf Michael Hermann erklärt, was die Kohäsion der Schweiz ausmacht Michael Hermann: Was die Schweiz zusammenhält. Texte zu Politik und Gesellschaft eines polarisierten Landes. Zytglogge, Basel 2016. 211 S., Fr. 31.90. Von Urs Rauber Der Politgeograf Michael Hermann (*1971) hatte einst Furore gemacht mit unkonventionellen Karten zur Schweizer Politlandschaft. Für Kantonshauptorte und ihre Agglomerationen wurden mentale Topografien in Form farbiger Blasen gezeichnet, die in einem links/rechtsund liberal/konservativ-Koordinatensystem verortet waren. Verknüpft mit Sachabstimmungen und politischen Themenfeldern illustrierten diese bunten Wolken den weltanschaulichen Teppich der verschiedenen Regionen. Manches Grundlagenmaterial dieses Gesellenstücks, das sich «Atlas der politischen Landschaften» (2003) nannte, ist auch in Hermanns neues Buch eingeflossen. Heute leitet der Sozialwissenschafter die von ihm mitgegründete Forschungsstelle Sotomo, die u.a. Wahl- und Abstimmungsumfragen durchführt sowie das jährliche Nationalratsrating der NZZ erstellt. Ähnlich wie Claude Longchamp beherrscht Hermann die Klaviatur des unabhängigen Politkommentators, der zu jedem aktuellen Ereignis eine pointierte Kurzeinschätzung abzugeben vermag. Gleiches gilt für seine Kolumne im «Tagesanzeiger». Michael Hermann nähert sich seiner Fragestellung (Was hält die Schweiz zusammen?) aus vier Perspektiven in vier Essays: Worin besteht die Schweizer Identität, «diese eigentümliche Nationalität»? Was macht das «Gewebe der Schweiz» aus, das den inneren Kitt bildet? Wie verhält es sich mit dem Stadt- Land-Gegensatz? Und: Ist die Schweiz ein polarisiertes Land? Gleich zu Beginn schreibt der Autor, dass es nicht einen einzelnen Faktor als Bindemittel gebe, sondern eine Vielzahl. Identitätsbildende Faktoren wie die Bedeutung der Berge, die Neutralität, der Mix von Weltoffenheit und Geborgenheit, das Milizprinzip, Fleiss und Anpassungsfähigkeit der Arbeitskräfte, der Wohlstand usw. sind häufig analysiert und diskutiert worden. Auch Hermanns Ausflüge in die Schweizer Geschichte wie etwa die reizvolle Gegenüberstellung von Marcel Pilet-Golaz’ «BlutSchweiss-Tränen-Rede» (1940) und General Guisans sorgfältig inszenierter Rütlirapport fördern kaum Neues, höchstens Vergessenes zu Tage: nämlich dass Anpassung und Widerstand in den beiden Persönlichkeiten weniger einseitig verteilt waren, als man es in der Geschichtsschreibung der 1960er bis 1990er Jahre noch holzschnittartig gesehen hatte. Originell ist dagegen Hermanns These, dass das «Gewebe der Schweiz» gerade durch die Fülle sich überlagernder Gegensätze gewachsen sei. Sprachlichkonfessionelle Antagonismen etwa werden konterkariert durch demografische Faktoren (Abwanderungs- und Zuwanderungsgebiete) oder Siedlungsstrukturen (Stadt, Dorf, Agglomeration). Anders als zum Beispiel in Belgien schaukeln sich Sprachprobleme in der Schweiz nicht hoch, sondern kreuzen sich mit weiteren Konfliktlinien. So wurde Mehrsprachigkeit nicht zum Problem, sondern zu einer tragenden Säule nationaler Identität – selbst bei jenen, die kaum die Sprache eines anderen Landes teils sprechen. Ein anderes Beispiel ist der helvetische Finanzausgleich, wo Geber- und SAMUEL TRUEMPY / KEYSTONE Gegensätzeziehensichan Laut Hermann wird die Demokratie in der Schweiz zuweilen als grosse «Gruppentherapie» praktiziert. (Glarner Landsgemeinde, 1. Mai 2016). Nehmerkantone einen Gegensatz bilden, der quer zum Stadt-Land- oder zum Röstigraben verläuft: Progressive Kantone wie Genf, Waadt, Basel-Stadt und Zürich ziehen am gleichen Strick wie die nationalkonservativen Stände Schwyz und Nidwalden. Hübsch ist Hermanns Bonmot, dass die Schweizer Demokratie von Parteien und Bewegungen manchmal als «überdimensionierte Gruppentherapie» praktiziert werde: das Einreichen und die Diskussion um Volksinitiativen diene der «Tiefenergründung der Volksseele». Dies bringe eine urdemokratische Fähigkeit zum Ausdruck: viele Anforderungen zu einem pragmatischen Kompromiss zu bündeln. Eine der vielen klugen Interpretationen dieses kleinen SchweizBreviers. ● Biografie In Giacomo Casanovas schillerndem Leben spiegeln sich die Verhältnisse des Ancien Régime Der Verführer, der auch Bibliothekar war Uwe Schultz: Giacomo Casanova oder die Kunst der Verführung. C.H. Beck, München 2016 (erscheint am 29. August). 320 Seiten, Fr. 23.90, E-Book 15.–. Von Michael Fischer «Es gibt in Venedig keinen schlimmeren Wüstling als mich», gestand Giacomo Casanova freimütig. Als Frauenheld ist er bis heute ein Mythos. Uwe Schultz, ein ausgewiesener Kenner des Barockzeitalters, der auch Biografien zu Ludwig XIV., Richelieu, Madame de Pompadour, Ludwig XVI. und Robespierre geschrieben hat, erzählt die pralle Lebensgeschichte des venezianischen Libertins, der zugleich Jurist, Kleriker, Offizier, Geigenspieler, Mönch, Glücksspieler, Spion, Unternehmer und Schriftsteller war. Casanova führte ein unstetes Wanderleben, er reiste quer durch Europa und verkehrte mit vielen grossen Persönlichkeiten seiner Zeit wie dem Preussenkönig Friedrich dem Grossen, der Zarin Katharina II., Papst Benedikt XIV., Voltaire oder Benjamin Franklin. Der soziale Aufstieg in den Adel blieb ihm jedoch zeitlebens verwehrt, und auch sein zweites grosses Lebensziel, mit einer herausragenden Leistung – in welcher Kunst auch immer – berühmt zu werden, sollte er nicht erreichen. Zu weitreichender Bekanntheit gelangte er zu Lebzeiten einzig durch seine abenteuerliche Flucht aus dem Gefängnis der venezianischen Staatsinquisition unter den Bleikammern des Dogenpalastes. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er auf Einladung des Grafen Waldstein als Bibliothekar auf dem böh- mischen Schloss Dux. Die Abenteuer mit den Frauen lagen nun weit hinter ihm, und als einziges Gegenmittel gegen die Einsamkeit fand er das Niederschreiben seiner Lebenserinnerungen. Giacomo Casanovas Memoiren bilden ein monumentales Fresko des Lebens im Zeitalter vor der Französischen Revolution, der Zeit des ausgehenden Ancien Régime. Es ist das Ende einer Ära, die mit ihrem Glanz und ihrer Korruption den idealen Nährboden für eine abenteuerliche Existenz bildete. Ausgehend von diesen Memoiren, die er auf seine faktische Stichhaltigkeit überprüft und mit zahlreichen kulturhistorischen Bezügen anreichert, zeichnet Uwe Schultz das facettenreiche Bild einer vielseitig begabten Persönlichkeit und einer glanzvoll schillernden Epoche im Untergang. ● 28. August 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch China Zwei Bücher resümieren die Entwicklungen und weisen auf anstehende Modernisierungen der Volksrepublik hin Rückblickauf dieMachtvon morgen Peter Achten: Abschied von China. Stämpfli, Bern 2016. 271 Seiten, Fr. 48.90. Joachim Rudolf, Elisabeth Tester: China. Der nächste Horizont. Ein Kompass für Anleger und Unternehmer. NZZ Libro, Zürich 2016. 263 Seiten, Fr. 47.90, E-Book 28.90. Von Harro von Senger Den weiten Weg, den die Volksrepublik China in den letzten Jahrzehnten zurückgelegt hat, beschreibt Peter Achten in seinem Buch «Abschied von China». Es enthält 55 Beiträge, die er zwischen 1987 und 2015 als Chinakorrespondent in Schweizer Medien veröffentlicht hat. Achten vermittelt keinen systematischen Gesamtüberblick, sondern beleuchtet verständlich einzelne Aspekte einer Entwicklung, die «keinem Land der Dritten Welt bisher gelungen ist: den überwiegenden Teil des Volkes mit einem menschenwürdigen Mass an Essen, Kleidung, Wohnung und Erziehung zu versorgen.» Das Buch ist unterteilt in die Abschnitte «Wirtschaft und Reform», «Ideologie und Kultur», «Tibet und Xinjiang», «Alltag» und «International». Peter Achten hat eine glückliche Hand bei der Auswahl und Beschreibung wissenswerter Fakten. Beispielsweise berichtet er von der «billigsten, grössten, sichersten, schönsten und saubersten U-Bahn der Welt» in Peking «ohne Schmierereien wie in New York City oder im Schweizer Trämli», oder von der grössten und modernsten Bibeldruckerei der Welt, die ausgerechnet in dem offiziell atheistischen Land, und zwar in Nanjing, betrieben wird. Er schreibt aber auch von einfachen Chinesen wie einem Zeitungsverkäufer, der ihn immer wieder auf ungewöhnliche Artikel in der Parteipresse aufmerksam machte, und einer am Strassenrand arbeitenden Coiffeuse, einer illegalen Migrantin aus der Provinz Henan, die mit ihrer virtuosen Handhabung der Schere Geld verdiente und damit ihrem Sohn ein Hochschulstudium ermöglichte. Zwei 100-Jahre-Ziele Neben Fakten ist auch die normative Kraft des Normativen in China zu beachten. Mit der Steuerung von Fakten durch das Recht beschäftigt sich Peter Achten nur am Rande, etwa, wenn es um Ferienregelungen oder um ein Gesetz geht, das der Jugend konfuzianische Tugenden in 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. August 2016 Ganz ohne Schmierereien – die U-Bahn von Peking, hier in einer Aufnahme von 2004, gilt als die sauberste, billigste und sicherste der Welt. Erinnerung rufen soll. Es umfasst nicht, wie dargelegt wird, 9, sondern 85 Paragrafen. Generell fällt in Presseberichten westlicher Chinajournalisten, selbst solcher mit einer sinologischen Ausbildung, eine gewisse Nonchalance im Umgang mit dem Recht auf. Das hängt wohl damit zusammen, dass, soweit bekannt, nie Juristen als Chinakorrespondenten eingesetzt werden. So kommt es denn gelegentlich auch zu verzerrten Aussagen. Etwa existieren laut Peter Achten «Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit in der Verfassung, nicht aber in der Wirklichkeit». Diese Freiheiten sind in Artikel 35 vorgesehen. Bei der Lektüre eines Gesetzestextes sollte man nicht nur die Bestimmung herausgreifen, die einem gefällt. Man sollte den gesamten Gesetzestext berücksichtigen. Nimmt man Artikel 1 der Verfassung zur Kenntnis, in dem die Volksrepublik ganz offen als «Diktatur» bezeichnet und «jeder Organisation und jedem Individuum die Sabotage des sozialistischen Systems verboten» wird, oder studiert man Artikel 51 bis 54, stösst man auf massive, in der Verfassung verankerte Einschränkungen der in derselben Verfassung vorgesehenen Freiheitsrechte. Insofern kann man durchaus eine Übereinstimmung zwischen Verfassung und Wirklichkeit feststellen. Zu Recht weist Peter Achten sodann darauf hin, dass einschneidende Veränderungen in China von der Kommunistischen Partei (KP) ausgehen, die er zehn Mal als «allmächtig» apostrophiert. Aber nie erwähnt er die Satzung der KP, durch die langfristige Veränderungen in die Wege geleitet werden. Von den durch die KP-Satzung angestossenen grundlegenden Weichenstellungen ist die Festsetzung von zwei 100-Jahre-Zielen hervorzuheben: Bis zum 100. Gründungstag der Partei, also bis 2021, sollen eine Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand aufgebaut und bis zum 100. Gründungstag der Volksrepublik, also bis 2049, das Pro-Kopf-Bruttoinlandprodukt auf das Niveau eines Schwellenlandes angehoben und die Modernisierung im Wesentlichen verwirk- licht werden. Achten erwähnt nur eines dieser Ziele, allerdings nicht präzise. Für ihn bildet nicht der 100-Jahre-Plan der Modernisierung Chinas den grossen Rahmen für die von ihm beschriebenen Einzelheiten, sondern die Politik der Reform und Öffnung, auf die er ein gutes Dutzend Mal verweist. Reform und Öffnung sind aber nur Methoden auf dem Weg zum Ziel der Modernisierung, also zu allgemeinem Wohlstand, aber auch zu Flugzeugträgern und Weltraumstationen. Erst in Anbetracht des Ziels der wohlgemerkt «sozialistischen», also die Führung der KP nicht antastenden Modernisierung wird verständlich, warum China welche Reformen durchführt und auf welche westlichen Dinge hin sich China selektiv öffnet. Unterhaltsames Potpourri Einiges tippt Peter Achten nur an, so die Falle des mittleren Einkommens. Ausführlich erläutern sie Joachim Rudolf und Elisabeth Tester in ihrem mit vielen Abbildungen ausgestatteten Werk «China. Der nächste Horizont. Ein Kompass für Anleger und Unternehmer». Ein Ziel dieses Buches besteht darin, zu zeigen, wie man in China investieren kann und was dabei zu beachten ist. Zu diesem Zweck vermitteln die Verfasser nicht nur eine solide Übersicht über Chinas Volkswirtschaft, sondern auch über die chinesischen Finanz- und Wertschriftenmärkte. Wie Peter Achten betonen sie das konfuzianische Erbe, und wie er verlieren sie kein Wort über den Einfluss der antiken, auf Meister Sun (Sun Tzu) zurückgehenden Militärtheorie im heutigen China. Die beiden Bücher ergänzen sich gut. Peter Achten präsentiert ein alle ansprechendes und unterhaltsames Chinapotpourri, und Joachim Rudolf und Elisabeth Tester erteilen dem wirtschaftlich interessierten Publikum gut dokumentierte Ratschläge. ● Harro von Senger ist emeritierter Professor für Sinologie und Verfasser von u.a. «Moulüe-Supraplanung» (2008), und mit Marcel Senn Herausgeber von «Maoismus oder Sinomarxismus?» (2016) Autobiografie In einer Mischung aus Bericht und Reflexion erinnert sich die Journalistin Klara Obermüller an ein halbes Jahrhundert Schweizer Publizistik – und an ihr Leben ReporterinineigenerSache Klara Obermüller: Spurensuche. Wie ich wurde, was ich bin. Xanthippe, Zürich 2016 (erscheint am 29. August). 206 Seiten, Fr. 29.80. Von Beatrice von Matt Ein bewegendes Buch. Man denkt lange darüber nach. Zum einen hat es im Privaten einen schmerzhaften Hintergrund, zum andern lässt es in vielfältiger Optik die literarische und publizistische Öffentlichkeit der Schweiz seit 50 Jahren aufleben. Klara Obermüller hat diese massgeblich mitgeprägt. Die 76-jährige Reporterin in eigener Sache erkundet Spuren ihres Lebens. Tagebücher, Briefe helfen dem Gedächtnis nach. Einmal schonungslos «ich» sagen zu dürfen, bedeutet gerade für Journalisten eine Befreiung. Davon redet dieser Text Seite für Seite. Er hält so eine spannungsvolle Mitte zwischen erzählendem Bericht und Reflexion. Die Sätze bleiben einfach, das Arrangement der Ereignisse und Figuren verrät literarisches Flair. Klara Obermüller ist in Zürich liebevoll behütet aufgewachsen. Auf einem Waldspaziergang erfährt sie, dass sie nicht das eigene Kind ihrer Eltern sei. Auch wenn die Neunjährige äusserlich ruhig darüber hinweggeht, scheint der schockartige Bruch fortan ihr Lebensgefühl zu bestimmen, auch später, als sie längst auf eigenen Füssen steht. Mit gut 40 erhält sie Einblick in die Krankenakte ihrer psychisch labilen Mutter – dies in der Klinik Königsfelden, über die sie eine Reportage plante. In einem Lebenslauf hält die Mutter fest, sie habe ihr Kind hergeben müssen «ins Niemandsland». Erst im geschützten Raum des Schreibens könne sie über diese Zusammen- hänge reden, sagt die Autorin. In mehreren schwierigen Beziehungen habe sie ungeduldig nach der einzigen Liebe gesucht, diese dann beim grosszügigen Kurt Studhalter gefunden, dem philosophisch gebildeten Theologen, ihrem Ehemann seit 34 Jahren. «Spurensuche» ist auch eine Hommage an ihn. Nach einem vielversprechenden Debut beim «Du» unter ihrem ersten grossen Mentor Manuel Gasser fand Obermüller einen neuen Förderer in Werner Weber, der ihr den Weg ins Feuilleton der NZZ ebnete. Der rebellisch linke Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann, damals ihr zweiter Ehemann, hat sie in derselben Zeit politisiert — eine Tatsache, die sich bei der bürgerlichen Zeitung zu einem Problem auswuchs. Dabei ist zu betonen, dass Obermüller in ihrem Buch langjährige Gerüchte widerlegt, wonach sie Diggelmanns wegen auf die Strasse gestellt worden sei. Der damalige Chefredaktor Fred Luchsinger hatte gelassen reagiert, was ein Briefzitat belegt. Er riet ihr bloss, Beruf und Privates auseinanderzuhalten. Diggelmann aber mischte mit und intervenierte seinerseits bei Luchsinger. Der Zwiespalt setzte der Redaktorin so sehr zu, dass sie kündigte. Es kamen die Reisen in die DDR, wo Diggelmann verlegt wurde. Die dortige Literatur hatte bei vielen in der Schweiz Kultstatus. Es kam die Präsidentschaft der Gesellschaft Schweiz-DDR. Obermüller bezeichnet heute einiges daran als Irrtum. Der früh verstorbene Diggelmann aber verdankt ihr viel, nicht zuletzt eine ausgezeichnete Edition seiner Werke, die sie hier unerwähnt lässt. Auf 16 Jahre «Weltwoche» folgte die Zeit beim Fernsehen, die glücklichste ihres Berufslebens. Nie primär an formaler Ästhetik interessiert, hatte sie die Literaturkritik zuweilen als einengend empfunden. Sie moderierte die «Sternstunden», was zu herausfordernden intellektuellen Begegnungen führte, die sie souverän auf den Bildschirm brachte. ● Buchpremiere: Verlosung Am 6. September findet im Literaturhaus Zürich die Buchpremiere von «Spurensuche» statt. Die Lesung ist ausgebucht, Restkarten an der Abendkasse. Als Partnerin der Veranstaltung verlost die NZZ am Sonntag drei Tickets. Schicken Sie uns bis zum 31. August eine E-Mail an [email protected], Betreff «Lesung». Teilnahmeberechtigt sind volljährige Personen mit Wohnsitz in der Schweiz. Die Gewinner werden ausgelost und persönlich benachrichtigt. Rechtsweg ausgeschlossen, keine Barablöse, keine Korrespondenz über die Verlosung. In ihrer «Spurensuche» blickt Klara Obermüller (2013) auf Hochs und Tiefs in Berufs- und Privatleben zurück. Reisebericht 1847 nutzt Gustave Flaubert einen Streifzug durch die Bretagne zur Schärfung seines Stils Unterwegs zum Schriftsteller Gustave Flaubert, Maxime du Camp: Über Felder und Strände. Aus dem Franz. von Cornelia Hastings. Dörlemann, Zürich 2016. 450 S., Fr. 46.90, E-Book 29.–. Von Janika Gelinek Als Gustave Flaubert und sein Freund Maxime du Camp am 1. Mai 1847 in die Bretagne aufbrechen, klingt das Sommerferienprogramm erstmal bescheiden: Zwischen Ginster und Farnkraut wollen sie «unbeschwert Atem schöpfen», heisst es, mit «keinem anderen Ehrgeiz, als nach einem von Wattewolken geflockten klaren Stück Himmel zu suchen oder (…) eines jener armen kleinen Dörfer zu entdecken, wie sie noch zu finden sind, mit Holzhäu- sern, Wäsche, die auf der Hecke trocknet, und Kühen an der Tränke». Mit grossstädtischer Noblesse soll das unverstellte Landleben gesucht werden, doch der literarische Ehrgeiz der beiden Twens gibt sich nicht mit der beschaulichen Betrachtung bretonischer Dörfer zufrieden. Sie teilen die Kapitel unter sich auf – Maxime die geraden, Gustave die ungeraden –, und auf den folgenden 400 Seiten wird in konkurrierender Detailtreue alles ausgebreitet, was Land und Leute, Historie und Anekdote hergeben. Allein das Wort «Spitzbogen» – variiert als Portal, Gewölbe, Rippen, Fenster, Stil – taucht 38-mal auf und zeigt, dass die beiden auch in architektonischer Hinsicht nichts anbrennen lassen. Was in dieser übermütigen Beschreibungs- und Bildungswut zum Vorschein kommt, ist jedoch weniger die Bretagne, sondern das Ringen zweier junger Literaten um die richtige Form. Sie haben offensichtlich noch keinen rechten Zugriff auf ihr Material, und so beschwören sie die Imagination, paraphrasieren ihre Reiseführer, schärfen ihren Witz an zufälligen Reisegenossen – und schreiben vorsichtshalber alles auf. Trotz schöner Ausstattung und leichtgängiger Übersetzung ist das Buch also weniger Ferienlektüre als ein faszinierender Einblick in das Werden eines grossen Schriftstellers. Zum Abschluss lese man in den Briefen Flauberts an Louise Colet, wie er inmitten all der altklugen Walzerei von der Sehnsucht schreibt, nur endlich, endlich einen Brief von ihr zu erhalten. Auch der detaillierteste Reisebericht erzählt nämlich nie die ganze Geschichte. ● 28. August 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Wirtschaft Historische Grundlage für die Beurteilung aktueller Schweizer Aussenhandelsabkommen Was aus der Vergangenheit zu lernen wäre Max Schweizer (Hrsg.): Die Schweiz im Welthandelsdorf. Initiativen, Konferenzen, Konflikte. Ein Lesebuch. Chronos, Zürich 2016. 321 Seiten, Fr. 51.–. Von Katharina Bracher TTIP. Vier Buchstaben machen ratlos. Die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) wird seit drei Jahren zwischen der EU und den USA vorbereitet. Die Schweiz ist Zuschauerin. Kommt die TTIP zustande, wird der neue Wirtschaftsraum 40 Prozent des Welthandels betragen. Die Schweiz muss sich dann den privilegierten Marktzugang in die EU mit den Amerikanern teilen, muss den USA aber weiterhin Zölle entrichten. Was dies für die Wirtschaft und Wohlfahrt des Landes bedeutet, steht in den Sternen. Ist die Zukunft ungewiss, kann ein Blick zurück helfen. In seinem Buch «Die Schweiz im Welthandelsdorf» schafft der Diplomat Max Schweizer eine historische Grundlage für die Beurteilung von Abkommen wie TTIP. Darüber hinaus vermittelt er generelles Wissen über die Schweizer Aussenhandelspolitik: Wie hat sie sich seit der Industrialisierung verändert? Sind ihre Konzepte aufgegangen? Aber auch: Profitiert die Schweiz vom bilateralen Freihandel? Es sind Diplomaten, Politiker und Journalisten, die Antworten auf diese Fragen geben. Die zur Meinungsbildung wichtigen Fakten muss man sich etwas zusammensuchen. Das entspricht auch der Absicht der Sammlung, die der Herausgeber als «Lesebuch» bezeichnet. Bestechend ist die schiere politische und wirtschaftliche Breite der Autoren. Dabei hat sich Schweizer nicht um politische Korrektheit geschert. So hat er ein Interview von Werner Gartenmann, Geschäftsführer der «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz», ausge- wählt. Dieser fragt den Vertreter der Welthandelsorganisation, ob sein Arbeitgeber nicht eigentlich überflüssig sei. Die Antworten auf so unverblümte wie naheliegende Fragen zu lesen, ist erhellend. Dass die Autoren der Beiträge nicht vorgestellt werden, ist eine Schwachstelle des Buches. Wer mit Namen wie Werner Gartenmann oder Luzius Wasescha nichts anzufangen weiss, der tappt im Dunkeln. Dass Wasescha einer der prägendsten Handelsdiplomaten der Schweizer Aussenpolitik war, ist für die Einordnung nicht unerheblich. Das Buch zeigt auf, wie ohnmächtig die Schweiz angesichts supranationaler Abkommen ist. Es zeigt aber auch, was Politik und Diplomatie aus Fehlern der Vergangenheit lernen können. Über allem steht der Grundsatz von David Dorn, Schweizer Jungstar der Ökonomieprofessoren: Man sollte nicht naiv davon ausgehen, dass jedes Handelsabkommen automatisch nur Vorteile bringt. ● Das amerikanische Buch Der weisse Abschaum der britischen Elite Die Vereinigten Staaten als einzigartige «Stadt auf dem Hügel» und «Land der unbegrenzten Möglichkeiten» – diese nationalen Mythen haben speziell bei Präsidentschaftswahlen Konjunktur. Mitten in der laufenden Kampagne erhebt die Historikerin Nancy Isenberg dagegen mit ihrer weithin beachteten Geschichte über die weisse Unterklasse Amerikas Einspruch. Sekten wie die Puritaner mögen die Neue Welt als Heimstatt einer idealen Gesellschaft unter Gottes Schutz betrachtet haben. Aber wie Isenberg in White Trash: The haben britische Eliten die Kolonien von Anfang an stets auch als eine Art Komposthaufen für «menschlichen Müll» betrachtet: Waisenkinder, Landstreicher und sonstiger «Abschaum» der britischen Gesellschaft wurden nach Amerika ausgeschafft und sollten dort als billige Arbeitskräfte oder Schuldknechte den Boden für neue Siedlungen bereiten. Ein sozialer Aufstieg war für diese Menschen explizit nicht vorgesehen. Dazu war der «Abfall unseres Volkes» schon durch «Blut» und Abstammung gar nicht fähig, so die herrschende Meinung. Isenberg zitiert Offizielle und Autoren des 17. Jahrhunderts und 18. Jahrhunderts, die Kolonisten wie Jagdhunde oder Pferde nach ihrer «Zucht» in Wertkategorien einstuften: Wer arm war, als schmutzig, faul und verwahrlost erschien, der musste dies aufgrund seiner Veranlagung sein. Dazu sorgte die Verteilung von Grundbesitz an bessere Stände rasch für die Zementierung einer Klassenordnung, die Macht und Eigentum in den Händen einer relativ kleinen Elite konzentrierte. So verfüg26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. August 2016 ZUMA / DUKAS 400-Year Untold History of Class in America (Viking, 460 Seiten) zeigt, Die armen Weissen, denen Nancy Isenberg (unten) ihr Buch widmet, hausen heute gemäss Klischee im Trailerpark (Florida, 2004). ten in Virginia um 1770 zehn Prozent der Weissen über die besten Böden. Arme flohen an die Grenzen oder in weniger fruchtbare Regionen wie die Appalachen. Dort bestätigten sie mit ihrer kläglichen Existenz den Abscheu der Besitzenden. Die rassistische oder im heutigen Sprachgebrauch genetische Begründung von Armut und Ausgrenzung erreichte in den 1920er Jahren mit der Eugenik eine schockierende Zuspitzung. Damals plädierten Politiker und Verfassungsrichter für die Sterilisierung von als debil, sexuell verwahrlost und kriminell betrachteten Weissen der Unterschicht. Für diese war neben Begriffen wie «Lehm-Fresser» und «Sumpf-Treter» seit 1821 «White Trash» im Umlauf. Eine gewisse Rehabilitierung erlebten «Hillbillies» dann während des New Deal von Franklin D. Roosevelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mit Lyndon B. Johnson ein «Poor Boy» aus dem ländlichen Texas Präsident, und der Tagelöhner-Sohn Elvis Presley regierte die Hitparaden. Mit der Bürgerrechtsära der 1960er Jahre erreichte die Identitätspolitik auch ärmere Weisse. Heute signalisiert die Selbstbezeichnung «Redneck» Stolz auf eine rustikale Eigenständigkeit, die eine Kampfansage gegen farbige Minoritäten und liberale Eliten enthalten kann. Gleichzeitig leben Vorurteile gegen die weisse Unterschicht fort. Die sexuellen Eskapaden des aus ärmsten Verhältnissen in Arkansas stammenden Ex-Präsidenten Bill Clinton dienen oft genug als Begründung für die Behauptung, dass sich «White Trash» auch im Weissen Haus treu bleibe. In der Sache zeigt sich die amerikanische Kritik weitgehend überzeugt von dieser Sichtweise der Landesgeschichte. Isenberg will mit ihrem Buch explizit eine lange überfällige Diskussion der gesellschaftlichen Realitäten in den USA anstossen. Dies begrüssen etwa die Rezensenten der «New York Times» oder des «Atlantic». Allerdings wird Isenberg in den späteren Kapiteln zu allgemein, wie die «Washington Post» schreibt. So bleibt die demografische und regionale Verortung der armen Weissen im heutigen Amerika unklar: Stammen sie von frühen Kolonisten ab? Und leben sie vorwiegend im Süden und in den Appalachen von Georgia bis Maine? Isenberg deutet dies an. Aber letztlich bleibt sie etliche Fakten für eine nachhaltige Diskussion über «White Trash» schuldig. Von Andreas Mink ● Agenda Exilkunst Galerie der Vergessenen Agenda September 16 Basel Donnerstag, 1. September, 19 Uhr Tilman Lahme: Die Manns. Lesung und Gespräch. Moderation: Martin Ebel, Fr. 18.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3. Reservation: 061 206 99 96. Dienstag, 13. September, 19 Uhr Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? Lesung und Gespräch. Mit Katrin Eckert (Moderation), Melitta Brznik und Hanspeter Flury, Fr. 18.–. Literaturhaus (siehe oben). Bern Sonntag, 4. September, 11 Uhr Ingrid Noll: Der Mittagstisch. Lesung und Gespräch. Moderation: Thomas Meyer, Ausstellungseintritt. Zentrum Paul Klee, Monument im Fruchtland 3. www.zpk.org. Rund 10 000 deutsche Kulturschaffende wurden von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben, darunter auch mehrere hundert bildende Künstler. Einige – Beckmann, Kokoschka, Grosz, Max Ernst – kennen wir noch, viele andere sind nach 1945 in Vergessenheit geraten. Dagegen kämpft der Autor, Sammler und Verleger Thomas B. Schumann an. «Memoria» heissen sowohl seine Sammlung als auch seine Edition. Schumanns Kunstbestände werden nun in einem reichhaltigen Katalog dokumentiert, der 71 Künstlerinnen und Künstler in Wort und Bild vorstellt. Er begleitet eine Ausstellung, die im Stadtmuseum Langenfeld (Rheinland, bis 16.10.) zu sehen ist. Unsere Abbildung zeigt das 1948 entstandene Ölbild «Flüchtlinge» von Arthur Kaufmann (1888–1971), der 1928 die «Rheinische Sezession» mitbegründete und 1930 die Leitung der Kunstgewerbeschule Düsseldorf übernahm, wegen seiner jüdischen Herkunft aber 1933 aus dem Dienst entlassen wurde und über Holland in die USA emigrierte. Manfred Papst Thomas B. Schumann (Hrsg.): Deutsche Künstler im Exil 1933–1945. Mit Beiträgen von Mario Adorf, Herta Müller u.a. Edition Memoria, Hürth 2016. 176 S., ca. Fr. 42.–. Bestseller August 2016 Belletristik Sachbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Jean-Luc Bannalec: Bretonische Flut. Kiepenheuer & Witsch. 448 Seiten, Fr. 21.90. Michael Theurillat: Wetterschmöcker. Ullstein. 352 Seiten, Fr. 23.40. Jojo Moyes: Ein ganz neues Leben. Wunderlich. 528 Seiten, Fr. 25.90. Guillaume Musso: Vierundzwanzig Stunden. Pendo. 384 Seiten, Fr. 15.90. Joy Fielding: Die Schwester. Goldmann. 448 Seiten, Fr. 19.90. Harlan Coben: Ich schweige für dich. Goldmann. 416 Seiten, Fr. 20.90. Hazel Brugger: Ich bin so hübsch. Kein & Aber. 176 Seiten, Fr. 13.90. Donna Leon: Ewige Jugend. Diogenes. 336 Seiten, Fr. 24.90. Blanca Imboden: Schwingfest. Wörterseh. 224 Seiten, Fr. 25.90. Tess Gerritsen: Totenlied. Limes. 320 Seiten, Fr. 18.90. Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 22.90. Silvia Aeschbach: Älterwerden für Anfängerinnen. Wörterseh. 176 Seiten, Fr. 26.90. Peter Wohlleben: Das geheime Leben der Bäume. Ludwig. 224 Seiten, Fr. 26.90. Peter Wohlleben: Das Seelenleben der Tiere. Ludwig. 240 Seiten, Fr. 28.90. Ajahn Brahm: Der Elefant, der das Glück vergass. Lotos. 240 Seiten, Fr. 22.90. Roland Gohl: Unser Weltrekord-Tunnel Gotthard. Weltbild. 144 Seiten, Fr. 35.90. Ramita Navai: Stadt der Lügen. Kein & Aber. 288 Seiten, Fr. 27.90. Thomas Widmer: Schweizer Wunder. Echtzeit. 272 Seiten, Fr. 26.90. M. Schmieder, U. Entenmann: Dement, aber nicht bescheuert. Ullstein. 224 S., Fr. 25.90. Christian Eisert: Viele Ziegen und kein Peter. Ullstein. 333 Seiten, Fr. 21.90. Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 16.08.2016. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Mittwoch, 21. September, 19.30 Uhr Lukas Hartmann: Ein passender Mieter. Lesung und Gespräch. Haus der Religionen, Europaplatz 1. Infos: www.lukashartmann.ch Zürich Donnerstag, 1. September, 19.30 Uhr Frédéric Zwicker: Hier können Sie im Kreis gehen. Lesung, Fr. 15.–. Sphères, Hardturmstrasse 66. Infos: www.spheres.cc Samstag, 3. September, 16/17/19/20/21 Uhr Sibylle Baumann: Going Wild – Erlebnistage für bedrohte Tiere, Zooeintritt. Zoo Zürich, Zürichbergstrasse 221. Infos: www.zoo.ch. Dienstag, 6. September, 19.30 Uhr Klara Obermüller: Spurensuche. Buchpremiere. Moderation: Isabelle Vonlanthen. In Kooperation mit der NZZ am Sonntag, Fr. 18.–. Literaturhaus, Limmatquai 62. Reservation: 044 254 50 00. Dienstag, 6. September, 20 Uhr Alex Capus: Das Leben ist gut. Buchvernissage, Fr. 25.–. Kaufleuten, Pelikanplatz. Infos: www.kaufleuten.ch. Mittwoch, 14. September, 20.30 Uhr Mitra Devi, Petra Ivanov (Bild): Mord in Switzerland. Autorenlesung mit Mitra Devi, Petra Ivanov, Andrea Fazioli, Sunil Mann, Fr. 15.–. Orell Füssli Bellevue, Theaterstrasse 8. Infos: www.orellfuessli.ch. Bücher am Sonntag Nr. 8 erscheint am 25.09.2016 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 28. August 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
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